Das geheime Gewölbe - Genevieve Cogman - E-Book
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Das geheime Gewölbe E-Book

Genevieve Cogman

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Beschreibung

Als Agentin der unsichtbaren Bibliothek muss Irene Winters wertvolle Bücher aus den Parallelwelten retten. Seit sie den brüchigen Frieden zwischen Elfen und Drachen überwacht, werden auf sie und ihr Umfeld immer öfter Anschläge verübt. Doch wer steckt dahinter? Um ihren Partner, den Drachenprinz, und ihre Aushilfe, die kaum zu bändigende Nichte des Feenlords, zu beschützen, muss die Agentin tiefer in ihre Vergangenheit abtauchen als je zuvor. Dort erwarten sie ein uralter Feind und Geheimnisse, die über die Zukunft der Bibliothek entscheiden ...

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Seitenzahl: 519

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPROLOGErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelEPILOGDANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Band 7 der Reihe »Die Bibliothekare«

Übersetzt von Dr. Arno Hoven

Als Agentin der unsichtbaren Bibliothek muss Irene Winters wertvolle Bücher aus den Parallelwelten retten. Seit sie den brüchigen Frieden zwischen Elfen und Drachen überwacht, werden auf sie und ihr Umfeld immer öfter Anschläge verübt. Doch wer steckt dahinter? Um ihren Partner, den Drachenprinz, und ihre Aushilfe, die kaum zu bändigende Nichte des Feenlords, zu beschützen, muss die Agentin tiefer in ihre Vergangenheit abtauchen als je zuvor. Dort erwarten sie ein uralter Feind und Geheimnisse, die über die Zukunft der Bibliothek entscheidenn …

Über die Autorin

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt »Die unsichtbare Bibliothek« sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Die Reihe um Agentin Irene Winters hat auch in Deutschland viele Fans. Genevieve lebt im Norden Englands.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischen vonDr. Arno Hoven

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Genevieve Cogman

Titel der englischen Originalausgabe: »The Dark Archive«

Originalverlag: First published 2019 by Pan,an imprint of Pan Macmillan,a division of Macmillan Publishers International Limited

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Illustrationen von© shutterstock: Ink Drop | Hein Nouwens; © iStock: MorePics | mish-kom; © Gettyimages: AllNikArt

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1006-0

luebbe.de

lesejury.de

Für alle Bibliothekarinnen und Bibliothekare – egal, welche Art von Bibliothekarinnen und Bibliothekare Sie sind und wo immer Sie sein mögen.

PROLOG

Meine liebe Irene,

was um Himmels willen ist los? Du berichtest von Entführungs- und sogar von Attentatsversuchen? Du hast zwar dein Bestes getan, um es so darzustellen, als wären diese Geschehnisse ohne Belang. Aber es ist nicht normal, wenn ein halbes Dutzend Werwölfe versucht, Dich aus Deiner Droschke zu reißen. Ebenso wenig der Versuch, Dich während eines Abendessens mit Drogen zu betäuben und zu entführen – was auch immer Dein Freund, der Detektiv, dazu sagen mag. Seine Sichtweise auf dieses Thema ist in gravierender Weise verzerrt: Er hat sicherlich ständig mit so etwas zu tun. Und selbst wenn Prinz Kai ebenfalls mit einem Achselzucken über Attentatsversuche hinwegzugehen beliebt – seine Familie würde solche Ereignisse weitaus ernster nehmen.

Irene, Du darfst diese Geschehnisse nicht einfach als normal betrachten. Mir ist klar, dass das letzte Jahr für Dich mehr als nur ein bisschen stressig gewesen ist. Doch Du wirst gleichgültig, und das ist gefährlich. Ich würde Dir ja vorschlagen, Urlaub zu machen; aber Du bist im Augenblick nahezu unentbehrlich und deichselst einige sehr wichtige Probleme im Auftrag der Bibliothek. (Werde jetzt nur nicht selbstgefällig! Niemand ist völlig unentbehrlich.) Wenn diese Angriffe auf kriminelle Elemente in Vales Heimatwelt zurückzuführen sind, dann sorg dafür, dass er dies regelt. Wenn sie von jemandem organisiert werden, der sich außerhalb Deines Tätigkeitsbereichs befindet – von einem Elfen oder Drachen –, so besorge weitere Informationen, und zwar schnell.

Wo wir gerade von sehr wichtigen Problemen sprechen: Dein Ersuchen, eine Elfe als Auszubildende bei Dir aufzunehmen, hat einige Kontroversen ausgelöst und zu einer großen Diskussion geführt. Ich weiß, dass Du dies getan hast, um die Elfen dazu zu bringen, sich unserem Friedensvertrag in vollem Umfang zu verpflichten. Doch einigen Bibliothekaren gefällt das immer noch nicht.

Es wird Dich nicht überraschen zu erfahren, dass es früher schon ähnliche Versuche dieser Art gegeben hat. Sie sind allesamt gescheitert. Wir haben keine Aufzeichnungen über irgendeinen Elfen, dem es jemals gelungen ist, die Bibliothek zu betreten – was bedeutet, dass es keinem einzigen Elfen jemals gelungen ist, ein Bibliothekar zu werden. Außerdem wissen wir beide, dass die Elfen nicht an der Ausbildung interessiert sind, die Du ihrer Kandidatin bieten würdest (Recherche, Archivierung, List, Diebstahl und so weiter). Sie wollen, dass einer der ihren Zugang zur Bibliothek hat. (Trotz des Friedensvertrages zwischen ihnen, den Drachen und uns sucht ein jeder immer noch nach Vorteilen für sich selbst.) Nichtsdestotrotz wäre eine Elfe, die der Bibliothek gegenüber loyal ist und eindeutig auf unserer Seite steht, ein Vorteil für uns.

Wie Melusine als Leiterin der Internen Sicherheit wiederholt hervorgehoben hat, ist unsere exklusive Privatsphäre eine unserer größten Stärken. Für Elfen ist es in keiner Weise möglich, die Bibliothek zu betreten. Und Drachen können nur eintreten, wenn sie von einem Bibliothekar hereingebracht werden. Das hat geholfen, dass wir in der Vergangenheit vor Invasionen geschützt geblieben sind. Sollte es Dir – auf irgendeine Art – gelingen, eine Elfe oder einen Elfen hier hereinzubekommen, schaffst Du einen Präzedenzfall, der unsere Sicherheitsprotokolle für immer verändern wird. Und wenn Elfen die Bibliothek betreten können, was ist dann mit anderen Kreaturen des Chaos? Was ist mit Alberich? Er war so stark mit Chaos-Energie kontaminiert, dass er genauso gut ein Elf hätte sein können.

Bestimmt fragst Du Dich inzwischen, was wir nun tatsächlich mit Blick auf Deine Auszubildende beschlossen haben. Beinahe wäre die Angelegenheit zum Ausschuss zurückgeschickt worden, um sie dort ein weiteres Mal zu besprechen, und zwar mit einem Fälligkeitstermin im nächsten Jahr um diese Zeit. Ich bin jedoch froh, Dir mitteilen zu können, dass wir eine Antwort haben. Oder zumindest eine Teilantwort.

Du kannst den Elfen Folgendes übermitteln: Die älteren Bibliothekare haben keinerlei Aufzeichnungen darüber, dass in der Vergangenheit irgendein Elf die Bibliothek betreten oder einen Eid als Bibliothekar abgelegt hat. Jedoch kann die Bibliothekarin Irene für einen gewissen Versuchszeitraum eine Elfe als Auszubildende annehmen, wenn diese aufrichtig wünscht, Bibliothekarin zu werden. Irene soll dann ihr Bestes geben, um dieser Auszubildenden zu helfen, der Bibliothek beizutreten. Wenn sich das innerhalb von zwei Jahren als unmöglich erweist, werden wir über die Situation weiter verhandeln. Die Elfen werden den Zeitraum von zwei Jahren wahrscheinlich ausdehnen wollen. Du hast die Erlaubnis, Dich dazu überreden zu lassen, in eine Probezeit von bis zu fünf Jahren einzuwilligen, sollte es nötig werden. Gib allerdings Dein Bestes, um an besagten zwei Jahren festzuhalten.

Unglücklicherweise werden wir durch diese Vereinbarung voll und ganz gebunden sein, und dies ohne irgendeinen Spielraum. Wir werden gezwungen sein, eine Elfe in die Bibliothek zu lassen (was ein Sicherheitsrisiko für uns darstellt), oder wir werden unbestreitbare Gründe liefern müssen, warum wir es nicht können. Und wenn uns das nicht gelingt, werden die Elfen glauben, dass wir es nicht tun wollen – nicht, dass wir es nicht tun können. So etwas nennt man eine Lose-lose-Situation. Ich sage nicht, dass dies einem Vertragsbruch Vorschub leisten würde, aber es wird einen Schatten auf ihre Ansichten über uns werfen und Verhandlungen über zukünftige Zugeständnisse sehr viel schwieriger machen. Gib Dir selbst die Schuld, Irene: Du hast Dir den Ruf erworben, diejenige Bibliothekarin zu sein, die alles tun kann!

Ich werde Dir von jemandem unsere Recherche zum Thema »Elfen, die in die Bibliothek eingetreten sind, Fehlen von« bringen lassen. Vielleicht kommst Du durch die Lektüre auf ein paar Ideen, wo man anfangen könnte – oder zumindest, was man nicht wiederholen sollte. (Versuch nicht, einen Blitz aus einem Gewittersturm abzuleiten! Das geht immer schief. Ja … persönliche Erfahrung.)

So wie damals, als Du Kai als unseren ersten Drachenlehrling genommen hast, muss ich Dich auch jetzt warnen: Unserer angehenden Elfenauszubildenden darf auf gar keinen Fall etwas zustoßen. (Grüße übrigens Kai von mir! Wie geht es ihm?) Wenn sie in irgendeiner Weise Schaden nimmt, wirst Du dafür geradestehen. Halte uns auf dem Laufenden, insbesondere dann, wenn Probleme auftauchen.

Während ich mir diesen Brief nochmals anschaue, habe ich den Eindruck, dass ich möglicherweise allzu negativ erscheine. Was Du zu wagen bereit bist, mag ein großer Schritt nach vorn sein, und ich weiß das zu würdigen. Aber Fortschritte beinhalten immer auch Gefahren. Bitte sei vorsichtig! Ich mache mir wirklich Sorgen um Dich, weißt Du. (Und unternimm etwas gegen diese Entführungen!)

Mit Zuneigung und Sorge

Coppelia

Leitende Bibliothekarin

PS: Ja, der Husten wird besser. Hör auf, danach zu fragen!

Erstes Kapitel

Der breite Tunnel wurde vom grellen Licht der Ätherlampen hell erleuchtet. Irene schätzte, dass sie sich an dieser Stelle ungefähr zweihundertfünfzig Fuß unter dem Ärmelkanal befanden, nahe der Küste von Guernsey. Ventilatoren, die in gleichmäßigen Abständen in den Wänden angebracht waren, wirbelten mit ihren polierten Messingflügeln die abgestandene Luft umher und sorgten für ein ständiges leises Schnurren im Hintergrund. Dies war beruhigend in der ansonsten gespenstischen Stille. Irene Winters, Bibliothekarin und Spionin, ertappte sich dabei, wie sie sich perverserweise fragte, wer diesen Tunnel regelmäßig vom Staub befreite. Und wer das Messing polierte. Dann jedoch begriff sie: Sich von solchen Gedanken ablenken zu lassen war ein Anzeichen dafür, wie nervös es sie machte, hier zu sein. Sie war imstande, vieles zu tun, aber sie konnte nicht das Meer zurückhalten oder sie beide vor einem Erdbeben retten.

Am Ende des Durchgangs gab es eine Luftschleuse aus schwerem Messing, in deren annähernd kreisförmigem Gehäuse einander überlappende, blütenblattähnliche Verzierungen aus Eisen und Glas eingebettet waren. Ein Bedienfeld mit einem eingelassenen Rad und zwei riesigen Hebeln gab es seitlich davon an der Wand. Diese frühindustrielle Technik war allerdings vollkommen angemessen angesichts der Tatsache, dass Irene in einer Welt im Einsatz war, die sich im Viktorianischen Zeitalter befand.

Ihr Begleiter, Privatdetektiv Vale – der sie ersucht hatte, ihm hier unten zu helfen –, war ein Einheimischer dieser Welt. Doch ihre elegante Kleidung war für die Londoner Gesellschaft entworfen – und nicht für Tunnel, die unter dem Meer angelegt worden waren. Irene betrachtete ironisch Vales Zylinder und Anzug, während sie über ihren eigenen unpassenden Hut und Schleier nachdachte.

»Gibt es einen Grund, warum dieses Dokument über vertrauliche diplomatische Kanäle geschickt worden ist und nicht einfach mit der Post? Warum haben wir hierherkommen müssen, um es abzuholen?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich klaustrophobisch.

Vale hatte während ihres Spaziergangs durch den Tunnel die meiste Zeit geschwiegen: ein grüblerisches, nachdenkliches Schweigen, das Unterhaltungen nicht willkommen hieß. Aber die Zeit für mehr Informationen war gekommen. Immerhin, so dachte sie etwas irritiert, tue ich ihm einen Gefallen, indem ich ihn begleite. Sie waren zu viert – Irene selbst, der Drachenprinz Kai, ihre neue Auszubildende Catherine und Vale – hierher nach Guernsey gekommen, damit Irene ein ganz bestimmtes Buch für die Bibliothek erwerben konnte. Außerdem war es ihre Absicht gewesen, sie alle vom Ort der jüngsten Anhäufung von Angriffen wegzulotsen, die sich nicht bloß gegen sie, sondern auch gegen ihre Gefährten richteten. Nachdem sie angekommen waren, hatte Vale Irene gebeten, ihn auf dieser kleinen unterirdischen Exkursion zu begleiten. Sie war unter der Bedingung, dass sie rechtzeitig zur Buchübergabe zurückkehren würden, einverstanden gewesen. Kai und Catherine hatte sie bei Tee, Kuchen und einem niveauvollen Gespräch zurückgelassen. »Ich habe vorhin nicht gefragt für den Fall, dass jemand gelauscht hat, aber hier unten ist doch sicher …«

Vale klopfte bedächtig mit seinem Spazierstock – der, wie Irene wusste, ein elektrifizierter Stockdegen war – auf den gepflasterten Boden. Es war die Art von Zubehör, die Vale als größter Detektiv Londons für nützlich hielt. Wenn man es mit Kriminellen, Werwölfen, Vampiren, Kultisten und Spionen zu tun hatte, ergriff ein vorausschauender Mann alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen. »Ich weiß, ich war vorhin alles andere als mitteilsam, Winters. Ihre neue Schülerin bringt mich in eine schwierige Lage. Catherine ist Ihre Schülerin und deshalb, wie man hofft, Ihrer Bibliothek gegenüber loyal. Sie ist jedoch auch eine Elfe und die Nichte von Lord Silver. Er mag ja der Botschafter Liechtensteins im Britischen Empire sein. Aber außerdem ist er der Spionagechef jenes Landes in London und obendrein höchst unzuverlässig. Das Risiko, dass Catherine absichtlich oder unabsichtlich Informationen an ihn weitergibt, ist viel zu hoch. Ich kann einfach kein Risiko bei diesem Job eingehen.«

»Ich verstehe Ihr Argument«, gestand Irene ein. »Aber Ihnen kann unmöglich entgangen sein, wie groß Catherines Abneigung gegen ihren Onkel ist.«

»Genau die Einstellung, die ich pflegen würde, wenn ich an ihrer Stelle wäre und Sie davon überzeugen wollte, dass ich keine Hintergedanken habe«, entgegnete Vale. Er gab sich allergrößte Mühe, sein Misstrauen zu begründen, allerdings ohne Erfolg.

Irene konnte gegen diese Argumentation keine berechtigten Einwände vorbringen. »Nun gut«, sagte sie. »Also, da wir jetzt vollkommen allein sind und es unwahrscheinlich ist, dass uns jemand belauscht … Was können Sie mir sagen? Ich hätte wissen müssen, dass Sie ein Motiv dafür haben, mit uns zu kommen – und dass Sie sich nicht nur von unseren geheimnisvollen Widersachern fernhalten wollen.« Sie milderte ihre Worte mit einem Lächeln ab. Weiß der Himmel – ich schulde ihm so einige Gefallen.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich noch ein wenig länger gedulden würden, denn ich möchte, dass Sie sich der Situation mit einer unvoreingenommenen Denkweise nähern«, antwortete Vale und drückte den Hebel, der ihm am nächsten war, nach unten. Dabei entstanden klirrende Geräusche, und die Luftschleuse öffnete sich in irisierenden Farben, indem die metallenen und gläsernen Blütenblätter sich in die Wand zurückzogen. »Wenn ich Ihnen das Dokument zeige …«

Er verstummte abrupt, und auch Irene schwieg. Die Luft hinter der Schleuse roch nach Desinfektionsmitteln – vermischt mit einem Hauch von frischem Blut.

Irene war sofort in Alarmbereitschaft. Sie drückte sich flach gegen die Tunnelwand und spähte durch die Öffnung. Vale tat das Gleiche, ihr Gespräch war vergessen. Der Korridor hinter der Luftschleuse mündete in einen großen Raum, der mit mysteriösen Maschinen und Radargeräten gefüllt war.

Außer dem langsamen Drehen der Ventilatoren war immer noch kein Geräusch zu hören.

Vale runzelte die Stirn. Er trat durch die Luftschleuse, den Stock einsatzbereit in der Hand. Irene folgte ein paar Schritte hinter ihm. Außer einem kleinen Messer für Notfälle trug sie keine Waffe bei sich. Aber sie verfügte über die Sprache, das mächtigste Instrument eines Bibliothekars. Mit ihr konnte sie die Wirklichkeit mit einem einzigen Wort beherrschen, und das war gefährlich genug.

Die Kammer schien eine Art Kontrollraum zu sein. Taster und Schalter aus schwerem Stahl und Messing waren in Tafeln eingelassen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Irene konnte auch lange Kabel sehen, die in Röhren in den Wänden dahinter verschwanden. Auf primitiven Radarbildschirmen leuchteten grüne Kreise vor dunklem Hintergrund. Doch Zielobjekte waren darauf nicht identifiziert worden – nicht, dass Irene wusste, was hier überhaupt verfolgt wurde. Zwei wackelige Metallstühle standen vor den am wichtigsten aussehenden Bedienelementen, aber beide waren leer.

»Bleiben Sie, wo Sie sind, Winters«, wies Vale sie an. »Bringen Sie nichts durcheinander.« Er fing an, den Raum systematisch zu durchsuchen, beginnend mit einer genauen Inspektion der Geräte. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit den beiden anderen Durchgängen, die aus dem Raum hinausführten: Auch sie waren mit Schleusen verschlossen, aber ohne Sicherheitsverriegelungen von der Art, wie sie der von ihnen beiden genutzte Eingang aufwies.

»Haben Sie erwartet, hier Ihren Kontaktmann zu treffen?«, fragte Irene.

»Ja. Das Bereitschaftspersonal dieser Guernsey-Überwachungsstation besteht aus sechs Männern. Hier sollten derzeit zwei im Dienst sein.« Vale ließ sich auf ein Knie nieder, um etwas zu überprüfen. »Und zusätzlich gibt es fünf Männer irgendwo im Innern dieses Komplexes. Ich weiß zufälligerweise, dass derzeit ein U-Boot längsseits festgemacht ist. Die Besatzung müsste hier von Bord gegangen sein.«

»Und von Land aus ist der einzige Weg hier hinein der, den wir genommen haben?«

»Allerdings. Und als wir herunterkommen wollten, hat Dickson, der oberhalb dieses unterirdischen Komplexes im Büro von St. Peter Port ist, es ihnen gemeldet. Er erhielt die Erlaubnis, dass wir nach unten gehen dürfen. Das war erst vor zwanzig Minuten.«

Irene lief ein Schauer den Rücken hinab. Jemand hatte gewusst, dass Vale und sie hier sein würden: gefangen unter der Erde. Und bei ihrem Eintreffen war ihnen Blutgeruch entgegengeschlagen und kein Verbündeter da gewesen, um sie zu empfangen. Sie weigerte sich zu glauben, dass dies ein Zufall war – das schien unmöglich angesichts dessen, was in den letzten paar Wochen alles passiert war. »Das sieht nicht gut aus, weder für das Personal auf dieser Station noch für uns. Aber wer ist hier das Angriffsziel?«, fragte sie sich laut.

»Es ist unbedingt erforderlich, dass ich meinen Kontaktmann finde – und das Dokument, das ich hier abholen soll. Aber dabei sollten wir äußerste Vorsicht walten lassen.« Vale stand wieder auf. »Durch die Luftschleuse auf der rechten Seite gelangt man zum U-Boot-Dock, die andere führt zu den Wohnräumen. Ich kann aus den Spuren hier nichts erkennen, außer dass mindestens ein Mann auf den Boden gestürzt ist und eine leichte Verletzung erlitten hat. Es gibt auch einige merkwürdige Kratzer, die möglicherweise etwas zu bedeuten haben – oder ganz harmlos sind … Dieser Boden ist nicht gerade zweckdienlich, was die Bewahrung von Spuren anbelangt.«

»Dann sollten wir, nur für alle Fälle, den Wohnbereich absperren. Das Letzte, was wir uns wünschen, ist ein ungelegener Überfall aus dieser Richtung. Oder dass ein Angreifer dorthin entkommt.« Irene schritt hinüber zur Luftschleuse und legte ihre Hand auf den Öffnungsmechanismus. »Hebel, den ich gerade berühre – biege dich zur Seite hin, und zwar so, dass du nicht mehr funktionierst!«

Der schwere Messinghebel verdrehte sich, bis sie sicher war, dass niemand – jedenfalls kein Mensch – die Kraft hatte, ihn gerade zu biegen, und dass ein weiterer Einsatz der Sprache erforderlich sein würde, um ihn wieder zu öffnen. Anschließend lauschte sie einen Moment lang an der Luftschleuse, konnte aber nichts von der anderen Seite hören: keine Schreie von eingeschlossenen Feinden, keine Hilferufe … kein unsägliches Schlittern. In ihrem Metier hatte sie vieles dieser Art gesehen.

»Gute Arbeit, Winters.« Vale hielt an der anderen Luftschleuse inne. »Ich öffne jetzt diese hier. Machen Sie sich auf alles gefasst!«

Er zog den Hebel, die Luftschleuse öffnete sich – und drei Männer kamen hindurchgestürmt. Nachdem Irene alles und nichts erwartet hatte, war sie fast erleichtert über diesen Frontalangriff. Sie bewegten sich ruckartig, doch mit unerwarteter Schnelligkeit und Wildheit. Irene streckte ihren Fuß aus und brachte einen der Kerle – er hatte den kräftigsten Körperbau von den dreien – zum Stolpern. Er fiel der Länge nach auf den Boden und krümmte sich unnatürlich wie ein beschädigtes Spielzeug. Die anderen zwei drehten sich, einer stürzte auf Vale zu, einer zu ihr hin.

Die beiden Angreifer, ebenso wie der Mann am Boden, trugen eine Marineuniform. Auf den Kragen der zwei Männer, die ihnen nun entgegentraten, konnte Irene verschmiertes Blut erkennen. Noch besorgniserregender war, dass silberne Fäden in ihren Iriden glitzerten und sich in ihren Mienen eine nichtmenschliche Schlaffheit zeigte. Ihre Münder standen weit offen, und ihre Köpfe waren merkwürdig zur Seite geneigt, ähnlich wie bei Marionetten. Einer hielt eine Brechstange in der Hand, und obwohl der andere keine Waffe hatte, war er zum Angriff bereit, die riesigen Hände zu Fäusten geballt.

In der Ferne konnte Irene das Getrappel von laufenden Füßen hören. Verstärkung? Oder noch mehr »Marionetten«? Sie mussten mit dem Schlimmsten rechnen. Flüchtig sah sie, dass Vale seinen Stock hob, doch ihre Aufmerksamkeit war auf den Mann gerichtet, der sich auf sie stürzte.

Mit verblüffender Schnelligkeit bewegten sich seine Hände auf ihre Kehle zu. Sie sprang zur Seite, sodass er gegen die Wand knallte – aber das bremste ihn kaum. Sofort wandte er sich erneut ihr zu und stürmte abermals drauflos, wobei er sich immer noch wie eine Marionette mit ausgestreckten Händen bewegte. Als sie zurückwich, bemerkte sie ein Glitzern von Metall an seiner Kehle: Da war etwas, das sich unter dem Stoff seines Kragens verborgen hatte und jetzt hervortrat … und sich sogar bewegte.

Es wurde Zeit, dies zu beenden. »Uniformhosen, sinkt nach unten und behindert eure Träger!«, befahl sie.

Die beiden Männer stürzten auf ihre Knie und gesellten sich zu ihrem Kameraden auf dem Boden, dessen Beinkleider ebenfalls rutschten. Irene bemerkte, dass keiner der drei mit der Schamhaftigkeit reagierte, die man bei solch einer Entblößung erwarten konnte. Und die sittenstrengen Menschen der Viktorianischen Epoche waren für ihre Prüderie bekannt. Die Männer strampelten lediglich wild umher in dem Bemühen, wieder auf die Beine zu kommen. Sogar derjenige, der sich für das Tragen violetter Seidenunterwäsche entschieden hatte.

Vales Gegner erhob sich bereits wieder, daher tippte der Detektiv ihn mit seinem Stock an. Es gab einen elektrischen Blitz, und der Mann schrie vor Schmerz auf. Sein Rücken wölbte sich durch, bevor der Kerl zusammenbrach und regungslos liegen blieb. Etwas kräuselte sich um seinen Nacken herum, wand sich wie eine Schlange unter seinem Kragen. Hastig trat Irene einen Schritt zurück.

»Was zum Teufel ist das denn? Können Sie etwas dagegen unternehmen?«, fragte Vale, während er den zwei anderen Männern Elektroschocks verpasste. Inzwischen waren beide die sie behindernden Hosen losgeworden und lagen nun mit zuckenden Beinen da.

»Nicht, ohne zu wissen, was ›es‹ ist«, antwortete Irene. Die Sprache war ein machtvolles Werkzeug, aber um sie zu benutzen, benötigte sie die richtigen Wörter. »Mysteriöses Objekt, das sich unter der Kleidung dieses Mannes windet« war nicht ausreichend präzise, wie ihre Mentorin Coppelia es vielleicht ausgedrückt hätte. Irene unterdrückte ein Lächeln. Sie fühlte sich ein wenig schwindelig, da das Adrenalin des Kampfes allmählich nachließ. »Doch zumindest scheint Elektrizität zu funktionieren.«

»Das stimmt allerdings.« Vale hatte sich neben die sich windenden Männer platziert. »Aber die Ladung meines Stocks ist durchaus begrenzt«, merkte er an, während das Kreischen erstarb.

»Luftschleusen, schließt euch!«, befahl Irene. Als die restlichen Luftschleusen der Anweisung nachkamen, sodass jeder weitere mögliche Angriff vereitelt war, beugte sie sich vor und schaute sich die bewusstlosen Männer genauer an. Die Neugierde drängte sie, die Kragen dieser Leute aufzuknöpfen, um zu untersuchen, was sie dort gesehen hatte. Doch ihre Fantasie malte ein lebendiges Bild von etwas Schrecklichem. Irene war bei Weitem nicht mit allen magischen Monstrositäten vertraut, die in Vales Welt existierten. Sie wusste von Vampiren und Werwölfen, aber was mochte es sonst noch geben? Sie konnte nicht ausreichend viel sehen …

»Uniformjacke des grauhaarigen Mannes, knöpfe dich auf und öffne dich!«, befahl sie.

Die Jacke gehorchte und zog sich wie Einpackpapier zurück, das von unsichtbarer Hand entfernt wurde. Das Hemd des Mannes war mit frischem Blut befleckt. Das Objekt, das sich darunter bewegte, war etwa zwei Fuß lang. Es wand und drehte sich und hatte die Umrisse eines Kabels.

»Beachten Sie die frische Wunde an seinem Hals«, sagte Vale leise. »Er scheint ansonsten nicht verletzt zu sein. Ich fürchte, es wird nicht von selbst zum Vorschein kommen, was auch immer das ist. Sie werden ihn weiter ausziehen müssen.«

Irene nickte. Unter anderen Umständen wären solche Anweisungen seitens des ehrenwerten Vale recht amüsant. »Hemd des grauhaarigen Mannes, knöpfe dich auf und öffne dich!«

Als die Knöpfe aus ihren Löchern glitten und die Vorderseite des Hemdes sich teilte, blitzte glänzendes Metall. Etwas sprang auf Irene zu, und sie erblickte feurig blaue Augen und tropfendes Blut. Sie warf sich rasch nach hinten und stürzte, während das Geschöpf über ihren Kopf hinweg segelte. Vales Stock zuckte nach vorn, um es abzufangen, verfehlte es aber. Die Kreatur kurvte durch die Luft, bevor sie auf dem Boden landete und dann darüber huschte. Das Wesen bewegt sich eher wie eine Assel und nicht wie eine Schlange, dachte Irene. Ob sich unter seinem Körper Krallen oder Beine befanden?

Wichtiger noch: Wie könnte sie ihm mit der Sprache Einhalt gebieten? Doch wie sollte sie es nennen – »metallene Vorrichtung«? Die Benutzung dieses Ausdrucks würde sämtliche Geräte im Raum stilllegen. »Vale!«, rief sie. »Wissen Sie, was für ein Ding das ist?«

»Nein, aber lassen Sie nicht zu, dass es in die Luftschächte gelangt!«, antwortete Vale. Er schritt auf das Wesen zu, seinen Stock hielt er zum Stoß bereit.

»Beschäftigen Sie es!« Irene bewegte sich zur Seite hin und ergriff einen in der Nähe stehenden Hocker. Sie blickte zu den anderen beiden Männern zurück, aber es waren keine weiteren Kreaturen aufgetaucht.

Das Wesen krabbelte am Boden entlang, drückte sich an die Wand und versuchte, sich in die Maschinen hinein zu schlängeln, doch es misslang ihm, denn glücklicherweise waren sämtliche Platten gut abgedichtet. Da flitzte es mit urplötzlich schnellen, erschreckend fließenden Bewegungen auf Vale zu.

Irene machte sich zunutze, dass sich das Wesen auf Vale konzentrierte, indem sie rasch einen Satz verfasste. »Hocker, den ich berühre – halte die sich bewegende mechanische Kreatur nieder!«, befahl sie in der Sprache.

Der Hocker entriss sich Irenes Hand, drehte sich von oben nach unten und krachte so auf das Wesen herab, dass er es mit der Sitzfläche an Ort und Stelle hielt. Irene rieb sich über die Stirn und zuckte vor Schmerz zusammen, der jedoch nur kurz währte. Obschon es sich nicht um einen größeren Gebrauch der Sprache gehandelt hatte, war er doch ungenau gewesen und hatte einiges an Kraft gekostet. Die Kreatur wand sich unter dem Hocker; Metallbeine kratzten manisch über den Boden und hinterließen lange Schrammen.

»In Ordnung«, sagte sie. »Was halten Sie davon?«

Vale kniete sich hin, um das Wesen in Augenschein zu nehmen, als dumpfe Schläge von der zugesperrten Luftschleusentür kamen. Irenes vorherige Arbeit verhinderte erfolgreich, dass andere hereinkamen – zumindest einstweilen. »Interessant«, sagte er und ignorierte die Geräusche. »Ich glaube, ich weiß in der Tat, was das ist. Es ist allerdings um einiges fortschrittlicher als die Objekte in den Berichten, die ich gelesen habe.«

»Ist es eine Vorrichtung, die menschliche Opfer kontrolliert, indem sie in deren Nervensysteme eindringt?«, erahnte Irene.

Vale blickte sie streng an. »Haben Sie wieder meine Korrespondenz gelesen, Winters?«

»Aber nein, warum sollte ich so etwas tun?«, heuchelte sie.

Vale kniff seine Augen zusammen, doch schließlich gab er nach. »Ja – dieser neumodische Apparat leitet sich allem Anschein nach aus der Arbeit von Doktor Brabasmus ab. Aber das Ding hier hat einen eigenen Antrieb … und ist weitaus größer als die ursprünglichen, vom Doktor stammenden Entwürfe für zerebrale Steuereinheiten. Diese waren kaum so groß wie ein Skarabäus und wurden am Nacken angebracht.«

»Was ist mit dem Doktor passiert?«

»Vor ein paar Monaten hat man ihn ermordet und sein Labor ausgeraubt.« Vale runzelte die Stirn. »Also, wie hat er diese Apparatur noch mal genannt?«

Aus dem Augenwinkel sah Irene, wie der Kopf eines zweiten Geschöpfs aus dem Ausschnitt der Jacke ihres Wirtskörpers auftauchte. »Vale«, flüsterte sie, während ihr Blick in Richtung des Wesens huschte.

Vales Hand schloss sich fester um seinen Stock. »Brabasmiatoren – das war der Name«, murmelte er.

Irene erstarrte. Das war alles andere als ein guter sprachlicher Ausdruck. Warum mussten Wissenschaftler ihre eigenen Wörter kreieren, anstatt existierende Begriffe zu gebrauchen, die vollkommen ausreichend waren? Dachte denn nie einer an die armen Übersetzer? Verzweifelt nahm sie Vales zuvor erwähnte Bezeichnung auf. »Zerebrale Steuereinheiten, deaktiviert euch!«

Das Licht verschwand aus den Augen des soeben aufgetauchten Geschöpfs, das anschließend ebenso wie das Wesen unter dem Hocker erschlaffte. Ein drittes hörte mit seinem beunruhigenden Gezappel unter der Kleidung seines Wirtskörpers auf. Irene gab einen Seufzer der Erleichterung von sich.

Vale suchte am Hals des Mannes, der ihm am nächsten war, nach einem Pulsschlag, dann bei den zwei anderen – und schüttelte den Kopf. Er stand auf und wischte sich die Hände ab. »Wir haben keine Möglichkeit zu erfahren, wie viele der anderen Männer auf dieser Station in gleicher Weise kontrolliert werden. Ungünstig.«

»Wie bedeutsam genau ist dieses Dokument?«, fragte Irene. »Was verschweigen Sie mir?«

»Unter den gegebenen Umständen sind meine Hoffnungen, dass Sie es sich unvoreingenommen ansehen, wohl ziemlich unsinnig. Also … Ich glaube, dass in London ein Meisterverbrecher auf freiem Fuß ist, Winters – ein Drahtzieher und wahrer Herrscher des Verbrechens. Außerdem glaube ich, dass er für die jüngsten Entführungsversuche an Ihnen verantwortlich ist. Wie auch für die Kugel, die Strongrock beinahe getroffen hat, für die fehlgeschlagene Erdolchung von Madame Sterrington … Lord Silver ist nicht der einzige ausländische Spion in London. Ich wurde darüber informiert, dass sich der französische Geheimdienst einige wertvolle Informationen über dieses kriminelle Superhirn verschafft hatte: einen Brief, in dem sehr interessante Namen angegeben sind. Unsere Agenten haben ihn abgefangen und hierhergebracht.« Seine Augen glänzten beinahe so, als hätte er Fieber. »Dies ist unsere Chance, endlich einige Beweise zu bekommen, Winters. Dieser Kerl ist mein Widersacher – genauso, wie er der Ihre ist. Er hat es auf all meine Kontaktpersonen abgesehen, auf all meine … Freunde. Doch ich brauche Beweise!«

»Ich verstehe«, sagte Irene langsam. Es leuchtete ein, dass Vale in dieser Sache voll und ganz aufgehen würde. Allerdings brachte sie ihre tiefer empfundenen Befürchtungen lieber nicht zum Ausdruck. In Welten mit hohem Chaos hatten Geschichten und ihre Tropen die Neigung, wahr zu werden – was sowohl für gute als auch für schlechte Erzählungen galt. Jetzt hatte Londons größter Detektiv also einen würdigen Gegenspieler gefunden: einen Meisterverbrecher. Wäre dies eine Geschichte, würden die zwei nun aneinander gebunden sein – und zwar so eng wie Liebende –, bis einer von beiden den Tod fand. Sie zitterte. »Wann haben Sie davon erfahren – bevor oder nachdem Sie meine Einladung nach Guernsey angenommen haben?«

»Von was erfahren?«, fragte Vale, während er sich die Kratzspuren auf dem Boden genau anschaute.

»Von den Beweisen über den ›Herrscher des Verbrechens‹.« Irene war wirklich sehr verärgert, dass Vale diese Annahmen nicht früher schon erwähnt hatte, doch unglücklicherweise entsprach das seinem Charakter. Er war der Typ Mensch – der Typ Detektiv –, der seine Annahmen erst dann aussprach, wenn er Beweise hatte, die sie unterstützten. Irgendwo in Vales Familienstammbaum gab es Elfenblut, und bedauerlicherweise verirrte er sich bisweilen in den Archetyp des »Großen Detektivs« – im Guten ebenso wie im Bösen.

»Kurz nachdem Sie planten, Guernsey aufzusuchen, und ich einwilligte, Sie zu begleiten.« Er drehte sich um, damit er ihr seine volle Aufmerksamkeit schenken konnte. »Sie glauben, dass es eine Falle ist?«

»Entweder das – oder unser Timing ist wirklich außerordentlich unglücklich.« Irene wies mit einem Kopfnicken auf die Leichen. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir genau in dem Augenblick hier reinspazieren, da diese Leute von jemandem unter Kontrolle gebracht werden, der ihnen befiehlt, alle Eindringlinge zu töten?«

»Wenn dem so ist, dann sollten wir nicht länger als notwendig hierbleiben.« Er betätigte probeweise ein paar Schalter und schaute sich einen der Bildschirme genau an. »Das U-Boot ist immer noch hier angedockt. Halten Sie sich bereit, Ihre Sprache einzusetzen, Winters. Ich verspüre nicht den Wunsch, am eigenen Leib zu erfahren, wie es sich anfühlt, von einer dieser Kreaturen kontrolliert zu werden. Sie werden bemerkt haben, dass die Kratzer auf dem Boden aus Richtung der U-Boot-Luftschleuse kommen.«

Irene nickte und trat zurück, gewillt, Vale die Führung zu überlassen: Er war schließlich derjenige mit dem elektrifizierten Stockdegen. Sie war eine Agentin der Bibliothek, einer die Dimensionen übergreifenden Organisation, die Bücher sammelte, um das Gleichgewicht zwischen den Welten zu bewahren. Als solche konnte sie die Sprache einsetzen, um die Wirklichkeit zu zwingen, entsprechend ihrem Willen zu agieren. Aber nicht, wenn sie von zerebralen Steuereinheiten abgelenkt wurde.

Allerdings hatte sie vor lauter Anspannung weiterhin das Gefühl, als hätte sie Steine im Bauch. Wenn dies eine Falle war, dann stellte jeder Moment, den sie hier unten verbrachten, ein weiteres Risiko dar. Außerdem befanden sie sich hier unter dem Meer. Und auch wenn Kai – Drachenprinz, Arbeitskollege, Freund und Geliebter – eine natürliche Verbundenheit mit dem Wasser und die Kontrolle darüber hatte … Für sie selbst galt das nicht. Nicht sprechen zu können, weil man gerade ertrank, konnte ein großer Nachteil sein, wenn man versuchte, die Sprache zu benutzen. Das alles machte diesen Ort zu einem ausgezeichneten Schauplatz für einen Hinterhalt …

Natürlich. »Moment!«, sagte sie. »Was beachten wir gerade nicht?«

»Verdeutlichen Sie, was Sie meinen, Winters!«, entgegnete Vale ungeduldig.

»Wir kommen hier runter. Wir werden angegriffen. Unser erster Impuls, um so schnell wie möglich hier rauszukommen, dürfte der sein, direkt zum U-Boot zu gehen, um den Brief zu holen. Denn dort sollten Sie Ihren Kontaktmann treffen. Sind Sie sicher, dass wir so berechenbar handeln wollen, wenn man Ihre Gründe, hier zu sein, entdeckt hat?«

»Überzeugend argumentiert, Winters. Unglücklicherweise brauche ich diesen Brief unbedingt.«

»Ich weiß«, erwiderte Irene. »Ich versuche ja nur, wie ein Meisterverbrecher zu denken.«

»Sie haben es wohl kaum nötig, es bloß zu versuchen, Winters.« Trotz seiner Worte lag eine gewisse Zuneigung in seinem Tonfall – er wusste alles über ihre häufigen Bücherdiebstähle. »Hmm. Mein logischer nächster Schritt wäre, mich per Funk mit dem Büro oberhalb dieses unterirdischen Komplexes zu verbinden und über die Situation Bericht zu erstatten. Schauen wir mal …«

Er wies auf eine der Konsolen. »Dies ist die einzige Funkverbindung zur Oberfläche. Also, wenn ich wie ein Meisterverbrecher denken würde, dann würde ich mich für diesen Ort entscheiden, um meine Falle aufzustellen. Können Sie Ihre Sprache einsetzen, um solche unerfreulichen Überraschungen zu deaktivieren?«

Irene wusste, dass ihre Mentorin Coppelia dies für gut befunden hätte. Man musste sich nur ein einziges Mal überheblich verhalten, um zu sterben. »Alle Sprengvorrichtungen oder gefährlichen Fallen – deaktiviert euch!«, befahl sie.

Es gab ein winziges, doch zu ihrer Zufriedenheit hörbares Klicken hinter einer Bedienplatte.

Irene und Vale nickten einander zu. Er schob seine Finger hinter die Kante auf der rechten Seite, drückte zwei Tasten, und die Platte schwang auf. Dahinter befand sich eine schmale Vertiefung, in der Dynamitstangen sorgfältig übereinandergestapelt waren. Ein Draht führte von dem kleinen Stapel zu einem winzigen Loch, das in die Bedienplatte gebohrt worden war, und schlängelte sich von dort zu dem Hebel, der die Luftschleuse öffnete. Ganz oben stand ein Grammofon, auf dem eine Schallplatte lag, bereit zum Abspielen.

Irene war beunruhigt. Das hier war sehr ausgeklügelt. Zuerst die fremdgesteuerten Männer, jetzt dieses Dynamit – was kam als Nächstes? »Die Männer, die uns angegriffen haben … In ihrer Verfassung hätten sie auf gar keinen Fall genug Verstand gehabt, um dies zu arrangieren.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Vale schaltete das Grammofon ein. »Lassen Sie uns hören, wer da geheimnisvolle Botschaften hinterlassen hat.«

Ein Klicken. Die Schallplatte begann sich zu drehen, und die Nadel senkte sich auf das Vinyl. Es gab ein Geräusch von raschelndem Papier. »Guten Abend«, sagte eine männliche Stimme. »Oder möglicherweise Nachmittag. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Uhr es bei Ihnen ist. Doch da Sie dies hören und nicht tot sind … Meine Glückwünsche an Sie, Peregrine Vale.«

Irenes Finger drückten sich so fest in ihre Handinnenseiten, dass es schmerzte, und ihre Wangen wurden leichenblass. Sie kannte diese Stimme. Sie hatte den Mann getötet, dem diese Stimme gehörte. »Lord Guantes …«, sagte sie voller Grauen und starrte Vale an. Er war ein Elf gewesen – ein Strippenzieher und Ränkeschmied, der versucht hatte, einen Krieg zwischen den Elfen und den Drachen auszulösen. Aus diesem Grund hatte sie ihn umgebracht. Irene erinnerte sich mit unangenehmer Deutlichkeit an ihre Empfindungen, als das Messer zwischen seine Rippen glitt, und an das Gefühl von Blut auf ihren Händen. Es war vollkommen unmöglich, dass sie sich getäuscht haben könnte, was seinen Tod anbelangte.

»Natürlich …«, fuhr die Tonaufnahme fort, »haben meine Glückwünsche, wie alles in diesem Leben, eine strikte zeitliche Begrenzung. Sie haben mir eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet, und dafür werden Sie sehr bald bezahlen. Bemühen Sie sich nicht, nach dem Brief zu suchen, Mr Vale. Er hat das unterirdische Gelände, in dem Sie sich aufhalten, bereits verlassen. Was mehr ist, als Ihnen bestimmt sein wird.«

Plötzlich zerriss das Heulen eines Alarms die Luft. Irene wirbelte herum und versuchte festzustellen, woher der Lärm kam. Blenden aus rotem Glas glitten über die Ätherlampen, die nun in einem Panik auslösenden Stroboskoplicht aufblitzten.

»Entsprechend meinen Vorkehrungen dürfte das Geräusch, das Sie gerade hören, das Selbstzerstörungssignal der Basis sein«, erklärte Lord Guantes hilfreicherweise. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Freunde in der Stadt eine erbauliche Aussicht auf jegliche Unterwasserexplosionen haben werden. Auf Wiedersehen.« Die Wiedergabe der Schallplatte endete mit einem Klicken.

Die schrillen Alarmtöne dauerten an.

Zweites Kapitel

Vale schritt zu den Bedienpulten und kippte die Schalter mit der Schnelligkeit eines Mannes um, der mit absoluter Sicherheit wusste, welche Aktion jeder einzelne von ihnen auslöste. Irene musste seine Gründlichkeit bewundern; nur sehr wenige Menschen würden sich vor dem Besuch einer unterirdischen Basis deren Selbstzerstörungsprotokolle ins Gedächtnis einprägen.

Bedauerlicherweise zahlte sich das nicht aus.

Vale presste die Lippen in einer Weise zusammen, die Irene als ein Anzeichen für extrem schlechte Laune wiedererkannte. Sie gelangte zu der Entscheidung, dass es für sie an der Zeit war, ihre Rettung in Angriff zu nehmen. »Selbstzerstörungssystem, deaktiviere dich!«, befahl sie, ohne dabei etwas Bestimmtes anzuschauen.

Es war wie ein Segen, als sich plötzliche Stille auf den Raum hinabsenkte. Auch die Beleuchtung kehrte in ihren Normalzustand zurück.

Irene rieb sich die Stirn; ob ihre aufkommenden Kopfschmerzen auf die Verwendung der Sprache oder den Alarm zurückzuführen waren, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Er war sehr schrill gewesen. Sie wandte sich Vale zu. »›Ihre Freunde in der Stadt‹, hat er gesagt. Lord Guantes hat nicht erwartet, dass ich hier bin.«

»Ihre Anwesenheit ist jedoch höchst willkommen«, antwortete Vale. »Aber es lag ein gewisser Unterton in seinen liebenswürdigen Worten – etwas, das darauf hindeutete, dass er sich irgendwie … hereingelegt fühlte, oder?«

Ich bin in sein privates Duell mit einem Meisterverbrecher hineingeraten, erkannte Irene. Es fühlt sich für ihn wie ein Eindringen an – ganz egal, wie oft ihm der gesunde Menschenverstand etwas anderes sagt, und ganz egal, wie sehr er die Andeutung hasst, er könnte von Elfen-Archetypen beeinflusst sein.

»Müssen wir irgendetwas tun, um sicherzustellen, dass die Selbstzerstörung nicht wieder, nun ja, selbstzerstörerisch wird?«, fragte sie.

»Wir müssen davon ausgehen, dass das gesamte Kontrollsystem beeinträchtigt ist.« Vale beäugte irritiert die Bedienfelder mit den Schaltern. »Und wie Sie soeben demonstriert haben, Winters, sind Sie in der Lage, eine Falle mithilfe der Sprache zu deaktivieren. Aber die normale Arbeitsweise der Apparaturen – wie etwa die des Selbstzerstörungsschalters – kann möglicherweise nicht wie eine Bedrohung erscheinen. Beim nächsten Mal sind Sie womöglich nicht imstande, ihn schnell genug auszuschalten.« Er ging näher an das Grammofon heran und nahm es sorgfältig in Augenschein. »Ja. Hier hinten gibt es einen Draht … Als die Tonwiedergabe endete, löste die Nadel, die sich von der Platte hob, das Signal zur Selbstzerstörung aus. Er nahm korrekterweise an, dass wir die Platte bis zum Ende abspielen würden.«

»Bislang hat er eine geradezu irritierende Fähigkeit gezeigt, unsere Entscheidungen vorherzusehen«, murmelte Irene.

Vale beglückte sie mit einem Lächeln, was er recht selten tat. »Er hat nicht vorhergesehen, dass ich Sie bitten würde, mich zu begleiten, Winters – und auch nicht, dass Sie einwilligen würden.«

»Oder dass ich Kai und Catherine zurücklassen würde«, sagte Irene und hatte das Gefühl, als würde sich eine kalte Hand um ihr Herz schließen. Es war ihr ausreichend sicher erschienen, die beiden für eine kleine Weile allein zu lassen. Doch jetzt … »Vale, wir müssen unverzüglich zurückkehren. Wenn Lord Guantes wirklich derjenige ist, der uns in den letzten paar Wochen angegriffen hat, werden Sie nicht sein einziges Ziel sein. Und wenn man ihm Glauben schenken darf, ist Ihr Brief sowieso nicht hier. Werden wir jenen Tunnel wieder benutzen müssen, oder gibt es einen schnelleren Weg hier heraus?«

Jede zweckmäßig konstruierte Geheimbasis sollte einen Notausgang haben, und Vale hatte allem Anschein nach ihre Pläne studiert. Irene musste an die Oberfläche zurückkehren, und zwar jetzt sofort. Wenn Lord Guantes tatsächlich irgendwie aus dem Grab zurückgekommen war, dann befand sich Kai in großer Gefahr. Immerhin war der Drachenprinz das Primärziel des Elfen gewesen – und Kai zu retten das Ziel ihrer damaligen Mission in Venedig. Es fühlte sich inzwischen so lange her an.

Vale runzelte die Stirn. »Es gibt einen schnelleren Weg hier heraus … das ja. Aber, Winters, wir müssen unbedingt nach diesem Brief suchen. Die britische Regierung ist auf mich angewiesen.«

»Die britische Regierung kann mit einem weiteren Möchtegern-Verbrecherfürsten in London fertigwerden«, erwiderte Irene verärgert. »Außerdem hat Lord Guantes gesagt, dass der Brief weg ist! Und ich muss Kai beschützen.«

»Strongrock ist in der Lage, fünf Minuten lang auf sich selbst aufzupassen«, entgegnete Vale. »Und Lord Guantes hat womöglich gelogen. Dieses Risiko kann ich einfach nicht eingehen.« Sein Gesicht war starr und ausdruckslos. Irene wurde klar, dass er – genauso wie sie selbst – analysiert hatte, wie groß die Gefahr für Kai war. »Ich brauche Ihre Hilfe, Winters.«

Für einen Moment konnte Irene nicht glauben, was er da verlangte. Dann aber drängte sich das praktische Denken – brutal und unerwünscht – in ihrem Bewusstsein nach vorn. Vale hatte eine Verantwortung gegenüber dem Britischen Empire, auch wenn dies bei ihr nicht der Fall war – immerhin war es nicht ihre Welt, in der sie sich befanden. Sie wusste, dass Vale, falls sie Nein sagen sollte, dies akzeptieren und ihr den Notausgang zeigen würde. Fünf Minuten könnten den Unterschied zwischen Sicherheit und Gefahr für Kai ausmachen – und für Catherine ebenfalls. Aber Vale war ihr Freund, und ihre Hilfe mochte den Unterschied zwischen Leben und Tod für ihn ausmachen. Sie durfte ihn nicht im Stich lassen.

Irene ballte die Hände und zwang sich zu einer Entscheidung. »In Ordnung«, sagte sie. »Doch wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Prinz Kai, der Vertreter der Drachen für den Vertrag, der Sohn Seiner Majestät Ao Guang, des Königs des Östlichen Ozeans, der einstige Lehrling und heutige Geliebte von Irene Winters, aber auch ihr Freund – was am allerwichtigsten war –, schaute aus dem Fenster der Teestube. Er wünschte sich, er könnte die schweren grauen Steingebäude entlang der Straße irgendwie ausradieren, um in der Lage zu sein, das Meer dahinter zu sehen. Die Menschen nannten es The English Channel, sofern sie Engländer waren. Von den Franzosen wurde es La Manche genannt – »Der Ärmel« – und von den Deutschen Ärmelkanal; und weitere Länder gaben dem Meeresstreifen zwischen Insel und Kontinent noch ganz andere Namen. Doch das Meer hatte seine ganz eigene Identität. Kai konnte seine Präsenz tatsächlich fühlen – seine Bewegung, seinen langen Herzschlag. Die rollenden Wellen und die zerrenden Gezeiten sangen in seinem Blut und summten in seinen Knochen; sie linderten seine momentane Gereiztheit, bis er sie fast vergessen konnte.

Fast. Es war sehr schwer, besagte Gereiztheit zu ignorieren, da sie ihm direkt gegenübersaß.

Catherine kritzelte in ihren Notizblock, ohne aufzuschauen, und bei jeder hinzugefügten Unterstreichung und jedem Ausrufezeichen zuckte der obere Teil ihres Stiftes voller Begeisterung. Sie hatte den Tisch, an dem sie beide saßen, mithilfe einer Barrikade, die aus der Teekanne und dem Tortenständer bestand, in zwei Hälften geteilt: eine inoffizielle Deklaration, dass sie an Gesprächen nicht interessiert war. Im grellen Licht der Ätherlampen verlor ihre goldbraune Haut alle Farbe und ihr kastanienbraunes Haar jegliches Rot. Zudem ließ es ihren marineblauen Mantel stumpf und trist erscheinen. Sie war kleiner als er, sodass sich die hohe Rückenlehne und die Armlehnen ihres Stuhls wie Mauern um sie herum erhoben. Am ehesten ähnelte sie einer kleinen, aber dennoch einschüchternden feindlichen Streitmacht. Und sie hatte es sich auf der anderen Seite seines Tisches gemütlich gemacht.

Es hatte keinen Sinn, abermals auf seine Uhr zu schauen. Seit er dies das letzte Mal getan hatte, waren höchstens fünf Minuten vergangen. Er faltete die Lokalzeitung auseinander und überflog ihren Inhalt. Viehzucht. Französische Politik. Englische Politik. Strahlungsexperimente in den örtlichen Tomatengewächshäusern. Gezeitentabellen. Er seufzte innerlich.

Der Regen klatschte gegen das Fenster, und mit einem Geräusch wie von herabfallenden Kieselsteinen prasselte er draußen kraftvoll auf das Kopfsteinpflaster. Männer und Frauen eilten vorbei, eingemummelt in schwere, dicke Strickpullover und Umhänge. Abgesehen von ihnen beiden gab es keine Kundschaft in der Teestube. Schließlich war es Dienstagmorgen, und somit gingen berufstätige Männer und Frauen ihrer jeweiligen Arbeit nach. Und für ältere Damen, die sich hauptsächlich mit Klatsch und Tratsch beschäftigten, war es zu früh, um hier aufzukreuzen und sich mit nickenden Hauben und Getuschel um die Tische zu drängen.

Sein Blick schweifte zur Kellnerin, und sie schenkte ihm ein Lächeln. Kai wies auf die Teekanne und vollführte ein paar Gesten, woraufhin eine neue an den Tisch gebracht wurde.

»Danke«, sagte Catherine und legte ihren Notizblock für einen Moment zur Seite. Die Äußerung war nicht in einem besonders freundlichen Tonfall gesprochen, aber Kai entschied, sie als einen Sieg zu betrachten. Das Licht glitzerte auf dem bronzefarbenen Gestell von Catherines Brille, als die Elfe sich eine weitere Tasse einschenkte sowie – nach einem Augenblick fiel es ihr wieder ein – eine für ihr Gegenüber. »Gibt’s irgendwas Interessantes in der Zeitung?«

»Nichts Besonderes.«

»Das überrascht mich nicht. Es gibt hier absolut nichts Interessantes«, murmelte Catherine.

»Das ist nicht wahr«, protestierte Kai. »Es gibt … ähm … reinrassige Kühe, Gebäude, die aus den Napoleonischen Kriegen übrig geblieben sind, und sogar einen erstarkenden Hexenkult. Seine Anhänger sind bekannt als die Gens du Vendredi, die Freitagsleute …«

»Stehen die für heute auf dem Programm?«

»Wahrscheinlich nicht«, gestand Kai ein.

Catherine stützte ihre Ellbogen auf den Tisch. »Das hier wäre ein schneller Auftrag gewesen, wenn Irene –«

»Miss Winters«, korrigierte Kai sie.

»Sie hat mir gesagt, ich soll sie Irene nennen«, erwiderte Catherine selbstgefällig. »Wie auch immer. Wir hätten unser Zielbuch bereits abholen und diese Insel verlassen können, wenn sie nicht mit Peregrine Vale weggegangen wäre. Was sie nicht machen sollte.«

Kai war immer noch ziemlich verbittert darüber, dass er nicht gebeten worden war, die beiden zu begleiten, sondern dass man ihn stattdessen zurückgelassen hatte, um die Verantwortung für Catherine zu übernehmen. »Ich bin sicher, er hatte seine Gründe, sie darum zu bitten.«

»Nein, du begreifst das nicht. Sie sollte in dieser Welt politisch neutral sein, nicht wahr? So wie du, nicht wahr? Trotzdem hängt sie mit jemandem rum, dessen Schwester hoch oben in der britischen Regierung sitzt. Und nicht nur das – die zwei besuchen gemeinsam eine streng geheime U-Boot-Basis. Wie kann so etwas neutral sein?«

Das war tatsächlich die politisch scharfsinnigste Bemerkung, die Catherine da äußerte, seit er sie kennengelernt hatte. Erst vor wenigen Wochen war Kai das zweifelhafte Vergnügen beschieden worden, ihre Bekanntschaft zu machen, und es kam ihm so vor, als hätte sie seitdem nicht aufgehört, ihn wütend anzustarren. Natürlich stimmte er ihr jetzt aus Prinzip nicht zu. »Vale ist ein guter Freund«, wehrte er ihren Vorwurf ab. »Sie hat allen Grund, Zeit mit ihm zu verbringen.«

Catherine verdrehte die Augen. »Aber ja – und Schweine können fliegen, und mein Onkel hat die Absicht, das Zölibatsgelübde abzulegen. Los, komm schon. Außerdem verstehe ich nicht, warum ich eigentlich mitkommen musste. Ich hätte in London bleiben können.«

»Irene wollte, dass du ein paar persönliche Erfahrungen machst, was es bedeutet, eine Bibliothekarin zu sein. Und wenn wir das Merlin-Dokument abholen, wird genau das geschehen.«

»Indem ich herumstehe, während sie Geld übergibt? Ich könnte es verstehen, wenn sie wollte, dass ich irgendwas Cooles lerne. Aber wenn das nicht der Fall ist, warum lässt sie mich dann nicht zurück, damit ich etwas Nützliches mache?«

Kai zuckte mit den Schultern. »Irene will dir umfassende Grundkenntnisse im Bibliothekswesen vermitteln. Im Übrigen, hast du etwa die kleinen … äh … Unannehmlichkeiten vergessen, die es in jüngster Zeit gegeben hat?« Er war sich nicht sicher, ob Catherine ein Ziel war – immerhin hatte niemand versucht, sie zu entführen oder gar zu töten. Doch im letzten Monat waren sowohl Irene als auch er selbst Opfer von beinahe erfolgreichen Entführungen gewesen. Vale hatte gesagt, dass er hierzu Ermittlungen durchführte, aber er war noch mit keiner Antwort zu ihnen gekommen.

Catherine kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und krümmte ihre schmalen Schultern nach vorn, sodass sie noch kleiner als zuvor erschien. Kai wusste, dass sie Anfang zwanzig war; aber wenn sie eine Körperhaltung wie diese einnahm, hatte es den Anschein, als wäre sie noch ein Teenager. »Das ist so dumm! Können wir denn noch nicht einmal in die Ortsbücherei gehen – die Guille-Allès – und dort herumhängen? Ich könnte etwas lesen und würde dir nicht so sehr auf die Nerven gehen.«

»Dein Onkel verkraftet es auch nicht gut, wenn er Anweisungen folgen soll.« Lord Silver, Catherines Onkel, war Londons größter Libertin und der Kopf des Liechtensteiner Spionagenetzes. Er war im Allgemeinen nicht vertrauenswürdig, außerdem verschlagen und gut gekleidet, und beides in gleichem Maße.

»Bloß weil mein Onkel ein armseliger Vorwand für einen …« Catherine ging ihre Alternativen für die Weiterführung des angefangenen Satzes durch und konnte offensichtlich keine finden, die sie zufriedenstellte. »Wie kann ich dich davon überzeugen, dass ich ihn genauso wenig mag – oder ihm genauso wenig vertraue – wie du?«

Kai hatte das Gefühl, dass er versuchen sollte, ehrlich zu sein. »Er gehört wie du zu den Elfen. Und er gehört deiner Familie an, ist von deinem Blut. Natürlich wirst du ihm näher sein als uns.«

»Und du glaubst, ich würde dich an ihn verraten«, erwiderte Catherine mit ausdrucksloser Stimme.

Kai hatte es sorgfältig vermieden, genau dies zu sagen. Zumindest ihr gegenüber. Am Ende sollte gerade er wissen, wie es war. Er lebte mit den Erwartungen seines königlichen Vaters und war sich seiner Pflicht stets bewusst gewesen. Der Familie gegenüber. Seiner eigenen Art gegenüber. Und Irene gegenüber. Und zwar immer.

»Hast du mir in der Vergangenheit eigentlich richtig zugehört? Mir jemals richtig zugehört?«, verlangte Catherine zu wissen, deren Ton immer lauter geworden war. Ihr Blick glitt zur Kellnerin hinüber, und sie senkte ihre Stimme zu einem verärgerten Zischen. »Hast du eigentlich bemerkt, was ich tatsächlich will?«

»Nun ja, offensichtlich willst du einen guten Job machen.« Kai ruderte zurück und versuchte herauszufinden, was er falsch gesagt hatte. »Du willst eine Bibliothekarin wie Irene sein und helfen, dass der Waffenstillstand eingehalten wird …«

»Was ich will«, sagte Catherine leise, doch mit Nachdruck, »das ist der Zugang zur Bibliothek. Ich möchte dort reinkommen, um zwischen diesen Büchern zu sein. Wenn Irene imstande ist, das für mich zu bewirken, dann kann mein Onkel von mir aus so lange Unzucht treiben, bis die Syphilis seine Geschlechtsteile abfallen lässt.«

Kai mochte Lord Silver wirklich nicht, aber seine Nichte sollte nicht in dieser Art von Sprache über die eigene Familie reden. Die Familie war wichtig. »Halt deine Zunge im Zaum!«, befahl er. »Das ist nicht hinnehmbar.«

»Du bist nicht mein Boss«, entgegnete Catherine aufbrausend. »Wie kommst du überhaupt dazu, dich aufzuführen, als wärest du mir übergeordnet? Weil du mit ihr ins Bett gehst?«

Kai spürte, wie die Knochen seiner Hände knirschten, als er sie zu Fäusten ballte, und wie es in den Fingernägeln kribbelte, die danach verlangten, sich in Krallen zu verwandeln. Der Groll sang in ihm, so wie es der Ozean vorhin getan hatte; Stolz und Wut drängten ihn, dieses Kind – seine jüngere Schwester in der Ausbildung, dieses mindere Wesen – mit einer angemessenen Disziplinarmaßnahme für solch eine Beleidigung zu behandeln.

Sie zuckte zurück.

Ein Moment nach dem anderen verging, während er seine Herzschläge zählte und sich dazu zwang zu entspannen. »Könntest du mir bitte noch etwas Tee einschenken?«, fragte er beherrscht.

Ihre Hand zitterte ein bisschen, als sie seiner Frage nachkam. »Für das hier werde ich nicht genug bezahlt«, murmelte sie.

»Ich wusste nicht, dass du überhaupt bezahlt wirst.«

»Ich erhalte ein Taschengeld.« Ihr Mund verzog sich in unschöner Weise. »Von meinem Onkel – was von keinerlei Bedeutung ist, sofern du mich auch deswegen noch verurteilst. Ich dachte, du wüsstest es.«

»Ich weiß, dass er und Irene sich darüber gestritten haben. Einzelheiten kenne ich nicht.« Kai war leider kein Zeuge dieser Auseinandersetzung gewesen.

Catherine lebte sichtlich auf angesichts der Vorstellung, dass er nicht alles wusste. Dann stieß sie einen Seufzer aus. »Ich will ohnehin kein Geld. Ich will Bücher.«

»Aber für Geld bekommt man Bücher«, hob Kai hervor.

»Nicht die Art von seltenen ›Einzigartig in einer Welt‹-Büchern, auf die die Bibliothekare Jagd machen. Dafür braucht man Beziehungen. Die Art von Beziehungen, die ich, wie du allem Anschein nach willst, nicht herstellen soll, da ich eine Elfe und kein Drache bin … Wohingegen du, wie ich annehme, es zulässt, dass Irene in der Bibliothek deines Vaters frei herumtobt?«

»Du kannst aus dem, was ich jetzt erzählen werde, Rückschlüsse ziehen, welche auch immer du willst – aber ich habe Irene eingeladen, den Palast und die Bibliothek meines Herrn Vaters zu besuchen«, verkündete Kai würdevoll. »Doch sie hat das abgelehnt. Sie sagte, wenn mein Herr Vater sie zu Gast haben wolle, dann müsse er auch einen Vertreter der Elfen bei sich aufnehmen – ganz im Geiste des Vertrags. Und dass es einen diplomatischen Zwischenfall auslösen könnte, sollte er dazu nicht gewillt sein.«

Catherine schüttelte verwundert den Kopf. »Ich bin froh, dass einer von euch etwas Verstand hat. Obwohl … Da sie mit dem Drachenvertreter des Vertrags schläft, werde ich dies vielleicht zurücknehmen. Es sei denn, sie schläft auch mit dem Vertreter der Elfen, um im Geiste des Vertrags fair zu bleiben …«

»Was meinst du denn damit?«, fauchte Kai und beugte sich vor.

»Entschuldigen Sie, Sir, Madam.« Die Kellnerin hatte sich ihnen genähert, als sie durch ihre Unterhaltung abgelenkt gewesen waren.

Kai hielt mahnend eine Hand hoch. »Einen Moment, bitte. Catherine, ich verlange eine Entschuldigung!«

»Entschuldigen Sie!« Die Kellnerin hatte ihre Stimme erhoben. Als Kai und Catherine sich beide umdrehten, um sie zornig anzustarren, sagte sie: »Es gibt etwas, das Sie wissen sollten, Sir, Madam.«

»Und was ist das?«, schnauzte Kai.

»Sie sind beide vergiftet worden.« Sie faltete sittsam ihre Hände. »Aber lassen Sie sich bitte nicht von mir stören. Ich kann warten.«

Drittes Kapitel

Irene hatte nicht erwartet, irgendwo unter Guernsey durch eine Tür in einer U-Boot-Basis zu gehen und an einem vollkommen anderen Ort wieder hervorzutreten.

Vale und sie hatten es mit Erfolg geschafft, den Rest der Basis gründlich zu durchsuchen. Alle anderen Männer, die sie entdeckten, hatten unter dem Einfluss von zerebralen Steuereinheiten gestanden. Es hatte ihnen an Verstand gemangelt, um mehr als sehr einfache Überfälle zu inszenieren, aber sie hatten trotzdem wild gekämpft. Und so waren Vale und Irene gezwungen gewesen, sämtliche Steuereinheiten zu deaktivieren, was sich für deren Opfer als tödlich erwiesen hatte.

Sie hatte gesehen, wie die Anspannung in Vales Gesichtszügen mit jedem neuen Todesfall größer wurde, wie sich die im Zaum gehaltene Wut in der Haltung seiner Schultern und in den kurzen Zuckungen des Kopfs zeigte. Vale und Irene hatte man mit voller Absicht dazu manipuliert, diese Männer zu töten – wie notwendig das auch immer war. Sie beide waren ebenfalls Opfer, wurden als bloße Werkzeuge benutzt und dann ausgemustert.

Man musste kein Elf sein, um dermaßen amoralische Manipulationen zu inszenieren, aber Irene konnte nicht bestreiten, dass eine solche Vorstellung half. Dies galt insbesondere für eine Person wie Lord Guantes, der auf irgendeine Weise anscheinend freudig vergnügt ins Leben zurückgekehrt war.

In dem Wirrwarr von Gängen war der Weg zum U-Boot-Dock nicht klar ersichtlich. Doch je länger sie gesucht hatten, desto sicherer schien Vale zu sein, dass er den gesuchten Brief in dem U-Boot finden würde, das dort vertäut war. Zu guter Letzt war Vale stehen geblieben und hatte seine Hand erhoben, um zu signalisieren, dass Irene warten sollte. Anschließend stieß er mit der Spitze seines Spazierstocks gegen etwas, das wie eine Schranktür aussah. Das Ergebnis dieser Aktion war ein Elektroschock, der Vale quer durch den Raum schleuderte.

Der Stock lag zerbrochen auf dem Boden, und Rauch stieg von ihm auf. Vale schaute ihn mit einem Ausdruck des Bedauerns an, dann sah er wieder zur Tür, und seine Augenbrauen zogen sich zu einem finsteren Blick zusammen. »Diese Tür sollte nicht dort sein.«

»Sie ist am falschen Ort, ja?«

»In gewisser Weise … Diese Tür ist nicht in den Plänen der Basis verzeichnet. An dieser Stelle sollte es nichts außer massivem Felsgestein geben. Und schauen Sie nur! Auf dem Boden sind noch mehr Kratzer von den zerebralen Steuereinheiten, und sie breiten sich von dieser Stelle aus.«

Vorsichtig bewegte Irene ihre Hand auf die Tür zu, hielt jedoch inne, bevor sie sie berührte. Die Luft um sie herum prickelte vor Chaos. Während Irene sich näherte, fühlte sie, wie das Bibliotheksmal auf ihrem Rücken – als Reaktion auf das Chaos – brennend schmerzte; der Warnruf einer Wache, die einen Feind wiedererkennt. Die Tür selbst sah aus wie jeder andere Schrank in der Basis: Metall, das in die Wand eingelassen und dunkelgrau gestrichen war. Es gab nichts, was sie als bedeutsam kennzeichnete – außer Vales Wissen, dass sie nicht an dieser Stelle sein sollte, außer dem dramatischen Stoß, der den Meisterdetektiv durch den Raum katapultiert hatte, und ihrem eigenen Erkennen der chaotischen Kraft.

»Damit ergeben sich für uns zwei Probleme«, sagte sie. »Das Auffinden des Briefs – und das hier. Dahinter gibt es Chaos.« Diese Tür unerforscht zu lassen wäre eine offene Einladung für jemanden, hindurchzutreten und sie beide von hinten zu erschießen.

Irene warf Vale einen Blick von der Seite zu, sah die Unsicherheit in seinem Gesicht und fasste einen Entschluss. »Sie sagten, wir würden hier elf Männer finden – und wir sind mit allen fertiggeworden. Ich überprüfe das hier, während Sie den Brief auffinden.«

Für einen kurzen Moment flackerte Erleichterung in seinen Augen auf. »Ich werde Sie rufen, sollte ich Sie brauchen, Winters.«

Er lief den Gang hinunter und ließ Irene zurück, die auf die geheimnisvolle Tür starrte. Gegenstände, die von chaotischer Kraft durchtränkt waren, reagierten oft nicht gut auf Bibliothekare – und Vales zerbrochener Stockdegen diente als zusätzliche Warnung. Glücklicherweise brauchte sie dank der Sprache die Tür nicht zu berühren. Als sie sie näher begutachtete – so nahe, dass sie ein starkes Kribbeln in ihrer Nase fühlte –, vermochte sie zu erkennen, dass unter der grauen Farbe etwas auf der Tür geschrieben stand: Es war zwar kaum sichtbar und völlig unleserlich, aber unbestreitbar dort.

Irene wählte ihre Worte mit großer Sorgfalt, denn sie wollte nicht jeden Schrank und jeden Ausgang in Reichweite ihrer Stimme dazu zwingen, sich zu öffnen. Doch wenn irgendwelche anderen Objekte Dynamit enthielten, könnte das zur Folge haben, dass Vale und sie ertranken. »Alle Bomben in Reichweite meiner Stimme – deaktiviert euch! Tür direkt vor mir – entriegle und öffne dich!«

Die Tür bebte in ihrem Rahmen. Irene spürte in sich den zunehmenden Verlust an Kraft und biss die Zähne zusammen; sie ballte ihre Hände zu Fäusten, als sich die Zuhaltungen in einem Schloss mit hörbaren Klickgeräuschen öffneten. Die Tür schwang zu Irene hin auf, allerdings langsam und zittrig, so als ob eine unsichtbare Hand sie aufzöge und gleichzeitig darum kämpfte, dem eigenen Tun entgegenzuwirken. Irene spähte durch den Spalt.

Hinter der Tür befand sich ein düsterer Korridor – aus Holz und Stein errichtet, nicht aus Schiefer und Metall –, der dank Fenstern, die es weiter entfernt gab, schwach beleuchtet war. Dieser Gang lag definitiv nicht unter dem Meer. Sie hatte keine Ahnung, wo er sich befand.

Hat Vale etwa geglaubt, ich würde hier einfach stehen bleiben und nur auf die Tür gucken? Nun, jetzt war es zu spät.

Irene rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn, zwang sich, die zunehmenden Kopfschmerzen nicht zu beachten, und trat durch die Öffnung. Die Tür bewegte sich von allein hinter ihr und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu.

Sie schnupperte in der Luft. Staub. Papier. Alter Zigarrenrauch. Der Boden war aus weißem Marmor, aber selbst in dem schwachen Licht konnte sie den Staub sehen, der sich in den Ritzen abgesetzt hatte. Wände und Decke waren mit dunklem Holz getäfelt. Blassere rechteckige Stellen an den Wänden zeigten an, dass dort einst Bilder gehangen haben mussten.

Aber all das war zweitrangig im Vergleich zu dem Kribbeln, das von ihrem Bibliotheksmal ausstrahlte und sich wie Giftefeu auf ihrem Rücken ausbreitete. Sie verspürte ein Gefühl der Angst, als ihr unvermittelt bewusst wurde, dass sie Guernsey weit hinter sich gelassen hatte. Und sie befand sich nicht mehr in einer Welt mit moderatem Chaos wie Vales Zuhause. Dies war definitiv eine Welt von hohem Chaosgrad, folglich würde sie die Bibliothek von hier aus wahrscheinlich nicht erreichen können. Und wenn sie nicht in der Lage war, ihre Schritte zurückzuverfolgen, dann war sie hier gefangen …

Ihr Blick fiel durch ein Fenster. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont eine futuristische Stadt, übersät von elektrischen Lichtern unter einem wolkenverhangenen Himmel in der Dämmerung. Die heraufziehende Finsternis und der Schein der Lichter verdunkelten die Gebäude, reduzierten sie zu schattenhaften Zacken oder niedrigen, formlosen Massen. Ein paar entferntere Bauwerke schienen sich wie lebendige Organismen elegant nach oben und außen hin zu drehen, aber sie waren zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Irene erspähte in der Ferne winzig kleine Lichterpaare: Sie gehörten möglicherweise Fahrzeugen – die am Boden krochen oder durch die Luft schwebten.