Die unsichtbare Bibliothek - Genevieve Cogman - E-Book
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Die unsichtbare Bibliothek E-Book

Genevieve Cogman

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Beschreibung

ALLES BEGINNT MIT EINEM BUCH ... Die unsichtbare Bibliothek - ein Ort jenseits von Raum und Zeit und ein Tor zu den unterschiedlichsten Welten. Hier werden einzigartige Bücher gesammelt und erforscht, nachdem Bibliothekare im Außendienst sie beschafft haben. Irene Winters ist eine von ihnen. Ihr aktueller Auftrag führt sie in ein viktorianisches London, wo eine seltene Version der Grimm'schen Märchen aufgetaucht ist. Doch was als einfacher Einsatz beginnt, wird nur allzu schnell ein tödliches Abenteuer, denn Irene ist nicht die Einzige, die hinter dem Buch her ist. Und die anderen Interessenten gehen über Leichen, um zu bekommen, was sie wollen ...

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Seitenzahl: 548

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INHALT

CoverÜber die AutorinTitelImpressumErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelDanksagung

Über die Autorin

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt DIE UNSICHTBARE BIBLIOTHEK sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Genevieve lebt im Norden Englands.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischenvon Arno Hoven

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Genevieve Cogman

Titel der englischen Originalausgabe: »The Invisible Library«

Originalverlag: Tor, an imprint of Pan MacMillan,

a division of MacMillan Publishers Limited

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Frank Weinreich

Titelillustrationen: © Bridgemanart.com/Guildhall Library; © shutterstock/Nikiparonak

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-0698-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

ERSTES KAPITEL

Irene führte den Wischmopp mit gleichmäßigen, bedächtigen Bewegungen über den Steinfußboden; zwischendurch legte sie immer wieder kleine Pausen ein und bewunderte das Leuchten der nassen Bodenfliesen im Licht der Laternen. Ihr Rücken beschwerte sich, was allerdings nur normal war, nachdem sie den ganzen Abend geputzt hatte. Diese Arbeit war freilich notwendig. Die Schüler in »Prinz Mordreds Privater Lehranstalt für Jungen« schafften es, genauso viel Schlamm und Dreck auf dem Fußboden des Gebäudes zu verteilen wie alle anderen Teenager auch. Den im Haus stattfindenden, reinlich ablaufenden Studien in den dunklen Künsten, in Militärgeschichte und Alchemie schlossen sich eben die Unterrichtsstunden im Freien an, bei denen sich die Jugendlichen schmutzig machten, wenn Gefechtsstrategie, Duellieren, Attentate im offenen Gelände und Rugby auf dem Unterrichtsplan standen.

Die Uhr im Arbeitszimmer schlug zur Viertelstunde. Sie hatte also fünfundvierzig Minuten Zeit bis zum Beginn der mitternächtlichen Gebete und Gesänge. Aus wochenlanger Erfahrung – und, um ehrlich zu sein, aus ihren Erinnerungen an die eigene Internatszeit – wusste sie, dass die Jungen nicht einen Moment früher aufstehen würden, als sie mussten: Und das bedeutete, dass die meisten von ihnen sich um elf Uhr fünfundvierzig aus den Betten mühen und mit hastig übergestreiften Kleidungsstücken und notdürftig gekämmten Haaren zur Kapelle hinuntergehen würden. Somit hatte sie noch dreißig Minuten Zeit, bis irgendeiner der Schüler sich zu regen begann.

Dreißig Minuten, um ein Buch zu stehlen und zu flüchten.

Sie stellte den Wischmopp in ihren Eimer, richtete sich auf und nahm sich einen Moment Zeit, um mit den Fingerknöcheln das schmerzende Kreuz zu massieren. Manchmal beinhaltete die verdeckte Arbeit als Bibliothekarin, dass man sich als wohlhabende Angehörige der feinen Gesellschaft ausgab. Dann musste die betreffende Bibliothekarin in kostspieligen Hotels und Landsitzen wohnen; und die ganze Zeit über trug sie (die zur jeweiligen Parallelwelt passende) topmodische Kleidung und speiste Haute Cuisine – wahrscheinlich von goldumrandeten Tellern. Zu anderen Zeiten brachte es die Tätigkeit aber auch mit sich, dass man Monate damit zubrachte, sich eine Identität als hart arbeitende, untergeordnete Dienerin aufzubauen, die in Dachkammern schlief, ein schlichtes graues Wollkleid trug und die gleiche Kost wie die Jungen einer Internatsschule aß. Sie konnte nur hoffen, dass ihr nächster Auftrag nicht erneut miteinschließen würde, zum Frühstück fortwährend Haferbrei essen zu müssen.

Zwei Türen weiter den Gang hinunter befand sich Irenes Ziel: der House Trophy Room. Er war voller Silberpokale, auf denen in unterschiedlichen Schriftarten die Worte Turquine House eingeprägt waren, Kunsttrophäen und Manuskripte.

Auf eines dieser Manuskripte hatte sie es abgesehen.

Irene war von der Bibliothek zu dieser Parallelwelt geschickt worden, um Midnight Requiems zu besorgen – das erste veröffentlichte Buch des berühmten Toten- und Geisterbeschwörers Balan Pestifer. Es war allen Berichten nach ein faszinierendes, höchst informatives und extrem selten gelesenes Schriftstück.

Sie hatte einen Monat damit zugebracht, nach einer Ausgabe dieses Werkes zu suchen: Die Bibliothek verlangte nicht unbedingt eine Originalfassung des Textes, ihr reichte auch eine fehlerfreie Kopie. Unglücklicherweise war sie aber nicht nur außerstande gewesen, eine Ausgabe des Buches aufzuspüren, zudem hatten ihre Recherchen auch noch das Interesse von anderen Leuten geweckt – von Toten- und Geisterbeschwörern, Bibliophilen und Ghulen. Sie hatte daher ihre damalige Tarnidentität aufgegeben und das Weite suchen müssen, bevor die Verfolger sie erwischten.

Es war reiner Zufall gewesen – oder ihr äußerst feingeschliffener Instinkt, wie sie selbst gerne darüber dachte –, der sie dazu veranlasst hatte, in einem Schriftwechsel einen beiläufigen Hinweis zu »Sire Pestifers liebevolle Erinnerungen seiner alten Schule« und überdies zu »seinen Schenkungen an die Schule« zu beachten. Damals nun, als Pestifer dieses frühe Werk niedergeschrieben hatte, war er noch jung und verkannt gewesen. Es lag nicht außerhalb der Grenzen des Möglichen, dass er in der verzweifelten Suche nach Aufmerksamkeit oder schlichtweg aus dem Drang heraus, mit einem selbstverfassten Buch zu prahlen, der Schule eine Kopie der Schrift geschenkt hatte. (Und außerdem hatte sie all ihre anderen Hinweise ausgereizt; einen Versuch war es allemal wert.)

Irene hatte ein paar Wochen gebraucht, um eine neue Identität aufzubauen – die einer Frau mit armer, aber ehrlicher Vorgeschichte; die zweckmäßigste Tarnung, um als Dienstmagd zu arbeiten. Dann hatte sie sich einen Job als Putzfrau gesucht. Die Zentralbücherei der Schule hatte keinerlei Exemplare von Midnight Requiems enthalten. In ihrer Verzweiflung war sie dann darauf verfallen, das Gebäude zu untersuchen, in dem der Toten- und Geisterbeschwörer während seiner Zeit im Internat gewohnt hatte. Und völlig unerwartet hatte sie Glück gehabt.

Sie ließ ihre Reinigungsutensilien stehen und öffnete das Fenster am Ende des Flurs. Das Bleiglas in ihrer Hand schwang problemlos auf: Sie hatte zu einem früheren Zeitpunkt dafür gesorgt, dass die Scharniere gut geölt waren. Eine kühle Brise wehte hinein, die eine Andeutung nahenden Regens mit sich trug. Hoffentlich würde sich dieses kleine Manöver zur Irreführung als nicht notwendig erweisen. Doch einer der Leitsprüche der Bibliothek, der direkt dem Fundus des großen Militärtheoretikers Clausewitz entlehnt war, lautete: Keine Strategie hat jemals den Kontakt mit dem Feind überlebt. Oder wie der Volksmund sagte: Alles kann danebengehen – sei jederzeit darauf vorbereitet.

Schnell trippelte sie durch den Flur zurück zum Gesellschaftsraum und drückte die Tür auf. Das Licht aus dem Korridor schimmerte auf den Silberpokalen und in den Glasvitrinen. Ohne sich die Mühe zu machen, die Beleuchtung im Raum anzuzünden, ging sie zum zweiten Schrank auf der rechten Seite hinüber. Sie konnte die Politur noch riechen, die sie vor zwei Tagen für das Holz hier benutzt hatte. Nachdem sie die Schranktür geöffnet hatte, entnahm sie den Stoß Bücher, der an der Rückseite aufgestapelt war, und zog einen abgenutzten, in dunkelviolettes Leder eingeschlagenen Band heraus.

(Als Pestifer der Schule das Buch geschickt hatte, war er da beunruhigt gewesen und ständig auf- und abgegangen, weil er hoffte, von den Lehrern irgendeine Art von Anerkennung zurückzubekommen? Hatte er damit gerechnet, dass sie seine Forschungsarbeiten lobten und ihm zukünftigen Erfolg wünschten? Oder hatten sie ihm einen knappen Standardbrief zugeschickt, in dem lediglich der Empfang des Werkes bestätigt wurde – und es dann auf einen Haufen mit anderen selbst veröffentlichten, aus egoistischer Eitelkeit verfassten Büchern geworfen, die von Ex-Schülern zugesandt worden waren, und alles darüber vergessen?)

Zum Glück war es ein ziemlich kleiner Band. Sie steckte ihn in eine verborgene Tasche ihres Rocks und legte die anderen Bücher zurück, um keine Spuren zu hinterlassen. Dann zögerte sie.

Das hier war immerhin eine Schule, die Magie lehrte. Und als eine Bibliothekarin besaß sie einen großen Vorteil, über den kein anderer verfügte – weder Toten- und Geisterbeschwörer noch Elfen, Drachen, gewöhnliche Menschen oder irgendwer sonst. Es wurde die Sprache genannt. Nur Bibliothekare konnten sie lesen. Nur Bibliothekare konnten sie benutzen. Die Sprache konnte bestimmte Aspekte der Wirklichkeit beeinflussen. Sie war äußerst nützlich, auch wenn es notwendig war, den Wortschatz ständig zu überarbeiten. Unglücklicherweise funktionierte sie jedoch nicht bei Werken reiner Magie. Wenn also die Magister an der Schule irgendeinen Alarm auslösenden Zauber errichtet hatten, um zu verhindern, dass jemand die Pokale stahl, und wenn dieser Zauber tatsächlich bei jedem Gegenstand wirkte, der aus dem Raum herausgenommen wurde, dann musste sich Irene auf eine böse Überraschung gefasst machen. Und es wäre auf eine scheußliche Weise beschämend, von einer Meute Teenager zur Strecke gebracht zu werden.

Irene schüttelte sich innerlich. Sie hatte dies eingeplant. Es hatte keinen Sinn, die Sache noch länger hinauszuschieben. Und herumzustehen und dabei verschiedene Möglichkeiten nochmals zu überdenken, hätte nur zur Folge, dass ihr die Zeit knapp wurde.

Sie trat über die Schwelle.

Plötzlich durchbrach ein lärmendes Geräusch die Stille: Der Steinbogen über dem Türdurchgang kräuselte sich. Lippen bildeten sich in dem Stein aus und schrien: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!«

Irene hielt sich nicht damit auf innezuhalten, um das Schicksal zu verfluchen. Innerhalb von Minuten würden Leute hier sein. Mit einem lauten, gellenden Schrei warf sie sich auf ihren Wischmopp und den Eimer und fiel absichtlich der Länge nach in die unvermeidlich entstehende Pfütze aus schmutzigem Wasser. Sie schaffte es sogar, mit ihrem Schienbein gegen den Eimerrand zu krachen, sodass ihr echte Tränen in die Augen schossen.

Ein paar der älteren Jungs trafen als Erste ein. In Nachthemden und Pantoffeln hasteten sie um die Ecke. Viel zu munter waren sie, als dass sie gerade erst wach geworden sein konnten. Sie hatten sich wahrscheinlich mit irgendeinem verbotenen Hobby oder Ähnlichem beschäftigt.

»Wo ist der Dieb?«, rief der Dunkelhaarige.

»Da ist sie!«, verkündete der Blonde und zeigte mit dem Finger auf Irene.

»Sei doch nicht blöd! Das ist eine der Dienstmägde«, entgegnete der Dunkelhaarige und demonstrierte eindrucksvoll, warum Irene es vorzog, sich beim Stehlen von Büchern als Dienerin zu kleiden. »Du da! Mädchen! Wo ist der Dieb hin?«

Irene wies mit zitternder Hand in Richtung des offenen Fensters. Es suchte sich genau diesen Moment aus, um praktischerweise in dem auflebenden Wind hin und her zu schwingen. »Er … er schlug mich nieder.«

»Was soll das?« Einer der Magister war auf der Szene erschienen; er war vollständig bekleidet und zog ein wenig Tabakqualm hinter sich her. Ein paarmal schnippte er mit den Fingern, und schon wurde in der wachsenden Meute von jüngeren Schülern ein Weg für ihn freigemacht. »Hat einer von euch Jungs den Alarm ausgelöst?«

»Nein, Sir!«, antwortete rasch der blonde ältere Junge. »Wir sind gerade hergekommen, als der Dieb geflohen ist. Er ist durch das Fenster hinausgegangen! Können wir ihn verfolgen?«

Der feste Blick des Magisters richtete sich nun auf Irene. »Du da, Frau!«

Irene kam hastig wieder auf die Füße, stützte sich geradezu artistisch auf den Wischmopp und schob mit der Hand ein Gewirr loser Haare zurück. (Sie freute sich schon darauf, von diesem Ort fortzukommen; dann würde sie endlich heiß duschen und ihr Haar zu einem anständigen Knoten aufstecken können.) »Ja, Sir?«, schluchzte sie. Das Buch in der Rocktasche drückte gegen ihr Bein.

»Was hast du gesehen?«, verlangte er zu erfahren.

»Oh, Sir«, begann Irene, die ihre Unterlippe in angemessener Weise zittern ließ. »Ich war gerade dabei, mit dem Mopp den Korridor zu wischen. Als ich zur Tür von dem Trophäenraum hier kam …« – unnötigerweise wies sie mit dem Finger auf sie –, »… da war drinnen noch ein Licht. Also dachte ich, dass einer der jungen Gentlemen dort lernen würde … Ich klopfte gegen die Tür und wollte fragen, ob ich reinkommen könnte, um den Fußboden sauber zu machen. Aber niemand hat geantwortet, Sir. Also hab ich den Knauf gepackt, um die Tür aufzumachen – und dann, Knall auf Fall, hat sie jemand von innen aufgerissen, und sie ist gegen mich geprallt und hat mich zu Boden geworfen, als er aus dem Raum gelaufen ist.«

Die Zuhörerschaft aus elf bis siebzehn Jahre alten Jungen hing ihr an den Lippen. Ein paar von den Jüngeren reckten ihr Kinn kämpferisch nach vorn: Offensichtlich stellten sie sich vor, dass sie selbst für solch einen Zwischenfall bereit gewesen wären. Zweifellos hätten sie den Eindringling an Ort und Stelle bewusstlos geschlagen.

»Es war ein sehr großer Mann«, wusste Irene hilfreicherweise zu berichten. »Und er war ganz in Schwarz gekleidet. Allerdings hatte er irgendwas um sein Gesicht gehüllt, sodass ich ihn nicht richtig sehen konnte. Und er hatte etwas unter einen Arm gesteckt, das ganz in Segeltuch eingewickelt war. Und dann ging der Alarm los, und ich schrie um Hilfe, aber er rannte den Korridor runter und flüchtete durch das Fenster.« Sie zeigte auf das eindeutig offene Fenster: ein naheliegender – vielleicht zu naheliegend? – Fluchtweg für jeden hypothetischen Dieb. »Und dann sind diese jungen Gentlemen langgekommen, direkt nachdem er geflohen war.« Sie nickte den ersten beiden Ankömmlingen zu, die selbstgefällig dreinschauten.

Der Magister nickte ebenfalls. Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Jenkins! Palmwaite! Übernehmt die Leitung des Hauses und sorgt dafür, dass jeder zurückgeht, um sich auf den Besuch der Kapelle vorzubereiten. Salter, Bryce! Kommt und überprüft mit mir die Objekte in dem Raum. Wir müssen feststellen, was mitgenommen wurde.«

Es drangen gedämpfte Protestgeräusche aus dem Gewühl der Jungen, die offenkundig aus dem Fenster springen und den Dieb verfolgen wollten … oder die möglicherweise beabsichtigten, nach unten ins Erdgeschoss zu laufen und danach erst den Dieb zu verfolgen – ohne aus dem Fenster im ersten Stock springen zu müssen. Aber niemand versuchte dies ernsthaft.

Irene fluchte im Stillen. Eine groß angelegte Verfolgungsjagd, um zu versuchen, den nicht existierenden Eindringling zu fangen, hätte die Sache hier recht hübsch durcheinandergebracht.

»Du da«, sagte der Magister und wandte sich Irene zu. »Geh runter in die Küche und trink Tee, Frau. Es muss eine unangenehme Erfahrung für dich gewesen sein.« War da für einen Augenblick echte Besorgnis in seinen Augen aufgeblitzt? Oder hatte es sich eher um einen Ausdruck von Argwohn gehandelt? Sie hatte ihr Bestes getan, um eine falsche Spur zu hinterlassen, aber die Tatsache blieb, dass sie die einzige Person war, die sich in der Nähe des Ortes aufgehalten hatte, wo gerade eben etwas gestohlen worden war. Die meisten Magister hier schenkten der Dienerschaft keinerlei Beachtung, aber der Mann vor ihr mochte durchaus die unselige Ausnahme von der Regel sein. »Halte dich bereit für den Fall, dass wir dich weiterhin befragen müssen.«

»Selbstverständlich, Sir«, antwortete Irene und vollführte einen kleinen Knicks. Sie hob Wischmopp und Eimer auf, drängte sich durch die Meute von Jungen und schritt auf die Treppe zu, wobei sie darauf achtete, keine verdächtige Hast zu entwickeln.

Sie würde zwei Minuten brauchen, um zur Küche zu gelangen und dort den Wischmopp und den Eimer loszuwerden. Dann noch eine Minute, um aus dem Gebäude zu kommen. Fünf weitere Minuten – im Laufschritt drei Minuten –, um die Schulbücherei zu erreichen. Sie würde sehr wenig Zeit dafür einplanen können.

In der Küche ging es bereits geschäftig zu, als sie dort eintraf, da die Hausmädchen schon die Kessel mit dem Haferflockenbrei zubereiteten, den es nach dem Besuch der Kapelle immer gab. Die Hauswirtschafterin, der Butler und die Köchin spielten Karten; und niemand hatte sich darum bemüht nachzuforschen, was es mit dem Alarm oben auf sich hatte.

»Ist irgendwas passiert, Meredith?«, wollte die Hauswirtschafterin wissen, als Irene eintrat.

»Bloß die jungen Gentlemen, die ihr gewohntes Verhalten zeigen, gnä’ Frau«, antwortete Irene. »Ich glaube, eines der anderen Häuser spielt ihnen irgendeinen Streich. Mit Verlaub, darf ich austreten und zum Waschraum gehen, um mich zu säubern?« Sie wies auf die Flecken, die das schmutzige Waschwasser auf ihrem grauen Dienstkleid und der Schürze hinterlassen hatten.

»Mach aber nicht zu lange«, mahnte die Hauswirtschafterin. »Du wirst die Schlafsäle auskehren, während die jungen Gentlemen in der Kapelle sind.«

Irene nickte demütig und verließ die Küche. Immer noch gab es keinen Alarm von oben. Gut. Leise öffnete sie die Tür des Schülerheims und trat nach draußen.

Entlang der Hauptallee standen in einer Reihe die Wohngebäude des Internats, in deren Mitte sich ein zentraler Kolleghof mit der Kapelle, dem Versammlungshaus und der Schulbücherei befand; jener Ort, der am wichtigsten für ihre Zwecke war.

Turquine House war das zweite Gebäude an der Allee, was bedeutete, dass sie bloß an einem Haus vorbeikommen musste – vorzugsweise, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht rennen. Sie brauchte noch nicht zu rennen. Wenn irgendjemand sie rennen sah, würde dies nur Argwohn erregen. Einfach nur gehen, hübsch und ruhig, als ob sie bloß eine Besorgung machen würde.

Sie schaffte keine zehn Meter.

Hinter ihr flog im Turquine House ein Fenster auf, und der Magister, der vorhin mit ihr gesprochen hatte, lehnte sich heraus. Er zeigte auf sie. »Haltet die Diebin! Haltet die Diebin!«

Irene raffte ihre Röcke hoch und begann zu rennen. Kies knirschte unter ihren Füßen, und die ersten Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Sie kam auf gleiche Höhe mit dem nächsten Wohngebäude, Bruce House, und einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihren vorbereiteten Fluchtplan aufgeben und sich einfach dort hineinducken sollte, um ihre Spur hier plötzlich enden zu lassen, sodass die Verfolger ins Stocken gerieten. Doch ihr gesunder Menschenverstand machte klar, dass das nicht länger als ein paar Minuten funktionieren würde …

Ein pfeifendes Kreischen hinter ihr warnte sie gerade noch rechtzeitig. Mit Händen und Kopf voran warf sie sich zu Boden und vollführte eine Rolle, als der Wasserspeier schreiend herabfuhr – mit ausgestreckten steinernen Klauen, die sie zu packen versuchten. Der Wasserspeier verfehlte sie und kämpfte anschließend darum, seinen Sturzflug aufzufangen; seine schweren Flügel sägten durch die Luft, während er sich darum mühte, wieder an Höhe zu gewinnen. Ein anderer Wasserspeier war vom Dach des Turquine House herabgeschossen und kreiste in dem Bemühen um sie, einen geeigneten Angriffswinkel einzunehmen.

Dies ist einer dieser Augenblicke, dachte Irene verbittert, wo es wunderbar wäre, ein Geisterbeschwörer oder Zauberer zu sein – oder jemand, der die magischen Kräfte der Welt manipulieren und lästige Wasserspeier am Himmel in die Luft sprengen kann. Sie hatte ihr Bestes getan, um Aufmerksamkeit zu vermeiden, ihre Tarnung aufrechtzuerhalten und mutwillige kleine Jungs nicht in Gefahr zu bringen, die überall Schmutz auf dem Fußboden hinterließen und es nicht für nötig hielten, ihre Mäntel aufzuhängen. Und was hatte ihr das eingebracht? Den Angriff eines Schwarms von Wasserspeiern … Nun ja, bislang waren es nur zwei Wasserspeier, aber trotzdem … Außerdem würde es wahrscheinlich innerhalb der nächsten paar Minuten einen Massensturmangriff von Schülern und Magistern geben. So viel also zu den Folgen der Tugendhaftigkeit.

Rasch überdachte sie, was sie über die Wasserspeier wusste. Es gab einen von ihnen auf dem Dach eines jeden Wohngebäudes. Im Prospekt der Internatsschule wurden sie sogar als Garantie für die Sicherheit der Schüler aufgeführt: »Jeder potenzielle Kindesentführer wird von unseren professionell gewarteten historischen Kunstgegenständen in blutige Stücke gerissen!« Nachdem sie allerdings mehrere Monate hier gearbeitet hatte, hielt Irene es für wahrscheinlicher, dass die Schüler selbst sehr viel tödlicher für mögliche Kindesentführer waren.

Positiv zu vermerken war (man sollte schließlich stets nach dem Positiven Ausschau halten), dass die Wasserspeier zwar außerordentlich prächtig aussahen, aber nicht allzu effektiv über eine geringe Distanz am Boden manövrieren konnten. Negativ war wiederum zu vermerken, dass sie sich selbst zu einem wunderschönen beweglichen Ziel machen würde, wenn sie in gerader Linie vor ihnen wegrannte, um zu fliehen. Doch um zum Positiven zurückzukehren: Die Wasserspeier bestanden aus Granit, wie in dem Prospekt liebevoll beschrieben wurde – und nichts, das sich in Hörweite ihrer Stimme befand, war sonst aus diesem Gestein gefertigt.

Das hier würde ein sorgsames Timing erfordern. Glücklicherweise waren die Wasserspeier nicht besonders intelligent. Somit würden sie sich darauf konzentrieren, Irene zu fangen, und sich nicht verwundert fragen, warum sie praktischerweise stehen geblieben war.

Irene atmete tief ein.

Der erste Wasserspeier erreichte eine geeignete Höhe, um im Sturzflug herabschießen zu können. Er rief dem anderen Wasserspeier etwas zu – ein weit tragender Schrei –, schon stürzten beide gemeinsam auf Irene zu. Ihre Flügel breiteten sich vor dem Hintergrund des Himmels als große dunkle Filigranmuster aus.

Irene schrie aus vollem Halse: »Granit, sei steinern und bewege dich nicht!«

Die Sprache funktionierte immer dann gut, wenn sie Gegenstände anwies, das zu sein, was sie von Natur aus waren, oder das zu tun, was sie natürlicherweise am liebsten taten. Und Stein »war am liebsten« unbeweglich und fest. Ihr Befehl bekräftigte nur die natürliche Ordnung der Dinge: Er stellte deshalb das perfekte Gegenmittel zu der unnatürlichen Magie dar, die dafür sorgte, dass steinerne Wasserspeier durch die Luft flogen.

Die Wasserspeier versteiften sich mitten im Sturzflug – ihre Flügel erstarrten auf der Stelle – und schossen umstandslos über Irene hinaus. Mit einem dumpfen Aufschlag bohrte sich der eine direkt in den Erdboden hinein und hämmerte dabei einen Krater heraus, in dem er fast verschwand, während der andere in einem schrägeren Winkel herabstürzte. Er pflügte eine breite Furche in den sorgfältig geglätteten Kiesweg, bevor er gegen eine der stattlichen Linden prallte, aus denen sich die Allee zusammensetzte. Blätter regneten auf den gestrandeten Wasserspeier herab.

Irene hatte keine Zeit, um innezuhalten und sich einem Gefühl der Selbstzufriedenheit hinzugeben; und so rannte sie weiter.

Dann fing das Geheul an. Das waren entweder Höllenhunde oder Teenager, aber Irene vermutete, dass es sich um Erstere handelte. Sie tauchten ebenfalls in dem bereits erwähnten Prospekt auf. Die Broschüre war sehr hilfreich gewesen, was ihr Wissen über die Sicherheitsvorkehrungen der Schule anbelangte. Falls sie jemals wieder hierher zurückkehren musste, würde sie vielleicht ihre Dienste als Sicherheitsberaterin erfolgreich anbieten können. Selbstverständlich unter einem Decknamen.

Eine plötzliche Explosion von rotem Licht ließ ihren Schatten die Allee vor ihr hinunterspringen und erbrachte den Nachweis, dass die Hypothese von den Höllenhunden richtig war. Na schön. In ihren Plänen hatte sie für Höllenhunde ebenfalls etwas vorgesehen. Sie konnte etwas gegen organisierte Magie unternehmen, auch wenn sie selbst sie nicht zu vollbringen vermochte. Sie musste nur ruhig, cool und gefasst bleiben … und den Hydranten weiter vorne erreichen, bevor die Höllenhunde bei ihr waren.

Zu den modernen Einrichtungen der Schule gehörten unter anderem fließendes Wasser und Vorsorgemaßnahmen gegen Feuer. Und das bedeutete, dass man Hydranten entlang der Hauptallee installiert hatte. Derjenige, der sich zwischen Irene und der Schulbücherei befand, war nur mehr knapp fünfundzwanzig Meter entfernt.

Zehn Meter. Sie konnte hinter sich das Trommeln von Pranken hören, die Kieselsteine nach hinten schleuderten – rasselnde Geräusche, die in einem grausamen Tempo erfolgten. Irene blickte sich nicht um.

Fünf Meter. Ein Hecheln – direkt hinter ihr!

Irene stürzte auf den Hydranten zu, einen unscheinbaren schwarzen Metallstumpf von etwa sechzig Zentimeter Höhe. Doch in diesem Moment prallte ein schweres, sehr heißes Gewicht gegen ihren Rücken, schleuderte sie zu Boden und hielt sie dort fest. Sie verrenkte ihren Kopf so weit nach hinten, dass sie das gewaltige hundeähnliche Geschöpf sehen konnte, das oben auf ihr hockte. Es war nicht ganz so, dass sie von ihm verbrannt wurde – noch nicht –; doch sein Körper war so heiß wie ein Kachelofen. Und sie wusste, falls dieses Geschöpf es wollte, konnte es noch viel … sehr viel heißer werden. Seine Augen waren bösartige Kohlen in einem lodernden Kopf; und als es sein Maul öffnete und gezackte Zähne entblößte, tropfte sengender Speichel wie an einem Strang nach unten und rann über ihren Nacken. Mach weiter, versuch’s doch, schien es sagen. Versuch doch irgendwas. Gib mir eine Entschuldigung.

»Hydrant, zerplatze!«, schrie Irene.

Zur Warnung riss der Höllenhund träge seinen Rachen noch ein Stück weiter auf.

Der Hydrant explodierte ungefähr auf Kniehöhe. Mit dem ersten heftigen Ausbruch von Wasser schossen verbogene Bruchstücke aus Eisen in alle Richtungen. Irene war hin- und hergerissen zwischen den Gedanken Gott sei Dank liege ich auf dem Boden und Das hast du nun von dem schlampig gewarteten Sprachschatz und der schludrigen Wortwahl. Ein kleines Metallstück schnitt ein paar Zentimeter oberhalb von Irenes Nase durch die Luft und schlug fast beiläufig in den Höllenhund hinein, der daraufhin vor Schmerz aufheulte und eine Rolle rückwärts vollführte.

Irene brauchte einen Moment, um ihre fünf Sinne zusammenzunehmen und sich hochzurappeln. Das Wasser sollte die Höllenhunde bremsen und ihr Feuer eine Zeitlang löschen, aber sie hatte keine weiteren Notfallpläne. Und sie musste immer noch zur Schulbücherei gelangen. Mit feuchter Kleidung und durchnässten Schuhen begann sie, sich taumelnd vorwärtszubewegen, und fing dann zu laufen an.

Die Türen der Bücherei waren aus schwerem beschlagenem Holz, und als Irene sie aufriss, ergoss sich warmes Laternenlicht über sie. Was dich zu einem gut sichtbaren Ziel für jeden macht, der in deine Richtung blickt, hob der bewusste Teil ihres Selbsterhaltungstriebs hervor. Sie stolperte in den Vorraum hinein und schwang die schweren Türen wieder zu; allerdings gab es da nur ein großes Schloss, jedoch keinen Schlüssel. Andererseits benötigte sie auch keinen.

Sie beugte sich vor und murmelte in der Sprache: »Schloss, verschließe dich!«

Das Geräusch der mechanischen Teile des Schlosses, die sich in die Verriegelungsstellung bewegten, erzeugte ein Gefühl großer Befriedigung. Ganz besonders, als das nächste Geräusch, das Irene nur ein paar Sekunden später vernahm, ein schwerer, dumpfer Schlag von außen gegen die Tür war – ein Höllenhund.

»Was geht da vor sich?«, rief tiefer aus dem Inneren der Bücherei eine verärgerte Stimme.

Irene hatte die Örtlichkeit zuvor ausgekundschaftet, wobei sie einen Staublappen und etwas Wachspolitur mit sich geführt hatte, um gegebenenfalls ein Alibi für ihre Anwesenheit zu haben. So wusste sie, dass sich direkt vor ihr die Bibliotheksregale für Sachliteratur befanden: Bretter voller Bücher über jedwedes Thema von der Astrologie bis hin zum Zoroastrismus. Und zur Rechten gab es ein kleines Büro, wo die Bücher aufbewahrt wurden, die ausgebessert werden sollten. Wichtiger jedoch war, dass dieses Büro eine Tür aufwies, die Irene benutzen konnte, um hier herauszukommen – und genau das war es, was sie benötigte.

Hinter ihr gab es einen weiteren dumpfen Schlag. Die Eingangstür bebte leicht unter dem Angriff, gab jedoch nicht nach.

Sie hielt sich nicht damit auf, der Stimme zu antworten, die sie gehört hatte. Stattdessen klopfte sie sich die kleinen Kieselsteine aus der Kleidung, konzentrierte sich darauf, ihre innere Ruhe wiederzuerlangen, und schritt zum Büro. Die Atmosphäre des Ortes beruhigte sie automatisch: prächtige Laternenlichter, der reine Duft von Papier und Leder sowie die Tatsache, dass es hier Bücher, Bücher, wunderschöne Bücher gab, wohin auch immer sie schaute.

Ein weiterer dumpfer Schlag dröhnte von der Außentür zusammen mit dem Geräusch erhobener, verärgerter Stimmen herein. In Ordnung – vielleicht sollte sie sich nicht zu sehr entspannen.

Als sie vor der geschlossenen Bürotür stand, atmete sie tief ein.

»Öffne dich zur Bibliothek«, sagte sie und gab dem Wort »Bibliothek« seine volle Bedeutung in der Sprache. Sie spürte, wie sich die Tätowierung auf ihrem Rücken verschob und wand, während die Verbindung hergestellt wurde. Der gewohnte beunruhigende Moment des Gewahrwerdens und des Drucks stellte sich ein, als ob etwas Gewaltiges und Unvorstellbares die Seiten ihres Bewusstseins durchblättern würde. Es dauerte immer genau dieses kleine bisschen zu lange, um es ohne Schaudern auszuhalten; und dann bebte die Tür in ihrer Hand und öffnete sich.

Plötzlich gab es einen explosionsartigen Krach, der anzeigte, dass es Irenes Verfolger gelungen war einzutreten. Sie nahm sich noch einen Augenblick des Bedauerns, dass sie nicht die Zeit gehabt hatte, sich noch irgendwelche anderen Bücher zu schnappen. Dann schritt sie rasch hindurch. Als hinter ihr der Verriegelungsmechanismus zuschnappte, wurde die Tür wieder ein Bestandteil der Welt, die Irene gerade hinter sich gelassen hatte. Und ganz egal, wie viele Male ihre Verfolger die Tür nun aufrissen, sie würde sich immer nur in das Büro hinein öffnen, zu dem sie ursprünglich gehörte. Sie würden niemals imstande sein, Irene hierhin zu folgen.

Sie war in der Bibliothek. Nicht in irgendeiner Bibliothek, sondern in DER Bibliothek.

Auf beiden Seiten erhoben sich hohe Regale – zu hoch für sie und mit zu vielen Büchern gefüllt, als dass sie sehen konnte, was sich dahinter befand. Die enge Lücke vor ihr war kaum breit genug, um sich hindurchzuquetschen. Ihre Schuhe hinterließen feuchte Abdrücke im Staub hinter ihr, und sie schritt über drei Reihen verwaister Notizen hinweg, während sie sich zu dem Literaturbereich in der Ferne zwängte. Die einzigen Geräusche waren ein undeutliches, kaum hörbares Quietschen irgendwo zu ihrer Linken, unregelmäßig und unbestimmt wie das langsame Schwingen einer Kinderschaukel.

Die beengte Umgebung öffnete sich unvermittelt zu einem größeren Raum, dessen Wandtäfelung und Fußboden in Holz ausgeführt waren. Sie schaute sich um, konnte allerdings nicht auf Anhieb erkennen, wo sie sich befand. Die Bücher auf den Regalen waren gedruckt, und einige von ihnen sahen moderner aus als die in der Parallelwelt, die sie gerade verlassen hatte; aber das sagte an sich nichts aus. Der große Zentraltisch, auf dem ein stummer Computer stand, und die Stühle waren ebenso wie der Fußboden mit Staub bedeckt. Von der Decke hing eine einzelne Laterne herab, in deren Mitte ein weißer Kristall strahlend leuchtete. In der Wand am anderen Ende des Raums gab es ein Erkerfenster, durch das man auf eine nächtliche, von Gaslampen erleuchtete Straße hinaussah; Wind zerrte an Ästen, die sich lautlos bogen und wiegten.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sich Irene auf einen der Stühle, streifte sich den Splitt aus den Haaren und zog das gestohlene Buch aus der verborgenen Tasche. Es war unversehrt und trocken. Ein weiterer Auftrag erledigt; auch wenn sie gezwungen gewesen war, ihre Tarnidentität aufzugeben. Und sie hatte der Schule sogar eine Legende hinterlassen. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Sie konnte sich gut vorstellen, wie man künftig den neuen Jungs dort die Geschichte erzählte von Der Nacht, als im Turquine House eingebrochen wurde. Im Laufe der Zeit würden die Einzelheiten immer weiter ausgeschmückt werden. Schließlich würde man sie zu einer weltberühmten Meisterdiebin machen, die sich mithilfe einer Tarnung in die Internatsschule eingeschlichen, die Hälfte der Lehrer verführt und bei ihrer Flucht Dämonen heraufbeschworen hatte.

Nachdenklich schaute Irene auf das Buch hinab, das sie in ihren Händen hielt. Nach all den Mühen, es in die Finger zu bekommen, war sie ein wenig neugierig, was für große Geheimnisse der Geister- und Totenbeschwörung darin enthüllt werden mochten. Wie man eine Armee von Toten auferstehen ließ, vielleicht? Wie man Geister beschwor? Oder wie man das eigene Leben in unnatürlicher Weise um Tausende von Jahren verlängerte?

Sie klappte das Buch vorne auf. Auf der Seite war zu lesen:

Es ist meine Überzeugung, dass die größeren Wahrheiten, die dem Leben und Tod zugrunde liegen, am besten als eine Parabel verstanden werden können – das heißt, als eine erfundene Geschichte. Es ist dem menschlichen Verstand unmöglich zu verstehen, wie die fundamentalen Prinzipien, die den Übergang und die Rückkehr der Seelen bestimmen, oder den Fluss jener Energien, die den Körper auf der Grenze zwischen Leben und Tod festhalten, funktionieren, geschweige denn, diese Prinzipien zu akzeptieren. Praktisch gesehen, muss man sagen, dass jene Gesetze, die in tiefergehenden Texten von einigen Autoren diskutiert, vorgeschlagen oder sogar als zutreffend bestätigt wurden, die Grenzen der Ebene des Verständnisses überschreiten, die es erlauben würde, wahre Erkenntnis und die Einsicht in die Möglichkeiten der Manipulation jener Notwendigkeiten zu erlangen.

Zu viele Kommata und übermäßig lange Satzteile, befand Irene.

Ich habe deshalb die Entscheidung getroffen, meine Arbeit und meine Experimente und das Verständnis, das ich dadurch erlangt habe, in Form einer Geschichte darzustellen. Jene, die dies zu tun wünschen, mögen davon nehmen, was ihnen möglich ist. Mein einziges Begehren ist, zu erklären und zu erleuchten.

Und zu unterhalten, wie Irene hoffte. Sie drehte die Seite um.

Es war am Morgen von Peredurs Geburtstag, als die Raben ein letztes Mal zu ihm kamen. Er war drei Wochen im Haus der Hexen gewesen, und sie hatten ihn vieles gelehrt. Doch er war nun lange nicht mehr am Hofe des Artus gewesen. Der erste Rabe stieß herab und nahm das Äußere einer Frau an. Als das morgendliche Licht auf sie fiel, zeigte sie sich in der Gestalt, die er kannte: eine hutzlige alte Hexe, die kaum in der Lage war, den Helm und Harnisch auszuhalten, die sie trug. Doch als sie im Schatten stand, da war sie jung und schön: Niemals zuvor waren Haare so schwarz, eine Haut so bleich und Augen so durchdringend lieblich gewesen.

»Peredur«, sagte sie, »im Namen der Ladys von Orkney bitte ich, dass du noch einen Tag länger verweilst. Denn meine Schwestern und ich haben die Sterne untersucht; und ich sage dir, wenn du uns jetzt verlässt, dann wirst du vor deiner Zeit dein Ende finden, verloren auf einer törichten Suche. Doch wenn du einen weiteren Tag mit uns zusammen bleibst, so wird dein Pfad sich als sicher erweisen, und du wirst deine Schwester wiedersehen, ehe alles vorüber ist.«

»Ich habe keine Schwester«, erklärte Peredur.

»Gewiss«, erwiderte die Rabenhexe, »keine, die du je getroffen hast …«

Widerwillig schloss Irene das Buch. Natürlich musste sie es zuerst Coppelia schicken – zur Ansicht und zur Bewertung –, aber vielleicht könnte sie es danach wieder in die Hände bekommen.

Es war schließlich nichts Falsches daran, gespannt darauf zu sein, wie eine Geschichte ausging. Sie war eine Bibliothekarin. Es gehörte einfach zu ihrem Job. Und sie wollte ja keine großen Geheimnisse der Geister- und Totenbeschwörung oder irgendeiner anderen Art von Magie in Erfahrung bringen. Alles, was sie wollte – immer nur gewollt hatte –, das war, ein gutes Buch zu lesen. Von Höllenhunden gejagt zu werden und Dinge explodieren zu lassen – all das war ein vergleichsweise unwichtiger Teil ihres Berufs. Die Bücher zu beschaffen: Eben das war es, was für sie wirklich zählte.

Und das war auch der ganze Sinn der Bibliothek, jedenfalls soweit man es sie gelehrt hatte. Es handelte sich nicht um eine höhere Mission mit dem Ziel, Welten zu retten. Es handelte sich darum, einzigartige Werke der Literatur zu finden und sie an einem Ort außerhalb von Raum und Zeit sicher aufzubewahren. Vielleicht dachten ja einige Leute, dass dies eine unbedeutende Art und Weise war, die Ewigkeit zu verbringen; aber Irene war glücklich mit ihrer Entscheidung. Jeder, der wahrhaft gute Geschichten liebte, würde das verstehen.

Und wenn da Gerüchte waren, dass die Bibliothek einen tiefsinnigeren Zweck hatte …

Nun ja, es gab stets so viele Gerüchte, und sie hatte Aufträge durchzuführen. Sie konnte auf weitere Antworten warten. Sie hatte Zeit.

ZWEITES KAPITEL

Irene konzentrierte sich auf die nächsten Schritte. Je früher sie das Buch abgab und einen Bericht anlegte, desto schneller konnte sie selbst sauber und trocken werden und sich mit einem eigenen guten Buch niederlassen. Und sie konnte damit rechnen, ein paar Wochen für ihre eigenen Projekte Zeit zu haben, wonach sie, offen gesagt, im Augenblick geradezu gierte.

Der Computer vor ihr erwachte summend zum Leben, als sie auf den Knopf zum Einschalten drückte. Sie wischte den Bildschirm mit dem Ärmel ab und blies den Staub von der Tastatur. Es war schade, dass niemand den Wiedereintrittspunkt von erzwungenen Übergängen aus Parallelwelten zurück in die Bibliothek kontrollieren konnte. Alles, was man wusste, war, dass man letztendlich in die Bibliothek hineinkommen würde – obwohl es Horrorgeschichten über Leute gab, die Jahre damit zugebracht hatten, aus irgendeiner der Katakomben, wo die wirklich alten Daten gespeichert wurden, einen Weg zurück nach oben zu suchen.

Der Bildschirm flackerte mit dem Logo der Bibliothek auf: ein geschlossenes Buch, das mit Eingabefenstern für Login und Passwort versehen war. Sie tippte schnell, schlug am Ende auf die Return-Taste, und das Buch öffnete sich langsam; Seiten wurden umgeblättert, um ihren Account anzuzeigen.

Zumindest hatte bislang noch niemand herausgefunden, wie man das Computersystem der Bibliothek mit Spammails zumüllte.

Sie rief einen Plan ihrer momentanen Umgebung auf. Verschwommen entstand eine Karte in Form eines dreidimensionalen Schaubilds auf dem Bildschirm, und ein roter Pfeil verwies auf den Raum, in dem sie sich gegenwärtig aufhielt. Sie war nicht zu weit entfernt: nur ein paar Stunden Fußmarsch bis zum Zentrum. Da sie nun beruhigt war, schickte sie rasch eine E-Mail an Coppelia, ihre direkte Vorgesetzte und Mentorin.

Irene hier. Habe das erforderliche Material sichergestellt. Ersuche um eine Zusammenkunft, um es auszuhändigen. Bin augenblicklich in A-254, Lateinamerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts, ungefähr zweieinhalb Stunden von deinem Büro entfernt.

Der Piepston, der erklang, als sie die E-Mail abschickte, durchbrach die Stille des Raums.

Es war schade, dass Mobiltelefone, WLAN und Vergleichbares in der Bibliothek nicht funktionierten. Jegliche Art von drahtloser Übertragung versagte oder funktionierte nicht richtig oder gab lediglich elektrostatisches Rauschen in hellen, trillernden Tönen von sich. Die einzige Möglichkeit der Kommunikation bestand in der Nutzung fest verdrahteter Apparate. Forschungen bezüglich des Einsatzes von Funkübertragungen waren betrieben worden, wurden gegenwärtig betrieben und würden, wie Irene annahm, in hundert Jahren immer noch betrieben werden. Aber es war auch nicht nur die Technik, die versagte. Magische Kommunikationsformen waren ebenfalls unbrauchbar, und deren Nebeneffekte neigten dazu, sogar noch schmerzhafter zu sein. Oder so hatte Irene es jedenfalls gehört. Sie selbst hatte es nicht versucht. Sie schätzte es, ihren Verstand innerhalb ihres Schädels zu wissen, wo er hingehörte.

Während sie auf eine Antwort wartete, informierte sie sich über ihre eingegangenen E-Mails. Es war das übliche Zeug von in Massen verschickten E-Mails mit Ersuchen um Bücher über bestimmte Forschungsthemen: Vergleiche von viktorianischer Pornografie in verschiedenen viktorianischen Parallelwelten etwa, oder irgendjemand machte Werbung für seine neuentwickelte These über den Reizmittelmissbrauch in der assoziativen Poesie. Sie löschte einen wehleidigen Bettelbrief, in dem nach Vorschlägen gesucht wurde, wie man die Penicillin-Anwendung in Parallelwelten verbessern konnte, die sich im Dunklen Zeitalter befanden. Außerdem markierte sie ein Dutzend Updates für die Sprache und legte sie beiseite, um sie später genau zu lesen.

Die einzige persönliche E-Mail in dem ganzen Schwung war eine von ihrer Mutter: eine rasche Mitteilung – so rasch und kurz wie ihre eigene E-Mail an ihre Dienstvorgesetzte –, um Irene wissen zu lassen, dass sie, ihre Mutter, mit ihrem Vater sich für die nächsten paar Monate in der Parallelwelt G-337 aufhalten würde. Dort waren sie in Russland, wo sie nach Ikonen und Psalmenvertonungen suchten. In der Mitteilung wurde die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass es Irene gut ging und sie sich amüsierte. Überdies wurde flüchtig gefragt, was sie zum Geburtstag gerne hätte.

Wie üblich war die Mitteilung nicht unterschrieben. Von Irene wurde erwartet, dass sie den Namen aus der E-Mail-Adresse entnahm.

Irene legte das Kinn in ihre Hände und starrte den Computermonitor an. Sie hatte ihre Eltern nun schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Die Bibliothek hielt sie alle auf Trab; und um ehrlich zu sein, wusste sie auch nie, was sie zu ihnen sagen sollte. Man konnte natürlich immer über die Arbeit sprechen, aber alles, was darüber hinausging, stellte sich als komplettes Minenfeld an gesellschaftlicher Interaktion dar. In wenigen Jahrzehnten würden ihre Eltern wahrscheinlich in der Bibliothek in den Ruhestand gehen, und hoffentlich würde Irene bis dahin herausgefunden haben, wie sie mit ihnen höfliche Konversation machen konnte. Es war um so vieles leichter gewesen, als sie jünger war.

Ich würde mich über Bernstein freuen, antwortete sie auf die E-Mail. Das sollte ungefährlich genug sein.

Die Updates für die Sprache waren das, was sie in Anbetracht ihrer dreimonatigen Abwesenheit hatte erwarten können: keine Änderungen in der Grammatik, aber einige neue Vokabeln. Die meisten davon waren spezifisch für eine bestimmte Welt und hatten mit Ideen oder Begriffen zu tun, die zuvor noch nicht in die Bibliothek gelangt waren. Außerdem noch einige wenige adjektivische Neudefinitionen und eine Sammelausgabe von Adverbien über die Handlung des Schlafens.

Irene überflog sie, so schnell sie konnte. Das Problem mit einer sich weiterentwickelnden Sprache, die benutzt werden konnte, um Sachverhalte präzise auszudrücken, bestand darin, dass sie sich … nun ja … eben weiterentwickelte. Je mehr beizusteuerndes Material Agenten wie Irene in die Bibliothek brachten, desto stärker veränderte sich die Sprache. Sie fragte sich missmutig, ob ihre jüngste Beute ein oder zwei neue Wörter anregen oder bloß einen alten Begriff verändern würde. Vielleicht würde es helfen, einen besonderen Schwarzton zu definieren.

Dennoch. Es gab Entschädigungen. Etwa die Fähigkeit, der Welt um einen herum Befehle erteilen zu können. Doch als sie sich zur Ewigkeit angemeldet hatte, war sie durchaus nicht von der Annahme ausgegangen, dass sie die meiste Zeit davon mit der Überarbeitung von Vokabellisten zubringen würde.

Der Computer piepte erneut: Es handelte sich um eine Antwort von Coppelia, und sie war erstaunlich schnell eingetroffen. Irene öffnete die E-Mail und blinzelte überrascht angesichts des Umfangs der Rückmeldung.

Meine liebe Irene,

was für eine Freude, Dich wieder hier zu sehen! Obgleich – wenn ich »sehen« sage, dann meine ich selbstverständlich, Deiner Anwesenheit in der Bibliothek gewahr zu sein. Es sind inzwischen mehrere Wochen vergangen, und Du würdest nicht glauben, wie froh ich bin, Dich zurückzuhaben …

Irene runzelte die Stirn. Dies sah wie ein Text aus, der schon vor ihrer Rückkehr erstellt worden war. Ein schlechtes Gefühl deswegen wollte sich nicht unterdrücken lassen.

… und ich habe einen kleinen Job, den Du erledigen sollst.

Soso.

Deine häufige Arbeit da draußen in den Parallelwelten hat dazu geführt, dass Du in Deiner Funktion als Mentorin für neue Studenten mit Blick auf den vorgeschriebenen Lehrplan im Rückstand bist. Doch glücklicherweise war ich in der Lage, einen Weg zu finden, dieses Problem zu umgehen.

Irene schnaubte. Coppelia hatte ihr mit Nachdruck versichert, dass die Sache vollständig geregelt worden war. Und ihre Vorgesetzte hatte dabei den Eindruck vermittelt, dass das Problem ganz aus der Welt geschafft war – ohne dass im Nachhinein noch irgendein unerfreulicher Dienst zu erledigen war.

Es fügt sich nun so …

Sie war einfach so total hinterlistig.

… dass wir einen Neuling in unserer Verantwortung haben, der zu seinem ersten Einsatz im Außendienst bereit ist. Und natürlich habe ich an Dich gedacht als die ideale Person, ihn als Mentorin zu betreuen! Du wirst ihn mit all Deiner Erfahrung unterstützen und zugleich ein paar Leistungspunkte in Deiner Akte dafür sammeln, dass Du ihn handhabst.

Ihn handhabst? Was war der Kerl – eine Bombe, die jederzeit explodieren konnte? In den vergangenen paar Wochen hatte sie mehr als genug Schüler um sich gehabt.

Es handelt sich um einen ziemlich kurzen Auftrag, der Dich nicht länger als einige wenige Tage – oder vielleicht eine Woche – in Anspruch nehmen sollte. Ihr werdet die Operation in der Nähe eines fixen Austrittspunktes in die benannte Welt durchführen; wenn es also irgendwelche Probleme oder Verzögerungen gibt, kannst Du mir unverzüglich eine Meldung zukommen lassen.

Das klingt ja so, überlegte Irene, als ob Coppelia sich hier tatsächlich absichern wollte.

Meine liebe Irene, ich habe das allergrößte Vertrauen in Dich. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, dass Du den Traditionen und Erwartungen der Bibliothek gerecht wirst, derweil Du für diesen neuen Mitarbeiter ein wertvolles Vorbild sein wirst.

Es klang auch so, als ob Coppelia zu viele schlechte Broschüren und Leitfäden über Nachwuchsgewinnung gelesen hatte.

Ich habe Kai (so lautet sein Name) bevollmächtigt, einen der Eiltransfers zu dem Ort zu nehmen, wo Du gerade bist; also kannst Du damit rechnen, dass er jeden Moment bei Dir eintrifft.

Irene hielt inne und lauschte nervös. Wenn das stimmte, war Kai die Erlaubnis erteilt worden, eine der am stärksten beschränkten Transportmethoden in der ganzen Bibliothek zu benutzen. Dies bedeutete entweder, dass Coppelia keine Diskussion über den neuen Auftrag wünschte und Irene einfach nur aus dem Weg haben wollte, oder dass die Mission sehr dringend war, oder dass es etwas sehr Bedenkliches an Kai gab, weshalb er nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden sollte, oder dass Kai mit der normalen Navigation innerhalb der Bibliothek einfach überfordert war, was schon an sich eine schlechte Neuigkeit wäre … Außerdem waren das jetzt zu viele Glieder für eine Entweder-oder-Aussage, was schlechte Grammatik darstellte. Und sie hasste schlechte Grammatik.

Er hat alle näheren Angaben über die Mission bei sich.

Das war jetzt wirklich schlecht, denn es konnte bedeuten, dass Coppelia nicht bereit war, die näheren Angaben in einer E-Mail schriftlich niederzulegen. Irene konnte förmlich riechen, dass es hier um Politik ging, und sie wollte überhaupt nicht in so etwas verwickelt werden. Sie hatte Coppelia immer für die Art von Vorgesetzte gehalten, die eher vernünftig und forschungsorientiert handelte, und die nur dann zur Machiavellistin wurde, wenn es um ihr eigenes Süppchen ging – und nicht für die Art von Vorgesetzte, die sie mit einer zur Veröffentlichung ungeeigneten Mission, einem unerfahrenen Lehrling und einem raschen Stupser durch den nächstgelegenen Austrittspunkt eines Übergangs abservieren würde.

Hinterlass Dein letztes Eingangsmaterial beim nächsten Schreibtisch, kennzeichne es mit meinem Namen; und ich werde zusehen, dass es weiterbearbeitet wird.

Nun ja, das war zumindest etwas …

Von draußen aus dem Korridor erklangen das Rauschen eines plötzlichen Windstoßes und ein dumpfer Schlag. Es erinnerte an eine druckluftbetriebene Rohrpost, die Schriftstücke verteilte.

Eine Pause.

Klopfen an einer Tür in der Nähe.

»Komm rein!«, rief Irene und schwenkte den Stuhl herum, sodass sie zur Tür blickte.

Die schwang auf und gab den Blick auf einen jungen Mann frei.

»Du musst Kai sein«, sagte Irene und stand kurz auf. »Komm nur herein.«

Er besaß die Art von Schönheit, die ihn augenblicklich von einem möglichen in ein absolut unmögliches Objekt einer Romanze verwandelte. Niemand durfte es mit jemandem treiben, der so aussah – außerhalb der Titelseiten von Zeitungen und Hochglanzmagazinen. Seine Haut war so bleich, dass sie an seinen Handgelenken und am Hals blaue Venen erkennen konnte. Und sein den Nacken hinuntergeflochtenes Haar wies einen schwarzen Farbton auf, der in dem dämmrigen Licht wie stählernes Blau schimmerte. Seine Augenbrauen besaßen dieselbe Farbnuance und wirkten wie tätowierte Linien in einem Gesicht, dessen Wangenknochen man dazu benutzen könnte, Diamanten zu schneiden, ganz zu schweigen von Käse. Er trug eine abgewetzte schwarze Lederjacke und Jeans, denen es völlig misslang, sein bestürzend gutes Aussehen zu verharmlosen. Und sein weißes T-Shirt war nicht nur makellos gewaschen, sondern auch gebügelt worden.

»Jep«, erwiderte er. »Der bin ich. Sie sind Irene, oder?« Selbst seine Stimme war geeignet, Verehrerinnen auf den Plan zu rufen: tief, bestimmt und rauchig. Seine saloppe Wortwahl wirkte mehr wie Absicht als wie echte Achtlosigkeit.

»Die bin ich«, bestätigte Irene. »Und du bist mein neuer Lehrling.«

»Aha.« Er schritt in den Raum hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen. »Und ich komme jetzt endlich hier raus.«

»Ich verstehe. Bitte, nimm Platz. Ich habe Coppelias E-Mail noch nicht zu Ende gelesen.«

Er blinzelte sie an, dann marschierte er zum nächsten Stuhl hinüber und ließ sich drauffallen, was eine Staubwolke auslöste, die einem den Atem nahm.

Erledige die Angelegenheit effizient und reibungslos, und Du darfst mit einiger Freizeit rechnen, um privaten Forschungen nachzugehen, wenn dies vorüber ist. Ich bedaure es, Dich so schnell wieder hinausschicken zu müssen. Aber, meine liebe Irene, es muss sein, und wir müssen alle mit den Ressourcen auskommen, die uns zur Verfügung stehen.

Deine liebevolle

Coppelia

Irene lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und schaute den Monitor schräg an. Sie war keine Verschwörungstheoretikerin, aber wenn sie es gewesen wäre, hätte sie ganze Bände verfassen können, die allein auf dem letzten Absatz basierten.

»Coppelia schreibt hier, du hättest alle näheren Angaben über die Mission bei dir«, sagte sie über ihre Schulter hinweg.

»Ja, genau. Madame Coppelia« – er betonte die höfliche Anredeform ein wenig zu sehr – »hat mir das Material gegeben. Hat nicht ausgesehen, als ob es viel wäre.«

Irene wandte ihm das Gesicht zu. »Wenn es dir nichts ausmacht?«, sagte sie und streckte die Hand aus.

Kai griff ins Innere seiner Jacke und zog einen dünnen blauen Umschlag heraus. Er überreichte ihn ihr behutsam, was aus der Handbewegung eine höfliche Geste machte, anstatt das Kuvert einfach nur weiterzugeben. »Hier, bitte schön … Boss? Madame? Sir?«

»Irene genügt, ebenso wie das Du«, entgegnete sie. Sie zögerte einen Moment und wünschte, sie hätte einen Brieföffner. Aber da war keiner zur Hand, und sie hatte keine Lust, Kai wissen zu lassen, wo sie ihre versteckte Klinge aufbewahrte. Mit einem winzigen Achselzucken – ob der unfeinen Handlungsweise – riss sie den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus.

Kai beugte sich nicht vor, um auf den Brief zu schielen, sondern neigte nur neugierig seinen Kopf.

»Zielobjekt«, las Irene bereitwillig vor. »Grimm-Originalmanuskript, Band 1, 1812; gegenwärtig in London. Parallele B-395: Der nächstgelegene Austritt eines Übergangs besteht innerhalb der Britischen Staatsbibliothek; weitere Informationen beim vor Ort ansässigen Bibliothekar verfügbar.«

»Grimm?«

»Märchen, vermute ich.« Irene tippte mit einem Finger gegen den Rand des Blattes. »Keiner meiner Schwerpunkte. Ich bin mir nicht sicher, warum mir … warum uns das aufgetragen worden ist. Es sei denn, es handelt sich um etwas, worin du Erfahrung hast?«

Kai schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht gut Bescheid über das europäische Zeug. Mir ist nicht mal klar, was für eine Parallelwelt das ist. Denkst du, es handelt sich um etwas, das einzigartig für jene Welt ist?«

Das war eine berechtigte Frage. Es gab drei wesentliche Gründe, weshalb Bibliothekare in Parallelwelten hinausgeschickt wurden, um spezielle Bücher zu finden: weil ein bestimmtes Buch für einen Leitenden Bibliothekar wichtig war, weil ein bestimmtes Buch eine Auswirkung auf die Sprache haben würde oder weil ein bestimmtes Buch spezifisch und einzigartig für seine Parallelwelt war. In letzterem Fall würde der Besitz des betreffenden Buches die Verbindungen der Bibliothek zu dieser Welt verstärken. (Irene war sich nicht sicher, in welche Kategorie ihre letzte Erwerbung fiel. Sie vermutete allerdings, dass es sich um einen Fall von »Auswirkung auf die Sprache« handelte: Sie sollte wahrscheinlich versuchen, das irgendwann einmal herauszufinden.) Wenn Leitende Bibliothekare Leitende Bibliothekare geworden waren, interessierten sie sich für nichts Geringeres als Raritäten; daher konnte es schwierig sein herauszubekommen, in welche Kategorie ein Buch gehörte.

Wenn dieses Grimm-Manuskript zu der Sorte von Büchern zählte, die in mehreren verschiedenen Parallelwelten vorkamen, dann würde das keine besondere Mission rechtfertigen. Es wäre einfach bei irgendeinem Mitarbeiter in der normalen Einkaufsliste aufgekreuzt – wahrscheinlich zusammen mit den vollständigen Werken von Nick Carter, den gesamten Fällen von Richter Di und sämtlichen wahren und falschen Biografien des Priesterkönigs Johannes. Die Frage, weshalb einige Bücher einzigartig waren und nur in bestimmten Welten vorkamen, stellte eine der großen Unwägbarkeiten dar. Und hoffentlich würde Irene eines Tages tatsächlich eine Antwort darauf erhalten. Vielleicht dann, wenn sie selbst eine Leitende Bibliothekarin war.

Aber das lag Jahrzehnte in der Zukunft. Möglicherweise sogar Jahrhunderte.

Wie dem auch war, es hatte keinen Sinn, herumzusitzen und sich in Vermutungen zu ergehen. Irene versuchte, ihre Antwort so zu formulieren, dass sie vernünftig klang, anstatt Kai schon in den ersten zehn Minuten ihrer Bekanntschaft einfach zum Schweigen zu bringen. »Wahrscheinlich ist es am besten, das durch den Bibliothekar vor Ort herauszufinden, wenn wir den Zielort in der Parallelwelt erreichen. Wenn Coppelia es dir nicht erzählt hat und mir auch nichts gesagt hat …«

Kai zuckte mit den Achseln. »Solange es mich hier rausbringt, werd’ ich mich nicht beklagen.«

»Wie lange bist du denn schon hier?«, fragte Irene neugierig.

»Fünf Jahre.« Sein Tonfall war geschmeidig, zu vorsichtiger Höflichkeit geglättet, wie die Steine am Strand, die von Meereswellen glatt geschliffen worden waren. »Ich weiß, es herrscht der Grundsatz, neue Leute hierzubehalten, bis wir das Basiswissen studiert haben und man sicher sein kann, dass wir uns nicht aus dem Staub machen. Aber es sind fünf Scheißjahre gewesen.«

»Das tut mir leid«, merkte Irene ausdruckslos an, während sie rasch eine Antwort auf Coppelias E-Mail tippte.

»Leid?«

»Ja. Ich wurde in den Job hineingeboren. Meine beiden Eltern sind Bibliothekare. Das macht die Dinge wahrscheinlich leichter. Ich wusste immer, was von mir erwartet wurde.« Und das stimmte wohl; es hatte ihr die Dinge einfacher gemacht. Sie hatte immer gewusst, wozu sie erzogen worden war. Jahre in der Bibliothek hatten sich abgewechselt mit Jahren in Parallelwelten, und sie waren eines nach dem anderen verstrichen – angefüllt mit Lernen, Üben und Anstrengen und den langen, stillen Gängen voller Bücher.

»Oh.«

»Ich nehme nicht an, dass dieses Warten … Spaß gemacht hat.«

»Spaß.« Er schnaubte. »Nein. Kein Spaß. War irgendwie interessant, doch Spaß hat’s nicht gemacht.«

»Mochtest du Coppelia?« Sie verschickte die E-Mail, dann loggte sie ordnungsgemäß aus.

»Ich habe nur die letzten paar Monate unter ihr studiert.«

»Sie ist eine der eher …« Irene hielt inne und dachte darüber nach, welche Worte sie gebrauchen könnte – Worte, die sie nicht in Schwierigkeiten brachten, falls sie anderswo wiederholt würden. Sie ihrerseits mochte Coppelia, doch Wörter und Wendungen wie »machiavellistisch«, »ausreichend charakterlos« und »hat ein Herz wie Eis« kamen bei Gesprächen nicht immer gut an.

»Oh, ich mochte sie gern«, beteuerte Kai hastig; und Irene, die über die Wärme in seiner Stimme verwundert war, wandte ihm ihr Gesicht zu. »Sie ist eine starke Frau. Sehr organisiert. Eine gebieterische Persönlichkeit. Meine Mutter würde sie … hätte sie gemocht. Wenn … Du weißt schon. Für die Arbeit hier nehmen sie niemals Leute, die noch lebende nahe Verwandte haben, oder?«

»Nein, das ist wahr«, bekräftigte Irene. »Das steht in der Satzung. Es wäre denen gegenüber unfair.«

»Und, ähm …« Die Augen unter seinen langen Wimpern richteten sich auf sie. »Wegen dieser Gerüchte, sie würden manchmal sicherstellen, dass es keine lebenden nahen Familienangehörigen gibt? Oder überhaupt keine lebende Verwandtschaft?«

Irene schluckte. Sie beugte sich über den Tisch, um den Computer auszuschalten, und hoffte, dass dies ihre nervöse Handbewegung verbergen würde. »Es gibt doch immer Gerüchte.«

»Sind sie wahr?«

Manchmal glaube ich, dass es stimmt. Sie war nicht naiv. Sie wusste, dass die Bibliothek nicht immer an ihren eigenen Regeln festhielt. »Es würde keinem von uns beiden helfen, wenn ich dir sage, dass sie wahr wären«, erwiderte sie rundheraus.

»Oh.« Er lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück.

»Du bist seit fünf Jahren hier. Was für Worte erwartest du von mir?«

»Ich hab irgendwie erwartet, dass du mir die offizielle Linie runterbetest.« Er schaute sie nun mit größerem Interesse an. Seine Augen funkelten im dämmrigen Licht. »War jedenfalls nicht damit zu rechnen, dass du durchblicken lassen würdest, es könnte wahr sein.«

»Das hab ich auch nicht«, entgegnete sie schnell. Sie schob das Blatt Papier in den Umschlag zurück und steckte ihn in die Tasche ihres Kleides. »Als deine neue Mentorin – hier mein erster Hinweis für dich, Kai: Die Bibliothek wird mit Verschwörungstheorien betrieben. Gestehe nichts ein; streite alles ab; anschließend finde heraus, was vor sich geht, und veröffentliche ein Schriftstück über das Thema. Es ist ja nicht so, als ob sie verhindern könnten, dass du das tust.«

Er neigte seinen Kopf. »Oh, sie könnten das Schriftstück stets loswerden.«

»Das Schriftstück loswerden?« Sie lachte. »Kai, dies ist die Bibliothek. Wir werden hier niemals irgendetwas los. Absolut niemals.«

Er zuckte mit den Schultern; offensichtlich gab er es nun auf, sie zu befragen. »Okay, wenn du nicht ernsthaft darüber reden willst, werde ich dich nicht dazu drängen. Sollen wir jetzt los?«

»Natürlich«, antwortete Irene und erhob sich. »Bitte folge mir. Wir können unterwegs weiterreden.« Doch abgesehen von gelegentlichen grummelnden Lauten der Zustimmung oder Ablehnung dauerte es eine halbe Stunde, bevor er wieder zu sprechen begann.

Irene schritt voran, als sie beide eine Wendeltreppe aus dunklem Eichenholz und schwarzem Eisen hinabstiegen, die zu schmal war, als dass sie nebeneinander hinuntergehen konnten; Kai blieb die ganze Zeit ein paar Schritte hinter ihr. Durch enge Schlitzfenster in den dicken Mauerwänden blickte man hinaus über ein Meer aus Dächern. Zwischen den klassischen Gebäuden aus Ziegelwerk und unechten orientalischen Kuppeln stach vereinzelt eine Fernsehantenne hervor.

Schließlich sagte Kai: »Kann ich ein paar Fragen stellen?«

»Natürlich.« Sie schritt gerade die unterste Treppenstufe hinunter und trat zur Seite, sodass er zu ihr aufschließen konnte. Der breite Korridor vor ihr wies auf beiden Seiten zahlreiche Türen auf, von denen einige besser poliert und abgestaubt waren als andere. Laternenlichter schimmerten auf ihren Messingplatten.

»Äh, wird das nicht eine ganze Weile dauern, wenn wir zu Fuß zum Austrittspunkt gehen?«

»Eine berechtigte Anmerkung«, sagte Irene. »Er ist in B-395, erinnerst du dich?«

»Selbstverständlich«, erwiderte er und betrachtete sie von oben herab. Er war mehrere Zentimeter größer als sie, was ihm ermöglichte, allein durch seine Körperhaltung ein ordentliches Maß an Herablassung zu zeigen.

»Gut so.« Sie begann, den Korridor hinunterzumarschieren. »Nun, ich habe einen Blick auf die Karte geworfen, bevor du vorhin in den Raum hereingekommen bist. Und den nächstgelegenen Zutritt zu Trakt B erreichen wir, indem wir den Weg hier nehmen und dann zwei Stockwerke nach oben gehen. Wenn wir dort eingetroffen sind, können wir ein Terminal benutzen und nachschauen, was der schnellste Weg von da nach 395 ist. Hoffentlich wird es von dort, wo wir sind, nicht mehr als einen Tag entfernt sein.«

»Einen Tag … Können wir nicht einfach einen Eiltransfer nehmen, um dorthin zu kommen?«

»Nein, leider nicht. Ich habe nicht die Befugnis, einen anzufordern.« Ihr drängte sich der Gedanke auf, wie viel leichter es alles machte, wenn sie nur dazu ermächtigt wäre. »Du musst schon jemand auf Coppelias Stufe sein, um einen Eiltransfer anzuordnen.«

»Oh.« Ein paar Schritte ging er schweigend. »Okay. Also, was weißt du über B-395?«

»Nun, offensichtlich ist es eine Parallelwelt, in der die Magie vorherrscht.«

»Weil es eine ›B‹ oder eine Welt vom Typ Beta ist, richtig?«

»Genau. Von welcher Art Welt kommst du übrigens?«

»Oh, von einer der Gammas. Dort gab es also sowohl Technik als auch Magie. Hochentwickelte Technik, mittlere Magie. Man hatte allerdings Probleme, beides zu einer Zusammenarbeit zu bringen … Jeder, der in seiner Entwicklung zum kybernetischen Organismus zu weit vorgedrungen war, konnte die Magie nicht mehr zum Funktionieren bringen.«

»Hmm …« Irene gab ein neutrales Brummen von sich. »Ich nehme an, dass du selbst keinerlei maschinelle Zusätze hast.«

»Nein. Ist auch gut so. Man hat mir erzählt, hier würde es nicht funktionieren.«

»Das stimmt nicht direkt«, sagte Irene förmlich. »Es ist eher so, dass keine Vorrichtung mit Antrieb sich in die Bibliothek hinein- oder aus ihr hinausbewegen kann, während die Technik noch in Funktion ist. Solche Vorrichtungen würden jedoch sehr gut funktionieren, wenn du sie während des Übergangs in die Bibliothek abstellen und dann, sobald du hier drin bist, wieder einschalten könntest …«

Kai schüttelte seinen Kopf. »Nicht mein Ding. Wozu wäre es gut, wenn ich so einen Apparat immer wieder ein- und ausschalten müsste? Ich bin auch nicht wirklich in der Magie drin gewesen. Ich stand mehr auf Sachen aus der realen Welt, wie physischer Kampf, kriegerische Künste und solche Dinge.«

»Wie bist du dann für die Bibliothek aufgegabelt worden?«, wollte Irene wissen.

Kai zuckte mit den Schultern. »Nun ja, wo ich war, verwendete jeder, der Recherchen durchführte, Online-Tools. Und von Zeit zu Zeit bekam ich den Auftrag, für diesen Wissenschaftler Jagd auf alte Bücher zu machen. Einige dieser Aufträge waren nicht legal … Also wirklich absolut illegal, weißt du? Daher fing ich an, Nachforschungen zu seinem Hintergrund anzustellen. Dachte, ich könnte dabei etwas Interessantes herausfinden. Und ich glaube, ich hab irgendwie ein bisschen zu heftig nachgeforscht. Denn als Nächstes bekam ich Besuch von einigen wirklich kompromisslosen Typen, und die sagten mir, ich müsste kommen und für sie arbeiten.«

»Oder?«

Kai warf ihr einen eisigen Blick zu. »Das ›oder‹ wären schlimme Neuigkeiten für mich gewesen.«

Irene schwieg für eine gewisse Zeit, in der sie an mehreren Türen vorbeigingen. Schließlich sagte sie: »Also bist du nun hier. Bist du unglücklich?«

»Nicht allzu sehr«, erwiderte er, womit er Irene überraschte. »Du hältst dich an die Regeln, du nimmst die Risiken auf dich. Es war ein besseres Angebot, als manche anderen Leute mir gemacht hätten, nicht wahr? Einer von denen, die mich hier unterrichten, Magister Grimaldi … Er meinte, dass mir dieses Angebot niemals gemacht worden wäre, wenn ich eine Familie hätte. Sie hätten mir einfach auf eine andere Weise nachdrücklich davon abgeraten, mit den Nachforschungen fortzufahren. Also kann ich mich darüber nicht beklagen.«

»Worüber beklagst du dich dann?«

»Über die fünf Jahre.« Sie bogen um eine Ecke. »Es sind fünf verdammte Jahre gewesen, die ich hier verbracht habe, um zu studieren. Ich weiß Bescheid über die Sache mit der Zeitkontinuität. Es werden auch fünf Jahre in meiner Welt vergangen sein, seit ich aus ihr herausgerissen worden bin. All die Jungs, mit denen ich mich herumgetrieben habe – sie werden jetzt was anderes machen oder tot sein. So war meine Welt. Außerdem war da dieses Mädchen. Sie wird mich aufgegeben und sich irgendeinem anderen zugewandt haben. Es werden neue Moden aufgetreten sein, neue Stilrichtungen. Neue Technologie und neue Formen der Magie. Vielleicht werden ein paar Länder verschwunden sein und sich gegenseitig in die Luft gejagt haben. Aber ich werde bei keinem einzigen dieser Ereignisse dabei gewesen sein. Wie kann ich es ›meine Welt‹ nennen, wenn ich weiterhin wesentliche Teile davon verpasse?«

»Das kannst du nicht«, antwortete Irene.

»Wie kommst du damit klar?«

Irene wies mit einer Geste auf den Korridor. »Das hier ist meine Welt.«

»Ernsthaft?«

Irene packte das Buch in ihrer Hand fester. »Erinnerst du dich daran, was ich dir über meine Eltern erzählt habe – dass beide Bibliothekare sind? Ich wurde zwar nicht in der Bibliothek