Das verbotene Kapitel - Genevieve Cogman - E-Book
SONDERANGEBOT

Das verbotene Kapitel E-Book

Genevieve Cogman

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wieder einmal muss sich Irene Winters, die unerschrockene Agentin der unsichtbaren Bibliothek, in Gefahr begeben. Dies ist nicht das erste Mal, aber was, wenn es das letzte Mal ist? Allein auf sich gestellt muss sie sich einem alten Feind stellen. Doch es gibt noch weitere schlechte Nachrichten. Mehrere Parallelwelten sind auf unerklärliche Weise verschwunden - und die Bibliothek könnte etwas damit zu tun haben. Irene und ihre Freunde müssen tief in die noch unerforschten Gebiete der Bibliothek eintauchen, wenn sie das Rätsel um die verschwindenden Welten lösen wollen. Und das, was sie herausfinden, stellt alles infrage, was sie je dachten, über die Bibliothek zu wissen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 636

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPROLOGErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelDANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Wieder einmal muss sich Irene Winters, die unerschrockene Agentin der unsichtbaren Bibliothek, in Gefahr begeben. Dies ist nicht das erste Mal, aber was, wenn es das letzte Mal ist? Allein auf sich gestellt muss sie sich einem alten Feind stellen. Doch es gibt noch weitere schlechte Nachrichten. Mehrere Parallelwelten sind auf unerklärliche Weise verschwunden – und die Bibliothek könnte etwas damit zu tun haben. Irene und ihre Freunde müssen tief in die noch unerforschten Gebiete der Bibliothek eintauchen, wenn sie das Rätsel um die verschwindenden Welten lösen wollen. Und das, was sie herausfinden, stellt alles infrage, was sie je dachten, über die Bibliothek zu wissen …

Über die Autorin

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science und arbeitete bereits in diversen Berufen. Mit ihrem Debüt DIE UNSICHTBARE BIBLIOTHEK sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. THE INDEPENDENT wählte den Roman zu einem der zehn besten fantastischen Bücher des Jahres 2015.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischen vonDr. Arno Hoven

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Genevieve Cogman

Titel der englischen Originalausgabe: »The Untold Story«

Originalverlag: First published 2021 by Pan, an imprint of Pan Macmillan,

a division of Macmillan Publishers International Limited

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022/2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

unter Verwendung von Illustrationen von © Shim Harno/Alamy Stock Photo

© NSA Digital Archive/iStock/Getty Images Plus; blue67sign/iStock/

Getty Images Plus; Tetiana Lazunova/iStock/Getty Images Plus

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2847-8

luebbe.de

lesejury.de

Für Christ’s Hospital – meine alte Schule, an der ich voller Stolz eine Stelle als Juniorbibliothekarin innehatte und so viel Zeit wie nur möglich in der Bücherei zubrachte.

PROLOG

Von:Koschtschei, Leitender BibliothekarAn:Coppelia, Leitende BibliothekarinBlindkopie:Melusine, Leiterin der Internen Sicherheit der BibliothekBetreff:Unbequeme Jugendliche

Coppelia,

mach Dir keine Sorgen; ich werde nicht vorschlagen, Irene zu töten. Wir sind das schon einmal durchgegangen, und ich habe Dir zugestimmt. Wir wissen beide, wie die Geschichte abläuft: Die unglückselige, unschuldige junge Frau findet heraus, dass sie in Wirklichkeit das Kind von jemandem ist, der auf eine absurde Weise gefährlich und bösartig ist, woraufhin ihre Arbeitgeber versuchen, sie umzubringen – »wegen der Gefahr, die sie darstellt«. Und dann geht alles furchtbar schief, und sie wendet sich gegen sie. Ich verspüre absolut nicht den Wunsch, diese Abfolge von Ereignissen zu wiederholen. Ich werde nicht empfehlen, sie zu beseitigen – ganz egal, wie sehr ich auch versucht sein mag, dies zu tun.

Ja, ich bin in der Tat versucht. Das Mädchen hat eine kometenhafte Karriere als Bibliothekarin hinter sich und bewiesen, dass sie äußerst fähig ist. Aber sie stellt auch eine gewaltige Schwachstelle in unserem Verteidigungssystem dar. Was passiert, wenn ihr Vater es irgendwie schafft, sie als Waffe gegen uns einzusetzen? Wie viel ist das Leben einer einzelnen Bibliothekarin im Vergleich zur Sicherheit der gesamten Bibliothek wert?

Aber wie Du wiederholt hervorgehoben hast: Wir wissen beide, wie diese Erzählung endet. Und hier in der Bibliothek, auch wenn Ordnung unsere äußere Schicht ist, bergen wir ein inneres Herz aus Chaos. Wir lesen viel zu viel, als dass es anders sein könnte. Eine loyale Dienerin zu Unrecht preiszugeben – oder zumindest es zu tun, ohne zuerst alle Alternativen auszuprobieren –, würde uns alle ruinieren.

Also … lass uns darüber nachdenken, wo wir stehen und welche Alternativen wir haben.

Sie weiß, dass Alberich ihr Vater ist (hoffentlich jedoch nicht, wer ihre Mutter ist). Er weiß es inzwischen ebenfalls. Sie befindet sich in einem Gemütszustand, in dem sie alles Mögliche versuchen könnte – sogar ein Attentat auf ihn. Die Bibliothek bemüht sich nun schon seit mehreren hundert Jahren, ihn zu töten, doch er hat es geschafft, selbst unseren ausgeklügeltsten Anschlägen zu entkommen. Aber Du weißt ja, wie diese Kinder sind. Sie sind stets der Überzeugung, dass sie die »Auserwählten« sind und irgendwie selbst da Erfolg haben werden, wo Hunderte vor ihnen scheiterten – sogar wenn es um etwas so Gefährliches geht wie den Versuch, den größten Verräter zu töten, den die Bibliothek je kannte. Ehrlich gesagt, wenn jemand zahlreiche Morde, Diebstähle und Entführungen begangen, verbotenerweise Bibliotheksinformationen verkauft sowie versucht hat, die Bibliothek selbst zu zerstören, sollte man doch glauben, dass jede vernünftige Person den Fingerzeig verstehen und sich von diesem Subjekt ein gutes Stück fernhalten würde.

Wenn wir uns jedoch weigern, Irene irgendetwas zu erzählen, wird sie das nur zu offenem Ungehorsam verleiten. Wir brauchen etwas, das ein wenig subtiler als bloßes Schweigen ist. Wir benötigen eine Ablenkung, die sie ein paar Wochen lang beschäftigt, während wir an etwas Längerfristigem arbeiten.

Wir haben dieses Ersuchen um Unterzeichnung des Vertrages von dem Unterweltboss der Elfen in Welt B-268 erhalten. Irene ist diejenige, die mit seinem Untergebenen auf jenen Raubzug ging, weshalb es nur folgerichtig ist, dass sie die Verhandlungen abwickelt. Und sie ist die Vertreterin des Vertrags vonseiten der Bibliothek. Zweifellos wird sie den Verdacht hegen, dass wir ihr die Arbeit bloß geben, um sie zu beschäftigen – sie ist schließlich ein intelligentes Mädchen. (Ich bin immer noch offen für Diskussionen darüber, ob sie auch ein verständiges Mädchen ist.) Unseren Berichten zufolge wird der Unterweltboss sich ungefähr einen Monat Zeit lassen, um eine Entscheidung zu treffen, was den zusätzlichen Vorteil hat, dass sie sich in Sicherheit befindet. Sicherlich kannst Du das Empfehlungsschreiben, das sie mit sich führen wird, so formulieren, dass ihr Gastgeber sie vor Schaden bewahren und ihre Anwesenheit geheim halten wird.

Und in der Zwischenzeit kannst Du darüber nachdenken, was Du ihr sagen wirst, wenn sie zurückkommt. Ja, ich werfe Dir das in den Schoß. Ja, ich bin total unfair. Und ja, Du wirst diese Aufgabe am Hals haben. Du bist eine der wenigen Personen, denen sie wirklich vertraut. Jedwede Erklärung von mir – oder von anderen Leitenden Bibliothekaren – wird in ihren Ohren eigennützig klingen. Du bist diejenige mit den besten Chancen, sie davon zu überzeugen, dass sie ihr Leben nur retten kann, indem sie sich aus allen Schwierigkeiten heraushält. Erinnere sie daran, dass ihr Leben nicht bloß ihr eigenes ist: Als sie sich durch ihre Schwüre der Bibliothek weihte und ihr Bibliotheksmal erhielt, traf sie die Entscheidung, dass sie der Bibliothek gehört. Wenn sie sich bei einem sinnlosen Racheversuch umbringen lässt, wird sie alles verderben, was sie geleistet hat. Ach, sag der Göre, was auch immer Deiner Meinung nach bei ihr wirken wird. Nur halte sie in Schranken, und dann können wir alle mit etwas Glück unnötige Härten umgehen.

Auch solltest Du Dich beeilen, mit dieser Lungenentzündung fertigzuwerden. Wir haben keine Zeit für Dramen am Krankenbett. Die Briefe vom Kardinal und von Ao Guang über die verschwundenen Welten sind sehr beunruhigend – zudem haben wir immer noch zu wenig Personal, und es gibt zu viel zu tun.

Hast Du etwa das Gefühl, dass wir heutzutage zu viel Zeit mit Winkelzügen verbringen?

Dein

Koschtschei

PS: Du hättest nicht so viele gesundheitliche Probleme, wenn Du tatsächlich zu einer vernünftigen Zeit schlafen gehen würdest.

PPS: Schick bitte dieses Exemplar von Louisa Alcotts Angriff der Zombie-Bräute zurück; ich möchte einen Quellenverweis überprüfen.

Erstes Kapitel

Der fauchende Wind klatschte den Schnee gegen die Fenster; im grellen Licht der Scheinwerfer, die das Gebäude umgaben, wurden die Flocken gut sichtbar. Irene konnte auch die gepflegten Gärten draußen und den schemenhaften Umriss des Zierteichs undeutlich erkennen – und darüber hinaus die Wachen auf ihren Außenposten, die hohen Mauern und alles andere, was nötig war, damit dieses Herrenhaus und Anwesen privat und ungestört blieb. Die dunkle Spur auf dem weißen Rasen – frisches Blut, das der Leichnam hinterlassen hatte, als man ihn von dort wegschleifte – wurde in kürzester Zeit vom Schnee überdeckt.

Sie konnte die Sibirischen Schreckenswölfe nicht sehen, aber man hatte ihr versichert, dass sie da draußen waren. Um ehrlich zu sein, war sie sich nicht einmal sicher, ob Schreckenswölfe überhaupt sibirisch waren oder sein konnten. Doch wie das Sprichwort sagte: Widerspreche keinem Alleinherrscher auf seinem eigenen Territorium, es sei denn, du hast entweder einen sehr guten Grund oder einen sehr sicheren Fluchtweg.

Und in diesem Augenblick hatte sie keines von beidem. Das Herrenhaus besaß zwar eine Bibliothek, allerdings zählte sie zu den wenigen Räumen, deren Zutritt Irene strengstens verboten worden war. Eine logische Vorsichtsmaßnahme – immerhin wusste man hier, dass sie eine Bibliothekarin war. Und jemand wie sie konnte in jeder der Parallelwelten selbst eine kleinere Bibliothek benutzen, um in die geheime interdimensionale Bibliothek zu gelangen – ihr Zuhause. Ein Ort, der im Moment allerdings sehr weit weg war.

Sie unterdrückte einen Seufzer, wandte sich vom Fenster ab und schlenderte zum Kamin zurück. Es standen ihr Zeitungen zur Verfügung – ausländische wie die Times und der Observer, Le Monde und das Wall Street Journal, aber auch russische Blätter. Sie konnte also immer Kreuzworträtsel lösen oder etwas über den gegenwärtigen Zustand der Welt lesen, während sie auf den Hausherrn wartete. Sie ergriff eine der Gazetten und setzte sich.

Irene war keine Gefangene – aber sie war auch nicht gerade ein Gast. Sie war eine Vermittlerin, die hierher beordert worden war, um einen Auftrag durchzuführen. Und obgleich ihr dies sicheres Geleit gewährleistete, bedeutete es doch auch, dass ihre persönlichen Wünsche wenig Bedeutung genossen. Dabei waren es gar nicht so sehr die erzwungene Untätigkeit oder die Gefahren der hiesigen Örtlichkeit, die sie auf die Palme brachten: Es war das ständige Kreisen ihrer Gedanken um die Möglichkeit, dass ihr Leben größtenteils eine Lüge gewesen war.

Sie hatte herausgefunden, dass Alberich, der älteste und gefährlichste Verräter der Bibliothek, möglicherweise ihr Vater war. Als sie von ihrer letzten Mission zurückgekehrt war, hatte sie verzweifelt versucht, mehr in Erfahrung zu bringen, und dringende Fragen an alle Leitenden Bibliothekare geschickt, die das verschleiert haben mussten. Sie hatte Mitteilungen an ihre Eltern gesandt – also an diejenigen Menschen, von denen sie aufgezogen worden war und die sie als ihre wahren Eltern betrachtete –, um in Erfahrung zu bringen, was die beiden wussten. Aber ihr war kaum genügend Zeit geblieben, um auch nur ihre jüngst erlittenen Verletzungen verbinden zu lassen, als man sie auf diese Solo-Mission geschickt hatte. Und das war lange, bevor sie mit irgendwelchen Antworten auch nur hatte rechnen können. Man hatte Ausdrücke wie »sehr, sehr dringend« und »äußerst wichtig« benutzt; und sie war nicht ganz bereit gewesen, ihre Befehle zu missachten und sich zu weigern, zu ihrer Mission aufzubrechen.

Ihre Freunde hatten das verstanden. Kai – Ex-Lehrling, Drachenprinz, Freund und Geliebter – hatte versprochen, alles herauszufinden, was er nur konnte. In der Zwischenzeit saß sie auf dieser Mission fest: Es gab keine Möglichkeit, sie zu verlassen, und somit auch keine Möglichkeit, Antworten auf die Fragen zu finden, die nun ihr gesamtes Leben überschatteten.

Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, war es nicht einmal eine Mission mit dem Ziel, ein Buch aufzutreiben. Üblicherweise bestand ihre Aufgabe als Bibliothekarin darin, aus einer bestimmten Welt ein einzigartiges Buch zu beschaffen – egal, ob sie das auf legale Weise tat oder nicht. Der Bibliothek war es aufgrund ihrer Sammlung von Geschichten möglich, das Gleichgewicht zwischen all den Parallelwelten aufrechtzuerhalten. Irene war nicht vollkommen klar, wie das funktionierte, aber nachgewiesenermaßen tat es das. Dies war andererseits auch eine Angelegenheit der Politik – eine Sache, die sie in jüngster Zeit viel zu sehr beschäftigt hatte. Und es war eine Sache, in welche die Bibliothek selbst seit Kurzem viel zu tief verwickelt zu sein schien …

Die Tür schwang auf, und sie setzte hastig eine Miene leichter Neugier auf. Damit blickte sie von der Zeitung hoch, um zu sehen, wer gekommen war.

Zwei Personen; die ältere Dame, die eintrat, war äußerlich nahezu das komplette Gegenteil des großen Mannes, der ihr die Tür aufhielt. Er war muskulös und blond und besaß einen massigen Körper, was selbst sein gut geschnittener Anzug nicht verbergen konnte. Die Frau hingegen war von zierlicher Statur, hatte welliges weißes Haar und trug kunstvolle ländliche Kleidung, die aus echter Seide und richtigem Samt bestand, wie Irene sofort erkannte. Sie vermutete, dass die beiden nur eine Sache gemeinsam hatten – dieselbe wie jeder andere hier im Haus: das Verüben von Verbrechen.

Der Mann schenkte Irene ein Nicken, als sie sich höflich von ihrem Stuhl erhob. Sein Name war Ernst, und obwohl sie nicht behaupten würde, ihn wirklich gut zu kennen, war sie sicher, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war einer der Gefolgsmänner des Elfen-Dienstherrn, dem diese Datscha gehörte – wie solche russischen Landgüter und Zweitwohnsitze genannt wurden –, und er war für Irenes Besuch verantwortlich.

»Tut mir leid, dass du warten musstest«, entschuldigte er sich auf Russisch. »Der Boss ist beschäftigt.«

»So was kommt vor«, antwortete Irene in derselben Sprache. »Wie man hört, ist er überhaupt ein sehr beschäftigter Mann.« Als archetypischer Gangsterboss, der seine Unternehmungen über mehrere Welten hinweg koordinierte, ging er schließlich einer Art von Tätigkeit nach, die einen die gesamte Zeit in Anspruch nahm.

Ernst zuckte mit den Schultern. »Bislang gab es heute nur zwei Hinrichtungen. Allerdings versetzen ihn Verräter nie in eine gute Stimmung.«

Die Frau kniff die Augen zusammen, während sie Irene betrachtete und deren saubere, aber nur mäßig teure Kleidung, das ordentlich geschnittene kurze Haar und das weitgehend schlichte Erscheinungsbild auf sich einwirken ließ. Ein guter Hosenanzug war in vielen Teilen des zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahrhunderts recht brauchbar: leicht einzupacken und äußerst zweckmäßig, um darin fortzurennen. »Aha. Eine Unabhängige, was? Oder vertreten Sie irgendeine Organisation?« Sie legte den Kopf in den Nacken, um zu Ernst aufzuschauen. »Man hat mir nichts von ihr erzählt.«

»Madame, Sie wissen doch, dass es dem Boss nicht gefällt, wenn ich irgendjemandem irgendetwas erzähle«, entgegnete Ernst. »Das steht nicht in meiner Arbeitsplatzbeschreibung.«

»Das Kreuzworträtsel im Observer ist noch nicht ausgefüllt worden«, sagte Irene zuvorkommend. »Oder bevorzugen Sie Sudoku?« So harmlos die Frau auch aussah, sie musste genauso gefährlich sein wie alle anderen in diesem Haus.

»Ich würde ein Gespräch vorziehen. Doch ich denke nicht, dass ich es bekommen werde.«

»Es gibt Getränke nach dem Abendessen für diejenigen, die noch am Leben sind«, polterte Ernst wohlgelaunt. »Doch jetzt hat erst einmal der Boss Zeit für Miss Winters.«

»Dann werde ich ihn nicht warten lassen«, sagte Irene und schritt hinter ihm aus dem Raum.

Das Gebäude selbst zeichnete sich durch zwei Eigenschaften aus: Es war teuer und leicht zu verteidigen. Man gewann den Eindruck, als hätte jemand einen Architekten aufgesucht und gesagt: Errichten Sie mir etwas, das wie das schlimmste Übermaß an Geldverschwendung des französischen Königshauses vor der Revolution aussieht. Gleichzeitig soll seine strategische Ausgestaltung meine Wachen aber auch in die Lage versetzen, jedwede Eindringlinge mit so viel Blei vollzupumpen, dass ihre Leichen sich für die Bedachung von Kirchen einsetzen lassen. Ernst und Irene kamen auf ihrem Weg an zahlreichen Wachen vorbei, die jeweils zu zweit und unbeschäftigt waren, aber alle eine hohe Alarmbereitschaft ausstrahlten. Bei deren Anblick war Irene ziemlich froh, dass sie nicht versuchen musste, Bücher von hier zu entwenden.

»Der Boss ist nicht gerade in allerbester Stimmung«, flüsterte Ernst, als sie sich einer schweren Holztür näherten, die von zwei sogar noch aufmerksamer wirkenden Wachen flankiert wurde. »Achte auf dein Benehmen, Bibliotheksmädel, und erwarte heute Abend noch keine Entscheidungen.«

»Ich bin gerührt von deiner Sorge«, erwiderte Irene, die dies nur halb im Scherz sagte.

»Sorge, bah. Ich bin derjenige gewesen, der sich für deinen Besuch eingesetzt hat. Ich möchte deswegen nicht in Schwierigkeiten geraten.«

»Aufgeklärtes Eigeninteresse ist eine meiner Lieblingsmotivationen. Damit kann ich klarkommen.«

»Gut. Ich habe befürchtet, du würdest immer noch schmollen, weil du Dragon Boy nicht mitbringen konntest.« Die Einladung war ausdrücklich allein für Irene bestimmt gewesen und mit besonderen Anweisungen versehen worden, dass es nicht gestattet war, »Assistenten, Leibwächter, Attentäter, Zofen, Sekretäre, Bettwärmer, Experten oder andere überflüssige Zeitgenossen« mitzubringen.

»Ich bin nicht diejenige Person, die schmollt«, entgegnete Irene. »Er war es. Er ist sich sicher, dass ich ohne ihn in Schwierigkeiten geraten werde.«

»Bah. Nach dem, was ich von euch beiden gesehen habe, gibt es für mich keinen Zweifel, dass er ohne dich in genauso viele Schwierigkeiten gerät.«

»Das ist nicht wirklich beruhigend, Ernst.«

»Beruhigend zu sein ist nicht mein Job. Schonungslose Sachlichkeit hingegen schon. Ich würde sagen, du solltest es versuchen, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Heute bist du eine Diplomatin, Bibliotheksmädel. Also sei diplomatisch.«

Einer der Wachleute nickte ihnen zu. Ernst öffnete die Tür, und Irene schritt hindurch.

Es war ein Raum, der für geheime Besprechungen und Verhöre ausgestaltet war. Die Kegel oben angebrachter Lichter waren heruntergedreht worden, sodass Decke und Ecken im Schatten lagen. Auch die Flammen, die im offenen Kamin emporzüngelten, wärmten zwar den Raum, trugen aber wenig zu seiner Beleuchtung bei. Zusätzlich gab es zwei Stehlampen bei den Sesseln nahe dem Feuer und eine weitere neben dem Schreibtisch drüben in der Ecke. Aber die waren ebenfalls so angeordnet worden, dass sie nur den jeweiligen Bereich in ihrer Nähe erhellten – offensichtlich, um es Eindringlingen oder Besuchern zu erschweren, die Umgebung genau zu betrachten. Irene scannte den Raum mit der Erfahrung einer Spionin und dem persönlichen Interesse von jemandem, der am Leben zu bleiben gedachte, was vielleicht eine baldige, eilige Flucht beinhalten mochte. Vier Personen waren anwesend: ein Mann am Schreibtisch, zwei massige Gestalten, deren Geschlecht man nicht eindeutig erkennen konnte, in den hinteren Ecken und, am allerwichtigsten, ein älterer Mann in einem der Sessel am Kamin. Ein paar Felle von weißen Tigern lagen auf dem dunklen Holzfußboden; ihre Glasaugen glitzerten, sobald Licht auf sie fiel.

»Komm herein, Bibliothekarin«, sagte ihr Gastgeber. »Du hast meine Erlaubnis, dich hinzusetzen.«

»Danke, Sir.« Irene zog es vor, Besprechungen höflich zu beginnen und nur dann ungehobelt aufzutreten, wenn es die Situation erforderte. Es war sehr viel ungeschickter, sich anfangs unverschämt zu verhalten und irgendwann später – wenn man bemerkte, dass man in Schwierigkeiten war – sich zu bemühen, den Grad an Höflichkeit zu steigern. Sie näherte sich dem Feuer, wobei sie sich der Tatsache bewusst war, dass alle sie beobachteten, und nahm in dem für sie bereitstehenden Sessel Platz. »Wie soll ich Sie anreden?«

»Du kannst mich …« Er hielt inne, um nachzudenken. Der Schein des Kaminfeuers verwandelte seine Falten in eine Reliefkarte und kaschierte so jeden authentischen Gesichtsausdruck unter der Maske des äußerst hohen Alters. Zahlreiche Leberflecke befanden sich auf seiner haarlosen Kopfhaut, und seine Hände waren knotig und arthritisch verformt. Trotzdem war er, wie Irene glaubte, immer noch recht gut imstande, eine Schusswaffe abzufeuern.

»›Boss‹ wäre unangemessen, nicht wahr? Schließlich arbeitest du nicht für mich. Aber ich bin so weit nach oben gerückt, dass die Notwendigkeit eines Namens im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr besteht. Warum nennst du mich nicht einfach … Onkel.«

So weit, dass die Notwendigkeit eines Namens nicht mehr besteht, behauptest du? Ich glaube nicht, dass das ganz richtig ist, dachte Irene. Sie war inzwischen schon ziemlich vielen Elfen begegnet. Wenn sie an Macht gewannen und immer weiter den Mustern ihres jeweiligen erzählerischen Archetypus verfielen, legten sie irgendwann ihre ursprünglichen Namen ab oder verheimlichten sie. Zunächst verwendeten sie Pseudonyme; hatten sie jedoch schließlich den Gipfel ihrer Macht erreicht, gingen sie zu Titeln wie »Kardinal« oder »Prinzessin« über. Wenn einer von ihnen diese Stufe erreicht hatte, war er die wandelnde Verkörperung des Stereotyps, das zu werden er sich ausgesucht hatte. Die Welt selbst bog sich dann um ihn herum, damit seine Geschichte wahr wurde.

Doch Irenes Gastgeber hatte noch nicht ganz diese Machtfülle erreicht. Der Name, den man ihr zuvor mitgeteilt hatte – Mr Orlow –, war eher ein Pseudonym als ein Titel. Aber nach wie vor wollte sie ihn nicht beleidigen. Je rascher sie diese Angelegenheit hinter sich brachte, desto schneller würde sie von hier fortkommen. »Wie du wünschst, Onkel. Danke, dass du so gütig gewesen bist, mich hier als Gast zu empfangen.«

»Es ist immer angenehm, junge Leute wie dich im Haus zu haben«, antwortete er in einem Tonfall, der in passender Weise onkelhaft war. Er beugte sich vor. »Also, Bibliothekarin, woher soll ich wissen, dass du nicht hier bist, um mich zu betrügen?«

Das war … etwas direkter, als Irene erwartet hatte. Sie antwortete mit gleicher Offenheit: »Welchen Vorteil würde ich davon haben?«

Er richtete einen Finger auf sie. »Du hast einen ganz bestimmten Ruf, Bibliothekarin. Ich habe die Akten über dich gesehen.«

»Wie schade, dass ich selbst nie an die rankomme«, sagte Irene mit Bedauern. »Wann immer ich danach frage, sprechen die Leute sogleich von ›verbrennen, ehe sie gelesen werden‹ und ›nur über meine Leiche‹ und so weiter.«

»Eigenname: Irene. Dazu Decknamen, wie etwa Irene Winters und Clarice Backson. Eine der tüchtigsten Diebinnen der Bibliothek, die kürzlich zur Diplomatin geworden ist – im Einklang mit den interessanten neuen politischen Strategien der Bibliothek. Derzeit die Repräsentantin der Bibliothek in dieser dreiköpfigen Kommission für den Friedensvertrag zwischen Drachen und Elfen.«

Irene breitete ihre Hände auseinander. »Ich hätte gedacht, du wüsstest Tüchtigkeit zu schätzen, Onkel.«

»Hängt davon ab, ob ich sie nutzen kann oder nicht. Wenn sie gegen mich gerichtet wird, dann bedeutet es, dass du mein erstes Ziel bist.«

Eine Nervosität überfiel sie und löste einen kalten Schauer aus, der Irene den Rücken hinablief und jeden Zentimeter ihrer Wirbelsäule kartografierte. Sie hatte gedacht, das hier wäre ein vergleichsweise sicherer Einsatz – obgleich sie wusste, dass Verhandlungen mit einem mächtigen Elfen natürlich niemals wirklich sicher waren. »Ich habe geglaubt, du hättest persönlich um mich gebeten, Onkel. Warum lädst du mich in dein Haus ein, wenn du mich für einen Feind hältst?«

Er gluckste, und dieser Laut war volltönender, als sein Alter es nahegelegt hätte. »Vielleicht möchte ich sehen, wie ernst es der Bibliothek damit ist, die Leute dazu zu bewegen, ihren ›Friedensvertrag‹ zu unterschreiben. Wenn sie bereit ist, eine ihrer besten Agentinnen zu schicken, dann bin ich bereit, eine Unterzeichnung ein bisschen in Betracht zu ziehen. Natürlich nur vorausgesetzt, dass du die echte Irene Winters bist.«

»Und nicht eine Attentäterin, die unter dem Namen von Irene Winters reist und hier ist, um dich zu töten und die Schuld der Bibliothek zuzuschieben?« Aus den Augenwinkeln sah Irene, wie sich die beiden aufmerksam zuschauenden Leibwächter anspannten. Sie hatte gehofft, der Scherz würde den Unterweltboss amüsieren, aber die Männer dort hatte er offensichtlich nicht erheitert.

»Und, bist du eine Attentäterin?« Er hielt inne. »Ich verstehe die Situation, wenn du eine bist. Aber sollte es so sein, muss ich über meine Grundhaltung zu dir erneut nachdenken – und darüber, ob du hier mit einem Beschäftigungsvertrag oder mit den Füßen zuerst rauskommst.«

Irene versuchte, sorgfältig zu erwägen, welche der möglichen Antworten auf diese Frage sie auswählen sollte. Behalte stets im Hinterkopf, keine pfiffigen Scherze mit Leuten zu machen, die mit einem Fingerschnipsen befehlen können, dich umzubringen. »Ich bin eine Diebin und eine Spionin«, stellte sie schließlich klar, »aber keine Attentäterin. Und ich bin definitiv Irene Winters.«

»Gut, gut. Dann lass uns überlegen, was du mir anbieten kannst.« Er klang nun recht gut gelaunt, aber Irene konnte die unterschwellige Botschaft hören, die in seinen Worten lag: Zeig mir, dass du meine Zeit nicht verschwendest.

Sie setzte ein Lächeln auf. Darin war sie gut, insbesondere dann, wenn sie mit Leuten konfrontiert wurde, die sie töten konnten. »Der Standpunkt der Bibliothek besagt, dass ein Waffenstillstand für alle gut ist. Wir verurteilen in keiner Weise frühere Feindseligkeiten zwischen Drachen und Elfen, und wir geben freimütig zu, dass viele von ihnen womöglich vollkommen gerechtfertigt waren. Was wir zu verhindern versuchen, ist die Art von zufälliger Aggression, die nichts zuwege bringt und die nutzlose kollaterale Schäden und Zerstörungen verursacht.«

Und zwar insbesondere Schäden und Zerstörungen, die den Menschen zugefügt werden. Nicht den Drachen, den Geschöpfen der Ordnung: Sie konnten die Elemente beherrschen und einfach in eine andere Welt wegfliegen, wenn ihre Machtbasis zerstört war. Und auch nicht den Elfen, den Geschöpfen des Chaos und der erzählerischen Archetypen: Sie würden mit einer dramatischen Niederlage fast genauso glücklich sein wie mit einem dramatischen Sieg, solange es unterhaltsam war. Es waren die Menschen in der Mitte zwischen Drachen und Elfen: Sie waren über die zahllosen Parallelwelten verteilt und gingen ihren jeweiligen Leben nach, ohne zu wissen, dass sie von beiden Seiten als Schachfiguren benutzt wurden. Die Aufgabe der Bibliothek bestand darin, die Parallelwelten zu stabilisieren und die Menschen in ihnen zu schützen. Bisweilen geschah dies durch den Diebstahl einzigartiger Bücher dieser Welten, jetzt aber wurde es zudem von den Möglichkeiten der Diplomatie flankiert.

Tatsächlich fühlte es sich derzeit so an, als ob die Diplomatie die wichtigste Maßnahme war, das Gleichgewicht zu wahren, und dass das Stehlen einzigartiger Bücher nur noch eine Nebenbeschäftigung darstellte.

Irene mochte die Diplomatie nicht besonders, ob sie nun ein Talent dafür hatte oder nicht. Viel lieber würde sie Bücher stehlen – aber noch viel lieber sie lesen. Doch es war wichtig, sich an die höchsten Ziele ihrer Arbeit zu erinnern, anstatt sich nur auf die Methoden zu konzentrieren. »Natürlich würden wir nicht von dir verlangen, dass du auf Feindseligkeiten gegen jemanden verzichtest, der dich angegriffen hat. Aber wenn es sich um ein Mitglied aus dem anderen Lager handelt, das den Vertrag unterzeichnet ha…«

»Du meinst also einen die Realität verdrehenden, störenden Zmej«, fiel ihr Gastgeber ihr ins Wort.

Irene kannte den Begriff aus dem russischen Volkstum; er bezeichnete einen Drachen oder eine gigantische Schlange. Sie nickte. »Unter diesen Umständen würden wir dich bitten, Onkel, eine Klage darüber bei den Repräsentanten des Vertrags einzureichen, sodass die andere Seite den betreffenden Angehörigen ihres Volkes bestrafen kann. Du weißt ja, wie hierarchisch die Gemeinschaft der Zmej ist.« Verwende die Sprache und Terminologie deines Gesprächspartners, um ihn zu überzeugen, dass du auf seiner Seite stehst. »Überleg mal, wie du reagiertest, wenn einer deiner Untergebenen jemanden beleidigt, mit dem du einen Vertrag abgeschlossen hast. Ich kenne eine ganze Reihe von Zmej, die sich ähnlich verhalten würden.«

»Du meinst, sie würden mir ein paar seiner Körperteile zuschicken – als Beweis dafür, wie betrübt sie gewesen sind?«

»Durchaus möglich«, antwortete Irene, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich will darauf hinaus, dass es ordentlicher ist, wenn sich jede Seite um das Fehlverhalten ihrer eigenen Leute kümmert – um das Hervorrufen von Erdbeben, das Auslösen von Kriegen, das Ermorden von Monarchen, was auch immer. Das ist doch weit besser, als zuzulassen, dass es sich zu einem Problem entwickelt, das ganze Welten betrifft und in das nur noch mehr Personen hineingezogen werden.«

»Und schließt deine Liste von Fehlverhalten auch das Stehlen von Büchern ein?« Er beugte sich vor. Das Feuer wählte genau diesen Moment, um emporzuschießen. Die Hitze loderte wie eine Warnung auf.

Irene faltete sittsam die Hände. »Die Bibliothek ist Unterzeichnerin des Vertrags. Natürlich würden wir niemanden bestehlen, der ebenfalls den Vertrag unterschrieben hat. Wir würden ihn fragen oder ihm einen Handel anbieten, ihn jedoch nicht bestehlen. Auf unser Wort kann man vertrauen.«

»Ja, davon hat man mir auch erzählt. Wenn du etwas in deiner Sprache schwörst, bist du an dein Wort gebunden.«

»Genau wie ein Elf, der sein Wort gegeben hat und dieses ebenfalls halten wird«, entgegnete Irene.

Er nickte. »Ich glaube, wir haben viel gemeinsam, Irene Winters. Sprich weiter. Ich bin interessiert.«

Jedoch nicht interessiert genug, um an diesem Tag noch irgendwelche Verpflichtungen einzugehen.

Irene wälzte sich im Bett herum, starrte zur Decke hoch und grübelte vor sich hin. Sie wusste, dass laufende Verhandlungen besser – viel besser – waren als eine offen ausgesprochene Absage, aber es war dennoch äußerst ärgerlich. Sie saß mindestens noch einen weiteren Tag hier fest, möglicherweise sogar mehrere Tage, bis ihr Gastgeber zu einer Entscheidung kam. Vielleicht sogar Wochen. Oder einen ganzen Monat.

Sie saß in der Falle ihres Pflichtbewusstseins. Man musste kein großer Detektiv sein, um zu erkennen, dass sie in diese Situation hineinmanövriert worden war, damit sie nicht im Weg stand und nicht länger in der Lage war, in der Bibliothek heikle Fragen zu stellen. Haben die etwa Angst, dass ich sie verrate – genauso wie mein Vater es tat? Oder glauben sie, dass ich etwas herausfinde, das zu gefährlich ist, um es zu enthüllen?

Und wenn es so sein sollte – welches Geheimnis könnte eine derartig große Gefahr darstellen, dass die Bibliothek sie opfern würde, um es im Verborgenen zu halten?

Es wäre das Vernünftigste gewesen, einfach zu schlafen, aber ihre Träume waren voller Schreckensvisionen. Dass sie von ihnen heimgesucht wurde, war begründbar: Sie benötigte keinen Psychologen, der ihr erklärte, warum Goyas Bild Saturn verschlingt seinen Sohn ein ständig auftauchendes Motiv war, sobald sie die Augen schloss. Das Wissen half ihr in keiner Weise. Noch schlimmer waren die Bilderfolgen, in denen sie durch die Bibliothek schritt und dabei inmitten einer Flut von Blut watete, die bis zu ihren Knien anstieg und selbst dann noch weiter emporschwoll. Oder die Albträume, in denen Kai rief, dass sie die Tochter ihres Vaters war und es stets sein würde. Und dass die Bibliothek wegen der Sünden ihrer Gründer verdammt war …

Rund um die Kanten der Vorhänge drang Mondlicht in den Raum: Der Schneesturm hatte aufgehört, und jetzt war die Welt draußen fast so hell erleuchtet wie tagsüber, voller silbernem Licht, das Schatten von unglaublicher Schwärze warf. Irene war von einem Kurier der Elfen hergebracht worden, der deren Trick benutzt hatte, um durch die Welten zu reisen und von einer zur anderen zu gelangen. Aber jeder normale Mensch in dieser Welt, der versuchte, diese Datscha zu erreichen, würde eine schwierige Zeit durchmachen.

Ihr Gedankengang wurde abrupt unterbrochen, als sich an der Wand zu ihrer Linken etwas veränderte – etwas, das am Rand ihres Sichtfeldes kaum erkennbar war. Sie lag still da, achtete darauf, dass sie gleichmäßig atmete, und spähte aus dem Augenwinkel, in dem Bemühen, festzustellen, was sie erblickt hatte.

Die Schattenlinie entlang einer Kante des Kleiderschranks hatte sich etwas verbreitert. Eine Sekunde später geschah es erneut – lautlos, ohne dass auch nur ein verräterisches Knarren von Türangeln oder das Geräusch von Schritten zu vernehmen war. Jemand auf der anderen Seite der Wand versuchte, sich in ihr Zimmer zu schleichen.

Sie hätte verängstigter sein sollen. Doch wie sie sich ehrlich eingestand, war die Aussicht auf Action – gewalttätige Action – eine willkommene Abwechslung. Immer noch stellte sie sich schlafend und wartete darauf, dass sich der Kleiderschrank ganz nach vorne drehte und denjenigen, der dort war, ins Zimmer eintreten ließ. Der Betreffende war womöglich gezwungen, still zu bleiben, aber sie würde Krach schlagen, sobald sie den Eindringling ausgeschaltet hatte. Es würde interessant sein, zu entdecken, wer sie zu ermorden versuchte.

Dann fiel das fragmentarische Mondlicht auf das bleiche Haar des Mannes, der sich gerade in den Raum gestohlen hatte, und sie erkannte, um wen es sich handelte. Mit einem Seufzer setzte sie sich aufrecht hin. »Hallo, Lord Silver«, sagte sie. »Darf ich fragen, was Sie in meinem Schlafzimmer machen?«

Zweites Kapitel

Ihre Bewegungen und Worte überraschten den Elfen völlig; er schreckte zurück und drückte sich flach gegen die Wand.

Irene machte sich seine Verwirrung zunutze und schaltete die Nachttischlampe ein, während er in ihre Richtung starrte; sie wollte alles tun, um zu verhindern, dass er sein inneres Gleichgewicht rasch wiederfand. »Ich glaube nicht, dass mein Gastgeber das hier im Sinn hatte, als er mir sicheres Geleit versprach.« Es war schon schlimm genug, dass sich jemand nachts in ihr Schlafzimmer schlich. Aber wenn es sich dabei um einen Elfen handelte, dessen Archetypus der des freigeistigen Verführers war, dessen silbernes Haar zum Austausch von Zärtlichkeiten einlud, dessen goldene Haut die Sehnsucht, berührt zu werden, geradezu ausstrahlte, dessen Lippen schon stillschweigend sündhafte körperliche Freuden verhießen, während die ihnen entfleuchenden Worte – und zwar ein jedes von ihnen – jede Frau, die ihnen lauschte, in sein Bett lockten …

Leider waren seine Verführungskünste so gut, dass sie sich mit vollem Bedacht dazu zwingen musste, diese Art von unbewussten Gedanken zu unterdrücken. Das Bibliotheksmal auf ihrem Rücken juckte und widersetzte sich der Kraft seiner Natur.

Er hob eine Hand, um seine Augen vor dem plötzlichen, grellen Licht zu schützen. »Schreien Sie nicht, Miss Winters. Wir würden es beide bedauern.«

Er hatte sie Miss Winters genannt und nicht eines seiner ärgerlichen, verniedlichenden Diminutive benutzt, wie zum Beispiel »Mäuschen«. Das bedeutete unglücklicherweise stets, dass es ihm um etwas Ernstes ging. »Habe ich nicht im Moment schon genug Krisen am Hals?«, fragte sie. »Warum kriechen Sie in mein Schlafzimmer und bringen dabei noch weitere mit?«

»Ich erhebe Einspruch gegen das Wort ›kriechen‹.« Er glitt nach vorn, um sich auf eine Seite ihres Bettes zu setzen. »Ein Gentleman kriecht nicht. Er schleicht sich vielleicht an …«

Er war in Abendgarderobe gekleidet, seine Fliege war allerdings nicht gebunden und hing lose herab. Mit Unbehagen wurde sich Irene der Tatsache bewusst, dass sie nichts als ein seidenes Nachthemd trug. In genau diesem Moment hätte sie schwere Tweedkleidung – oder sogar einen Plattenpanzer – vorgezogen, jedenfalls etwas Festes und Undurchsichtiges zwischen seinen Augen und ihrem Körper. »Lord Silver, bitte erklären Sie mir, warum Sie sich in mein Schlafzimmer geschlichen haben.«

Der Ausdruck spöttischen Verlangens verschwand ein wenig aus seinem Blick. »Ich muss mit Ihnen ein Gespräch führen, von dem niemand etwas mitbekommen sollte. Das dürfte in der Welt, in der ich normalerweise lebe und in der Sie die vor Ort ansässige Bibliothekarin sind, unmöglich sein – zu viele Augen beobachten uns beide dort. Als ich erfuhr, dass man Sie beauftragt hatte, Mr Orlow hier zu besuchen, beschloss ich, dies auszunutzen.«

»Ihre letzten Worte sollten besser nicht ›für mich auszunutzen‹ bedeuten«, stellte Irene mit Nachdruck fest.

»Wollen wir es einfach im Sinne von ›die Situation auszunutzen‹ meinen? Das passt für uns beide doch recht gut.«

»Bitte erklären Sie es einfach!« Irene war nicht zu stolz, um nach einer direkten Antwort zu fragen.

»Das ist leicht.« Er beugte sich vor, und im Lampenlicht sah er wunderschön aus: ein verführerisches Kunstwerk, das direkt hier auf ihrem Bett saß. »Ich verlange von Ihnen, einstweilen Stillschweigen darüber zu bewahren, dass Catherine die Bibliothek betreten kann. Sagen Sie es Ihren Vorgesetzten, wenn Sie es unbedingt müssen, aber erwähnen Sie es nicht gegenüber Außenstehenden.«

Irene runzelte die Stirn. »Ich dachte, dies sei der eigentliche Zweck, weshalb sie bei mir in die Lehre geht – es ihr zu ermöglichen, genau das zu tun.«

Catherine, Lord Silvers Nichte, war ganz anders als er: eine Elfe, die allerdings absolut kein Interesse an Liebesgeschichten oder Sex hatte und leidenschaftlich von der Idee besessen war, eine archetypische Bibliothekarin und eine Bibliothekarin aus Berufung zu werden. Normalerweise konnten Elfen die Bibliothek nicht betreten, aber Irene hatte sie als Auszubildende angenommen und sich bereit erklärt, zu versuchen, ihr den Zugang zu ermöglichen – und sie war erfolgreich gewesen.

»Es braut sich Ärger zusammen.« Er hob abwehrend eine Hand, um sie davon abzuhalten, sogleich nach Einzelheiten zu fragen. »Nein, ich weiß nicht, was los ist. Es ist so, als stünde man am Rande eines Raums voller Leute und wüsste, dass in der Zimmermitte irgendwas geschieht, ohne dies jedoch sehen oder hören zu können, weil die Menge die Sicht versperrt und sehr laut ist. Welten sind verschwunden. Einige Leute sprechen nicht mit mir, obgleich sie es sollten, und andere sagen Dinge, die mir eigentlich Sorgen machen müssen. Mir ist nicht klar, was los ist, aber im Moment will ich – nein, möchte ich –, dass Sie Ihre süßen kleinen Lippen geschlossen halten, wenn es um die Frage geht, wo sich Catherine aufhält und wozu sie in der Lage ist.«

Das war so schwerwiegend, dass Irene ihre Abneigung gegen sein Verhalten und die Wortwahl zurückstellen konnte. »Was meinen Sie mit ›Welten sind verschwunden‹?«

»Ich meine damit, dass einige Welten einfach nicht mehr dort sind, wo sie sein sollten. Und niemand weiß, was da vor sich geht – ob dies absichtlich geschieht, ob es von Dauer ist oder ob irgendein Nutzen dahintersteckt. Unglücklicherweise gibt es einen ebensolchen Mangel an Informationen wie einen Mangel an Welten. Könnten wir jetzt zu der wichtigeren Angelegenheit zurückkehren – zu meiner Nichte?«

Einige Nachrichten konnte man nie als gute Nachrichten bezeichnen, und das Verschwinden von Welten war definitiv eine schlechte Nachricht. Irene beschloss, um mehr Informationen zu bitten, sobald sie wieder in der Bibliothek war. »Und ist es Catherine, die in Gefahr sein könnte? Oder Sie?«

»Gute Frage. Für sie bestünde die Gefahr, dass sie verschwindet. Zu viele Leute suchen nach einer Waffe, wenn Ärger im Anmarsch ist, und sie würden sie als eine potenzielle Waffe sehen. Eine von meiner Art, die nach Belieben die Bibliothek betreten und verlassen kann? Viel zu verlockend.«

Irene entschied sich, unerwähnt zu lassen, dass es nicht ganz so ablief – dass seine Nichte nicht nach Belieben hinein- und hinausgehen konnte. Catherine musste von einem Bibliothekar in die Bibliothek gezogen werden, der ihren wahren Namen kannte, und der Kreis derer, die das wussten, beschränkte sich im Moment auf Irene. Aber würde ein Entführer das zwangsläufig glauben?

»Sie haben sie mir zugewiesen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie haben mir die Aufgabe übertragen, sie in die Bibliothek zu bringen. Warum taten Sie all das, wenn es bedeutete, sie in sehr große Gefahr zu bringen?«

Er breitete seine langen, grazilen Hände aus. »Weil sie sich so sehr wünschte, Bibliothekarin zu werden und in Ihre Bibliothek hineinzukommen. Oh, ich gebe zu, es mag unter Umständen auch ein wenig politisches Interesse im Spiel gewesen sein …«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass es so einige politische Vorteile haben dürfte, der Onkel der einzigen Elfe zu sein, die die Bibliothek zu betreten vermag«, murmelte Irene mit gesenktem Kopf.

Er streckte die Hand aus, um ihr Kinn anzufassen, und drehte ihr Gesicht dem seinen zu. »Es war das, was sie wollte. Bist du jemals in der Lage gewesen, jemandem seinen Herzenswunsch zu erfüllen, Mäuschen? Verstehst du, wie verlockend das ist?«

Irene schenkte dem Drang, ihr Gesicht an seine Finger zu schmiegen, keine Aufmerksamkeit; vielmehr ergriff sie sein Handgelenk und drückte den Arm von sich weg. »Also nein, Sie sollten mich nicht bitten, etwas zu tun, und sich dann beklagen, wenn ich es tue!« Sie versetzte sich absichtlich in einen Zustand der Entrüstung – ein Mittel, um den inneren Zwang zu bekämpfen, ihren Körper an seinen zu pressen. »Und was ist mit Lord und Lady Guantes? Als die beiden auftauchten, haben Sie sich einfach aus dem Staub gemacht und es mir überlassen, mich um Ihre Nichte zu kümmern.«

»Eine Aufgabe, die Ihnen bemerkenswert gut gelungen ist. Was mich an eines erinnert – dafür, dass Sie mit den beiden fertiggeworden sind, schulde ich Ihnen einen Gefallen, Irene Winters. Sie dürfen ihn bei passender Gelegenheit einfordern.«

Das überraschte Irene. Sie stimmte ihm sicherlich zu, dass er ihr einen Gefallen für die Beseitigung ihrer gemeinsamen Feinde schuldete. Jedoch hatte sie nicht erwartet, dass er das zugeben würde. »Hab’s im Kopf notiert«, antwortete sie.

Er schnippte mit den Fingern. »Außerdem habe ich etwas für Sie. Einen Brief.« Er holte einen kleinen, zusammengefalteten Notizzettel aus einer Innentasche, der mit einfachem Wachs versiegelt war. »Ich weiß nicht, von wem er ist oder worum es darin geht, aber ich habe versprochen, ihn an Sie weiterzugeben. Teil der Abmachung war, dass mit diesem Schreiben keine Gefahr verbunden ist.«

Irene beäugte den Brief etwas skeptisch. »Sind Sie sich absolut sicher, dass er nicht gefährlich ist?«

»Ich hätte ihn wohl kaum mit mir herumgetragen, wenn ich ihn für gefährlich hielte. Außerdem möchte ich, dass Sie mir einen Gefallen tun. Warum sollte ich Ihnen etwas überreichen, das Sie möglicherweise umbringt?«

Angesichts von zwei so starken, auf Eigeninteresse beruhenden Argumenten konnte Irene ihm nicht widersprechen. Ein wenig nervös nahm sie den Zettel entgegen, brach das Siegel und faltete ihn auseinander. Silver beugte sich vor, um den Inhalt des Briefs zu sehen, aber sie neigte das Papier so, dass er nicht darauf blicken konnte.

Ein kalter Schauer überlief sie, bei dem sich ihre Nackenhaare aufrichteten, als sie die Unterschrift sah. Alberich. »Von wem haben Sie das?«, wollte sie wutentbrannt wissen.

Silver schreckte vor ihr zurück. Offensichtlich war ihr Tonfall barsch genug, um eine authentische Reaktion bei ihm auszulösen, nicht nur ein wollüstiges Getue. »Ein Freund eines Freundes«, antwortete er ausdruckslos. »Keine Namen, keine Details. Das war Teil der Abmachung. Mehr als das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Der Brief ist von Alberich. Er hat mit den Guantes zusammengearbeitet und versucht, uns zu töten – oder haben Ihre Spione Sie noch nicht darüber informiert? Ich dachte, er wäre in seiner eigenen Welt gefangen und könnte sie nicht verlassen. Wie hat er mir also diesen Brief zukommen lassen? Sind Sie sicher, dass Sie mir nichts sagen können?«

Er kaute auf seiner Unterlippe, als ob er ein paar innere Grenzen austestete. »Nein, ich kann nicht«, erwiderte er schließlich. »Wer auch immer sich die Abmachung ausgedacht hat, muss mit etwas wie dem hier gerechnet haben. Was steht drin?«

Irene blickte wieder auf den Zettel. Er war nicht sonderlich lang – nur ein paar Absätze.

Irene,

mir ist bewusst, dass Du keinem einzigen Wort vertrauen wirst, das ich sage. Du solltest jedoch vorsichtig sein, wem Du überhaupt vertraust. Gewisse Leute werden Angst haben, dass Du zu viel weißt.

Hast Du von den verschwundenen Welten gehört? Ich weiß, wer dahintersteckt. Ich kenne auch den Grund. Ich könnte Dir eine Menge erzählen – aber Du wirst mit mir reden müssen, damit das geschieht.

Es gibt eine Fäulnis im Herzen der Bibliothek. Jedes Netz hat eine Spinne.

Ich melde mich wieder. Lass Dich nicht umbringen!

Alberich

Er unterschrieb nicht mit »Dein Vater« oder mit etwas Ähnlichem – was gut war, denn das wäre eine Provokation zu viel gewesen. Sie hatte sich hier im Schlafzimmer niedergelassen, um eine ungestörte Nachtruhe zu haben, und jetzt saß Lord Silver auf ihrem Bett, und sie hielt einen Brief von Alberich in der Hand. So viel zum Thema »Abstand von allem gewinnen«.

Irenes Magen krampfte sich zusammen, und ihr wurde speiübel. Sie wollte sich übergeben. Sie wollte den Brief in tausend Stücke reißen oder ins Feuer werfen. Sie wollte sich zusammenrollen und unter den Betttüchern verstecken. Bei den Göttern, sie wünschte, dass Kai hier bei ihr wäre. Nicht, damit er sie in seine Arme schloss und ihr sagte, dass alles vorübergehen würde, sondern weil sie ihn dann anschauen könnte und wüsste, dass sie jemanden hatte, auf den sie sich absolut verlassen konnte.

Doch sie hatte nicht Kai – sie hatte Lord Silver, und sie konnte es sich nicht leisten, vor ihm Schwäche zu zeigen. Im Augenblick mochte er ein Verbündeter sein, aber ein Freund war er beim besten Willen nicht. Mit voller Absicht faltete sie den Zettel so wieder zusammen, dass er den Text nicht sehen konnte, und versuchte, ihren Herzschlag allein mithilfe ihres Willens zu verlangsamen. »Nichts Wichtiges«, antwortete sie schließlich auf seine Frage. »Nur das Übliche.«

Er schnaubte. »Ich mag ja kein Bibliothekar und auch kein großer Detektiv sein, meine kleine Maus, aber ich bin nicht blind. Wozu auch immer es gut sein mag – ich bedaure, dir Schmerz bereitet zu haben.«

Irene beschloss, das Thema zu wechseln. »Sagen Sie mir eines – und damit fordere ich nicht den von Ihnen erwähnten Gefallen ein! Wie um alles in der Welt sind Sie eigentlich in mein Schlafzimmer hineingekommen? Kann man Mr Orlow nicht trauen?« Jeder, der Silver gestattete, nachts in ihr Schlafzimmer einzudringen, wäre ein im höchsten Maße unsicherer Kantonist.

Silver vollführte eine vage Handbewegung. »Ich kenne eine Person, die eine Person kennt, die mir von diesem Geheimgang erzählt hat. Mr Orlow weiß nicht, dass irgendjemand den kennt. Also lassen Sie uns vermeiden, dass jemand aufgrund unserer Erwähnung dieser Sache getötet wird, hmm? Sicher möchte eine nette Person wie Sie nicht für eine wachsende Zahl von Toten verantwortlich sein.«

»Ich bin keine nette Person«, murmelte Irene. »Vergessen Sie das freundlicherweise nicht.«

»Unsinn. Sie sind eine moralische Person – und in Fällen, wo ich Sie unbedingt manipulieren muss, finde ich das sehr praktisch.« Sein Lächeln war ein Ausdruck der reinen Selbstsucht. »Ich bin in erster Linie hergekommen, weil Mr Orlow Geschäfte macht. Er wird es Ihnen nicht gesagt haben, aber es gibt derzeit eine freie Stelle ganz oben in der Hierarchie von Leuten, die sich durch etwas auszeichnen, was Sie einmal, wie mir zu Ohren gekommen ist, als seinen ›erzählerischen Archetyp‹ bezeichnet haben.« Er begegnete diesen Wörtern mit Abneigung, als handelte es sich um eine Übersetzung, die aus fachlicher Sicht korrekt war, aber den wahren Sinn nicht wiedergab. »Nennen Sie denjenigen, der diese Stelle innehat, den Don oder den Boss oder den Mann oder wie auch immer … Doch die Person, die das zuvor war, ist verstorben, und alle Leute, die sich in dieser Rolle sehen, treten nun vor, um die Position zu übernehmen. Oder, in einigen Fällen, um sicherzustellen, dass ihre schlimmsten Feinde diese Position nicht erringen.«

»Das erklärt, warum er diesen Zeitpunkt gewählt hat, um die Unterzeichnung des Vertrags in Betracht zu ziehen. Er will jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den Drachen vermeiden – oder mit der Bibliothek«, fügte sie aus Loyalität hinzu, obgleich sie wusste, dass die Drachen ein weitaus ernsterer potenzieller Gegner für die Elfen waren. »Es wird ihm erlauben, seine volle Aufmerksamkeit auf jedweden Feind unter den Elfen zu richten.« Das erklärte auch die anderen Besucher in dem Herrenhaus und das Gerede von »Verrätern«.

»Sehen Sie, wie hilfreich ich bin?« Silvers Lächeln verschwand. »Habe ich jetzt Ihr Wort, dass Sie sich über Catherine in Stillschweigen hüllen?«

»Mein Wort haben Sie nicht«, antwortete Irene vorsichtig. »Ich kann keinerlei Versprechungen machen. Aber ich werde versuchen, die Information einstweilen geheim zu halten, und ich werde Ihre Nichte in die Bibliothek bringen, sobald ich wohlbehalten von hier zurückgekehrt bin. Dort wird sie sicher sein. Womöglich sollten Sie auch mit Kai und Vale sprechen. Sie wissen es beide.« Kais Bruder Shan Yuan wusste es auch, allerdings war der ein entschiedener Gegner der Elfen. Und angesichts dieser Tatsache war die Wahrscheinlichkeit, dass er einem Elfen davon erzählte, »gering bis nicht vorhanden« – hoffte sie jedenfalls.

»Es ist weitaus wahrscheinlicher, dass der Prinz und der Detektiv eher auf Sie als auf mich hören werden«, beschwerte sich Silver. »Je rascher Sie hier fertig sind, desto besser. Was glauben Sie, wie lange Sie noch brauchen werden, um Mr Orlow zu überred-«.

Seine Stimme verstummte abrupt, als irgendwo in der Nähe des Hauses ein Maschinengewehr ratterte.

Drittes Kapitel

Silver wollte schnell wie ein Hase auf den Geheimgang zueilen, aber Irene stürzte sich wie ein Fuchs auf ihn und hielt ihn am Handgelenk fest. »Wo wollen Sie hin?«

»Weg von hier!«, fauchte er und versuchte, sie abzuschütteln. »Sie können nicht mit mir kommen. Wenn Orlow herausfindet, dass irgendjemand von diesen Durchgängen weiß …« Er hielt inne, um sie von oben bis unten anzuschauen. »Es sei denn, Sie wollen, dass ich dies tue, um Ihnen einen Gefallen zu erweisen?«

Irene hatte nicht die Absicht, diese ausstehende Schuld so leichtfertig aus der Hand zu geben. Gefälligkeiten waren eine Währung, mit der Elfen untereinander handelten, metaphysische Haken, die tief in ihren Seelen steckten – falls Elfen überhaupt Seelen hatten, was einige bestreiten würden –, und denen sie gehorchen mussten.

»Was ich von Ihnen als Gefallen haben will, ist ein bisschen teurer als das«, entgegnete Irene. Es war besser, ihm hier und jetzt alles zu diesem Thema zu sagen, als zu riskieren, dass er sich dem Kontakt mit ihr entzog und für das nächste Jahr nicht mehr zur Verfügung stand. Was recht gut möglich war: Sich von einer Person fernzuhalten und dadurch zu vermeiden, dass man von ihr um einen Gefallen gebeten werden konnte, stellte eine unter Elfen allgemein anerkannte Strategie dar. »Ich will, dass Sie mich mit Elfen in Kontakt bringen, die mit Alberich zu tun hatten. Relativ vernünftige und vertrauenswürdige Elfen. Ich weiß, dass Sie eine Menge Kontakte haben, Lord Silver. Das sollte etwas sein, das Sie für mich tun können.«

»Na schön!«, blaffte er. »Abgemacht und angenommen!«

Mit einer Drehung entriss er sich ihrem Griff und rannte durch den Spalt in der Wand. Der Schrank schwang hinter ihm zu, und Irene vermutete, dass er auf der anderen Seite der Mauer eingerastet war.

Plötzlich war erneut das Rattern von Schüssen zu hören, diesmal jedoch im Korridor vor der Tür. Irene fragte sich, ob sie womöglich ein bisschen zu voreilig gewesen war, den von ihr eingeforderten Gefallen zu präzisieren. Sie rollte sich vom Bett, schaltete das Licht aus und schaute sich nach einem Versteck um. Im Badezimmer? Im Kleiderschrank? Unter dem Bett? Draußen vor dem Fenster?

Die Tür rappelte in ihrem Rahmen, als jemand von der anderen Seite dagegen trat. Panikerfüllt rannte Irene zur Wand neben dem Zimmereingang und drückte sich flach gegen die Mauer.

Kugeln fraßen sich durch das Schloss, und unter einem weiteren Tritt flog die Tür krachend auf. Die massige Gestalt eines Mannes stolzierte in den dunklen Raum, richtete seine Waffe auf das Bett und feuerte eine Salve in die zerwühlten Laken.

Es ist doch immer wieder schön, dachte Irene, wenn absolut klar ist, dass Leute herumgehen und willkürlich morden – das macht die Entscheidung, wie man auf sie reagieren sollte, um so vieles einfacher. Die Wahlmöglichkeiten wurden eingeschränkt – von Antworten zur Frage »Was soll ich in dieser heiklen politischen Situation tun?« auf Klärung des Problems »Was wird mich hier und jetzt am Leben erhalten?«.

Während sie auf dem kalten Eisbergfloß des rücksichtslosen praktischen Denkens über dem aufgewühlten Meer der Panik trieb, befeuchtete sie ihre Lippen und sagte in der Sprache: »Du nimmst wahr, dass ich eine Kollegin bin.«

Der Mann wirbelte zu ihr herum, als sie zu sprechen begann, und die Mündung seiner Waffe kam voll zur Geltung; doch als ihre letzten Wörter im Raum widerhallten, entspannte sich sein Finger am Abzug. »Du solltest mich wirklich nicht so erschrecken«, sagte er auf Englisch, allerdings mit amerikanischem Akzent.

»Tschuldigung«, antwortete Irene in derselben Sprache und zuckte die Achseln. Er war groß, hatte dunkles, raspelkurz geschnittenes Haar und trug eine einfache Kampfmontur. Zudem hatte er eine gepanzerte Weste an und verschiedene Ausrüstungsgegenstände an seinem Gürtel; die Stiefel waren noch nass vom Schnee draußen. Die Sprache würde ihn dazu bringen, sie als eine seiner Kolleginnen zu erkennen – trotz ihres zerzausten Haars, des seidenen Negligés (Kai, der das Packen übernommen hatte, war die Schuld dafür zu geben) und ihrer nackten Füße.

Das war einer der weiteren Vorteile, die man als Bibliothekarin besaß – man war in der Lage, die Sprache zu benutzen. Letztere war in der Bibliothek erschaffen worden und konnte die Wirklichkeit verändern, vermochte Dinge dazu zu bewegen, von sich aus zu handeln und die Wahrnehmung von Personen zu beeinflussen. Alle drei Fähigkeiten erwiesen sich als sehr nützlich, wenn jemand mit Schusswaffen auf einen zielte. Leider gab es große Unterschiede dahingehend, wie lange Dinge oder Wahrnehmungen unter dem Einfluss der Sprache blieben. Und das wiederum bedeutete, dass Irene nicht müßig herumstehen und plaudern sollte. »Wie kommt die Mission voran?«, fragte sie.

»Dieser Flügel ist so weit klar, aber wir haben Orlow noch nicht ergriffen. Und bei euch?«

»Das Gleiche.« Mit etwas Glück war das ungenau genug, um keine plötzlichen Einsichten hervorzurufen, die sich in Erwiderungen wie »Warte mal, meine Kollegin würde das nicht sagen« ausdrücken könnten. Irene erblickte etwas sehr Nützliches an seinem Gürtel. »Darf ich das da einen Moment ausleihen?«

»Sicher doch. Augenblick mal, was tust du …«

Irene schoss mit seiner eigenen Elektroschockwaffe auf ihn, betätigte mehrmals den Abzug, bis sie sich absolut sicher war, dass er so schnell nicht mehr aufstehen würde. Sie dachte kurz darüber nach, ob sie einen Ausweis bei ihm suchen sollte, befand jedoch, dass dies sinnlos wäre. Attentäter führten bei der Arbeit keine Pässe oder Personalausweise mit sich. »Laken, bindet diesen Mann so fest, dass er allein nicht mehr freikommt!«, befahl sie.

Die Laken lösten sich vom Bett, bewegten sich über den Fußboden und drehten sich um den bewusstlosen Mann herum. Sie wickelten seine Arme und Beine so fest ein, dass man ein Messer benötigen würde, um sie zu entfernen.

Irene spielte mit der Elektroschockwaffe und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Irgendwo im Gebäude hallten abermals Schüsse wider. Sie wollte nicht in die Privatkriege anderer Leute hineingezogen werden und hatte sich auch nicht der Aufgabe verschrieben, Verbrecherfürsten zu beschützen – selbst wenn ihr eigener Job es oftmals mit sich brachte, Bücher zu stehlen. Diese Eindringlinge hatten sie erschießen wollen, was doch ziemlich verletzend war. Aber vielleicht wäre sie eher eine Art von Kollateralschaden gewesen – als Folge der Devise »Erschießt jeden im Gebäude« – und eben nichts Persönliches.

Erst der Gedanke, dass die Mission der Eindringlinge damit enden könnte, das Gebäude niederzubrennen, um keine Beweise zu hinterlassen, brachte sie dazu, sich in Bewegung zu setzen. Sie zog rasch ihren Morgenmantel an und schlich auf Zehenspitzen in den schwach beleuchteten Korridor hinaus.

Zum Glück hatte sie sich den Grundriss der Datscha eingeprägt, während man sie zu ihrem Zimmer eskortiert hatte: Der Gesellschaftsraum befand sich in dieser Richtung, weitere Schlafzimmer waren in jener Richtung, zum Arbeitszimmer von Mr Orlow ging es den Gang dort entlang, wohingegen dieser zur Bibliothek führte, die sie nicht aufsuchen durfte …

Einen Augenblick lang lockte sie der Gedanke, sich leise in die Bibliothek des Gebäudes zu schleichen und sie zu benutzen, um in die Bibliothek zu gelangen. Jede Bibliothek konnte als Eingangsportal dienen – es brauchte dafür nur einen Bibliothekar oder eine Bibliothekarin wie sie und die Sprache. Ein von der Vernunft geleiteter Rückzug angesichts gefährlicher Eindringlinge mit Schusswaffen war schließlich keine Schande. Aber ihr gesunder Menschenverstand ließ sie innehalten, bevor sie dieser Argumentationslinie mehr als ein paar Schritte gefolgt war. Wenn Mr Orlow diesen Überfall überstand und feststellte, dass sie verschwunden war, würde jeder annehmen, sie wäre an diesem Angriff beteiligt gewesen. Darunter würde ihr Ruf leiden – und insbesondere auch der Ruf der Bibliothek.

Irene schritt geräuschlos an ein paar toten Wachen vorbei. Sie waren von hinten erschossen worden. Von jemandem, der … wo gewesen war? Sie begutachtete die Szene und versuchte dabei, ihren Freund Vale nachzuahmen, jenen großen Detektiv aus einer Parallelwelt, die sich im Viktorianischen Zeitalter befand. Ein Freund, der ärgerlicherweise ein besserer Beobachter als sie war, sosehr sie sich auch bemühte.

Ein Lichtschimmer an den Fensterverschlüssen erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie untersuchte sie genauer. Bei einem war das raue Innere des Metalls zu sehen: Jemand hatte eine Art Werkzeug oder Sonde von außen hineingeschoben, den Fensterverschluss durchgesägt, eine gut versteckte Verbindung zur Alarmanlage durchtrennt und war auf diese Weise hier hereingekommen. Der Schnee draußen wies keine Spuren auf. Aber es gab einen schmalen Pfad aus dunkler Erde entlang der Datscha, wo die Wärme des Gebäudes den Schnee geschmolzen hatte.

Na schön. Jetzt wusste sie, wie die Eindringlinge hineingelangt waren. Und sie wusste mit Sicherheit, wo sie hinwollten: zu Mr Orlow. Sie waren selbstsicher genug, um Schusswaffen zu benutzen, die jeden alarmierten, der sie hören konnte, und es waren so viele, dass sie glaubten, sich aufteilen und alleine durchs Gebäude wandeln zu können, um willkürlich Gäste abzuschlachten.

Irene hoffte inständig, dass es sich bei Letzterem um eine Fehleinschätzung der Eindringlinge handelte, die der eigentlichen Lage nicht entsprach.

Erneutes Rattern von Schüssen ertönte, diesmal irgendwo in der Nähe, wahrscheinlich nur ein paar Korridore entfernt. Sie schlich darauf zu, ihre nackten Füße huschten lautlos über den Boden. Sie lugte behutsam um jede Ecke, zu der sie kam.

Doch trotz all ihrer Vorsichtsmaßnahmen wäre sie fast in eine Schießerei hineingeraten. Zwei Eindringlinge, die dem Mann ähnelten, der sie angegriffen hatte, feuerten gerade den Korridor hinunter auf einige von Mr Orlows Männern, die sich am anderen Ende des Ganges verschanzt hatten. Keine der beiden Seiten war bereit, ihre Deckung zu verlassen, um zielgenaue Schüsse auf ihre Feinde abgeben zu können. Also ballerten die Kombattanten voller Hoffnung durch die Gegend und hielten dabei ihre Köpfe unten. Glücklicherweise hatten die Eindringlinge nicht bemerkt, dass Irene sich ihnen näherte.

Die Männer von Mr Orlow können unmöglich wissen, wie ernst die Situation ist, sonst würden sie mit größerer Dringlichkeit reagieren, dachte Irene. Praktischerweise waren beide Eindringlinge genauso gekleidet und ausgerüstet wie vorhin ihr Angreifer – einschließlich des Elektroschockers am Gürtel. »Elektrische Handwaffen, entladet euch in eure Besitzer!«, befahl sie leise, aber hörbar.

Die zwei Männer gingen kreischend und zuckend zu Boden, und Kugeln rissen Stücke aus den teuren Wänden und der Decke, während ihre Finger sich krampfhaft in die Abzüge ihrer Waffen pressten. Umsichtig zog sich Irene zurück, um dem herumfliegenden Blei auszuweichen, und wartete, bis sich die beiden nicht mehr regten. Dann rief sie auf Russisch zum anderen Ende des Korridors: »Die sind am Boden!«

»Und wer sind Sie?«, fragte eine Stimme.

Irene atmete tief ein und streckte die Arme in die Höhe, um deutlich zu machen, dass sie keine Waffe in der Hand hielt. Dann trat sie vor, damit sie gesehen werden konnte, stellte sich aber auch darauf ein, in Deckung zu hechten, falls man auf sie schießen würde. »Irene Winters, eine Besucherin. Ich bin auf Ihrer Seite. Einer dieser Verbrecher hat vorhin versucht, mich zu erschießen – er ist in meinem Zimmer gefesselt. Ich habe die beiden da drüben ausgeschaltet, aber sie sind noch am Leben.«

Es gab ein kurzes, gemurmeltes Gespräch, dann rief dieselbe Stimme: »In Ordnung, kommen Sie zu uns. Aber Ihre Hände bleiben oben.«

Irene folgte den Anweisungen. Zur Begrüßung wurde sie flink, aber professionell abgetastet und dann ignoriert, während die drei Männer sich in leisem Ton darüber berieten, was sie als Nächstes tun sollten.

Nachdem sie ihnen etwa eine Minute lang zugehört hatte, sagte sie: »Entschuldigung, darf ich einen Vorschlag machen?«

»Sie sind nicht hier, um Vorschläge zu machen«, entgegnete einer von ihnen. »Sie stehen unter unserem Schutz, aber wir sind nicht dafür da, Ihre Sachen zu holen oder Besorgungen zu machen …«

»Sergej, die Frau hat soeben zwei Eindringlinge unschädlich gemacht«, hob der offenkundige Anführer der Männer mit müder Stimme hervor und wandte sich dann an Irene. »Was möchten Sie vorschlagen?«

»Sie haben gerade gesagt, dass Mr Orlow in seinem Bunker steckt – was gut ist –, dass sich die Eindringlinge vor dem Zugang jedoch zu einem Pulk versammelt haben und Sprengstoff mit sich führen – was schlecht ist. Und sie lassen niemanden in ihre Nähe«, fasste Irene die vorhergehende Diskussion zusammen. »Wenn Sie mich nah genug an sie heranbringen können, bin ich imstande, all ihre Waffen zu blockieren – so ähnlich, wie ich die Elektroschocker bei den beiden ausgelöst habe. Dann wird es auf die Anzahl der Kämpfer ankommen, und da sind Sie im Vorteil.«

Doch sie waren offensichtlich nicht überzeugt. Irene hatte einen Geistesblitz und fügte hinzu: »Fragt Ernst. Er kann sich für mich verbürgen.«

»In Ordnung, aber was haben Sie davon?«, fragte Sergej.

Irene trat einen Schritt vor und stupste gegen seine Schutzweste. Das hatte nicht viel mehr zur Folge, als dass ihr Finger sich verbog, aber sie fühlte sich dadurch besser. »Die haben versucht, mich in meinem Schlafzimmer zu erschießen, schon vergessen? Wie sollte ich da nicht auf eurer Seite stehen?«

»Vielleicht haben wir es ja hier mit einer besonders komplexen Verschwörung zu tun: Sie nutzen unsere Rettung, um unser Vertrauen zu gewinnen, und dann, wenn wir Sie zu Mr Orlows privatem Bunker gebracht haben, erstechen Sie uns von hinten und jagen hier alles mit Ihrer verrückten Bibliotheksmagie in die Luft«, mutmaßte Sergej und zuckte mit den Schultern. »Bei solchen Sachen läuft das doch oft in der Weise ab.«

»Sergej, halt den Mund!«, befahl der Anführer und seufzte. »Ernst sagte vorhin, sie wäre nützlich. Wir werden es versuchen.«

Er schritt voran, und als sie an den beiden bewusstlosen Eindringlingen vorbeikamen, hielt er nur kurz inne, um jedem von ihnen im Vorbeigehen eine Kugel in den Kopf zu schießen. Irene unterdrückte ihr Zucken und schaute zur Seite. Ihr war klar gewesen, was sie tat, als sie die beiden in einen Zustand der Bewusst- und Hilflosigkeit versetzt hatte – und dies in Gegenwart von Wachen, die keine Gewissensbisse kannten, wenn sie Leute erschossen. Doch diese Eindringlinge waren bereit gewesen, sie zu töten.

Das machte es allerdings nicht leichter, mit kaltblütigen Morden zu leben. Je schneller ich aus der Sache hier raus bin, desto besser. Und ich wünschte, ich wäre gar nicht erst darin verwickelt worden.