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Das dunkle Archiv E-Book

Genevieve Cogman

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Beschreibung

Irene Winters hat die unsichtbare Bibliothek gerettet. Dummerweise hat sie dabei auch eine Reihe unersetzlicher Bücher verbrannt, weswegen ihre Bibliothekarskollegen und ihre Vorgesetzten sie nun mit Misstrauen beäugen. Daher zögert Irene nicht lange, als sie von einem Drachen gebeten wird, ein äußerst seltenes Buch zu suchen. Mit einem solchen Fund könnte sie ihren Ruf wiederherstellen. Nur leider nützt ihr das nichts, wenn sie tot ist. Und das verborgene Buch birgt ein tödliches Geheimnis ...

Für Büchernarren, Bücherwürmer, Büchermenschen - Der vierte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie


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Seitenzahl: 571

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INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumBrief an Kostchei, leitender BibliothekarErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVieundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes Kapitel

ÜBER DIESES BUCH

Irene Winters hat die unsichtbare Bibliothek gerettet. Dummerweise hat sie dabei auch eine Reihe unersetzlicher Bücher verbrannt, weswegen ihre Bibliothekarskollegen und ihre Vorgesetzten sie nun mit Misstrauen beäugen. Daher zögert Irene nicht lange, als sie von einem Drachen gebeten wird, ein äußerst seltenes Buch zu suchen. Mit einem solchen Fund könnte sie ihren Ruf wiederherstellen. Nur leider nützt ihr das nichts, wenn sie tot ist. Und das verborgene Buch birgt ein tödliches Geheimnis … Für Büchernarren, Bücherwürmer, Büchermenschen – Der vierte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie

ÜBER DIE AUTORIN

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt Die unsichtbare Bibliothek sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Genevieve lebt im Norden Englands.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischenvon André Taggeselle

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Genevieve Cogman

Titel der englischen Originalausgabe: »The Lost Plot«

Originalverlag: Tor, an imprint of Pan Macmillan, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textreadaktion: Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Illustrationen von © Library of Congress: Mary Evans; © Thinkstock: Extezy | KU-CO

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5020-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

An: Kostchei, leitender Bibliothekar

Von: Catherine, leitende Bibliothekarin

Cc: Gervase, Coppelia, Melusine, Ntikuma

Kostchei,

Wir haben ein Problem. Ich weiß, wir haben ständig Probleme. Aber das hier könnte die Friedensverhandlungen zum Stillstand bringen, ehe beide Seiten einem Treffen überhaupt zugestimmt haben.

Ich wurde soeben darüber informiert (eine ›freundliche Mitteilung‹, bei der man zwischen den Zeilen lesen konnte), dass Minister Zhao tot ist. Der Minister war einer der Kandidaten, den die Drachen zum anstehenden Gipfel nach Paris entsenden wollten. Es fällt mir schwer zu glauben, dass dies rein zufällig gerade jetzt passiert ist. Und nein, mir wurde nicht mitgeteilt, was genau geschah. Nur das Übliche. ›Ein tragischer Verlust für uns alle‹ und so weiter. In Wahrheit stehen die Drachen jetzt vor einer ernsthaften Krise.

Die Königin der Südlichen Ebenen muss einen anderen Drachen zu den Verhandlungen schicken. Ganz zu schweigen davon, dass es schwer genug für sie sein wird, Minister Zhao an ihrem eigenen Hof zu ersetzen. Er war mehr als erfahren. Bevor nicht ein paar Wochen um sind, werden die sich nicht auf einen endgültigen Kandidaten geeinigt haben. Aber seien wir ehrlich – für die herrschenden Drachen wäre selbst das überhastet und insgesamt eher unwahrscheinlich.

Die Elfen halten sich bislang noch heraus. Wenn sie erst Blut wittern, werden sie sich auf die Situation stürzen wie ein Rudel Haie auf frische Beute. Noch die kleinste Schwäche der Drachen bietet ihnen eine günstige Gelegenheit. Die Strategie der Bibliothek sollte sein, sich aus der Sache herauszuhalten. Wir müssen uns darauf konzentrieren, unseren Teil der Abmachung zu erfüllen, und die Wahrung der Neutralität sollte unser oberstes Gebot bleiben. Besteht auch nur der geringste Verdacht der Voreingenommenheit gegen uns oder die Vermutung, dass wir die beiden Parteien gegeneinander ausspielen wollen, geht der ganze Plan den Bach runter. Ich muss Ihnen nicht extra sagen, was das für die Bibliothekare bedeutet, die vor Ort eingesetzt sind. Außerdem sind wir unterbesetzt. Wir brauchen dringend ein Nachwuchsprogramm (und das sage ich nicht zum ersten Mal). Aber sofort. Alberichs Vorgehen in der aktuellen Krise hat die Dinge lediglich schlimmer gemacht; das Problem an sich gab es vorher schon.

Man kann nur hoffen, dass niemand von unseren Leuten in Mitleidenschaft gezogen wird. Die politische Situation ist ab sofort als potenziell gefährlich einzustufen. Unsere Pflicht ist es, die Elfen wie die Drachen daran zu hindern, eine Meinungsverschiedenheit in einen Krieg münden zu lassen, der ganze Welten zerstören kann. Alles wie gehabt also. Wir müssen das Gleichgewicht bewahren, wo immer es geht.

Catherine, leitende Bibliothekarin

PS: Kann mir bitte jemand sagen, wie ich die automatische Signatur dieses E-Mail-Programms abschalte? Es wissen alle, wer ich bin.

PPS: Kostchei, das Buch Merlin von T. H. White ist immer noch auf Ihren Namen entliehen. Wären Sie so freundlich, es bald zurückzugeben? Ein paar von uns würden gerne mal einen Blick hineinwerfen.

ERSTES KAPITEL

»Aber mein liebes Mädchen«, ereiferte sich die Frau neben Irene, «wenn Sie Ihre Adern noch nie selbst geöffnet haben, lassen Sie es Mr Harper tun. Er ist sehr erfahren im Umgang mit solch zappeligen jungen Dingern, wie Sie es sind.«

Irene blickte auf das Skalpell, das auf dem Untersetzer neben ihrer Teetasse lag. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen könnte – und zwar, ohne Hals über Kopf aus dem Anwesen zu flüchten und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Sie hatte schon oft alternative Welten aufgesucht, um Bücher zu ergattern, und war geübt im Umgang mit den verschiedensten Bräuchen, kannte alle möglichen Gepflogenheiten und Höflichkeitsformen. Aber sich selbst als Tagesgericht zu servieren, verstieß eindeutig gegen ihr Selbstbild.

»Um ehrlich zu sein, mir hat niemand etwas davon gesagt, dass Vampire anwesend sein werden«, erklärte sie. »Es kommt ein bisschen unerwartet.«

»Bah!«, schnaubte eine der anderen Frauen.

Irene war die jüngste Person in dem überfüllten Raum und in einem Wirrwarr aus Stühlen und kleinen Tischchen gefangen; Möbel, die mit Ornamenten geradezu überkrustet waren. Dicke, sorgfältig geschlossene Vorhänge sperrten die Nacht aus. Der Tee war kalt, der Kuchen matschig und die Luft schal und abgestanden. Ohne den Geruch des Kaminfeuers hätte es sicherlich regelrecht gestunken, vermutete Irene.

»Ich möchte nicht zu streng erscheinen«, fuhr die erste Frau fort, »aber zu meiner Zeit kannte eine junge Dame ihre Pflichten! Wenn diese Miss … Miss …« Sie brach zögernd den Versuch ab, sich an Irenes Namen zu erinnern.

»Miss Winters«, sprang Mr Harper ein, dessen ergrautes Haar sich eindeutig auf dem Rückzug befand. Die kohlschwarzen Augen lagen hinter halb geschlossenen Lidern versunken. Er beugte sich in seinem Stuhl nach vorn wie ein Aasgeier, der auf Beute lauert. Jedes Wort wurde von einem Zähneblecken begleitet.

Der bislang einzige Lichtblick des Abends bestand darin, dass er nicht direkt neben Irene saß. Offenbar nahm er in seinem Geschlecht eine eher untergeordnete Rolle ein. Die mächtigeren Verwandten hatten sich noch nicht aus ihren Särgen erhoben. Immerhin ein Vorteil, wenn auch nur ein geringer. »Wie erfreulich, etwas junges Blut bei unserer kleinen Soiree begrüßen zu dürfen.«

Hätte Irene vorher gewusst, dass es sich um eine Soiree handelte, noch dazu um eine, bei der Vampire anwesend waren, hätte sie sich längst rar gemacht. Weshalb man es ihr wohl auch verschwiegen hatte.

Die Verhandlungen waren reibungslos verlaufen. Sie hatte sich darauf gefreut, der Bibliothek ein neues Buch hinzuzufügen – zur Abwechslung einmal ohne das übliche vorhergehende Geschrei, die Verfolgungsjagden und das Adrenalin. Anscheinend hatte sie sich zu früh gefreut …

»Als ich anrief, hatte ich ja keine Ahnung, dass ich mich unter solch illustren Gäste wiederfinden würde.« Sie begleitete ihre Worte mit einer Unschuldsmiene. »Es ging mir lediglich um den vereinbarten Büchertausch.«

»Ach ja, die Bücher. Unsere Abmachung.« Es war das erste Mal, dass sich die Frau auf der anderen Seite des Raums zu Wort meldete. Beim Klang ihrer Stimme verstummte das Gemurmel im Hintergrund. Sie berührte ein in rotes Leder gebundenes Buch auf ihrem Schoß; im Feuerschein des Kamins sahen ihre Finger dünn und runzlig aus. »Ich denke, diese Angelegenheit sollte unter vier Augen besprochen werden. Wenn Sie uns alle für einen Moment entschuldigen würden.« Sie wartete keinen Widerspruch ab. »Miss Winters, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang unternehmen.«

Irene stellte ihr Teegeschirr ab und blickte ein letztes Mal auf das Skalpell auf der Untertasse. Dann nahm sie eilig ihre Dokumententasche an sich und stand mit knisternden Röcken auf. Sie war der Einladung in angemessener Kleidung gefolgt: taubengraues Jackett, dazu ein Rock mit dunkelgrünem Saum. Ebenso adäquat wie vernünftig. Unter den gegebenen Umständen wäre sie jetzt allerdings froh gewesen, noch ein paar Accessoires mitzuführen – Knoblauch, Silber, ein paar gute Laufschuhe vielleicht. »Mit dem größten Vergnügen«, murmelte sie und folgte der Frau hinaus.

Flur und Treppenaufgang wurden von altmodischen Gaslaternen erhellt. Moderne Ätherlampen suchte man hier vergebens. Aus goldenen Zierrahmen blickten düstere Gemälde auf sie herunter. Es waren Porträts, auf denen die familientypische Nase und die charakteristischen Augenbrauen deutlich zu erkennen waren. Irene meinte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau herauszulesen, die vor ihr einherschritt.

Sie wünschte, nie hergekommen zu sein. Sie wollte nur zu gern endlich mal ein Buch lediglich tauschen, anstatt es zu stehlen. Diese tugendhafte Einstellung wurde einfach nicht belohnt. Im Gegenteil.

Mrs Walker – von den übrigen Familienmitgliedern als Lady Walker bezeichnet, auch wenn Irene bei ihren Nachforschungen über dieses Geschlecht nirgendwo einen Hinweis auf einen rechtmäßig verliehenen Adelstitel hatte entdecken können – blieb vor einem besonders dramatisch wirkenden Gemälde stehen. Sie wandte sich um und blickte Irene an. Das rechte Auge lag unter einer Augenklappe verborgen, aber ihr linkes musterte Irene forschend und wach. Da sie lieber unterschätzt oder ganz ignoriert wurde, hielt sie das für kein gutes Signal.

»Sie sind also die berüchtigte Miss Winters«, sagte Mrs Walker. »Wie angenehm, dass Sie zu mir kamen. Das erspart mir, Sie aufsuchen zu müssen.«

»Ah ja?« Irene beschloss, sich das Theater zu schenken. Offenbar eilte ihr ein gewisser Ruf voraus, da konnte sie die Heuchelei auch gleich zum Fenster hinauswerfen – durch das sie selbst gerade gern flüchten würde. »Darf ich fragen, wie Sie von mir erfahren haben?«

»Familienbande.« Mrs Walker zuckte die Achseln. Die Ornamente aus Gagat, die ihr Kleid verzierten, schimmerten im Licht der Gaslaternen. »Nur weil ich meine Zeit hier oben verbringe, statt sie in liederlichen Londoner Amüsierlokalen zu vergeuden, heißt das noch lange nicht, dass ich ahnungslos bin. Aber ich schweife ab. Ich versichere Ihnen, Miss Winters, dass ich mehr über Sie weiß, als Sie vermuten.«

»Tatsächlich?« Sie hatte schon so oft Gelegenheit gehabt, den von ihr jetzt angeschlagenen versöhnlichen Ton zu üben, dass er ihr leicht über die Lippen ging. Erzählen Sie mehr, schien sie damit zu sagen. Oh bitte, wie raffiniert Sie doch sind.

»Ach, wie fein«, schützte Mrs Walker Liebenswürdigkeit vor. »Genau die Art von Reaktion, die ich an Ihrer Stelle gewählt hätte.«

Verdammt. »Vielleicht sollten wir uns dieses ganze Vorgeplänkel schenken und zur Sache kommen«, sagte Irene.

Mrs Walker nickte. »Sehr gern. Ich weiß, dass eine der anderen Familien Sie als ein Instrument in diesem Machtkampf einsetzt. Und ich will wissen, was dahintersteckt, will wissen, wem Sie dienen. Und wenn Sie dieses Haus lebend verlassen wollen, sollten Sie meine Fragen lieber beantworten.«

Irene blinzelte. Sie hatte sich auf verschiedene Szenarien gefasst gemacht: Ich weiß, dass Sie für eine im geheimen agierende Bibliothek zwischen den Dimensionen unterwegs sind. Oder: Ich habe Beweise für die Straftaten, die Sie begangen haben, und werde Sie erpressen. Aber das kam nun unerwartet. »Sie sind sehr direkt«, entfuhr es ihr.

»Die Geschichte, die Sie sich da ausgedacht haben, ist sehr eindrucksvoll«, räumte Mrs Walker ein. »Übersetzerin und Büchersammlerin, die einen simplen Tausch vorschlägt. Marlowes verlorenes Massaker zu Paris gegen John Websters verlorene Tragödie Guise. Wir beide hätten von dem Tausch profitiert. Die Idee hört sich so glaubwürdig an, dass man sie glatt für echt halten könnte. Und doch ist das Angebot zu verführerisch. Am Ende ist es ein Märchen, nicht wahr, Miss Winters? Und wir alle wissen, dass Märchen niemals wahr werden.«

»Sie werden öfter wahr, als man denkt«, entgegnete Irene. Alternative Welten wie diese, die weit auf der chaotischen Seite des Gleichgewichts angesiedelt waren, hatten geradezu die Angewohnheit, Erzählmuster aus Legenden und Geschichten wahr werden zu lassen – und zwar auf recht unangenehme Weise. Leider ging das Muster Heldin-in-einem-Herrenhaus-voller-Vampire selten gut aus. Jedenfalls nicht für die Heldin … »Ich habe keine Ahnung, wie Sie darauf kommen, dass ich eine … Wofür halten Sie mich noch gleich?«

»Eine Spionin«, sagte Mrs Walker.

»Eine Spionin«, wiederholte Irene mit einem Anflug von Grauen in der Stimme. Was wusste Mrs Walker? Irene war eine Agentin der Bibliothek. Ihre Aufgabe bestand darin, Bücher in den Parallelwelten ausfindig zu machen und von dort in den interdimensionalen Bereich der Bibliothek zu schaffen. Die Bibliothek schuf auf diese Weise mit jedem Buch eine Verbindung zu der entsprechenden Welt und half dadurch, das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos aufrechtzuerhalten. Und dieses Gleichgewicht betraf alle Welten. Es war eine ehrenvolle Aufgabe, die ein lebenslanges Engagement erforderte. Irene durfte dafür die besondere Sprache der Bibliothek anwenden, mit welcher man die Realität direkt beeinflussen konnte, verstrickte sich aber auch laufend in komplizierte Operationen und halsbrecherische Fluchten. Theoretisch war ›Spionin‹ also gar nicht so verkehrt. Glücklicherweise schien das wahre Geheimnis ihrer Identität aber noch intakt zu sein. Mrs Walker wusste nichts. Die Chance, Websters Guise in die Finger zu bekommen, schwand dafür von Sekunde zu Sekunde.

»Sie müssen eine Spionin im Auftrag einer der anderen Familien sein«, fuhr Mrs Walker fort. Das Flackern der Gaslaternen verstärkte noch den Eindruck, dass es sich bei ihr um einen schlecht erhaltenen Leichnam handelte. Sie war so dürr unter ihrem schweren schwarzen Kleid, dass sie einer Marionette aus dem Puppentheater ähnlich sah. »Haben Sie nicht zugehört? Ich persönlich glaube ja, dass Sie für die Familie Vale in Leeds arbeiten. Man hat Sie gesehen, wie Sie mit Peregrine Vale in London unterwegs waren. Angeblich ist er mit seiner Verwandtschaft zerstritten, aber das kann genauso gut eine weitere Lügengeschichte sein. Oder sollte ich eher auf die Reads in Rotherham achtgeben? Sie beschäftigen mich schon eine ganze Weile. Wahrscheinlich wären die froh, einen Spitzel in meinen vier Wänden zu wissen.«

Theoretisch wusste Irene, dass im Norden Englands viele Vampire lebten. Dieses Großbritannien stellte den Vampirismus offiziell nicht unter Strafe, auch wenn es natürlich als Mord galt, jemanden zu töten, um sein Blut zu trinken. Ihr war auch bewusst gewesen, dass sie auf diesem Landsitz hausten. Aber eine solche Ansammlung von Intrigen, ein Netzwerk von Familien, die sich gegenseitig bekämpften, das hatte sie nicht erwartet.

»Mrs Walker«, hob sie an, »Sie irren sich. Ich bin weder eine Spionin noch ein Handlanger Ihrer Feinde. Ich bin auch nicht in irgendwelche interfamiliären Angelegenheiten verwickelt. Es geht mir einzig und allein um den Büchertausch.« Sie hob ihre Dokumententasche. »Und ich habe meinen Anteil des verabredeten Geschäfts bei mir.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, versetzte Mrs Walker. »So oder so, der Webster ist nicht hier.«

»In dem Fall werde ich dieses Haus nun verlassen«, beschied Irene. Insgeheim nahm sie sich vor herauszufinden, wo sie den Webster stattdessen versteckt hatten – um ihn zu stehlen. Sie ließ sich nicht gern an der Nase herumführen; auch dann nicht, wenn das, was man ihr vor die Nase hielt, ein Buch war.

Mrs Walker ging nicht auf die Ankündigung ein. Sie taxierte Irene von oben bis unten. »Es gibt Möglichkeiten, Sie in die Familie einzugliedern, sollten Sie mehr wissen, als gut für Sie ist. Vielleicht wäre es das Beste.«

Irene gab auf. Wenn man es mit Verschwörungstheoretikern zu tun hatte, war es manchmal einfacher, ihr Spiel mitzuspielen, statt zu versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. »Angenommen, ich schlage diese Ehre aus?«

»Sie sind kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt, dies ist ein Haus voller Vampire, ringsum gibt es nichts als Wildnis, und wir haben bald Mitternacht.« Mrs Walker verzog ihren Mund zu einem feinen Lächeln. »Der Regen nimmt zu. Es wird nicht einmal Spuren geben. Bis jemand Ihr Verschwinden bemerkt, werden Tage vergehen.«

»Tja, man wird wohl annehmen, ich hätte mir ein gutes Buch geschnappt und eine kleine Auszeit genommen«, erwiderte Irene. »Darf ich mich erkundigen, wieso ausgerechnet ich als Mitglied Ihrer Familie in Frage kommen sollte? Ich kann mir das nur schwer vorstellen.«

Es wäre aufrichtiger gewesen zu sagen: Nicht in einer Million Jahren! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss nur fix die Tür eintreten, um mich aus dem Staub zu machen. Aber neugierig war sie schon.

»Sie verfügen über einen scharfen Verstand«, gab Mrs Walker zu. »Das haben Sie deutlich unter Beweis gestellt. Darüber hinaus könnten wir Sie ohnehin nicht mehr gehen lassen. Doch machen Sie sich keine Sorgen über Ihre berufliche Laufbahn.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Irene.

»Sobald Sie meiner Familie Ihre uneingeschränkte Loyalität geschworen haben, haben Sie nicht länger das nötige Ansehen für Ihre jetzige Stellung. Sie können die Geschäfte ruhigen Gewissens Ihrem Mitstreiter in London überlassen. Wo wir gerade von ihm sprechen, ist er zufällig in der Stadt?«

»Zufällig nicht«, sagte Irene. Es stimmte auf eine Weise, die sich Mrs Walker wohl kaum vorstellen konnte. Kai war auf eine Familienfeier eingeladen. Da er ein Drache war, fand diese Feier in einer anderen Parallelwelt statt. Seinen Dienst als Irenes Assistent leistete er jedoch in menschlicher Gestalt. Es war erleichternd, ihn in Sicherheit zu wissen. Mrs Walker hätte sicher gern eine Geisel als Druckmittel gegen Irene in der Hand gehabt.

»Was für eine Ehre, in den Kreis der Familie eingeladen zu werden«, heuchelte Irene. »Aber leider warten andere Aufgaben auf mich. Ich muss mich dringend mit meinem Kollegen …«

»Selbstverständlich«, fiel ihr Mrs Walker ins Wort. »Wenn Sie mir nur rasch in unsere Kellerkapelle folgen würden, um den Eid auf die Familie abzulegen. Und den üblichen kleinen Blutschwur natürlich auch. Wir wollen doch nicht, dass Sie es sich auf dem Weg nach London wieder anders überlegen, nicht wahr?«

Nicht gut. Gar nicht gut. Irene war selbst eine geschickte Lügnerin, und der ›übliche kleine Blutschwur‹ klang für sie alles andere als vertrauenerweckend. Sie war auch nicht scharf darauf zu erfahren, wie eine Kapelle aussehen mochte, die von einer Familie von Vampiren unterhalten wurde. »Lassen Sie mich einen Moment nachdenken«, sagte sie. »Immerhin ist das eine ziemlich wichtige Entscheidung für eine junge Frau wie mich.«

Mrs Walker nickte wenig überzeugt. »Wie Sie wollen, Mrs Winters. Ich gebe Ihnen nur den Rat, das Haus nicht auf eigene Faust zu durchstreifen. Die Bewohner erhalten von der Blutbank des örtlichen Krankenhauses ihr täglich Brot, aber wir wollen sie ja nicht unnötig provozieren, richtig? Ihre Handgelenke …« Sie blickte auf die spitzenverzierten Ärmel von Irenes Bluse. »Sie sind, wenn ich das so sagen darf, auf geradezu unschickliche Weise entblößt.«

Irene beschloss, es ein letztes Mal mit Vernunft zu versuchen. »Ich muss Sie bitten, die Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Sie könnten uns beide in eine … unangenehme Lage bringen.«

»Es wird Ihnen nichts nutzen zu betteln«, sagte Mrs Walker in schneidendem Ton. »Ich erwarte Sie in wenigen Minuten unten. Falls Sie nicht auftauchen, werden wir kommen und Sie holen.«

Mrs Walker glitt zum Treppenabsatz. Der Saum ihres Moiré-Seidenkleides strich über den altehrwürdigen Teppich. An der Treppe drehte sie sich noch einmal um. Sie musterte Irene, und ihr Blick schien noch das kleinste Quäntchen Blut in ihren Adern abzuwiegen. »Mit ›wir‹ meine ich auch meinen Herrn Gemahl.«

Irene sah ihr nach, wie sie die Stufen hinunterschwebte. Sie versuchte sich klar zu werden, was von ihren verschwindend geringen Chancen noch übrig war.

Der Webster war der aktuelle Auftrag, den sie für die Bibliothek übernommen hatte. Der Walker-Tausch hatte sich als die einfachste Möglichkeit dargestellt, ihn zu bekommen. Zerschlug er sich, war das bedauerlich, aber keine Tragödie. Ihr Hauptziel war soeben geworden, mit dem Leben davonzukommen. Sie stellte die Dokumententasche ab. Der Marlowe darin würde sie bei ihrer Flucht nur behindern. Irene hatte ihn aus einer Parallelwelt mitgebracht, in der dieses Buch an jeder Ecke zu finden war. Kein allzu großer Verlust.

Das Porträt über ihr spähte drohend auf sie herunter, als sie vorüberging. Der vermeintlich lebendige Blick ließ sie frösteln. Sie wandte sich dem Gemälde zu und starrte zurück. Im schummrigen Licht ließ sich nur schwer bestimmen, aus was für einer Epoche das Kunstwerk stammte, welche Kleidung die Gestalt trug oder wie ihre genauen Gesichtszüge beschaffen waren. Irene erahnte nur eine herabgezogene Augenbraue und eine Adlernase, dazu eine dunkle Kutte und furchteinflößende Augen. Wie alles andere in dem großen Herrenhaus wirkte das Bild uralt. Sie ging zum Fenster und zog die dicken Brokatvorhänge zur Seite.

Die Fenster waren mit Eisenstangen vergittert.

Zum ersten Mal lächelte Irene. Kaltes Eisen war ein Hindernis für Menschen. Für Elfen war es sogar ein gewaltiges Problem. Aber für eine Angestellte der Bibliothek? Ein Kinderspiel …

Regen trommelte gegen die Scheiben. Draußen herrschte Nacht, es stürmte, und sie war wirklich mehrere Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Sie musste sich höchstwahrscheinlich darauf gefasst machen, von Vampiren durch die Wildnis gejagt zu werden. Außerdem führte der Fluss, die Ouse, wieder Hochwasser. In dieser Gegend schien das ständig zu passieren. Unter diesen Umständen war auf den Landstraßen mit Sicherheit kein Mensch unterwegs.

In Zukunft war es vielleicht besser, Bücher nur noch zu klauen, anstatt es auf riskante Tauschgeschäfte ankommen zu lassen. Das ging nicht nur schneller, es war auch unauffälliger. Und man bekam weniger Ärger mit Vampiren.

Sie beugte sich zu den Eisenstangen und sagte gedämpft in der Sprache: »Eisenstäbe, krümmt euch geräuschlos so weit auseinander, dass ich hindurchpasse.«

Die Eisenstäbe zitterten, dann bogen sie sich wie Wachs. Die Farbschicht blätterte ab.

Das Fenster war abgeschlossen, aber das stellte ebenfalls kein Problem für die Sprache dar. »Fenster, entriegele dich und öffne dich – so leise wie möglich«, flüsterte Irene.

Das Schloss sprang knirschend auf, die Hebel zum Öffnen des Fensters kippten knarrend nach oben. Dann schwang der Fensterladen auf.

Regenrinne und Fallrohr suchte Irene vergebens, aber dichter Efeu wuchs die Hauswand entlang. Das würde reichen müssen.

Irene raffte ihre Röcke, fasste den Stoff an der Hüfte zusammen und kletterte – mehr als unschicklich für die Gewohnheiten dieser Zeit – aus dem Fenster im ersten Stock. Der Efeu war nass und rutschig. Als sie an der Außenwand des Hauses hing, stoppte sie. »Eisenstäbe, nehmt eure ursprüngliche Form wieder an. Fenster, schließe und verriegele dich.« Sie kletterte hinab. Je mehr Vorsprung sie herausholen konnte, bevor ihre Flucht bemerkt wurde, desto besser.

Nachdem sie eine halbe Minute geklettert war, rutschte sie auf etwas Schleimigem aus, verlor den Halt und stürzte den Rest des Weges nach unten. Im Schlamm blieb sie liegen. Der Regen prasselte heftig auf sie herab, und es war stockdunkel.

Während sie sich durch wuchernde Lavendelsträucher schlug – so viel verriet ihr ihre Nase –, begriff sie, worin das eigentliche Problem bestand. Sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt, Hilfe zu bekommen. Für eine Bibliothekarin war das riskant – wenn es in dieser Situation nur nicht so verdammt praktisch gewesen wäre …

Ein Blitz zuckte über den Himmel, zwei Sekunden später folgte der Donner. Irene lauschte. Das Unwetter würde ihre Spuren hoffentlich verwischen.

Da ertönte aus der Dunkelheit hinter ihr ein Schrei. Er klang atemlos, gierig und irgendwie … durstig. Aus der Ferne antwortete ein zweiter Schrei. Die Jagd begann, und sie war die Beute.

Der Regen hatte Irenes hochgesteckte Frisur mittlerweile völlig durchnässt. Das Wasser rann über ihr Gesicht ins Jackett und das Kleid darunter. Es wollte auch noch in ihre Stiefel vordringen. Wohin sollte sie fliehen? Nach Norden, auf die Straße zu, die wahrscheinlich verlassen war? Oder nach Süden zur über die Ufer getretenen Ouse, die kilometerweit von Feldern umgeben war?

Der Fluss, beschloss sie, war das schnellste Transportmittel. Bei ihren Recherchen zu dieser Reise hatte sie etwas von einem Bootshaus gelesen …

Ein weiterer Blitz erhellte die Nacht. Er offenbarte die Umrisse eines Gebäudes am diesseitigen Flussufer, das wie ein Schuppen aussah. Es lag bereits einen halben Meter unter Wasser.

Dann sah Irene die geduckte Gestalt, die zwischen ihr und dem Bootshaus lauerte.

»Sie laufen nirgendwohin«, stieß Mr Harper hervor. Er richtete sich zu voller Größe auf.

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, forderte Irene. Sie war so wütend, dass ihre Stimme das Tosen des Windes übertönte. »Ich lehne Mrs Walkers Angebot ab.«

»Das glaube ich kaum«, sagte der Vampir. Von knochendürren, mit klauenartigen Nägeln bewehrten Fingern tropfte das Wasser. Er starrte Irene mit schwelendem Blick an.

»Erde, öffne dich«, sagte Irene. »Umschließe seine Füße und die Knöchel und halte ihn fest. Bootshaustür, entriegele und öffne dich!«

Unter Mr Harpers Füßen tat sich der schlammige Grund auf, als öffnete sich ein fletschendes Maul in der Erde. Irene spürte, wie die Sprache ihr die Kraft aus dem Körper sog, während die Welt ihren Worten gehorchte. Mr Harper sank bis zu den Kniekehlen in den Boden. Irene rannte an ihm vorbei, knapp außerhalb seiner Reichweite und der wütenden Versuche, sie zu packen.

Das Bootshaus lag offen zum Fluss, das Licht im Innern reichte gerade aus, um zu erkennen, was sich darin befand. Ruderboote, die einst hoch über dem Wasserspiegel in ihren Aufhängungen gehangen hatten, schaukelten nun wenige Zentimeter über der kraftvollen Flut. Irene watete zu dem Boot, das ihr am nächsten lag.

Von draußen schrie Mr Harper: »Hier! Sie ist hier!«

Mit einem kräftigen Stoß beförderte Irene das Boot ins Wasser. Sie griff sich eines der Ruder und kletterte hinein. In diesem Moment schwankte auch schon Mr Harper durch die Tür.

Er kam auf sie zu, die Hände ausgestreckt. Irene holte mit dem Ruder aus. Sie schlug ihn gegen die Brust und sandte ihn taumelnd nach hinten. Vom Schwung des eigenen Schlages mitgerissen, fiel Irene beinahe selbst über Bord. Dann glitt das Boot auf den rettenden Fluss hinaus, wo die Strömung es erfasste und mit sich davonführte.

Irene hörte Schreie vom Ufer herüberdringen. Mrs Walker stand dort, nur undeutlich wahrnehmbar im Regen und der Finsternis. Schatten reihten sich hinter ihr auf, und Blitze tauchten die Gestalten abwechselnd in gleißendes Licht und wieder in Dunkelheit.

»Sie werden das noch bereuen!«, schrie Mrs Walker in die Nacht hinaus.

Irene atmete auf. »Viel Spaß mit Ihrer Lektüre!«, rief sie zurück, als der Fluss ihr Boot auch schon forttrug in Richtung York.

ZWEITES KAPITEL

Es war fast Mitternacht, als Irene das Hotel betrat. Ihre Röcke und Stiefel troffen und hinterließen eine nasse Spur. Sie würde dem Mitarbeiter am Empfang wahrscheinlich ein saftiges Trinkgeld geben müssen. Doch der zuckte nur die Achseln und fragte: »Hat das Hochwasser Sie in Mitleidenschaft gezogen, Madam? Touristen werden nicht selten davon überrascht.«

»Sehr ärgerlich«, bestätigte Irene und war froh über die passende Ausrede.

Der Fluss hatte sie mit ihrem Boot einmal quer durch die Stadt geschwemmt. Danach hatte sie sich die Standpauke eines Polizisten anhören müssen, weil sie ganz offensichtlich bei Hochwasser eine Vergnügungsfahrt unternahm, noch dazu mitten in der Nacht. Statt des aussichtslosen Versuchs, ihm ihre Situation zu erklären, hatte sie eine begriffsstutzige Miene aufgesetzt und sich entschuldigt. Anschließend hatte sie sich von ihm den Weg zurück zum Hotel beschreiben lassen. »Nächstes Mal werde ich vorsichtiger sein«, versicherte sie dem Mann am Empfang und ging auf die Fahrstühle zu.

»Verzeihen Sie, sind Sie Miss Winters?«

Sie war durchnässt und müde. Das war die einzige Erklärung dafür, dass sie sich umdrehte, ohne im Spiegel der Lobby nachzuprüfen, wer sie ansprach. Doch die Stimme gehörte keinem steinalten Vampir, sondern einer jungen Frau. Trotzdem – für eine Agentin mit Irenes Erfahrung stellte so ein Verhalten eine grobe Fahrlässigkeit dar.

Die Frau erhob sich aus einem der Sessel in der Lobby. Unter den Ätherlampen schien sie beinahe aufzuglühen. Ihr Haar schimmerte in leuchtendem Gold – und zwar nicht in dem blondierten Gelbton, der in dieser Alternativwelt momentan Mode war, und auch nicht auf die Art, die erst im Mondlicht golden wurde, sondern in dem warmen, strahlenden Glanz von Butterblumen. Ihr dunkler Mantel war etwas aus der Zeit gefallen: kostbar, von erlesener Qualität, aber mit zu hoch geschnittenem Kragen und zu tiefer Taille. Anstelle der üblichen Woll- oder Samthandschuhe trug sie Seide an den Händen, und der Schleier, der vom Hutrand über ihr Gesicht fiel, war nachträglich befestigt worden und gehörte nicht zu dem ursprünglichen Kostüm. Am deutlichsten aber erkannte man ihr wahres Wesen am Gesicht: Es war gleichgültig schön. Sie scherte sich nicht darum, was die Leute von ihr dachten, da sie ohnehin über allen stand.

Es war eine Drachenfrau in Menschengestalt.

Sie schritt lässig durch die Lobby auf Irene zu, als würden sie sich längst kennen. Der Umstand, dass beide Vertreterinnen von Interessengruppen waren, die genug Macht besaßen, um das gesamte Multiversum zu beeinflussen, trat dabei fast in den Hintergrund. Die Macht des Drachens lief ihrem Gegenüber als unsichtbare Welle voraus, und die Luft knisterte, dass Irene es auf der Haut spüren konnte. Diese Frau war nicht so gefährlich wie einige andere Drachen, die Irene bereits getroffen hatte, aber sie war auch keineswegs harmlos.

»Wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte die Frau. »Auch wenn ich schon einiges von Ihnen gehört habe.«

»Ich fürchte, da haben Sie mir etwas voraus«, erwiderte Irene höflich.

»Zumindest weiß ich, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen.« Sie streckte Irene die Hand hin und lächelte. Es sah eher gütig als freundlich aus.

Irene lächelte zurück, missachtete jedoch die ausgestreckte Hand. Sie konnte die im Zaum gehaltene Energie spüren, die die Frau unter ihrer menschlichen Erscheinung verbarg, und das machte sie misstrauisch. »Tut mir wirklich leid«, sagte Irene. »Aber ich weiß nicht, wer Sie sind oder was Sie von mir möchten. Und unter diesen Umständen …«

Die Frau zog die Hand zurück, wobei für eine Sekunde ihr Lächeln verrutschte. Schnell brachte sie ihre Lippen wieder in Form. »Sehr achtsam von Ihnen. Vielleicht sollten wir uns erst einmal unterhalten. Ich komme mit einer wichtigen Bitte zu Ihnen. Die Bar dieses Etablissements ist noch geöffnet, nehme ich an?« In ihrem Ton schwang mit: Falls nicht, wird sie es bald sein. Ich kann dafür sorgen.

Irene ermahnte sich, dass sie nicht noch mehr Feinde brauchte. »Einem Gespräch unter vier Augen steht sicher nichts im Weg. Aber vielleicht eignet sich die Teestube um die Ecke etwas besser, die ist gemütlicher. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich außerdem vorher gern umziehen …« Sie wies auf ihr tropfendes, patschnasses Kostüm. »Und ich wüsste gerne noch Ihren Namen.«

»Aber natürlich«, erwiderte die Frau. Ihr Lächeln wurde breiter. »Man nennt mich Jin Zhi.«

Kai hatte nie eine Jin Zhi erwähnt. Die anderen Drachen, die Irene kannte, hatten ebenfalls nie von ihr gesprochen. Genauer gesagt, waren es auch nur zwei: Kais Onkel Ao Shun und dessen persönlicher Assistent Li Ming. Auf die Datenbank der Bibliothek konnte Irene von hier aus nicht zugreifen, was bedeutete, dass sie diese Jin Zhi (falls das ihr richtiger Name war) nicht überprüfen konnte, um herauszufinden, ob sie gefährlich war.

Zwischen der Bibliothek und den Drachen bestand keine direkte Feindschaft. Im Großen und Ganzen ließen sich die Beziehungen sogar als freundschaftlich, wenn auch distanziert bezeichnen. Wenn Konflikte auftraten, ging es für gewöhnlich um Bücher und darum, wem sie gehörten. Die Drachen vertraten darüber hinaus jedoch die Seite des Multiversums, die der Ordnung und Realität verpflichtet war. Und dadurch lagen sie im tiefen Clinch mit den Elfen, die das Chaos und die Fantasie repräsentierten. Ihr Konflikt war anhaltend und blutig. Irene, mit dem Drachen Kai als persönlichem Assistenten und Lehrling an ihrer Seite, hatte sich in der Vergangenheit bereits zwischen den Fronten dieses Konflikts wiedergefunden. Sie wollte dringend verhindern, dass es noch einmal dazu kam.

Die Bibliothek stand in der Mitte des Mächte-Gleichgewichts. Bibliothekare mussten unparteiisch bleiben. Sie konnten sich ein Bündnis weder mit den Drachen noch mit den Elfen leisten, da sie sonst die Feindschaft der jeweils anderen Seite auf sich zogen. Der Fortbestand der Bibliothek war an ihre Neutralität gebunden. Jede andere Position hätte ihre Existenz gefährdet.

Die Frage war also: Was wollte Jin Zhi von ihr? Und woher wusste sie, wer Irene war?

Irene schlüpfte in trockene Sachen, rubbelte sich die Haare und ging dabei ihre Möglichkeiten durch. Sie hatte kein Problem damit, neue Freunde kennenzulernen – oder Verbündete, wie auch immer. Es gab aus ihrer Sicht auch nichts gegen eine Verabredung zum Tee mit einem Drachen einzuwenden. Aber falls die Drachenfrau den Gedanken hegte, dass Irene Anordnungen entgegennehmen oder ihre Loyalität verkaufen würde, musste sie sich auf ein unangenehmes Gespräch gefasst machen. Was meinte sie mit eine wichtige Bitte? Die beiden Worte waren ihr im Gedächtnis geblieben. Sie wirkten wie eine Warnung.

Irene seufzte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit der Drachenfrau zu gehen und sich anzuhören, was sie wollte. Aus dem geplanten ruhigen Abend mit einem guten Buch würde leider nichts werden.

Jin Zhi saß an einem Tisch im Teesalon und wartete bereits. Vor ihr stand ein kleiner aufgeklappter Laptop, auf dem sie etwas tippte. Als sie Irene sah, klappte sie ihn zu und ließ ihn in ihrer Handtasche verschwinden.

Der Salon war hell beleuchtet, Ätherlampen erzeugten einen glänzenden Widerschein auf dem nassen, dunklen Straßenpflaster vor dem Fenster. Die übrigen Wände waren mit Spiegeln versehen, was einen Eindruck von aufgeräumter Schlichtheit erweckte, der im Kontrast zu den altmodischen schwarzen Bodendielen stand. Kellner und Kellnerinnen huschten geräuschlos in schwarz-weißen Anzügen umher, die Gesichter so ausdruckslos wie Puppen. Vale hatte Irene diese Adresse als einen Ort vorgestellt, an dem hiesige Agenten sich trafen, um Geheimnisse auszutauschen. Er hatte diese Art von Information immer parat – was sicher viel damit zu tun hatte, dass er der größte Detektiv Londons war. Wenn er etwas nicht wusste, dann nur, weil es ihn nicht interessierte. Aber die Dinge, die er wusste, waren in der Regel faszinierend.

Irene wartete, bis der Kellner ihren Stuhl herangerückt hatte, und setzte sich Jin Zhi gegenüber. Die beiden Frauen beäugten einander über ihre Speisekarten hinweg. Wieder spürte Irene die im Verborgenen liegende Macht ihrer Gesprächspartnerin. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, ob diese Wahrnehmung wohl gewollt ausgestrahlt wurde, oder ob Jin Zhi schlicht die Übung fehlte, ihre Kraft zu kontrollieren.

»Mit mir Tee zu trinken bedeutet keinerlei Verpflichtung für Sie«, begann Jin Zhi. »Ich greife nicht zu schmutzigen kleinen Elfen-Tricks. Und die Rechnung zahlen wir getrennt.«

»Klingt fair«, gab Irene zu. »Was nehmen Sie?«

»Die abendliche Teezeremonie zu zweit hört sich vernünftig an. Tee, Sandwiches, Makronen …«

»Es ist nach Mitternacht.«

»Na und? Es steht doch auf der Karte.«

Irene nickte und überließ es Jin Zhi, die Bestellung aufzugeben. Sie schaute sich um, betrachtete die Spiegelbilder der restlichen Gäste an den Wänden. Fast niemand saß allein: Die meisten Leute scharten sich zu zweit oder dritt um ihre Tische und waren in leise Unterhaltungen vertieft. Das Piano spielte leise und unaufdringlich – nicht zu laut, aber doch laut genug, um Geflüster zu übertönen.

»Ich will noch einmal anfangen«, sagte Jin Zhi, als der Tee kam. »Bitte entschuldigen Sie den etwas holprigen Start. Ich heiße Jin Zhi. Ich stehe im Dienst der Königin der Südlichen Ebenen. Meine Stellung ist nicht die höchste, ich herrsche nur über ein paar Dutzend Welten. Umso mehr bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet, dass Sie diesem Treffen zugestimmt haben.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte Irene. »Und ich bin Irene. Ich stehe im Dienst der Bibliothek – ebenfalls in untergeordneter Position –, und ich bin die ortsansässige Vertreterin in dieser Welt. Mir ist nicht ganz klar, was mir die Ehre Ihrer Anwesenheit verschafft, aber es ist mir ein Vergnügen, Sie zu empfangen.«

Nebenbei wäre es ihr auch ein Vergnügen gewesen zu erfahren, wie Jin Zhi sie aufgespürt hatte. Aber diese Frage musste warten. »Wie möchten Sie Ihren Tee?«

»Etwas Milch, kein Zucker.« Jin Zhi überließ es Irene einzuschenken. Ihre Andeutung von Gleichstellung kannte anscheinend genaue Grenzen: Den Tee zu kredenzen war nun einmal Aufgabe der untergeordneten Person. »Finden Sie, dem Austausch berufsmäßiger Höflichkeiten ist damit Genüge getan?«, fragte die Drachenfrau.

»Vermutlich.« Irene gab einen Schuss Milch in ihren Tee. »›Ein paar Dutzend Welten‹ klingt allerdings schon so, als hielte ich Sie von wichtigen Verpflichtungen ab.«

»Es sind überwiegend Verwaltungsaufgaben«, sagte Jin Zhi mit wegwerfender Handbewegung. »Mit richtigen Regierungsfragen bin ich kaum betraut, und wenn, dann nur hintergründig. Die chaotischen Kräfte sind in meinen Territorien kaum präsent. Aber um auf mein eigentliches Anliegen zurückzukommen …« Sie warf Irene ein sichtlich eingeübtes Lächeln zu, mit dem sie anscheinend eine Art schwesterlich-herzliche Verbundenheit ausdrücken wollte. In Irene fingen sämtliche Alarmglocken an zu schrillen. »Es geht um ein Buch.«

Irene wölbte die Hände um ihre Teetasse. »Ich werde es wohl kaum persönlich besitzen, aber ich kenne mich mit den großen Bibliotheken hier mittlerweile gut aus. Und ich weiß, wo die besten Buchhandlungen sind«, sagte sie. »Verraten Sie mir Autor und Titel?«

Jin Zhi schnaubte ungläubig. »Wenn ich auf der Suche nach einem gewöhnlichen Buch wäre, würde ich einen meiner Bediensteten mit der Sache beauftragen. Ich müsste nicht extra mit einer Bibliothekarin sprechen.«

»Um was für ein Buch geht es also? Und wo soll es Ihrer Meinung nach sein?«

»Ich bin an einer Ausgabe der Reise nach Westen interessiert.« Jin Zhi nahm einen Schluck Tee. »Sie kennen es sicher. Es stammt aus einer bestimmten Welt – nicht dieser. Die Einzelheiten teile ich Ihnen gerne mit. Ihre Bibliothek verfügt wahrscheinlich über viele verschiedene Ausgaben des Werkes …«

»Und ich fürchte, wir verleihen keines davon«, sagte Irene.

Die Reise nach Westen war ihr natürlich ein Begriff. Es handelte sich um einen der vier großen Romane der klassischen chinesischen Literatur in mehreren Welten – vielen, um genau zu sein. Es stammte aus dem 16. Jahrhundert und bot eine Mischung aus Geschichte, Mythologie und Philosophie. Darin macht sich ein Mönch, begleitet von übernatürlichen Gefährten, auf, um Buddhas heilige Schriften aus Indien zu holen. Unterwegs erlebt er haarsträubende Abenteuer – Verwandlungen, Kämpfe mit grässlichen Monstern, Flüge über den Wolken. Der Beitrag des Mönchs beschränkt sich meist darauf, nutzlos im Weg herumzustehen oder auf der Speisekarte des jeweiligen Monsters zu landen. Die eigentliche Arbeit erledigen seine Reisegefährten, die Affen und Schweine, denen die besten Szenen gewidmet waren. Die meisten Bibliothekare kannten zumindest den Titel des Buches, auch wenn sie es nicht gelesen hatten.

Es gab Wünsche, die man ablehnen musste, egal, wie gefährlich die Person war, die sie äußerte. »Das steht leider außer Frage«, sagte Irene.

»Aber … es gibt doch mehrere Ausgaben davon.« In Jin Zhis Augen funkelte es zornig. Es sah aus wie Sonnenlicht, das auf einer Schwertklinge glänzt.

»Es ist eine strenge Regel ohne Ausnahme.« Irene wahrte ihren ruhigen Gesichtsausdruck. Wenn sie Angst zeigte, bestätigte sie dadurch nur, dass sie die Unterlegene war. »Allerdings beschränkt sich das Verbot auf die Exemplare, die der Bibliothek gehören. Wenn Sie eine Abschrift des Textes suchen, kann ich jemanden bitten, eine Kopie anzufertigen …«

Jin Zhi schüttelte herablassend den Kopf. »Nein. Es müsste sich um eines der Originale handeln. Vorzugsweise Ming-Dynastie, notfalls eine spätere Epoche.« Ungeachtet Irenes Weigerung sah Jin Zhi alles andere als entmutigt aus. »Vielleicht erkläre ich Ihnen erst einmal, worum es geht?«

Irene fiel auf, wie vorsichtig die Drachenfrau die Angelegenheit behandelte. Weder hatte sie direkt um die Aushändigung eines Exemplars ersucht, noch den Wunsch geäußert, es für sich selbst haben zu wollen. Alles drehte sich um die bloße Andeutung von Interessen und Notwendigkeiten. Das Ganze kam Irene recht verdächtig vor. »Suchen Sie eine Gute-Nacht-Lektüre?«, fragte sie.

Jin Zhi lachte. Vor Überraschung blitzte einen Augenblick echte Belustigung in ihren Augen auf. Schnell nahm sie sich etwas zu essen von den gestuften Tabletts, die in diesem Moment an ihren Tisch gebracht wurden. Darauf lagen Sandwiches, Scones, Makronen und Törtchen. Jin Zhi forderte Irene mit einer Geste auf, sich ebenfalls zu bedienen. »So einfach ist es leider nicht«, fuhr sie fort. »Wissen Sie …«

Die Drachenfrau hielt inne. Sie schien unschlüssig, wo sie anfangen sollte. Doch das wirkte ein wenig aufgesetzt, als versuchte sie sich an einer Demonstration menschlicher Fehlbarkeit. So ganz unter uns, von Frau zu Frau: Sie können mir vertrauen.

»Die Königin der Südlichen Ebenen ist eine der vier großen Herrscherinnen der inneren Königreiche der Drachen. Sollte ich Königinnenreiche sagen?«

»Ich weiß, dass es vier äußere Königreiche gibt, die von vier Königen beherrscht werden«, erwiderte Irene, »und vier innere Königreiche, die von vier Königinnen regiert werden«, sagte Irene. So viel hatte sie aus Kai herausbekommen. »Die äußeren Reiche liegen näher an den Welten des chaotischen Spektrums, während die inneren der Ordnungsseite näherstehen, habe ich recht?«

Jin Zhi nickte. »Minister Zhao hat vor Kurzem angekündigt, dass er … zurücktreten wird. Daraufhin hat Ihre Majestät entschieden, zwei Untergebenen die Chance auf die Nachfolge zu gewähren. Sie hat mich und ihn in direkte Konkurrenz zueinander gesetzt.«

Irene runzelte die Stirn. »Sie verlangt von Ihnen, dass Sie ihr dieses Buch bringen.« Vielleicht hatte die Königin den beiden Kandidaten noch weitere Prüfungen auferlegt; Herrschaftspraktiken, Verwaltungsaufgaben und so weiter. Irene konnte die Frau jedenfalls nur bewundern. Beschafft mir dieses Buch. Diese Herrscherin setzte zweifellos die richtigen Prioritäten.

Jin Zhi zerlegte ein Gurkensandwich in seine Einzelteile. »Sie verlangt, dass wir dieses ganz besondere Buch finden«, sagte sie. »So sollen wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen. Wer ihr das Buch bringt, wird erwählt. Der andere … wird den Preis zahlen. Das Streben nach den höchsten Ämtern setzt nun einmal voraus, dass man das Risiko eingeht zu verlieren.«

Irene strich nachdenklich etwas Butter auf einen Scone. »Ich kann nachvollziehen, dass Sie sich in Ihrer Situation an eine Bibliothekarin wenden«, räumte sie ein. »Leider kann ich Ihnen kein Exemplar der Bibliothek geben. Darüber hinaus existieren so viele verschiedene Versionen dieses Textes, dass ich nicht wüsste, wo ich anfangen sollte. Sie sagten, Sie wüssten, aus welcher Welt es stammt, aber ich bezweifele, dass Drachen und Bibliothekare die alternativen Welten auf dieselbe Art benennen. Selbst wenn wir so einen Auftrag annähmen – was wir nicht tun –, würde ich Ihnen nichts nützen. Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen?« Dieser letzte Punkt machte Irene zunehmend nervös, und nun hatte sie ihn ausgesprochen.

»Der Freund eines Freundes von mir«, sagte Jin Zhi. »Er kennt Kai, den Sohn des Königs des Nördlichen Ozeans …« Sie hielt inne. »Verzeihen Sie die Förmlichkeiten, aber es fällt mir schwer, diese Gewohnheiten abzulegen. Ich hörte, dass Kai sich in dieser Welt aufhält und dass ihm eine Bibliothekarin unterstellt ist, die ihm dient. Ich hatte ein paar dringende Fragen an jemanden, der sich mit Büchern auskennt, also … Sie verstehen mein Vorgehen doch sicher.«

»Zweifellos«, sagte Irene. Ihr innerer Alarm war soeben auf Warnstufe Gelb gestiegen, doch sie ließ sich nichts anmerken. Jin Zhi wusste zu viel – über Kai, über Irene und über die Bibliothek. Damit stand nicht nur ihre Sicherheit auf dem Spiel, sondern auch Kais.

Warum kommst du eigentlich ausgerechnet dann zu mir, wenn Kai nicht da ist?, fragte die zynische Seite ihres Verstandes. Warum bist du nicht zuerst zu ihm gegangen? Wie man es auch dreht und wendet, deine Geschichte ergibt keinen Sinn.

Irene achtete darauf, sich weiterhin einen neutralen Anschein zu geben. Sie konnte dieser Drachenfrau schlecht ins Gesicht sagen, dass sie eine Lügnerin war. Drachen machten sich in der Regel keine Gedanken über Kollateralschäden, wenn sie öffentlich beleidigt wurden. »Ich muss eine Sache richtigstellen: Ich arbeite nicht für Kai. Und ich bin erstaunt, dass Sie mich hier in York gefunden haben.«

»Ich habe meine Bediensteten betraut, Sie zu suchen«, sagte Jin Zhi. »Ich bin niemand, der alles selbst erledigen muss. Ich ziehe es vor, Experten zu engagieren.«

»Wie zum Beispiel eine Bibliothekarin«, versetzte Irene.

Jin Zhi beugte sich vor. »Ich habe nicht vor, eine Art Abkommen mit Ihnen zu treffen. Das wäre unangebracht, ich weiß. Und ich bin froh, dass Sie Ihre Unabhängigkeit so deutlich zum Ausdruck bringen.«

Irenes Alarmsignale schossen über sämtliche Skalen hinaus. War das eine Art Test seitens der Bibliothek, um ihre Loyalität auf die Probe zu stellen? Das grenzte an Paranoia. Aber wieso zierte sich Jin Zhi so, Irene um Hilfe zu bitten? Wollte sie sicherstellen, dass ihr im Nachhinein niemand einen Strick daraus drehen konnte? Falls das der Grund war, blieb immer noch die Frage, was sie wirklich von Irene wollte.

Jin Zhi hatte zugegeben, dass es sich hierbei um einen Dreh- und Angelpunkt innerer Machtangelegenheiten der Drachen handelte – aber sie hatte jeden Hinweis dahingehend vermieden, wie brenzlig die Situation war. Und das sprach dafür, dass sie sehr brenzlig war. In dem Fall war Irene – genau wie alle anderen Bibliothekare – ohnehin dazu verpflichtet, sich herauszuhalten.

»Freut mich zu hören«, sagte Irene. »Ich bin in der Tat vollkommen neutral. Die Bibliothek ist unabhängig, und wir mischen uns in keiner Weise in die Angelegenheiten der Drachen ein – besonders nicht in Dinge der höfischen Macht. Ich weiß den Tee und die Sandwiches zu schätzen, aber das ist das Äußerste. Mehr kommt nicht in Frage.«

Jin Zhis Augen wurden schmal, als sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte. Der Anschein von Höflichkeit war völlig aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie nahm ein Gebäckstück und zerbrach es zwischen den Fingern. Ihre Fingernägel waren auf einmal länger, geradezu klauenartig. »Wie interessant.« Sie spie das Wort aus. »Und ich hatte geglaubt, ich könnte für Gleichstand sorgen.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

Die Tür flog auf, und eine Gruppe von Leuten taumelte herein, die Hüte und Regenschirme triefend vor Nässe. Selbst jetzt, weit nach Mitternacht, und trotz des anhaltenden Wolkenbruchs samt Hochwasser, vibrierte York vor nächtlicher Aktivität.

»Wie ich erfahren habe, hat mein Widersacher sich bereits der Hilfe eines Bibliothekars versichert. Anscheinend folgen nicht alle Ihre Kollegen den gleichen Prinzipien wie Sie, Irene.«

Die zuckte die Achseln, während ihr in Wahrheit ein Schauer über den Rücken lief. »Darüber weiß ich nichts«, sagte sie nur. In der Regel kümmerte sie sich selten um das, was andere Bibliothekare taten – abgesehen davon, welche Bücher sie jeweils auftrieben. Aber keiner ihrer Kolleginnen und Kollegen würde sich zu so etwas hinreißen lassen. Oder doch? Es würde bedeuten, dass derjenige die Bibliothek in die Machtfragen der Drachenreiche verwickelte. Und das machte die ortsansässigen Bibliothekare, die davon in irgendeiner Weise betroffen waren, zu leichten Zielen. Hinzu kam die Reaktion der Elfen, sobald sie herausfanden, dass die Bibliothek mit den Drachen gemeinsame Sache machte. Und da reichte allein der Verdacht. Kai als Lehrling der Bibliothek war vermutlich der einzige Fall, in dem ein Arbeitsverhältnis zwischen Drachen und Bibliothekaren geduldet wurde. Irene hatte trotzdem äußerste Vorsicht walten lassen müssen, um Kai und sich nicht in die Angelegenheiten der Drachen hineinziehen zu lassen. Etwas anderes würde auch niemals toleriert werden.

»Ach nein?« Jin Zhis Stimme klang scharf wie geschliffenes Metall. »Reden Sie etwa nicht mit Ihren Kollegen?«

»Wir sind nicht so streng organisiert wie die Drachen«, rechtfertigte sich Irene. Sie brauchte mehr Informationen. »Es überrascht mich hingegen, dass Sie über die Vorgehensweise Ihres Konkurrenten so gut informiert sind.«

»Sollte ich das Buch nicht bekommen, weil mich eine Angestellte der Bibliothek dabei behindert hat, werde ich das nicht vergessen. Ich würde es sogar publik machen.«

Irene setzte ihre Tasse ab und beugte sich vor. »Ist das eine Drohung?«, fragte sie.

»Nein«, entgegnete Jin Zhi ein bisschen voreilig. »Natürlich nicht. Ich würde nicht im Traum daran denken, Sie durch Erpressung dazu zu zwingen, etwas Unmoralisches zu tun. Es geht mir nicht darum, Sie zu meinen Gunsten in diese Sache zu verwickeln. Alles, was ich vorschlage, ist, dass Sie für gleiche Verhältnisse auf beiden Seiten sorgen. Ich möchte, dass mein Konkurrent« – ihre Stimme schäumte vor Wut – »ebenfalls keine Hilfe erhält. Das ist nur fair, meinen Sie nicht?« Sie sah Irene unter gesenkten Lidern hindurch an. Das Piano erfüllte den Salon mit leisen Melodien, und darunter lag das Rauschen des Regens, der gegen die Scheiben strömte.

»Dazu bräuchte ich einen Beweis, dass Sie die Wahrheit sagen«, erklärte Irene. Bislang hatte sie es nur mit einer Behauptung zu tun, die auf Jin Zhis Geschichte basierte. Aber wenn es stimmt … Dann hatte ein Bibliothekar einen gewaltigen Fehler gemacht, der die ganze Bibliothek in Gefahr brachte. Die vielgerühmte Neutralität, die sich die Bibliothek über Jahrhunderte erkämpft hatte, stand auf dem Spiel. Eine Elfe mit gemäßigten Ansichten hatte vielleicht nichts Prinzipielles dagegen, wenn Irene mit einem Drachen zum Tee verabredet war, genauso wenig wie ein Drache umgekehrt etwas dagegen haben mochte, wenn sie mit einer Elfe sprach. Im schlimmsten Fall würden beide ihr mit missbilligenden Blicken begegnen. Aber ein Versuch, die Politik am Hof der Drachen zu beeinflussen? Sich in einen Streit um das höchste Amt einzumischen, bei dem es um Leben und Tod ging? Möglicherweise gar mitzuentscheiden, wer als Sieger hervorging? Bei einer Parteinahme dieses Kalibers würden die Elfen ganz sicher jeden Bibliothekar als Feind betrachten. Und das barg genügend Potenzial, um die Bibliothek letztendlich ins Verderben zu stürzen.

»Ich kann Ihnen keinen Beweis liefern, dass ein Bibliothekar beteiligt ist.« Jin Zhi öffnete ihre Handtasche und nahm ein mehrseitiges Dokument heraus. »Aber ich habe die genauen Angaben über das Buch, das wir finden sollen, sowie die Welt, aus der es stammt, schriftlich zusammengefasst. Was Sie mit diesen Informationen anstellen, bleibt Ihnen überlassen. Mir liegt nichts ferner, als mir im Nachhinein Anschuldigungen anhören zu müssen, dass ich Druck auf Sie ausgeübt habe. Allerdings sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass ich Sie jederzeit zu finden vermag, jetzt, wo wir uns einmal getroffen haben.« Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. »Auch wenn Sie wahrscheinlich viel zu professionell sind, um Ihre Entscheidung davon beeinflussen zu lassen.«

»Ich bin allerdings professionell«, bekräftigte Irene. »Deshalb vergeude ich meine Zeit auch nicht mit leeren Drohungen.«

Aber sie nahm die Papiere entgegen, die Jin Zhi ihr hinhielt.

DRITTES KAPITEL

London blieb ebenso wenig vom Regen verschont wie York. An der Ziegelsteinmauer des Hauses, das Kai und Irene bewohnten, lief das Wasser in Sturzbächen herab. Das Straßenpflaster hatte sich in eine glitschige Rutschbahn verwandelt. Schwere Wolken und wehender Regen überzogen London mit einem dichten Schleier, und es war dunkel. In den Fenstern der Häuser am Straßenrand brannte bereits Licht.

Irene fand keinerlei Einbruchspuren an ihrer Haustür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss mit, wie sie fand, ausreichender Vorsicht. Dann ging sie hinein und zog den Reisekoffer über die Schwelle. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, schüttelte sie sich das Wasser aus der Oberbekleidung. Kai war bestimmt noch nicht zurück, also musste sie als Erstes die Bibliothek kontaktieren.

Schritte. Irene erstarrte. Sie kamen aus dem Stock über ihr. Als Kai in den Lampenschein auf dem oberen Treppenabsatz trat, atmete sie erleichtert auf. Er war vornehm gekleidet – zu vornehm für diese Welt und Epoche. Sein Mantel wies keine einzige Falte auf. Die Schuhe glänzten so frisch poliert, dass sie das Licht der Lampe reflektierten.

»Irene …« Er zögerte, ehe sein Ton fester wurde. »Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.«

»Und ob«, gab Irene zurück. »Ich habe eine Menge zu erzählen, es sei denn, du weißt schon mehr als ich. Und wie steht es mit heißen Getränken?«

»Wenn du weiter darauf bestehst, dass … Äh, ich habe Tee gemacht.« Er zog die Stirn kraus und betrachtete sie von oben. »Versuchst du abzulenken?«

»Kai.« Sie nahm Hut und Schleier ab und legte beides auf den Hutständer in der Ecke. »Falls du es nicht gemerkt hast, draußen gießt es in Strömen, und die Schlange der Kutschen vor dem Zeppelin-Port war ewig lang. Ich bin durchgeweicht wie ein Biskuit. Besorg mir bitte etwas heißen Tee, bevor ich mir eine Erkältung hole, danach können wir reden. Was machst du überhaupt hier? Ich habe frühestens in drei Tagen mit dir gerechnet.«

»Ich bin früher abgereist«, sagte Kai. »Das da draußen ist ja wohl das beste Wetter seit Wochen.« Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, und Irene folgte ihm, den Kopf voller Flüche über Drachen und ihre Vorliebe für Regenwetter.

Ein paar Minuten darauf saß sie in einem Sessel in ihrem mit Büchern vollgestopften Wohnzimmer und hielt eine Tasse Tee in Händen, die ihre Finger wohlig wärmte. Kai blieb stehen. Nervös startete er immer neue Vorstöße, ziellos die Winkel des Zimmers zu erkunden. Seine Körperhaltung vermittelte den Eindruck von jemandem, der jedes Wort abwog, um nur keinen handfesten Streit heraufzubeschwören.

Er war so zeitlos attraktiv, wie Jin Zhi schön war – es handelte sich um das unbestreitbare Merkmal so gut wie aller Drachen. Der dunkelblaue Hauch, der in seinen schwarzen Haaren schimmerte, kam im grellen Licht der Ätherlampen noch deutlicher zum Vorschein. Es verlieh seiner Frisur den Glanz von Rabenfedern und ließ seine Gesichtszüge wie eine Tuschezeichnung hervortreten. Seine Wangen waren makellos, die Haut vornehm blass. Seine blauen Augen waren fast zu dunkel, um sie noch blau zu nennen, und seine Bewegungen führte er mit der mühelosen Eleganz eines Mannes aus, der schon mit einer besonderen Kraft geboren worden war, ehe Jahrzehnte des Trainings ihn weiter gestählt hatten. Neben ihm fühlte sich Irene immer ein wenig, als müsste sie im Hintergrund bleiben, wenn auch nur, um seine stilvolle Eleganz nicht zu trüben. Glücklicherweise mochte sie es, im Hintergrund zu bleiben – es war einfach vorteilhaft für ihre Arbeit, auch wenn es manchmal recht entmutigend sein mochte.

Ziemlich oft entmutigend sogar. Aber sie versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken.

Kai unterbrach sein nervöses Hin und Her und funkelte sie an. »Wir haben uns doch geeinigt, dass du keine Alleingänge mehr unternimmst.«

»Es war nicht so geplant«, verteidigte sich Irene. »Es sollte ein einfacher Tausch werden. Und wie kommst du überhaupt darauf, dass ich für einen Auftrag unterwegs war und Schwierigkeiten hatte?«

»Ich weiß nicht. Reine Vermutung. Vor allem, weil du so früh zurückgekommen bist. In einem Zeppelin und nicht in einem Zug. Du streitest es ja auch nicht einmal ab …«

»Ich hatte dir eine Nachricht hinterlassen«, sagte Irene. »Du warst tagelang nicht da. Ich kann nicht alles stehen und liegen lassen, sobald du fort bist, Kai. Ich bin die ausgebildete Bibliothekarin, du bist der Lehrling.« Als solche musste sie Jin Zhis Behauptung sofort überprüfen, fiel ihr ein. Dass es Kai ablenken würde, konnte ebenfalls nicht schaden. »Jetzt hör auf, mich so finster anzuschauen, sondern setz dich hin. Wir haben ein Problem, und ich brauche deinen Rat.«

Seine Neugier war geweckt. Er warf sich in den Sessel ihr gegenüber. »Du weißt, ich stehe dir zu Diensten. Also frag.«

»Was weißt du über die Verhältnisse am Hof der Königin der Südlichen Ebenen?«

»Na ja …« Er hielt inne. »Irene, worum geht es?«

»Sag mir, was du weißt, dann kläre ich dich auf. Ich möchte dein Urteil nicht vorab beeinflussen.«

»Du kommst mit so einer Einleitung und erwartest von mir, dass ich dich mit Informationen füttere?«, beschwerte er sich. »Kannst du mir nicht wenigstens erklären, warum?«

»Kai.« Sie nippte an ihrem Tee. »Rede endlich.«

Er seufzte. »Der bürgerliche Name Ihrer Majestät lautet Ya Yu, aber weder du noch ich werden je die Gelegenheit bekommen, sie so zu nennen. Die Königin der Südlichen Ebenen genießt den außerordentlichen Ruf, ihre Untertanen gerecht und wohlwollend zu behandeln. Was im Klartext ungefähr heißt, dass sie sie an der langen Leine hält, wenn etwas schiefgeht, und im Zweifelsfall erwartet, dass sie sich selbst aufknüpfen. Bisher musste sie zweimal handfeste Maßnahmen gegen die Elfen ergreifen. Beide Male ging sie sehr entschlossen vor.«

»Was heißt das? Dass von den Elfen in beiden Fällen nichts übrig geblieben ist?« Irene hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass diese Drachenkönigin nicht so skrupellos war wie die meisten anderen geschuppten Herrscher.

Kai wich ihrem Blick aus. »Das heißt, dass in beiden Fällen kaum etwas von den betreffenden Welten übrig geblieben ist. Für Frieden und Ordnung war es sehr förderlich.«

Und wo sie eine Wüste schaffen, nennen sie es Frieden. Irene nickte. Sie wollte jetzt keine Diskussion darüber anzetteln, inwieweit der Zweck die Mittel heiligt und man Eier zerschlagen muss, um ein Omelett zu machen. »Sprich weiter.«

»Die Haltung ihrer Minister deckt sich größtenteils mit ihrer eigenen«, fuhr Kai fort. »Die älteren Hofbeamten drücken gern mal ein Auge zu, wenn die Jüngeren in ihren Reihen über die Stränge schlagen. Hauptsache, die Arbeit wird erledigt, und zwar gründlich. Sie toleriert beide Lager, sowohl die Friedens- als auch die Kriegsfraktion, auch wenn sie meinem Eindruck nach der Friedensfraktion nähersteht. Sie versteht sich bestens mit dem König des Nördlichen Ozeans, bei dem es sich zufällig um meinen Onkel Ao Shun handelt, und mit meinem Vater. In der Vergangenheit verkehrte sie mit beiden, um Nachkommen zu zeugen.« Er lauschte seinen eigenen Worten nach. »Zu verschiedenen Zeiten natürlich«, fügte er hinzu.

»Gibt es überhaupt jemanden, mit dem sie nicht zurechtkommt?«, fragte Irene.

»Nicht wirklich«, sagte Kai. Er dachte nach. »Mit meinem Onkel Ao Ji versteht sie sich nicht ganz so gut wie mit den meisten anderen. Du hast ihn nie getroffen. Er ist der König des Westlichen Ozeans, aber seine Überzeugungen sind felsenfest.«

Irene konnte gut damit leben, keine weiteren Drachenkönige mehr kennenzulernen. Der eine reichte ihr. »Was ist an ihrem Hof, gibt es da irgendwelche Probleme?«

Kai setzte zu einer Antwort an, brach aber wieder ab und schwieg dann eine ganze Weile. »Irene«, begann er schließlich von Neuem, »wir waren immer gut darin, die Gesprächsthemen zu meiden, die den Interessen meiner Familie schaden könnten. Das hieße von meiner Seite, dass ich diese Art Informationen jetzt für mich behalten muss. Es ist besser so, wenn man bedenkt …« Er machte eine flüchtige Geste.

»Wenn man bedenkt, dass ich eine Bibliothekarin bin und du ein Drache bist. Weil wir letztendlich beide nichts tun möchten, was unserer Familie oder unserem Arbeitgeber schaden könnte. Möchtest du das damit sagen?«

Kai nickte. »Ich möchte vor allem diese Linie nicht überschreiten.« Der Tonfall, in dem er das herausbrachte, deutete an, dass er händeringend nach einer Ausrede suchte, um seinen Gedanken trotzdem Luft machen zu können.

Irene runzelte die Stirn. Sie ließ die Ereignisse des Abends noch einmal Revue passieren. »Es geht etwas vor sich, das die Bibliothek in ernste Schwierigkeiten stürzen könnte«, sagte sie. »Es sind auch ein oder zwei Drachen direkt betroffen.«

»Wenn es wirklich dem Interesse dieser Drachen dient, könnte ich dir zumindest in groben Zügen erklären, was los ist«, entschied Kai. Er atmete auf. »Also, es gibt da etwas. Einer der dienstältesten Minister ihrer Majestät wurde vor einem Monat ermordet. Ya Yus Hof ist seitdem in Aufruhr.«

»Ermordet?«, wiederholte Irene. »Nicht zurückgetreten?«

»Nein, definitiv das Erste«, sagte Kai. »Es ist ein offener Skandal, eine Staatstragödie. Ich weiß nicht, wer genau für die Tat verantwortlich ist, aber es handelt sich natürlich um Elfen. Ihnen ist so etwas jederzeit zuzutrauen.«

»Und wie sehen die Konsequenzen eines solchen Attentats aus? Einmal abgesehen davon, dass der Minister nicht mehr lebt.«

»In Bezug auf die Spitzenpolitik?« Kai zögerte wieder. »Du verstehst sicher, dass ich nicht unbedingt derjenige bin, dem über so etwas Bericht erstattet wird. Ich bin zwar mit dem König verwandt, aber ich bin auch nur sein jüngster Sohn. Meine Mutter hat nie ein hochrangiges Amt bekleidet, und auch ich verfüge über keine vergleichbare Position. Selbst wenn ich etwas wüsste …«

»Würde man von dir erwarten, dass du den Mund hältst?«, riet Irene.

Kai nickte. »Ich bin dankbar für dein Verständnis. Aber ich glaube, es wäre ganz vernünftig, dir mitzuteilen, dass Ihre Majestät kurz davor steht, den freien Ministerposten … wie soll ich sagen? Sie hat es sehr eilig, ihn neu zu besetzen. Normal dauert so etwas Jahre, besonders bei einer Schlüsselposition wie dieser. Diesmal dagegen soll die Entscheidung bereits in fünf Tagen verkündet werden. Von heute an.«

»Wer wird den Platz des Ministers einnehmen?«

»Es gibt zwei Kandidaten. Sie werden vor eine Reihe schwerer Prüfungen gestellt. Gerüchten zufolge gibt es insgeheim eine weitere, entscheidende Aufgabe, mit der die Königin ihre Kandidaten testen wird.«

»Was passiert mit dem Verlierer?«, fragte Irene. Sie bezweifelte, dass bei diesem Wettstreit jemand an einen Trostpreis gedacht hatte.

Kai richtete seinen Blick an ihrer Schulter vorbei, wie er es immer tat, wenn er etwas zu sagen hatte, das er selbst normal fand, mit dem Irene wahrscheinlich aber Probleme haben würde. »Nun, ihre Familie wird entehrt sein. Der oder die Unterlegene wird Wiedergutmachung leisten müssen. Die angemessene Reaktion wäre es, einer solchen Bitte um Entschuldigung Ausdruck zu verleihen, indem man sich umbringt. Natürlich wäre auch die Flucht ins Exil möglich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand diesen Weg gehen würde.« Sein Ton machte deutlich, dass er Suizid für eine weitaus geringere Schande hielt als die Verbannung eines Drachen vom Hof, von seiner Familie und seinen Artgenossen. »Auf jeden Fall wird es Konsequenzen geben.«

»Verflucht.« Irene hob die Tasse und forderte Kai stumm auf, ihr Tee nachzuschenken. »Und ich hatte gehofft, ich wäre paranoid.« Sie hielt inne. »Wir müssen sofort von hier verschwinden.«

Kai hätte genug Anlass gehabt, um zu zögern, um sie zu fragen, wie sie darauf kam. Doch er stellte einfach seine Tasse hin und stand auf. »Gibt es etwas, das wir unbedingt mitnehmen müssen?«