Die flüsternde Muse - Laura Purcell - E-Book

Die flüsternde Muse E-Book

Laura Purcell

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Beschreibung

Welche moderne Schriftstellerin beherrscht die Kunst des Unheimlichen so gut wie Laura Purcell? London, zur Zeit von Queen Victoria. Im Mercury Theater kursieren Gerüchte: Die neue Hauptdarstellerin Lilith Erikson soll mit Melpomene, der Muse der tragischen Dichtung, einen Pakt geschlossen haben. Ihre Zofe Jenny ist skeptisch, denn Lilith ist eine Frau mit einem gestörten Wesen. Auf der Bühne scheint sie von den Figuren, die sie spielt, besessen zu sein, doch abseits der Bühne verläuft ihr Leben so tragisch, als beeinflusse es die Muse, die sie inspiriert. Als eine teuflisch gute Lilith als Lady Macbeth die Zuschauer betört und sich einige unheimliche Vorfälle ereignen, schwinden Jennys Zweifel. Könnten die Gerüchte wahr sein? Sind dämonisch dunkle Mächte am Werk? Und was wird der Preis sein, wenn die Muse ihre Bezahlung einfordert? Laura Purcells neuer Roman führt uns ein in die Welt des viktorianischen Theaters. Eine fesselnde Geschichte über Besessenheit und Aberglauben. Der perfekte Gothic-Thriller. Susan Stokes-Chapman: »Düster verführerisch und kunstvoll umgesetzt.« Bridget Collins: »Gruselig, atmosphärisch, brillant.« Diese Ausgabe erscheint mit bedrucktem Farbschnitt und Leseband.

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Englischen von Eva Brunner

Impressum

Die englische Originalausgabe The Whispering Muse

erschien 2023 im Verlag Raven Books.

Copyright © 2023 by Laura Purcell

Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Lektorat: Bernhard Kempen

Titelbild: Aymen Klidi

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-109-7

www.Festa-Verlag.de

Für Katie

ERSTER AKT

MACBETH

»Birg, falscher Schein,

des falschen Herzens Kunde!«

1

Das Angebot war zu schön, um wahr zu sein. Das wusste ich von Anfang an. Solche Gelegenheiten fallen einem nicht einfach so in den Schoß, man muss sie sich hart erkämpfen. Das wusste ich. Ich wünschte mir jedoch, Mrs. Dyer würde mir das Gegenteil beweisen.

An jenem Morgen regnete es ohne Unterlass, die Wolken vergossen Tränen wie ein Säugling, der keine Ruhe geben will. Ich hatte keinen Regenschirm dabei. Der Pferdeomnibus konnte mich nur einen Teil des Weges bringen, sodass ich, als ich auf den Platz mit den hohen, weißen Stadthäusern einbog, bis auf meine Unterröcke durchnässt war.

Mein linker Stiefel quietschte an der Stelle, an der ich zuvor in eine Pfütze getreten war. Ich hielt inne und überprüfte noch einmal die Richtung, aber es war schwierig, im Nieselregen die Hausnummern zu erkennen. Eine Weile taumelte ich dort herum, lauschte dem Wasser, das von den Dachrinnen rieselte, und spielte mit dem Gedanken, wieder umzukehren. Aber meine Familie konnte es sich nicht leisten, diese Leute noch mehr zu verärgern als ohnehin schon. Ich sollte die Dame besser aufsuchen, die mir vielleicht eine Erfrischung anbieten würde, anstatt in unser beengtes Zimmer und zu den anstehenden Hausarbeiten zurückzukehren.

Als ich endlich das Haus Nummer 13 fand, sah es genauso aus wie die Nachbarhäuser: drei Stockwerke aus weißem Backstein mit einem Schieferdach und Mansardenfenstern. Ein engelhaftes Mädchen von etwa sechs Jahren schaute aus dem Kinderzimmer im Dachgeschoss auf mich herab. Aus dieser Entfernung hätten die Regentropfen, die über das Fenster glitten, Tränen sein können, die über ihre prallen Wangen liefen. Ich winkte. Bevor sie meinen Gruß erwidern konnte, erschien eine Hand über ihrer Schulter, die den Vorhang fest zuzog.

Es erstaunte mich nicht. Die Oberschicht lehrte ihre Kinder von klein auf Zurückhaltung, und vielleicht war das auch gut so.

Die Vordertür glänzte so schwarz wie ein frisch polierter Stiefel. Sie war nicht für Leute wie mich bestimmt. Stattdessen griff ich nach dem glatten Eisengeländer und nahm die Treppe in den Keller. Ich würde nicht sagen, dass ich aufgeregt war, denn Aufgeregtheit birgt die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Ich schritt müde hinab, wie ein dämpfiges Pferd auf dem Weg zum Abdecker. Mrs. Dyer hatte ihre Vorladung wohl als Einladung zum Tee getarnt, als Fassade, wie es sich für jemanden mit guten Manieren ziemte. Sie konnte nichts Angenehmes zu sagen haben. Ihr einziger Grund, mich kommen zu lassen, wäre der, mir weitere schlechte Nachrichten zu überbringen.

Ich klopfte am Dienstboteneingang. Nach langem Warten öffnete ein junger Mann mit Pickeln im Gesicht die Tür. »Was willst du?«

»Ich möchte zu Mrs. Dyer.«

Er musterte mich von oben bis unten, von meinem schlappen Kiepenhut bis zu den schlammbespritzten Röcken. »Wohl kaum.«

Meine Wangen erröteten, mehr aus Wut als aus Verlegenheit. Ich war doppelt so gut wie dieser Junge im Dienen ausgebildet – und ich wusste, wie man mit guten Manieren die Tür öffnet. »Dann geh und frag sie. Sag ihr, dass Jenny Wilcox hier ist.«

Er musterte mich erneut. »Bei dem Regen lasse ich dich mal herein. Aber ich behalte dich im Auge.«

Er ließ mich in eine verrauchte Küche mit rußverschmierten Wänden eintreten und setzte sich wieder an einen langen Tisch. Ein Topf blubberte über einem offenen Herd. Ich hatte eine Schar von Dienern erwartet, wie in Mrs. Fieldings Haus, aber es war nur der Junge da, der Messer wetzte und Silberbesteck polierte.

Ich stellte mich vor das Feuer, um trocken zu werden. Meine Kleider begannen zu dampfen, und ich spürte, wie sich meine Haare an den Ohren kräuselten, wie immer, wenn es feucht war. Ich sah bestimmt sehr unordentlich aus. Aber vielleicht war das auch gut so. Mrs. Dyer könnte mit einer verwahrlosten Frau Mitleid haben.

Irgendwo im Haus läutete eine Glocke zur vollen Stunde. Zehn Uhr, die genaue Uhrzeit meiner Verabredung. Wie von Geisterhand erschien ein Diener in einer altmodischen Livree und mit einer gepuderten Perücke.

»Hier entlang bitte.«

Der Regen rauschte im Hintergrund weiter, während er mich aus dem Dienstbotenzimmer in einen langen Flur führte. Alles wirkte elegant und gepflegt. Auf den Pfeilertischchen standen Vasen mit frischen Blumen, und ein Spiegel leuchtete an der Wand. Die monatelange Abwesenheit hatte dazu geführt, dass ich mir in einer feinen Umgebung wie ein Fremdkörper vorkam. Hatte ich wirklich schon mal so viel Platz genossen?

Der Diener glitt zu einer Tür ganz am Ende des Flurs, neben einer Standuhr. Er klopfte einmal und zählte leise bis fünf, bevor er die Tür aufdrückte.

Der Salon im Inneren war mit blassgrünem Chintz dekoriert. Über dem Fenster hingen Farne und ein Käfig mit Wellensittichen. Auf dem Rost brannte kein Feuer – es war schließlich August –, und der Platz wurde stattdessen von einem Paar gleicher Porzellanhunde eingenommen.

Eine Dame saß auf dem Kanapee. Ihr karamellfarbenes Haar war zu einem Turm hochgesteckt und wurde mit Kämmchen in Form gehalten. Sie trug ein hochgeschlossenes blaugrünes Kleid mit modischen Pagodenärmeln. Das war also Mrs. Dyer, meine Korrespondentin. Die Gattin des Eigentümers des Mercury Theatre.

Der Diener räusperte sich. »Miss Wilcox für Sie, Madam.«

Ihr Kopf drehte sich langsam in meine Richtung. Sie sah gut aus, war etwas über 40 Jahre alt. »Aha!«, sagte sie und lächelte mit karminroten Lippen. »Kommen Sie herein. Setzen Sie sich.«

Sie rutschte nach vorn und betätigte sich am silbernen Teeservice auf dem Tischchen vor sich. Ihre Hände zitterten dabei. Die Tasse klirrte gegen die Untertasse, das Porzellan klapperte wie Zähne in der Kälte.

Aber warum? Mrs. Dyer war bei sich zu Hause. Sie hatte mich hergebeten. Es gab doch sicher keinen Grund für sie, nervös zu sein?

Vorsichtig setzte ich mich auf die Kante meines Stuhls und bemühte mich, keinen Wasserfleck zu hinterlassen. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, hielt ich den Mund.

»Das wäre dann alles, James«, sagte sie zum Diener.

Er verbeugte sich tief und wich zurück, als würde er sich aus der Gegenwart einer Königin entfernen.

Mrs. Dyer rührte Milch in den Tee. »Ich bin so froh, dass du meinen Brief erhalten hast, Jennifer. Ich darf dich doch Jennifer nennen?«

Ich nahm die Tasse aus ihren perfekt manikürten Händen entgegen. »Wenn Sie möchten.« Das war die einzig vernünftige Antwort, obwohl es mir lieber gewesen wäre, sie würde es nicht tun. Die Verwendung meines Vornamens implizierte eine gewisse Vertrautheit. Ich kannte sie nicht näher. Sie sah mir zum ersten Mal in die Augen. Ihre waren grün wie Absinth. »Ich kann eine familiäre Ähnlichkeit erkennen. Du kommst nach deinem Bruder.«

Meine Finger krümmten sich um den Henkel. »Verzeihen Sie, Madam, aber … Ich weiß nicht genau, warum Sie mich hierhergebeten haben. Wenn Greg das Theater verlassen hat und Ihnen Geld schuldet, kann ich nicht … Ich habe kein …«

Mrs. Dyer musterte mich über den Rand ihrer Tasse und nahm vorsichtig einen Schluck. Sie musste die Wahrheit meiner Worte erkannt haben. Er hatte uns keinen Penny hinterlassen. »Tatsächlich hat Mr. Wilcox mehr genommen, als ihm zustand. Er wurde bis zum nächsten Zahltag entlohnt. Aber bitte glaube nicht, dass ich dich hergebeten habe, um eine Schuld einzutreiben. Ich möchte mit dir über ein eher … heikles Thema sprechen.«

Mein Puls beschleunigte sich. Jedes Mal wenn ich dachte, ich hätte den Schlamassel meines Bruders beseitigt, schwappte neues Abwasser an die Oberfläche. Hatte er auch seinen früheren Arbeitgeber bestohlen? Vielleicht zitterten Mrs. Dyers Hände aus demselben Grund wie meine? Vielleicht war es die Anstrengung, all die Wut wegen der verletzten Gefühle zurückzuhalten.

Ich trank, um mir etwas Zeit zu verschaffen.

»Gefällt dir das Theater, Jennifer?«

Ihre Frage überraschte mich. »Ja, sehr sogar, wenn ich die Möglichkeit habe hinzugehen. Es ist schon eine Weile her, dass ich etwas gesehen habe … Greg nahm mich ein- oder zweimal in den obersten Rang mit, als er damals anfing, für Sie zu arbeiten. Wir haben East Lynne und Die korsischen Brüder gesehen.« Diese glücklichen Erinnerungen schmerzten nun.

»Ah, ja. So rührselige Stücke.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Ich erinnere mich nicht, dich damals gesehen zu haben. Ich hätte nie von eurer Existenz erfahren, aber ich fürchte, der Klatsch hat sich im Theater schnell verbreitet, seitdem euer Bruder verschwunden ist. Als Philanthropin war ich natürlich besorgt, als ich hörte, dass Mr. Wilcox eine bedürftige Familie hinterlassen hat. Wir haben am Mercury einen Maler und eine Soubrette verloren, aber ich fürchte, du hast durch diese traurigen Ereignisse noch viel mehr verloren.«

Sie hatte ja keine Ahnung! »Was ist eine Sou…Soub…?«

»Eine Soubrette? So nennen wir junge Schauspielerinnen, die Nebenrollen spielen. Schauspielerinnen wie Georgiana Mildmay.«

Mir fielen zu ihr noch eine oder zwei andere Bezeichnungen ein.

Der Regen prasselte weiter. Einer der Wellensittiche zwitscherte. Mrs. Dyer nahm noch einen Schluck.

Was konnte sie von mir wollen? Sie schien eine gütigere Dame zu sein, als meine Herrin es gewesen war. Es gab zwar keinen Grund zur Annahme, dass sie mir helfen würde, aber es war eine Frage wert, da ich schon mal hier war. Für dezente Andeutungen war unsere finanzielle Situation zu prekär. »Ich bin mit den Begriffen des Theaters nicht allzu sehr vertraut«, gab ich zu. »Ich habe bisher nur als Dienerin gearbeitet. In Häusern wie diesem. Ich nehme nicht an, dass … Verzeihen Sie mir die Frage, aber wir sind sehr knapp bei Kasse. Keine Ihrer Bekannten braucht eine Putzfrau, nicht wahr, Madam?«

Mrs. Dyer nahm ihre Tasse in die Handflächen. Sie schien sie zu wiegen, mich abzuwägen. »Ich habe gehört, dass du nach dem Weggang deines Bruders eine neue Stelle suchst. Sag mir, was war deine bisherige Rolle?«

Mir gefiel, dass sie Rolle sagte, als hätte ich in einem Theaterstück mitgespielt. Ich hatte sicherlich hart genug dafür gearbeitet. Nach jahrelangem Vorsprechen in der Spülküche hatte ich mich in der Hierarchie der Dienerschaft hochgearbeitet, und all das war in einem Augenblick wie weggeblasen. »Ich war die Kammerzofe von Mrs. Fielding und ihren beiden Töchtern.«

Sie runzelte die Stirn. »Verzeih, dass ich so offen spreche. Aber wäre es nicht schade, wenn eine so versierte junge Frau wie du ihre Zeit mit dem Putzen von Häusern verbringen würde? Als Kammerzofe musst du doch andere Talente besitzen. Ich bin mir sicher, du kannst Kleider pflegen, Haare frisieren und perfekt nähen. Das Leben als Putzfrau könnte sich für dich eher als … erniedrigend erweisen.«

Ich schluckte einen Schwall Stolz hinunter. Mrs. Fielding hatte mir kein Dienstzeugnis ausgestellt. Ohne dieses konnte ich froh sein, wenn ich eine Arbeit als Teppichklopferin bekommen würde. »Ich werde tun, was ich muss.«

»Was wäre«, fragte Mrs. Dyer langsam, und ihre grünen Augen richteten sich wieder auf die Porzellanhunde, »wenn es eine andere Möglichkeit gäbe? Eine Stellung, die deinen Talenten besser entspräche? Wärst du bereit, stattdessen diese anzunehmen?«

Hoffnung keimte schmerzhaft in meiner Brust auf. »Meinen Sie … etwas an Ihrem Theater? Ist da eine Stellung frei?«

»Ganz genau.« Sie schenkte mir ein Lächeln. »Mein Mann ist mit einer auserwählten Truppe von Schauspielern den Sommer über in Southend-on-Sea auf Tournee, aber wenn er zurückkommt, werden wir viel – tatsächlich sehr viel – zu tun haben. Ich muss mich darauf vorbereiten, indem ich mehr Personal einstelle. Ich habe dich hergebeten, weil ich hoffte, du würdest dich bereit erklären, bei uns anzufangen.«

Ich stellte meine Tasse auf dem Tischchen ab, bevor ich sie fallen lassen würde. Die Erleichterung schwächte mich. Nach dem vielen Elend der letzten Monate wagte ich kaum zu glauben, was ich da hörte. »Mrs. Dyer … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist so nett von Ihnen, an mich zu denken! Sie haben bestimmt andere Bewerberinnen für die Stelle.«

»Ja, das stimmt. Aber die Stellung verlangt nach einer ganz besonderen Mitarbeiterin. Einer, der ich sehr viel Vertrauen schenken kann.«

Ich würde alles tun, praktisch alles, um meine Familie wieder dorthin zu bringen, von wo sie abgestürzt war. »Ja, Madam. Natürlich würde ich alles geben, um Ihre Freundlichkeit zu verdienen. Ich werde zurückzahlen, was mein Bruder Ihnen schuldet, und die Beste sein – die Bestmögliche in dieser Stellung.« Ich stotterte und merkte, dass ich Unsinn redete. »Verzeihen Sie – um was für eine Stellung handelt es sich genau?«

Sie schaute nachsichtig auf meine Verwirrung herab. »Wir nennen es ›Garderobiere‹. Eine Person, die Kostüme und Haare herrichtet und den Schauspielerinnen die Bühnenschminke aufträgt.«

Ich hatte es nicht gewagt, überhaupt eine Arbeit zu erwarten, geschweige denn eine so interessante Aussicht auf eine Stelle wie diese. Es wäre schon etwas, eine Bühnenfigur einzukleiden. Ich hatte es sattgehabt, meine Herrin und ihre Töchter für die immer gleichen Gesellschaftsbälle zurechtzumachen, modische Frisuren zu gestalten, die ihnen nicht standen, pastellfarbene Kleider zuzuschnüren.

»Das könnte ich, Mrs. Dyer. Das würde ich gern tun.«

»Das freut mich zu hören.« Ihr Hals räusperte sich unter dem hohen Kragen ihres Kleides. »Doch lass dich nicht von deiner Dankbarkeit überwältigen. Ich will dich nicht unter einem falschen Vorwand einstellen. Du musst verstehen, dass die Schauspielerin, die du ankleiden wirst … Sie ist keine anständige Frau, Jennifer. Man muss sie im Auge behalten.«

Bestimmt würde die Beschreibung auf so gut wie jede Schauspielerin passen. Keine von ihnen war vertrauenswürdig. Nach dem, was Georgiana Mildmay uns angetan hatte! Mrs. Dyers Warnung schreckte mich nicht ab. Ich hatte meine frühere Herrin auch nicht unbedingt gemocht.

»Was meinen Sie mit ›im Auge behalten‹?«, erkundigte ich mich.

Mrs. Dyer stellte ihre Tasse, deren Rand mit einem rosafarbenen Halbmond verziert war, neben meiner auf dem Tischchen ab. »Erlaube mir, die Situation zu erklären. Unsere langjährige Hauptdarstellerin trat im Frühjahr zurück, und Mr. Dyer hat eine Schauspielerin aus unserem Ensemble in ihre Position befördert. Sie nennt sich Lilith Erikson. Ein Künstlername.« Draußen grollte der Donner. Das Licht wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, Jennifer. Du wirst es sofort spüren, wenn du sie kennenlernst. Mein Mann ist überzeugt, dass sie ›unerschlossenes Talent‹ besitzt, und vielleicht stimmt das ja auch. Aber ich mag ihre Art nicht. Weißt du, wir investieren ein Vermögen in ihre Förderung. Das Ansehen unseres Theaters steht auf dem Spiel. Georgiana hat uns bereits im Stich gelassen, und mir wäre viel wohler, wenn ich wüsste, dass jemand Lilith im Auge behält.«

»Ich werde Ihrer Bitte gern nachkommen. Aber sicherlich brauchen Sie sich nicht so viele Sorgen zu machen. Ihr Mann muss Lilith doch vertrauen, wenn er ihr diese große Chance gibt.«

Sie schaute mir direkt ins Gesicht. »Mr. Dyer«, sagte sie nüchtern, »ist verhext. Das meine ich ganz wörtlich. Mein Gatte ist zwar ein guter Mann, aber er ist nicht gefestigt. Er ist gegen Lilith Eriksons Tricks nicht gefeit.«

Ich senkte den Blick. Steckte mehr dahinter, als Mrs. Dyer mir verriet? Schauspielerinnen hatten den Ruf, eine lockere Moral zu haben. Vielleicht war es nicht nur das Geld ihres Mannes, das sie sicher verwahren wollte. Vielleicht zog sie auch seine Treue in Zweifel.

Natürlich war ich nicht abgeneigt, ihn für sie zu beobachten. Wenn sie einen Spitzel und eine Petze brauchte, würde ich auch das tun. Ich konnte es mir nicht aussuchen.

»Natürlich wäre ich bereit, für deine Diskretion zu bezahlen«, fuhr Mrs. Dyer fort, deren Hände sanft in ihrem Schoß bebten. »Du würdest 45 Pfund im Jahr in dieser Rolle erhalten.«

Ich blinzelte sie an, sicher, mich verhört zu haben. 45 Pfund! Das war mehr, als selbst die Diener in meiner letzten Anstellung verdienten. Ein so hohes Gehalt hätte ich mir nie erträumt.

Und was ich mit diesem Vermögen machen könnte … Ich könnte wieder für Berties Operation sparen. In eine bessere Unterkunft ziehen. Mit dieser Arbeit hätte ich genug, um uns alle in Sicherheit zu bringen.

»Sind Sie sich sicher, dass es so viel ist? Liegt da kein Irrtum vor?«

Mrs. Dyer lächelte betrübt. »Du wirst noch sehen, Jennifer, dass ich es gut mit denen meine, die gut zu mir sind. Es ist nur schade, dass dein Bruder sich nicht zu dieser Gruppe zählte.«

Ich nahm zur Stärkung einen Schluck Tee. Greg hatte nie auch nur annähernd so viel verdient. Mrs. Dyer musste es sehr am Herzen liegen, wenn sie so viel springen ließ. »Könnten Sie es mich lehren, Madam? An einem Theater zu arbeiten? Ich weiß ein bisschen von meinem Bruder, aber ich würde Hilfe benötigen.«

»Aber natürlich!«, sagte sie freundlich. »Keine Angst, ich werde dir alles beibringen.« Mrs. Dyer stand auf und öffnete eine Schublade in einem der Schränke. Sie kam mit einer Geldbörse und einem ledergebundenen Buch zurück. »Sämtliche Werke von Shakespeare. Betrachte es als ein Geschenk. Lies es ganz durch, aber nimm dir vor allem Macbeth vor. Mit diesem Stück werden wir im September eröffnen. Du wirst Lilith als Lady Macbeth kleiden.«

Es war ein dicker Wälzer von einem Buch. Ich blätterte durch die Seiten und stellte überrascht fest, dass sie so dünn wie Zwiebelschalen und mit einer kleinen, engen Schrift bedruckt waren. Ich würde ewig brauchen, um es durchzuackern. Ich hatte noch nie ein so dickes Buch gelesen.

»Vielen Dank, Madam. Ich habe von Macbeth gehört. Ist er nicht ein großer Schurke?«

»Das ist er in der Tat. Grässlich. Doch ich halte seine Frau für noch schlimmer.« Sie strich sich nachdenklich über das Kinn. »Was könnte dir noch dienen? Es wäre sicher hilfreich, sich ein paar Inszenierungen an anderen Theatern anzusehen, bevor du anfängst – es wird natürlich nicht Macbeth sein, aber wir sind nicht abgeneigt, uns an Kostümen anderer Ensembles zu orientieren. Meine Gewandmeisterin, Mrs. Nettles, ist immer auf der Suche nach Inspiration.«

Ich hatte kein Geld für Theaterkarten übrig. Mir schien, ich würde mein Glück überstrapazieren, wenn ich um einen Vorschuss bitten würde. »Aber … es ist Sommer«, sagte ich als Ausrede. »Sind die Londoner Theater zurzeit nicht geschlossen?«

»Bis auf eines.« Sie hielt inne. Ein seltsam wehmütiges Lächeln nahm Besitz von ihren Lippen. »Ein ganz besonderes Schauspielhaus bleibt das ganze Jahr über geöffnet, ganz der Kunst ergeben. Das Helicon.« Ihre Stimme wurde leiser, als würde sie ein heiliges Geheimnis preisgeben. »Es gehört dem großartigsten Schauspieler, den ich je kannte. Sein Name ist Eugene Grieves. Hast du von ihm gehört?«

»Der Name kommt mir bekannt vor, aber …«

»Ich muss gestehen, dass ich so etwas wie eine Verehrerin bin.« Sie öffnete ihr Portemonnaie und holte einen Haufen Münzen hervor. Nicht abgenutzt und stumpf wie die Münzen, mit denen ich bezahlte, sondern glitzernd wie der Schatz eines Drachen. »Mr. Dyer hält Lilith Erikson für talentiert, aber du kannst dir selbst ein Urteil bilden, wenn du meine Vorstellung von einem brillanten Schauspieler erlebt hast. Hier.« Sie nahm meine Hand, öffnete sie und ließ Pennys hineinfließen.

Ich räusperte mich. »Mrs. Dyer, das ist mehr als genug für eine Eintrittskarte!«

»Nimm alles«, drängte sie. »Du hast doch jüngere Geschwister zu Hause. Vielleicht möchten auch die Kinder hingehen?«

Das war sie: die Schwachstelle in meiner Abwehr. Freundlichkeit mir gegenüber war eine Sache, aber wenn jemand Rücksicht auf meine Geschwister nahm, erwärmte es mein Herz. Ich versuchte, meine Bedenken beiseitezuschieben. Das war die Chance, für die ich immer gebetet hatte. Vielleicht gefielen sich reiche Damen darin, jemandem aus meiner Klasse zu helfen? Um sich als tugendhafte und wohltätige Christinnen zu erweisen?

»Vielen Dank, Madam«, sagte ich ernst und legte meine Finger um den Schatz. Er fühlte sich schwer und verlässlich an. »Ich weiß das sehr zu schätzen. Ich bin mir sicher, dass sie gern mitkommen werden. Wie heißt das Stück?«

»Ein großer Klassiker. Du wirst Eugene Grieves in der Rolle des Doktor Faustus sehen!«

Das sagte mir nichts. Ich schämte mich für meine Unwissenheit, aber sie hatte versprochen, meine Lehrerin zu sein. »Und worum geht es da?«

Ihre Lippen teilten sich vor Überraschung. »Es ist eine berühmte Legende! Faust. Der törichte Mensch, der einen Pakt mit dem Teufel schloss.«

2

Ich hatte Philip noch nie so aufgeregt erlebt. Er stand auf Zehenspitzen vor dem Spiegel und kämmte sein feuchtes Haar zurück.

Dorcas zwinkerte mir zu. »Er will für die Damen hübsch aussehen.«

Philip errötete. Er war erst 13. »Lasst mich in Ruhe! Ich war noch nie im Theater. Greg sagte immer, ich soll zu Hause bleiben, um als Mann auf alles aufzupassen.«

Ich zuckte zusammen, als er Gregs Namen aussprach. »Du wirst das Theater lieben, Phil«, antwortete ich hoch und hell, als ob ich die Erinnerung an unseren Bruder mit dem Ton meiner Stimme begraben könnte. »Da bist du mittendrin in der Geschichte. Wenn es donnert, spürst du es in deinem Brustkorb.«

Bertie quengelte und schob sein ungegessenes Abendessen über den Tisch. »Ich will auch mit!«

Ich verfluchte mich selbst. Ich hätte es vorhersehen müssen. Ich schlang die Arme um seine dünnen Schultern. »Das weiß ich wohl, mein Schatz. Aber es sind zu viele Stufen bis zum obersten Rang für deinen kranken Fuß. Du würdest es nicht schaffen.« Berties Unterlippe schob sich zitternd vor. »Ich werde dich mitnehmen, wenn du älter bist«, bemühte ich mich. »Und denk daran, dass sich Mrs. Khan von unten zu dir setzen wird. Sie wird dir viele Geschichten erzählen, wahrscheinlich bessere Geschichten als die, die wir sehen werden.«

Bertie war jetzt neun Jahre alt, aber seine Tränen lösten in mir immer noch die gleiche Panik aus wie seine Schreie als Säugling. Ich nahm nicht an, dass das jemals verschwinden würde.

In diesem Moment rief der Wächter von der Straße her die Stunde aus. Dorcas packte Philip am Kragen und zog ihn vom Spiegel weg. »Zeit zu gehen. Du wirst nicht mehr hübscher.«

Ich seufzte. Es tat mir weh, Bertie zu verlassen, aber wir drei hatten wenigstens einen freien Abend verdient. Ich küsste seine heiße, tränenüberströmte Wange. »Wir sehen uns in ein paar Stunden.«

Es war unmöglich, sich lange dem schlechten Gewissen hinzugeben. Der Abend war perfekt, warm mit einer leichten Brise, und die Sonne fing gerade erst an unterzugehen. Die Menschen strömten auf die Straßen, um sich nach einem harten Arbeitstag zu amüsieren. Zerlumpte Jungen schlugen Rad für ein paar Pennys. Ein Mann baute seinen Leierkasten auf und spielte für eine Gruppe tanzender Hunde.

Philip grinste. Ich freute mich, Vergnügen in seinem sommersprossigen Gesicht zu sehen. Etwas, das seit Gregorys Weggang leider fehlte.

»Wer hat das Theaterstück geschrieben?«, fragte mich Philip plötzlich.

»Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie gesehen.«

»Ist es von Shakespeare?«

»Nein, von jemand anderem, einem anderen toten Dichter.«

Dorcas lachte. »Frag sie nicht aus, Phil. Sie wird nur dafür bezahlt, sich für die Kostüme zu interessieren.«

Ich interessierte mich sehr wohl für die Stücke, aber ich hatte Mühe, sie zu verstehen. In meiner Schulzeit hatte ich wenig mit Literatur oder Geschichte zu tun. Ich musste die Seiten von Macbeth immer wieder lesen, um sicher zu sein, dass ich verstanden hatte, was passiert war. Zum Glück war Mrs. Dyer geduldig und erklärte mir alles. Je öfter ich zu ihr in den Unterricht ging, desto mehr wurde ich mit ihr warm. Sie war wortgewandt und großzügig und liebte ihr kleines Mädchen, das, so erfuhr ich, Rachel hieß.

Als wir uns Covent Garden näherten, füllten sich die Straßen mit Verkehr. An den Ecken dampften Stände, die Salep, Kastanien und Brandy-Kugeln feilboten. Ich kaufte eine Flasche Ingwerbier, bevor ich mich in die Warteschlange einreihte. Wir reichten sie unter uns weiter, froh über die Erfrischung in der Hitze. Die Damen schwebten durch die Tür der Abonnenten ins Helicon, ohne warten zu müssen.

»Schau sie dir an«, staunte Dorcas. »Wie schaffen sie es, bei all dem Staub so frisch auszusehen und ihre Röcke sauber zu halten?«

»Geld«, sagte ich.

Endlich waren wir an der Reihe, um neun Pennys durch den Schlitz in der Wand zu schieben und unsere Metallmarken zu erhalten. Die Menge bewegte sich eilig vorwärts und trat auf meine Röcke, als ich hineingedrängt wurde. Ich hatte recht mit dem, was ich Bertie über die Treppe erzählt hatte. Er hätte es nie bis zum obersten Rang geschafft. Hunderte von Stufen führten immer höher hinauf, ohne dass man zwischendurch anhalten und sich ausruhen konnte. Als wir oben ankamen, schmerzten meine Beinmuskeln.

Aber der Aufstieg hatte sich gelohnt, denn ich konnte Philips stockenden Atem hören, als sich der Zuschauerraum vor ihm ausbreitete.

Hier oben bei den Göttern konnten wir jeden einzelnen Kristall des Kronleuchters erkennen. Reihen von Bänken führten steil von hinten nach vorn, wo ein Schutzgeländer die Leute davor bewahrte, in den darunterliegenden ersten Rang zu fallen. Dorcas nahm uns an den Händen, und wir liefen auf die unterste Bank zu. Wir erreichten sie gerade noch vor einer Gruppe von Krämerjungen. Dorcas streckte ihnen die Zunge heraus, nahm ihre Haube ab und knüpfte sie mit den Bändern an das Geländer.

Philip grinste. »Die besten Plätze im ganzen obersten Rang!«

Die Luft war erfüllt von Orangenschalen und Schweiß. Stimmen schwirrten, Füße stampften. Jemand hinter uns knackte Nüsse.

War es wirklich möglich, dass ich mein eintöniges Dienstmädchendasein gegen einen aufregenden Arbeitsplatz wie diesen tauschte? Ich wagte kaum, meinem Glück zu trauen. Glückseligkeit war wie ein Tier, das man an kurzen Zügeln halten musste – für den Fall, dass es bockte und mich in den Graben abwarf. In einer Welt, in der man von jedem hintergangen werden konnte – sogar vom eigenen Vater, sogar vom ältesten Bruder –, war es besser, wachsam und vorsichtig zu sein.

Aber ich konnte nicht widerstehen, unter das Geländer zu spähen, um einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Sie sah winzig aus. Die feinen Leute, die im Parkett saßen, waren wie Ameisen. Einige Köpfe glänzten vom Bärenfett, andere hatten ihr Haar mit Bändern und Federn aufgetürmt. Ihre Aufmachung passte nicht zu dem ziemlich abgenutzten Zuschauerraum. Das Helicon hatte seine besten Tage eindeutig hinter sich. Als ich das Geländer losließ, hatte ich Rostflecken an meinen Handschuhen. Der Feuerschutzvorhang sah mottenzerfressen aus, der samtene Glanz war durch Staub matt geworden.

Als ich nach oben blickte, bemerkte ich, dass eine Seite des Kronleuchters getrübt war. Ein Spinnennetz spannte sich zwischen den verfärbten Kristallen und wiegte sich sanft. Ein Fresko von neun Frauen in antiken Gewändern zierte einst die Decke, doch nun war es verblasst. Nur eine Figur war weniger verwittert als die anderen: Sie hielt eine Keule und eine Art Maske in der Hand.

»Ich kann nicht glauben, dass du hier arbeiten wirst«, keuchte Philip.

Aufregung machte sich unwillkürlich in mir breit. »Nun, nicht hier. In einem anderen Theater. Ich war seit Jahren nicht mehr im Mercury, vielleicht ist es nicht so schick.«

»Es könnte besser sein!«

Das Theater war immer Gregs Domäne gewesen. Er war derjenige, der mit Farben experimentieren und in die Fantasie flüchten durfte – vielleicht war es das Vorrecht des Ältesten. Meine Pflicht war es gewesen, die anderen zurückzulassen, sobald Bertie entwöhnt war, und einen anständigen Lohn zu verdienen und Geld nach Hause zu schicken, wo ich nur selten war. Der Gedanke, dass ich diese Fantasiewelt endlich für mich beanspruchen könnte, bereitete mir unglaubliche Freude. Greg war mir etwas schuldig, als Gegenleistung für alles, was er mir genommen hatte.

Endlich läutete eine Glocke. Das Geschnatter verstummte und ein Raunen ging durch das Publikum. Der Dirigent hob den Taktstock.

Philip ergriff meine Hand, als eine kühne, schrille Ouvertüre durch den Zuschauerraum dröhnte. Ich spürte sie bis in die Knochen. Musik, die so mächtig war, dass sie einen mitreißen konnte und man alles, was man kannte, hinter sich ließ.

Der Vorhang hob sich und enthüllte einen geisterhaften Chor mit weißen Masken und schwarzen Gewändern. Gemeinsam begannen sie in einer altmodischen Sprache zu singen. Das Bühnenbild war wenig beeindruckend. Vielleicht war das der Sinn der Sache, denn alle Augen richteten sich sofort auf den Schauspieler Eugene Grieves, von dem Mrs. Dyer so geschwärmt hatte, der nun im Gewand und mit dem Hut eines Gelehrten die Bühne betrat. Dieses schlichte Kostüm hob ihn hervor, brachte seine hohen, markanten Wangenknochen und die Blässe seines Gesichts zur Geltung. An einer Kette an seiner Hüfte baumelte eine Taschenuhr, die im Rampenlicht glitzerte. Ich weiß nicht, was er an sich hatte, aber er hatte eine Präsenz, etwas, das in der Luft um ihn herum wie feiner Nebel schimmerte.

Die Windmaschine drehte sich und stieß ein kehliges Heulen aus, als Doktor Faustus verkündete, Kräfte aus der Hölle heraufbeschwören zu wollen. Dann redete er in einer anderen Sprache, die schroff und dämonisch klang.

»Was sagt er?« Philips Stimme war leise und ängstlich.

Mrs. Dyer hatte mich gewarnt, dass Doktor Faustus einen Pakt mit dem Teufel schließen würde, aber ich hatte es mir nicht so heftig vorgestellt.

»Schau nicht hin, Phil. Das wird bald vorbei sein.«

Ein schriller Akkord und das Schmettern der Becken. Pech blitzte auf, und ein Schatten zeichnete sich über der Kulisse ab. Langsam schrumpfte die Gestalt zu einer Rauchwolke, und ein rot gekleideter Mann trat auf. Mephistopheles, der Teufel.

Kugeln polterten die Donnerbahn hinunter, und die Musik vollzog einen schwindelerregenden Sprung in die Tiefe.

»Geh und trag zum großen Luzifer die Kunde: Sag, Faustus überlässt ihm seine Seele, damit er ihn 24 Jahre verschont, ihn in aller Wollust leben lässt und mir stets zu Diensten ist.«

Dorcas saß totenstill da. »Das ist keine gute Idee«, flüsterte sie.

Eugene Grieves krempelte die Ärmel hoch, nahm einen Dolch und zog ihn über seine Haut. Etwas spritzte auf die Bretter. In anderen Stücken hatte ich ein rotes Taschentuch als Zeichen für Blut gesehen. Das hier war ein neuer Effekt.

»Hat er das wirklich getan?«, zischte Philip. »Hat er sich gerade geschnitten?«

»Natürlich nicht«, schnauzte Dorcas zurück.

Aber ich war mir nicht sicher. Übelkeit drängte sich in meine Kehle.

»Und Faust hat seine Seele Luzifer verschrieben – Doch was ist diese Inschrift an meinem Arm? Homo fuge! Wohin denn soll ich fliehn? Die Sinne täuschen mich; ich seh es klar; hier steht geschrieben: Homo, fuge!«

Vielleicht bildete ich es mir nur ein? Vermutlich war ich zu weit entfernt, um es zu sehen. Aber ich hätte schwören können, dass das Blut zu gerinnen begann und Buchstaben auf seinem Arm bildete, genau wie die Figur es sagte.

Irgendetwas stimmte hier nicht, es fühlte sich gefährlich an. Ich hatte Philip versprochen, die Geschichte würde lebendig werden, und so war es auch. Es war eine fleischgewordene Fegefeuer- und Schwefelpredigt. Wie konnte Mrs. Dyer mich nur dazu ermutigen, Kinder mitzunehmen? Mit einer Sache hatte sie allerdings recht: Eugene Grieves war ein erstaunlicher Schauspieler; denn er ließ mich ohne den geringsten Zweifel glauben, dass er gerade einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte.

Ich saß auf der Kante der Bank, hielt Philips Hand fest und konzentrierte mich eher auf das abblätternde Geländer als auf das Geschehen auf der Bühne. Ich stellte mir das Ende vor. Was würde erst sein, wenn die 24 Jahre vergangen waren und Faustus den Preis dafür zahlen musste?

Es gab keine Wendung in der Handlung, die ihn hätte retten können. Er spürte, dass seine Zeit knapp wurde. Es gab Reden voller Reue, die mir die Brust zu zerreißen schienen.

»Für die eitlen Freuden von 24 Jahren hat Faustus die ewige Freude und Glückseligkeit verloren. Ich schrieb ihnen einen Kontrakt mit meinem eigenen Blut; die Frist ist abgelaufen; die Zeit wird kommen, und er wird mich holen.«

Er klammerte sich an die Uhr, die an seiner Hüfte hing. Die Lichter färbten sich blutrot. Flammen züngelten, Rauch wurde ausgestoßen, und ein Geruch wie Schwefel erfüllte das Haus.

Ich spürte, wie seine Angst mich würgte. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Theaterstück so erschrecken könnte. Ich versuchte, mich zu beherrschen und für die anderen tapfer zu sein.

Eine Glocke läutete. Es war Mitternacht, und damit war die Rechnung fällig.

Eugene Grieves hastete erschrocken auf der Bühne umher. Er wollte durch die Kulissen verschwinden, in den Orchestergraben springen, aber jedes Mal versperrte ihm ein Teufel mit einer Mistgabel den Weg.

Schließlich sackte er keuchend auf die Knie. »Ottern und Schlangen, lasst mich atmen noch!«

Und dann geschah es.

Ich wusste sofort, dass es sich nicht um einen theatralischen Trick handelte. Als er nach Luft schnappte, floss Blut aus seinen Lippen.

Eine Dame im Parkett schrie auf.

Wir waren hoch oben, ein gutes Stück von der Bühne entfernt, aber es sah so aus, als hätten sich auch seine Tränen in geronnenes Blut verwandelt. Die Geigen kamen kreischend zum Stillstand.

Eugene Grieves stürzte hin und zuckte. Es war wie ein Anfall, abscheulich anzusehen, wie eine Marionette, die an ihren Schnüren zappelt. Die Geräusche, die er machte, das gequälte Stöhnen. Ich hielt Philip die Augen zu, aber es war zu spät.

Der Mann, der Mephistopheles spielte, rief: »Barmherziger Gott!« Andere Schauspieler rannten auf die Bühne und versuchten, ihn wiederzubeleben. Dann fiel abrupt der grüne Vorhang.

Es ertönte keine Nationalhymne. Ein Raunen ging durch den obersten Rang. Ein Mann mit einer Feldmütze bekreuzigte sich und eilte hinaus, gefolgt von einer älteren Frau. Ich war zu fassungslos, um mich zu bewegen.

»Ist das wirklich passiert, Jenny?«, plapperte Philip. »Ist der Teufel gekommen und hat den Mann in die Hölle entführt?«

Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Welches Unheil hatte sich gerade ereignet? Ich würde diesen schrecklichen Anblick nie wieder loswerden.

»Ich glaube, es war ein Unfall«, sagte Dorcas unsicher. »Ich glaube, der Schauspieler ist gerade … gestorben.«

Aber was für eine grauenvolle Art zu sterben. Eugene Grieves hatte so verängstigt gewirkt …

Schließlich wurde ein nervös wirkender Herr auf die Bühne gedrängt. Vermutlich war es der Theaterdirektor. Er stammelte eine Bitte um Entschuldigung. Mr. Grieves sei »unpässlich«. Wen glaubte er zum Narren halten zu können?

»Ich möchte Sie bitten, das Theater so schnell wie möglich zu verlassen, damit wir uns um dieses … unglückliche Ereignis kümmern können.«

Jemand aus dem hinteren Teil des Saals forderte eine Rückerstattung. Der Theaterdirektor reagierte nicht, sondern verschwand hinter den Vorhang.

Hinter der Bühne musste Chaos herrschen. Hatte Eugene Grieves jemanden, der ihn ankleidete, wie ich Lilith ankleiden würde? Hatte jemand das Haar des Schauspielers frisiert und ihm diese Gewänder angezogen, bevor sie in Blut getränkt wurden? Als ich es mir vor Augen führte, hätte ich am liebsten geweint.

Ich dachte, ich würde mich an der Abendluft besser fühlen, aber es half nicht. Covent Garden war lebendig wie eh und je, und jeder Gegenstand erinnerte an diese höllische Szene: der Gestank von Zigarren, die von den Rädern fliegenden Funken einer Karre, die über das Kopfsteinpflaster rollte.

Philip war aschfahl. »Ich will nicht mehr, dass du am Theater arbeitest, Jenny. Ich dachte, es wäre ein magischer Ort, aber das ist es nicht. Es ist … verrucht.«

Wenn ich ehrlich war, empfand ich dasselbe. Die Aussicht auf meine neue Stelle war so sauer geworden wie ein Eimer Milch an der Sonne. Aber es war Arbeit. Arbeit, die wir dringend brauchten. Ich versuchte, Philips Worte abzuschütteln und klar zu denken. »Nur dieses eine Stück. Nicht alle sind so schrecklich.«

Dann fiel mir wieder ein, dass es auch in Macbeth reichlich Blut gab.

Der Stand mit den gerösteten Kastanien verströmte karmesinrotes Licht und verwandelte die Kunden in Dämonen.

»Erzählt Bertie kein Wort«, befahl Dorcas. »Sonst hat er wochenlang Albträume.«

Die würde ich wohl auch haben.

3

Ich wollte Mrs. Dyer nicht erzählen, was ich gesehen hatte, nicht wenn sie den verstorbenen Schauspieler so sehr liebte. Obwohl verstorben für ein solches Ende ein armseliges Wort war. Die Art, wie er aufschrie, die Spuren scharlachroten Bluts, das seine Wangen hinunterlief … Ich wünschte, ich könnte es vergessen.

Aber als ich zu meiner nächsten Unterrichtsstunde bei Mrs. Dyer erschien, befürchtete ich, dass ihr etwas noch Schlimmeres zugestoßen war. Alle Fensterläden waren geschlossen. Stroh bedeckte draußen das Kopfsteinpflaster und ein schwarzes Band dämpfte den Türklopfer. Ihr Mann sollte in Kürze aus Southend zurückkehren. Er war doch nicht etwa gestorben? Was würde das für mich, für das Theater bedeuten?

Aufgeregt klopfte ich an die Hintertür, aber sie wurde schnell geöffnet. »Empfängt Mrs. Dyer ...?«, begann ich. Bevor ich zu Ende sprechen konnte, winkte mich James, der Diener, herein. Er sprach nicht, als er mich auf dem bekannten Weg in den Salon begleitete. Mrs. Dyer saß auf ihrem Kanapee und war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Mir wurde schwer ums Herz. »O Madam! Es tut mir leid … Mir war es nicht bewusst. Haben Sie einen Verwandten verloren?«

Sie schenkte mir ein blasses Lächeln. »Es fühlt sich so an, als hätte ich das.«

»Ich komme an einem anderen Tag …«

»Nein, bleib.« Mit einem Wink entließ sie James und forderte mich auf, mich neben sie auf das Kanapee zu setzen. »Bitte sag mir, dass du ihn gesehen hast. Sag, dass du den hellsten Stern am Firmament erblickt hast, bevor er erloschen ist.«

Ich zögerte. Sie war eine Dame des Theaters – sie neigte zur Theatralik, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was in aller Welt sie damit meinte. »Gesehen …?«

»Eugene Grieves gesehen, natürlich. Um wen sonst sollte ich trauern?«

Ihr Kleid war aus feinstem Bombasin gefertigt. An ihrem Schlüsselbein trug sie eine Brosche aus Gagat. An der Hutkrempe war ein netzartiger Schleier befestigt, den sie herunterziehen konnte, um ihre Tränen zu verbergen. War das alles wirklich für einen Schauspieler?

»Ich … Ja, ich habe ihn gesehen, Mrs. Dyer. Ich hatte nicht gewusst, dass er ein Freund von Ihnen ist.«

Sie schüttelte den Kopf. Der Schleier flatterte. »Ich habe nur ein paarmal mit Eugene Grieves gesprochen, und dennoch verkörperte er für mich …« Sie begann noch einmal. »Du bist jung, Jennifer. Kaum älter als 20, glaube ich.«

»Ich bin im Sommer 22 geworden, Madam.«

Die Zahl schien ihr Schmerzen zu bereiten. »Dann fällt es dir vielleicht schwer, meinen Kummer zu verstehen. Ich trauere ebenso um eine Epoche wie um eine Person. Sein Tod ist wirklich das Ende einer Ära.«

Ich bemühte mich, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten. Natürlich war es ihr wichtig, und ich sollte mitfühlend sein, aber ich musste immer wieder an die Tage nach Mutters Tod denken. Ich hatte keine Zeit gehabt, in einem Trauerkostüm wie diesem herumzusitzen; wir versuchten, das Baby Bertie am Leben zu erhalten und das Geld für eine Beerdigung zusammenzukratzen.

Mrs. Dyer bemerkte mein Unbehagen nicht. »Das erste Mal, als ich Eugene Grieves auftreten sah … Nun ja.« Ihre Augen leuchteten bei der Erinnerung auf. »Ich war jünger als du jetzt. Allerdings war ich keine so brave und pflichtbewusste Tochter, fürchte ich. Meine Eltern … Um ehrlich zu sein, meine Eltern langweilten mich zu Tode. Ihre Welt war so respektabel und geordnet. Ich wurde jeden Tag von Ennui heimgesucht. Doch als ich Eugene Grieves spielen sah … hielt ich es für ein Wunder. Ich schien aus einem langen und schrecklichen Schlaf zu erwachen. Ich konnte mich nicht sattsehen. Der Theaterbesuch war die einzige Tätigkeit, bei der ich mich lebendig fühlte.«

Ich konnte mir so eine Kindheit nicht vorstellen: reich genug zu sein, um der eigenen Sicherheit überdrüssig zu werden. Aber wenn man hineingeboren wurde, bemerkte man sein Glück vermutlich gar nicht.

»Ich gab ein Vermögen für Theaterkarten aus. Ich fürchte, ich entwickelte mich zu einer Art Plage. Aber du hast jetzt in seiner Gegenwart dort gesessen. Du verstehst, was für ein Magnet er war. Allerdings war er als junger Mann noch beherzter.«

Ich sollte jetzt unbedingt etwas sagen. »Er sah aber auch gut aus«, wagte ich zu bemerken.

Sie tupfte sich mit einem Taschentuch über die Augen und lächelte liebevoll. »O Gott, ja. Natürlich kein Wort davon zu Mr. Dyer. Du kannst dir vorstellen, wie stark mich dieser Schauspieler als junges Mädchen berührt hat.«

Das erklärte aber immer noch nicht die offenkundige Trauer. Ich fragte mich, was ihr Mann sagen würde, wenn er zu Hause wäre. »Aber … geht alles weiter, trotz dieser Tragödie? Das Mercury wird öffnen, und Mr. Dyer kommt bald zurück?«

»Ja, sehr bald. Und er bringt die gefürchtete Lady Macbeth mit.« Sie streckte die Hand aus, berührte das kleine Zinnkreuz, das ich um den Hals trug, und nickte ernst. »Ich bin froh, dass du das hast. Du wirst Schutz vor Liliths List brauchen.«

Als ob Lilith Erikson ein Vampir wäre, den man abwehren musste! Wagte ich zu lachen? Hätte ich das tun sollen? Sie war heute Morgen so seltsam.

Um eine Antwort verlegen betrachtete ich indessen ihren Schmuck. Die Brosche an ihrem Hals zeigte eine weibliche Figur, die sich in Weiß von dem schwarzen Hintergrund abhob.

Meinem Blick folgend nahm sie die Brosche ab. »Ah, hier ist eine weitere Lektion in Sachen Theater für dich, Jennifer. Was glaubst du, wer das ist?«

Ich dachte, es müsste eine Göttin sein. Sie trug eine Toga, Sandalen an den Füßen und Lorbeer im Haar. In der einen Hand hielt sie eine Keule, in der anderen eine klaffende Maske.

»Ich kenne sie«, wurde mir klar. »Ich sah ein Bildnis dieser Dame an der Decke von Eugene Grieves’ Schauspielhaus.«

»O ja, das hast du. Vielleicht erkennst du auch die Maske in ihrer Hand? Vielleicht sahst du sie über der Bühne neben einer lächelnden Lady. Das ist Melpomene, die Muse tragischer Dichtkunst. Ich habe immer gesagt, dass sie Eugene Grieves einen Besuch abgestattet und ihn inspiriert haben muss. Er ist der tragische Schauspieler seit … nun, seit über zwei Jahrzehnten. Ich wüsste nicht, wer ihn jemals ersetzen sollte.«

Ich fuhr mit dem Daumen über die Brosche. Melpomene schaute ernst, zeitlos in ihrer Trauer.

»Mr. Grieves besaß eine Taschenuhr«, fuhr sie fort, »auf deren Vorderseite Melpomene eingraviert war. Ich habe diese Brosche in Anlehnung daran anfertigen lassen.«

Eine Erinnerung blitzte auf. Ich sah ihn, wie er die Uhr umklammerte und seine Augen vor Schreck weit aufriss. »Es ist so traurig, Madam. Aber vielleicht hat es auch etwas Gutes. Es könnte sich für Ihr Theater lohnen. Das Mercury ist auf Tragödien spezialisiert, nicht wahr?«

»Nun, richtig.«

»Und versuchen wir nicht, Lilith Erikson als tragische Schauspielerin zu etablieren?«

Sie verzog den Mund. »Ja, ich denke, schon. Es ginge mir gegen den Strich, wenn eine solche Frau Eugene Grieves’ Krone übernehmen würde … Aber wie du sagst, es wäre fürs Mercury gut. Eine echte Chance. Es ist wichtiger denn je, dass du genau darauf achtest, was Lilith tut, und mir jede Woche einen Bericht über alles Verdächtige schickst.«

Ich gab die Brosche zurück. Ein wöchentlicher Bericht? Was genau erwartete sie, was diese Schauspielerin anstellen würde?

Es klopfte an der Tür, und die kleine Rachel, die der Gouvernante entkommen war, steckte den Kopf herein. »Darf ich die Vögelchen sehen, Mama?«

Die Wellensittiche zwitscherten, als sie ihre Stimme hörten. Mrs. Dyers Gesicht erhellte sich für einen Moment trotz der Trauer. »Natürlich, Liebling.«

Rachel trabte fröhlich kreischend herein, wobei sich ihre kurzen Röcke bauschten. Sie war ein süßes flachsblondes Mädchen. Mrs. Dyer hatte nie Brüderchen oder Schwesterchen erwähnt. Ich hätte erwartet, dass eine Frau ihres Alters mehr Kinder hätte, aber vielleicht gab es einen medizinischen Grund dafür. Jetzt fiel mir auf, dass ich auf dem Kaminsims im Stadthaus nie Visitenkarten gesehen, nie Freunde beim Weggehen bemerkt hatte. Im Vergleich zu meiner Familie kam mir die hier klein und isoliert vor.

Mrs. Dyer stand auf und hob ihre Tochter hoch, damit sie den Käfig sehen konnte. Die Vögel zwitscherten und reckten die Köpfe. »Ich glaube, es gibt nicht mehr viel zu sagen, Jennifer. Du hast dich als eine fähige Schülerin erwiesen. Ich denke, du bist bereit, nächste Woche anzufangen. Ich werde die Kutsche schicken, um dich abzuholen.«

»Das ist nicht nötig, Madam«, begann ich.

Sie lächelte. »Nur an deinem ersten Tag. Geh direkt zum Kostümatelier und frage nach Mrs. Nettles. Sie wird dich erwarten.«

Es fühlte sich plötzlich sehr verbindlich an. Von nun an wären das Stück und Lilith Erikson selbst real, keine vagen Vorstellungen mehr in meinem Kopf. »Ich danke Ihnen.«

»Behalte deine Beobachtungen für dich und warte auf meine Nachricht. Ich werde dir etwas Zeit geben, damit du dich in deiner neuen Stellung einarbeiten kannst. Wir kommen wieder zusammen … Sagen wir, gegen Ende der Woche?«

Ich nickte. »Ja, Mrs. Dyer.«

»Möge Gott über dich wachen, Jennifer Wilcox.«

Ich packte meine Sachen zusammen und versuchte, nicht ungläubig den Kopf zu schütteln. War sie schon immer so melodramatisch gewesen? Vielleicht war ich durch den Glanz ihres Geldes zu sehr abgelenkt, um zu erkennen, dass Mrs. Dyer eine Frau war, die in der Fantasie lebte. Zweifellos waren ihre Ängste auf ähnliche Weise übertrieben. Lilith Erikson konnte nicht so schlimm sein, dass ich einen Segen und ein Kreuz brauchte, um mich zu schützen.

Aber in meiner Erinnerung tauchte immer wieder jener Abend im Helicon auf. Philips Gesicht rot vom Schein der kastanienfarbenen Sitze. Er nannte das Theater verrucht.

Das Theater hatte Greg korrumpiert. Mich konnte es doch sicherlich nicht verändern.

Doktor Faustus und Mrs. Dyers Marotten hatten meiner Begeisterung einen Dämpfer verpasst. Mir graute plötzlich, als ich die Kutsche draußen auf der Straße halten sah, die mich zum ersten Mal ins Mercury Theatre bringen sollte. Aber nichts war so schlimm wie die Aussicht, die Miete nicht bezahlen zu können, und so hielt ich mir eine strenge Standpauke, während ich Handschuhe anzog und die Haube aufsetzte.

Bertie saß am Tisch und klebte Streichholzschachteln zusammen. Das brachte zwar nicht viel ein, aber immerhin etwas. Die Hutfabrik, in der Philip arbeitete, hatte es abgelehnt, Bertie einzustellen, weil er einen kranken Fuß hatte. »Ich wünschte, du müsstest nicht hingehen«, seufzte er. »Ich habe mich so daran gewöhnt, dich wieder hier zu haben.«

»Ich werde nicht lange fort sein. Es dauert noch, bis das Stück Premiere hat. Ich bin vor dem Abendessen zurück, versprochen.«

Er sah mich mit seinen haselnussbraunen Augen an, wie die von Greg. »Ehrenwort?«

»Ich komme zurück, Bertie. Ich werde immer zurückkommen.« Ich konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, mir zu glauben und darauf zu vertrauen, dass ich nicht genauso verschwinden würde. Es traf mich tief. »Ich hab dich lieb. Und ich werde damit unser Glück machen. Du wirst schon sehen.«

Mrs. Dyers Gefährt war eine kleine Kutsche mit polierten Türen und glänzenden Speichen, die von einem einzigen Rappen gezogen wurde. Es war ein großes Kompliment, persönlich hingebracht zu werden. Derselbe Diener, den ich am Haus gesehen hatte, sprang herunter, um die Kutschentür zu öffnen, und gab den Blick auf weinrote Polster frei. Unbeholfen kletterte ich hinein. Die Tür schloss sich hinter mir und eine Peitsche knallte. Wir setzten uns in Bewegung.

Es kam nicht oft vor, dass ich eine Fahrt in der Stille unternahm. Ich war an das Gedränge im Omnibus gewöhnt oder bei den seltenen Gelegenheiten, wenn wir in Eile waren, an eine Droschke, die ich mit Dorcas teilte. Was würden die Bediensteten von Mrs. Fielding sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnten?

Der Verkehr verlangsamte sich, als wir den eleganten Teil der Stadt erreichten. Ich schaute hinaus und hatte Zeit, die an den Wänden angebrachten Plakate zu lesen. Da war eins für Macbeth. Es zu sehen fühlte sich seltsam an, als würde ich in der Spiegelung eines Schaufensters unerwartet mein eigenes Gesicht erkennen. Zum ersten Mal war ich im Begriff, Teil von etwas zu sein, das größer als ich selbst war.

Langsam näherten wir uns dem Mercury Theatre. Natürlich hatte ich das Gebäude, eine auffällige Mischung aus rotem Backstein und Terrakottafliesen, schon gesehen, aber ich hatte nie auf Details geachtet. Zuoberst war ein Giebel mit einer Statue des römischen Gottes Merkur. Mrs. Dyer sagte, er sei ein geeigneter Schirmherr für ein tragisches Theater, weil er die Seelen in die Unterwelt geleitete. Unter ihm schimmerten drei bogenförmige Fenster, die jeweils durch eine Säule getrennt waren. Darunter befand sich ein Balkon, und weiter unten gab es drei quadratische, mit Toren versehene Eingänge: einen für Abonnenten, einen für Besucher des obersten Ranges und des Parketts und einen, der zur Kasse führte.

Die Kutsche fuhr herum zur Rückseite neben einen Hof, der weit weniger beeindruckend war. Vogelkot und Flechten trübten das Mauerwerk, und die Geländer waren vom Rost zerfressen. Hier musste der Zauber des Theaters wohl erloschen sein: Abgenutzte Leinwandballen, ausfransende Seilrollen und abgewetzte Kulissen hatten sich aus früheren Aufführungen angesammelt.

Ich stieg aus und bedankte mich beim Fahrer. Er reagierte nicht. Ein halbes Dutzend Männer in Cordhosen und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln tummelten sich auf dem Hof. Er schien an eine Schreinerei zu grenzen. Vielleicht sollte ich einen von ihnen fragen, wie man ins Theater gelangt, aber sie schienen es kaum zu bemerken, als ich mich über das Kopfsteinpflaster schlich, so sehr waren sie auf die Arbeit fixiert.

Dann sah ich ein Gesicht, das ich kannte. Eine mädchenhafte Schwärmerei, die ich längst erloschen glaubte, flammte in mir wieder auf. »Oscar?«

Er war älter und sah noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, obwohl der Pinsel hinter seinem Ohr und der gelbe Fleck auf der Wange das wieder zunichtemachten. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, wer ich war. »Miss Wilcox. Was machen Sie denn hier?«

Der junge Mann, den ich gekannt hatte, lächelte stets, schritt flott daher und pfiff eingängige Melodien. Jetzt sah er aus, als würde ihm bei meinem Anblick übel.

Ich zauderte. »Ich arbeite hier. Mrs. Dyer hat mir eine Stelle gegeben.«

»Ich dachte, Sie wären ein Dienstmädchen. Wozu hat sie Sie denn eingestellt, zum Putzen der Sperrsitze?«

Ein anderer der Männer schaute über die Schulter und flüsterte seinem Freund etwas zu. Ich erblickte in der Werkstatt einen Schreiner, der mich angrinste. Bei all meinen Vorbereitungen auf die Arbeit war mir kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich mir den Zorn, der sich auf meinen Bruder richtete, zuziehen könnte. Vielleicht hatte Greg seine Maler-Freunde genauso schlecht behandelt wie uns. Mir fiel wieder ein, dass Mrs. Dyer gesagt hatte, ich würde Gregory ähnlich sehen, und ich wünschte mir nun, ich könnte diese Gesichtszüge wie Bühnenschminke abwaschen.

»Nein, das nicht«, sagte ich mit all der Würde, die ich aufbringen konnte. »Ich werde Garderobiere. Ich kleide die Hauptdarstellerin an.«

Eine Strähne des üppigen mahagonifarbenen Haars fiel Oscar über die Stirn. »Sie?«, sagte er ungläubig. »Sie werden Lilith Erikson ankleiden?«

»Ja. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich wollte fragen, wo ich Mrs. Nettles finden kann.«

Er blickte finster drein. Das passte nicht zu ihm. Ich wünschte mir wieder Gregs fröhlichen und munteren Freund zurück. Ein Mann wie er wäre von unschätzbarem Wert gewesen: jemand, der mir helfen könnte, mich im Theater zurechtzufinden und heimlich Informationen über Lilith Erikson zu bekommen. Stattdessen musste ich mich mit diesem mürrischen Gesicht herumschlagen. Was für einen Grund konnte er haben, so verdrießlich zu sein? Er hatte meine Frage immer noch nicht beantwortet.

»Vergessen Sie’s …«, seufzte ich, doch dann setzte er sich in Bewegung.

»Ich gehe sowieso wieder hoch zum Malergerüst«, gab er zu. »Die Garderobe ist gleich nebenan. Sie können mir genauso gut folgen.«

»Danke.«

Die anderen Männer schauten uns hinterher. Einer fing an zu kichern, und ich warf ihm einen eisigen Blick zu.

Oscar führte mich an der Werkstatt vorbei zu einer anderen Tür, die in den Angeln quietschte und uns in einen dunklen, muffig riechenden Gang hineinließ.

Es gab keine Verzierungen, nur zweckmäßig gekalkte Wände und Holzverkleidungen. Wir nahmen einen Weg nach rechts, der mit Leitern, Kisten und Sandsäcken verstopft war. Irgendwo in der Ferne klopfte ein Hammer.

»Ich habe Sie viele Jahre nicht mehr gesehen«, versuchte ich es. »Fast hätte ich Sie nicht erkannt.«

Er sah sich nicht um, sondern verlängerte nur seine Schritte.

Wäre es irgendjemand anderes gewesen, hätte ich es gelassen hingenommen und ihn wohl als armseligen Fiesling abgetan, doch durch die Erinnerung an den jungen Mann, den ich zuvor gekannt hatte, traf mich seine Ablehnung schmerzlich. Wir hatten uns nicht näher gekannt, er war immer Gregs Freund gewesen, jemand, den ich nur flüchtig gesehen hatte, aber der Eindruck, den er hinterließ, hatte mich mehr als einmal in meinem schmalen Mädchenbett von ihm träumen lassen.

Oscar wandte sich nach links und stieg dann eine Leiter hinauf. Ich krempelte meine Röcke hoch und kletterte hinter ihm her, wobei die Sprossen knarrten.

Wir kamen im Schnürboden heraus. Es war wie in der Takelage eines Schiffes. Seile und Laufstege verliefen in alle Richtungen, schwindelerregend hoch über der Bühne.

»Ich dachte, das Kostümatelier wäre unten«, keuchte ich.

»Ist es nicht«, sagte er freiheraus. »Aber Sie werden sich an die Höhe gewöhnen. Versuchen Sie, nicht nach unten zu schauen. Wir gehen dorthin über die Brücke, sehen Sie?«

Eine lange, breite Rampe erstreckte sich von der rechten zur linken Seite der Bühne. Bemalte Stoffplanen schirmten sie vor den Blicken des Publikums ab. Es bestand keine wirkliche Gefahr hinunterzufallen, aber ich setzte jeden Schritt mit Vorsicht auf. Ich hatte einen Mann auf der Bühne sterben sehen. Ich hatte nicht vor, dort hinabzustürzen und es ihm gleichzutun.

»Ich sagte Ihnen doch, Sie sollen nicht nach unten schauen.« Wenigstens redete er jetzt mit mir.

Die Maschinerie um uns herum war riesig und komplex. Wir kamen an Kabeln, Ketten, Gebinden und Gegengewichten vorbei, die alle einem geheimnisvollen Zweck dienten. Oscar strich mit der Hand über die Windmaschine, als wir vorbeigingen.

»Welch ein Tier hieß dich von deinem Vorsatz mit mir reden? Als du es wagtest, da warst du ein Mann.«

Oscar blieb stehen und legte den Kopf schief. »Das ist sie«, sagte er. »Ihre Stimme ist die stärkste. Es ist die einzige, die bis zum Malergerüst trägt. Hören Sie zu.«

Die Schauspielerin setzte ihre Rede unten auf der Bühne fort. Sie hatte eine warme, volle Stimme mit etwas leicht Rauem. Sie erinnerte mich an eine Katze. »Ist das Lilith Erikson?«

Er nickte.

Ich spähte über den Rand der Brücke hinunter. Alles, was ich sehen konnte, war der Scheitel von Liliths Kopf, blauschwarz wie das Gefieder einer Krähe.

»Wie ist sie so?«, fragte ich Oscar.

»Wie? Sie ist vielversprechend. Der Chef hatte recht, sie zu fördern, sie hat Talent. Es muss ihr nur entlockt werden.«

»Nein, aber … abseits der Bühne. Wie ist sie als Mensch?«

Er zuckte mit den Schultern. Etwas huschte über sein Gesicht, das ich nicht entziffern konnte. »Weiß nicht. Wir bewegen uns in … unterschiedlichen Kreisen.«

Nachdem wir die Brücke überquert hatten, kamen wir zu einer klapprigen Treppe mit Seilen als Geländer. Ich rümpfte die Nase über den Gestank von Farbe und Terpentin.

»Sie werden sich auch an die Dämpfe gewöhnen müssen«, erklärte mir Oscar. Er zog den Pinsel hinter seinem Ohr hervor und deutete auf eine Tür. »Sie arbeiten dort.«

»Danke, dass Sie es mir gezeigt haben.«

»Nun, ich wollte sowieso hierhin. Ich mache besser weiter.« Ich sah zu, wie er auf das Malergerüst kletterte. Die über die Rückwand gespannte Leinwand passte zu seinem Auftreten: eine verdorrte Heide in trüben Violett-, Blau- und Grüntönen.

Vor Doktor Faustus hatte ich das Theater immer für einen fröhlichen Ort gehalten. Jetzt war es voller Elend, Teufel und Tod. Aber es bezahlte die Rechnungen. Das sollte ich mir immer vor Augen führen.

Es kam keine Antwort, als ich an die Garderobe klopfte. Als ich die Tür öffnete, schlug mir eine Hitzewelle entgegen. Dampf bewegte sich durch die Luft wie ein unruhiger Geist. Eine Frau bügelte mit einem Eisen die Falten aus einem langen schwarzen Mantel, der wie vor Schmerz zischte.

An drei Seiten war sie von Ständern mit Kostümen gesäumt, wie ich sie in der Vielfalt an Farben und Stoffen noch nie gesehen hatte: einige mit Pailletten besetzt, andere mit Perlen, wieder andere von goldenen Fäden durchzogen. Ein Regal mit leeren, gesichtslosen Köpfen trug Perücken und Hüte.

Ein langer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Daran saß ein hübsches dunkelhaariges Mädchen. Trotz der Nähmaschinen neben ihr nähte sie von Hand – und das wohl öfter, wie man an den Bandagen um ihr Handgelenk ablesen konnte.

Ich räusperte mich. »Guten Tag!« Ihre Hände bewegten sich weiter. »Jenny Wilcox.« Irgendwie klang mein eigener Name wie eine Frage.