Die Frankfurter Schule - Rolf Wiggershaus - E-Book

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Rolf Wiggershaus

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Beschreibung

Der Philosophiehistoriker Wiggershaus hat mit diesem Buch das Standardwerk zur Kritischen Theorie vorgelegt. Er stellt vom Anfang des »Instituts für Sozialforschung« bis zum Tod Adornos 1969 alle wesentlichen Publikationen in ihrer philosophischen und gesellschaftstheoretischen Programmatik vor und schildert deren Einbindung in die jeweiligen Entwicklungsstadien der Institutsgeschichte. Dabei entsteht eine Darstellung der philosophischen Theorien der führenden Köpfe Horkheimer, Adorno, Fromm, Pollock, Löwenthal, Marcuse und Benjamin und der vielen Gesprächspartner von außerhalb. »Wer in Zukunft über Die Frankfurter Schule arbeiten und schreiben will, kommt an diesem Buch nicht mehr vorbei.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Rolf Wiggershaus

Die Frankfurter Schule

Geschichte Theoretische Entwicklung Politische Bedeutung

FISCHER E-Books

Inhalt

Einleitung1. Kapitel In der DämmerungDer Millionärssohn Felix Weil gründet ein Institut für Marxismus in der Hoffnung, es eines Tages einem siegreichen deutschen Rätestaat übergeben zu könnenDer Kathedermarxist Carl Grünberg etabliert ein Institut für Forschungen über die Geschichte des Sozialismus und der ArbeiterbewegungDer Philosoph Max Horkheimer übernimmt die Leitung des Instituts. Das neue Programm: Überwindung der Krise des Marxismus vermittels der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen SozialwissenschaftenHorkheimer und seine Mitarbeiter – ein Biographien-PanoramaMax HorkheimerErich FrommFriedrich PollockLeo LöwenthalTheodor Wiesengrund-AdornoHerbert MarcusePolitik – Wissenschaftspolitik – wissenschaftliche Arbeit2. Kapitel Auf der Flucht3. Kapitel In der Neuen Welt I: Fast ein empirisch forschendes Institut einzelwissenschaftlich qualifizierter marxistischer GesellschaftstheoretikerStudien über Autorität und Familie – Fragment eines kollektiven work in progressWiederaufnahme der Zusammenarbeit von Horkheimer und AdornoDie weiteren empirischen Forschungen des Instituts in den 30er JahrenDas Dialektik-ProjektWalter Benjamin, das Passagenwerk, das Institut und AdornoDie Ideologiekritiker Herbert Marcuse und Leo Löwenthal über KunstFranz Neumann und Otto Kirchheimer – ungenutzte Chancen zu intensiverer interdisziplinärer ForschungsarbeitAdorno, Lazarsfeld und das Princeton Radio Research ProjectBalanceakte und Unentschiedenheit4. Kapitel In der Neuen Welt II: Produktiver Zerfall»Nach den Satzungen der Stiftung ist ein Institutsbetrieb durchaus nicht notwendig«Trennung von Erich FrommProjekteAuseinandersetzungen über die Theorie des NationalsozialismusWeiter auf dem Weg zur Privatgelehrten-branch in Los Angeles und zum Rumpf-Institut in New York – Trennung von Neumann und MarcuseArbeit am Dialektik-ProjektDialektik der Aufklärung. Philosophische FragmenteHorkheimers »Dialektik der Aufklärung«: Eclipse of ReasonDas Antisemitismus-Projekt5. Kapitel Langsame RückkehrEhrgeiz beim Antisemitismus-Projekt – Sehnsucht nach philosophischer Arbeit – Ohne Lust zur Theoretiker-Gemeinschaft – Besuche in der KolonieStudies in Prejudice6. Kapitel Kritische Zierde einer restaurativen GesellschaftMitmachen beim Wiederaufbau – Untersuchung des politischen Bewußtseins der WestdeutschenHorkheimer – im Nu etabliertAdornos Vision einer kritischen empirischen Sozialforschung – Krise des Instituts – Marcuses TraumStabilisierung des Instituts und erste Publikationen seit der Rückkehr: Sociologica, GruppenexperimentAbschied von der einstigen Unabhängigkeit: die Betriebsklima-Untersuchung in Werken der Mannesmann A. G. – Rückzug auch Adornos aus der empirischen ForschungMarcuses »Dialektik der Aufklärung«: Eros and Civilization7. Kapitel Kritische Theorie im HandgemengeAdorno als interdisziplinärer Einzelarbeiter – Für eine musique informelle und ihre Entsprechungen in anderen BereichenNoten zur LiteraturFür eine Philosophie ohne Angst vor BodenlosigkeitJürgen Habermas – endlich ein Gesellschaftstheoretiker am Institut, von Adorno hochgeschätzt, von Horkheimer für zu links befundenPositivismusstreitKonservatismusstreitKritik an Heidegger8. Kapitel Kritische Theorie in einer Zeit des AufbruchsAdornos Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung: Negative DialektikKritische Theoretiker und StudentenbewegungHabermas auf dem Weg zu einer Kommunikationstheorie der Gesellschaft – Adornos Vermächtnis: Ästhetische Theorie als Basis einer Philosophie im Zeichen des GlücksversprechensNachwortDankAnhangAbkürzungenI. ArchivalienSelbstdarstellungen des Instituts für Sozialforschung in Broschüren, Memoranden, Berichten, Briefen (eine Auswahl vor allem längerer bzw. wichtiger Texte)Akten zum Institut für Sozialforschung im Archiv des Kanzleramtes der Universität Frankfurt/M.(siehe meine Bemerkung dazu in der Danksagung)Akten zum Institut für Sozialforschung im Stadtarchiv Frankfurt/M.Akten im Archiv der ehemaligen Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt/M.Wichtige Briefwechsel und einzelne wichtige BriefeForschungsberichte des Instituts für SozialforschungWeitere im Buch erwähnte oder wichtige benutzte ArchivalienII. Publikationen des Instituts und seiner wichtigsten Mitarbeiter bzw. der wichtigsten Vertreter der Frankfurter SchulePublikationen des Instituts für SozialforschungTheodor W. AdornoWalter BenjaminErich FrommKurt Albert GerlachHenryk GrossmannCarl GrünbergJürgen HabermasMax HorkheimerOtto KirchheimerLeo LöwenthalHerbert MarcuseFranz NeumannFriedrich PollockFelix WeilKarl August WittfogelWeitere im Text erwähnte oder im behandelten Zeitraum erschienene Buchpublikationen aus dem Kreis der Frankfurter SchuleIII. Sekundärliteratur(eine kleine Auswahl, vorwiegend von Buchpublikationen)IV. Literatur zum Kontext und zum Kontext gehörende LiteraturPersonenregister

Einleitung

»Frankfurter Schule« und »Kritische Theorie« – das löst, wenn es mehr wachruft als den Gedanken an ein sozialwissenschaftliches Paradigma, die Vorstellung einer Reihe von Namen aus, allen voran Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas – und Assoziationen auf der Linie: Studentenbewegung, Positivismusstreit, Kulturkritik – und vielleicht auch: Emigration, Drittes Reich, Juden, Weimar, Marxismus, Psychoanalyse. Es geht, wird sogleich deutlich, um mehr als bloß eine theoretische Richtung, um mehr als ein Stück Wissenschaftsgeschichte.

Inzwischen ist es üblich geworden, von einer ersten und einer zweiten Generation kritischer Theoretiker zu sprechen (siehe z.B. Habermas, Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule; van Reijen, Philosophie als Kritik) und die ältere Frankfurter Schule von dem zu unterscheiden, was danach kam, also seit den 70er Jahren. Das enthebt vorläufig der Frage nach dem Weiterleben der Frankfurter Schule und nach Kontinuität und Diskontinuität und erleichtert es, der Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule eine zeitliche Grenze zu setzen, die nicht allzu willkürlich ist: der Tod Adornos und damit des letzten in Frankfurt und am Institut für Sozialforschung wirkenden Vertreters der älteren kritischen Theorie.

Der Ausdruck »Frankfurter Schule« ist ein in den 60er Jahren von außen angeheftetes Etikett, das Adorno zuletzt selber mit unverkennbarem Stolz gebrauchte. Gemeint war damit zunächst eine kritische Soziologie, die in der Gesellschaft eine antagonistische Totalität sah und Hegel und Marx nicht aus ihrem Denken verbannt hatte, sondern sich als deren Erben begriff. Längst ist dieses Etikett zu einem umfassenderen und vagen Begriff geworden. Der Ruhm Herbert Marcuses als – wie damals die Medien meinten – Idol der rebellierenden Studenten neben Marx, Mao Zedong und Ho Chi Minh ließ die Frankfurter Schule zum Mythos werden. Der US-amerikanische Historiker Martin Jay hat in den frühen 70er Jahren diesen Mythos auf den Boden geschichtlicher Tatsachen heruntergeholt und deutlich gemacht, was für eine vielgestaltige Realität sich hinter dem Etikett Frankfurter Schule verbirgt, das längst zu einem Bestandteil der Wirkungsgeschichte des damit Bezeichneten geworden ist und unverzichtbar geworden ist, unabhängig davon, wie weit man im strengen Sinn von einem Schulzusammenhang sprechen kann.

Allerdings waren wesentliche Merkmale einer Schule teils zeitweise, teils ständig oder wiederkehrend vorhanden: ein institutioneller Rahmen (das Institut für Sozialforschung, das, wenn auch zeitweise bloß rudimentär, durchgängig existierte); eine intellektuelle charismatische Persönlichkeit, die von dem Glauben an ein neues theoretisches Programm erfüllt und zur Zusammenarbeit mit qualifizierten Wissenschaftlern bereit und fähig war (Max Horkheimer als »managerial scholar«, der seinen Mitarbeitern immer wieder vor Augen hielt, sie gehörten zu den wenigen, in deren Händen die Weiterentwicklung »der Theorie« liege); ein Manifest (Horkheimers Antrittsrede von 1931 über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, auf die in den späteren Selbstdarstellungen des Instituts immer wieder zurückgegriffen wurde und auf die Horkheimer sich auch bei der Feier zur Wiedereröffnung des Instituts in Frankfurt im Jahre 1951 wieder berief); ein neues Paradigma (die »materialistische« bzw. »kritische« Theorie des gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesses, die im Zeichen der Kombination von Philosophie und Sozialwissenschaften systematisch die Psychoanalyse und gewisse Denkmotive Vernunft- und metaphysikkritischer Denker wie Schopenhauer, Nietzsche und Klages in den historischen Materialismus integrierte; und das Etikett »kritische Theorie« wurde dann einigermaßen durchgängig beibehalten, obwohl die sich seiner Bedienenden Unterschiedliches darunter verstanden und auch Horkheimer seine ursprünglich damit verbundenen Vorstellungen änderte); eine Zeitschrift und andere Medien für die Veröffentlichung der Forschungsarbeiten der Schule (die als Organ des Instituts fungierende Zeitschrift für Sozialforschung und die Schriften des Instituts für Sozialforschung, erschienen in renommierten wissenschaftlichen Verlagen: zunächst Hirschfeld in Leipzig, später Felix Alcan in Paris).

Aber die meisten dieser Merkmale trafen nur für das erste Jahrzehnt der Horkheimer-Ära des Instituts zu, also für die 30er Jahre und besonders für die New Yorker Zeit. In dieser Zeit arbeitete jedoch das Institut andererseits in einer Art splendid Isolation gegenüber seiner US-amerikanischen Umgebung. Nach Deutschland kehrten 1949/50 nur Horkheimer, Pollock und Adorno zurück. Von diesen dreien war lediglich Adorno weiterhin theoretisch produktiv, und bloß von ihm erschienen Bücher mit neuen wie alten Arbeiten. Eine Zeitschrift gab es nicht mehr, nur eine Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie, der aber das unverkennbare Profil der einstigen Zeitschrift fehlte und in der von Adorno und Horkheimer selber nur einmal, Anfang der 60er Jahre, eine Sammlung von Vorträgen und Reden erschien. »Für mich gab es keine zusammenhängende Lehre. Adorno schrieb kulturkritische Essays und machte im übrigen Hegel-Seminare. Er vergegenwärtigte einen bestimmten marxistischen Hintergrund – das war es.« (»Dialektik der Rationalisierung«, Jürgen Habermas im Gespräch mit Axel Honneth, Eberhardt Knödler-Bunte und Arno Widmann, in: Ästhetik und Kommunikation45/46, Oktober 1981, 128) So im Rückblick Jürgen Habermas, der in der zweiten Hälfte der 50er Jahre Mitarbeiter Adornos und des Instituts für Sozialforschung war. Als in den 60er Jahren tatsächlich das Image einer Schule aufkam, vermischte sich darin die Vorstellung einer in Frankfurt vertretenen Konzeption kritischer Soziologie, deren Exponenten Adorno und Habermas waren, mit der Vorstellung einer radikal gesellschaftskritischen, freudomarxistischen frühen Phase des Instituts unter Horkheimers Leitung.

Bereits diese schon von den äußeren Umständen her höchst ungleichartige Geschichte läßt es ratsam erscheinen, den Ausdruck Frankfurter Schule nicht allzu streng zu nehmen. Dafür sprechen noch zwei weitere Dinge. Zum einen die Tatsache, daß gerade die »charismatische Figur«, Horkheimer, eine zunehmend weniger entschiedene und weniger zur Schulbildung geeignete Position vertrat. Zum anderen der damit eng zusammenhängende folgende Umstand. Betrachtet man die vier Jahrzehnte der älteren Frankfurter Schule in ihrer Gesamtheit, dann zeigt sich: es gab kein einheitliches Paradigma, auch keinen Paradigmawandel, dem sich alles zuordnen ließ, was dazugehört, wenn man von Frankfurter Schule spricht. Die beiden Hauptfiguren, Horkheimer und Adorno, arbeiteten von zwei deutlich unterschiedenen Positionen aus an gemeinsamen Themen. Der eine, angetreten als Inspirator einer fortschrittsfreudigen interdisziplinären Gesellschaftstheorie, resignierte zum Ankläger einer verwalteten Welt, in der die aus der Geschichte einer mißlungenen Zivilisation herausragende Insel des liberalistischen Kapitalismus außer Sicht zu geraten drohte. Für den anderen, angetreten als Kritiker des Immanenzdenkens und Fürsprecher einer befreiten Musik, wurde die Geschichtsphilosophie mißlungener Zivilisation zur Basis einer vielgestaltigen Theorie des Nichtidentischen bzw. der Formen, in denen auf paradoxe Art das Nichtidentische Berücksichtigung fand. Adorno vertrat ein mikrologisch-messianisches Denken, das ihn eng mit Walter Benjamin, der durch seine Vermittlung ebenfalls Mitarbeiter der Zeitschrift für Sozialforschung und schließlich des Instituts für Sozialforschung geworden war, und mit Siegfried Kracauer und auch noch Ernst Bloch verband. Die Vernunftkritik der gemeinsam mit Horkheimer in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs verfaßten Dialektik der Aufklärung ließ jenes Denken unbehelligt. Horkheimer aber, der sich in den Jahren vor der gemeinsamen Arbeit an diesem Werk von dem Sozialpsychologen Erich Fromm und von den Rechts- und Staatstheoretikern Franz Neumann und Otto Kirchheimer getrennt hatte und damit sein Programm einer interdisziplinären Theorie der Gesamtgesellschaft praktisch aufgegeben hatte, stand nach der Dialektik der Aufklärung mit leeren Händen da. Wie er als Soziologe den Blick zurück auf die selbständigen Unternehmer des liberalistischen Zeitalters richtete, so richtete er als Philosoph den Blick zurück auf die großen Philosophen einer objektiven Vernunft. Während Horkheimer in den 60er Jahren, in der Zeit der Studentenbewegung, zu seiner Bestürzung wegen der aggressiv marxistischen Töne seiner frühen Aufsätze zu Bedeutung gelangte und sich auf einmal in die Nähe von Marcuses offensiv gewordener Position der Großen Weigerung gerückt sah, verfaßte Adorno die beiden großen Zeugnisse seines mikrologisch-messianischen Denkens: die Negative Dialektik und die Ästhetische Theorie. Sie waren damals wenig zeitgemäß. Dagegen wurde der »marxistische« Benjamin entdeckt und zur Schlüsselfigur einer materialistischen Kunst- und Medientheorie. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Tod Adornos meinte einer der Bedeutendsten unter den Poststrukturalisten, Michel Foucault: »Wenn ich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben. Manchen Unsinn hätte ich nicht gesagt und viele Umwege nicht gemacht, als ich versuchte, mich nicht beirren zu lassen, während doch die Frankfurter Schule die Wege geöffnet hatte.« (Foucault/Raulet, Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? Ein Gespräch. In: Spuren1/1983, 24) Als »rationale Kritik der Rationalität« kennzeichnete er sein Programm. Mit fast den gleichen Worten hatte Adorno 1962 in einer Vorlesung über Philosophische Terminologie charakterisiert, worin er die Aufgabe der Philosophie sah: sie hatte »eine Art von rationalem Revisionsprozeß gegen die Rationalität« (Philosophische Terminologie, Bd. 1, 87) zu führen. So vielfältig also ist offensichtlich, was alles Frankfurter Schule heißt, daß stets irgend etwas davon aktuell ist, stets irgend etwas davon sich als unvollendetes, der Weiterführung harrendes Unternehmen erweist.

Was aber einte, wenn auch in den meisten Fällen nur zeitweise, diejenigen, die zur Frankfurter Schule gehörten? Gab es etwas alle Verbindendes? Die zur ersten Generation der Frankfurter Schule gehörten, waren alle Juden bzw. wurden durch den Nationalsozialismus in ihre Zugehörigkeit zum Judentum zurückgezwungen. Ob sie aus großbürgerlichen Familien kamen oder, wie Fromm und Löwenthal, aus nicht besonders begüterten – selbst im günstigsten Fall blieb ihnen auch nach 1918 und bereits vor 1933 nicht die Erfahrung erspart, mitten in der Gesellschaft Außenseiter zu bleiben. Die gemeinsame Grunderfahrung war: keine Anpassung reichte aus, um sich je der Zugehörigkeit zur Gesellschaft sicher sein zu können. »Er [der Jude, R. W.] tanzt«, heißt es in Sartres 1946 erschienenen Reflexions sur la question juive, »wie die anderen den Tanz der Ehrenhaftigkeit und Achtbarkeit, und überdies ist er ja niemandes Sklave, er ist freier Bürger eines Staates, der ihm freien Wettbewerb gewährt, keine gesellschaftliche Würde, kein Staatsamt ist ihm verwehrt, er bekommt die Ehrenlegion, wird großer Anwalt und Minister. Aber im gleichen Augenblick, da er den Gipfel der legalen Gesellschaft erklommen hat, enthüllt sich ihm blitzartig eine andere, amorphe, diffuse und allgegenwärtige Gesellschaft, die ihn zurückstößt. Er fühlt am eigenen Leib die Nichtigkeit der äußeren Würden und Glücksfälle, weil auch der größte Erfolg ihm nie den Zutritt zu jener Gesellschaft ermöglichen wird, die sich die wahre nennt. Als Minister wird er jüdischer Minister sein, Exzellenz und Paria zugleich.« (Sartre, Drei Essays, 149)

Auf ihre Art mußten Juden ein nicht weniger ausgeprägtes Gefühl für die Entfremdetheit und Inauthentizität des Lebens in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft haben wie die Proletarier. Waren auch Juden gegenüber Proletariern zu einem großen Teil privilegierter, so galt doch auch: selbst privilegierte Juden entrannen nicht ihrem Judesein. Privilegierte Arbeiter aber hörten spätestens in der zweiten Generation auf, Arbeiter zu sein. Jedoch war es für sie wiederum schwerer, zu Privilegiertheit zu gelangen. Die Erfahrung der Zähigkeit gesellschaftlicher Entfremdung, die Juden machten, schuf also eine gewisse Nähe zu der Erfahrung der Zähigkeit gesellschaftlicher Entfremdung, die Arbeiter in der Regel machten. Das brauchte nicht zur Solidarität mit den Arbeitern zu führen. Aber es führte jedenfalls häufig zu einer radikalen Kritik an der Gesellschaft, die den objektiven Interessen der Arbeiter entsprach.

Seit Horkheimers Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie (1937) wurde »kritische Theorie« zur hauptsächlichen Selbstetikettierung der Theoretiker des Horkheimerkreises. Das war zwar auch ein Tarnbegriff für marxistische Theorie, aber mehr noch ein Ausdruck dafür, daß Horkheimer und seine Mitarbeiter sich nicht mit der marxistischen Theorie in ihrer orthodoxen Form identifizierten, die auf die Kritik des Kapitalismus als eines ökonomischen Systems mit davon abhängigem Überbau und ideologischem Denken fixiert war – sondern mit dem Prinzipiellen der marxistischen Theorie. Dies Prinzipielle bestand in der konkreten Kritik entfremdeter und entfremdender gesellschaftlicher Verhältnisse. Die kritischen Theoretiker kamen weder vom Marxismus noch von der Arbeiterbewegung her. Sie wiederholten vielmehr in gewisser Weise Erfahrungen des jungen Marx. Für Erich Fromm und Herbert Marcuse wurde die Entdeckung des jungen Marx zur entscheidenden Bestätigung der Richtigkeit ihrer eigenen Bestrebungen. Für Marcuse war Sein und Zeit zum Anstoß geworden, zu Heidegger nach Freiburg zu gehen, weil dort, so meinte er, die Frage nach der eigentlichen menschlichen Existenz konkret angegangen wurde. Als er die Pariser Manuskripte des jungen Marx kennenlernte, wurde Marx für ihn erst richtig wichtig und nun auch wichtiger als Heidegger und Dilthey. Denn dieser Marx praktizierte in seinen Augen konkrete Philosophie und zeigte: Kapitalismus bedeutete nicht nur eine ökonomische oder politische Krise, sondern eine Katastrophe des menschlichen Wesens. Was not tat, war dementsprechend nicht bloß eine ökonomische oder politische Reform, sondern eine totale Revolution. Auch für Fromm, der in der frühen Phase dessen, was später Frankfurter Schule hieß, neben Horkheimer der wichtigste theoretische Kopf war, wurde der junge Marx zur Bestätigung dafür, daß es bei der Kritik der kapitalistischen Gesellschaft um die Besinnung auf das wahre Wesen des Menschen ging. Für Adorno z.B. war dagegen der junge Marx kein Schlüsselerlebnis. Aber auch er wollte mit seinem ersten großen Musik-Aufsatz, der 1932 unter dem Titel Über die gesellschaftliche Lage der Musik in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien, die Erfahrung demonstrieren, daß im Kapitalismus alle Wege versperrt seien, daß man überall gleichsam auf eine gläserne Mauer stoße, daß also die Menschen nicht zum eigentlichen Leben gelangten (s. Adorno-Kracauer, 12.1.33). Das Leben lebt nicht – diese Feststellung des jungen Lukács war das treibende Element auch der jungen kritischen Theoretiker. Der Marxismus wurde für sie in erster Linie, soweit er um diese Erfahrung zentriert war, inspirierend. Nur für Horkheimer (erst später für Benjamin und noch später für Marcuse) bildete die Empörung über das Unrecht, das den Ausgebeuteten und Erniedrigten angetan wurde, einen wesentlichen Stachel des Denkens. Letztlich entscheidend war aber auch für ihn die Empörung darüber, daß in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ein rationales, der Allgemeinheit verantwortliches und in seinen Folgen für die Allgemeinheit kalkulierbares Handeln nicht möglich war und selbst ein privilegiertes Individuum und die Gesellschaft einander entfremdet waren. Lange Zeit bildete er so etwas wie das gesellschaftstheoretische Gewissen des Kreises, die Instanz, die immer wieder mahnte, die gemeinsame Aufgabe sei, eine Theorie der Gesamtgesellschaft, eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters zu liefern, die die Menschen als die Produzenten ihrer historischen Lebensformen, aber eben ihnen entfremdeter Lebensformen zum Gegenstand hatte.

»Die Theorie« war von Horkheimer in den frühen 30er Jahren mit Schwung anvisiert worden. Seit den 40er Jahren hatte er Zweifel an ihrer Möglichkeit, ohne das Ziel aufzugeben. Die Zusammenarbeit mit Adorno, die endlich in eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters einmünden sollte, gelangte über die Philosophischen Fragmente, das später unter dem Titel Dialektik der Aufklärung als Buch erschienene erste Zwischenergebnis nicht hinaus. Aber »die Theorie« blieb das Schibboleth der »Frankfurter Schule«. Bei aller Uneinheitlichkeit war dem, worum es Horkheimer, Adorno und Marcuse nach dem Zweiten Weltkrieg ging, die Überzeugung gemeinsam: Die Theorie mußte – in der Tradition der Marxschen Kritik des Fetischcharakters einer kapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft – rational sein und zugleich das rechte Wort darstellen, das den Bann löste, der auf allem, den Menschen und Dingen und den Beziehungen zwischen ihnen lag. Die Verschränkung dieser beiden Momente bewirkte, daß noch dann, als die Arbeit an der Theorie stagnierte und die Zweifel an der Möglichkeit von Theorie in der irrationaler gewordenen Gesellschaft wuchsen, der Geist, aus dem die Theorie erwachsen konnte, lebendig blieb. »Als ich dann«, so Habermas in dem bereits erwähnten Gespräch in Ästhetik und Kommunikation, »Adorno kennenlernte und sah, wie atemberaubend er plötzlich über den Warenfetisch sprach, diesen Begriff auf kulturelle und auf alltägliche Phänomene anwandte, war das zunächst ein Schock. Aber dann dachte ich: Versuch mal so zu tun, als seien Marx und Freud – über den Adorno genauso orthodox sprach – Zeitgenossen.« Und genauso erging es ihm, als er zum erstenmal Herbert Marcuse erlebte (s.S. 604f.). Die Theorie, die nach dem Krieg Adorno und Marcuse nach wie vor mit Sendungsbewußtsein erfüllte, war in der Tat von besonderer Art: noch im Zweifel überschwenglich, noch im Pessimismus zur Rettung durch Erkenntnis anspornend. Eine Verheißung wurde weder erfüllt noch verraten – sie wurde lebendig gehalten. Wer aber hätte eine Verheißung derart lebendig zu halten vermocht wie die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer »die Juden« genannten Menschengruppe zu »Outsidern des Bürgertums« (Horkheimer) Verurteilten?

 

Das Buch handelt von einem halben Jahrhundert Vorgeschichte und Geschichte der »Frankfurter Schule«. Die Orte dieser Geschichte: Frankfurt am Main, Genf, New York und Los Angeles, Frankfurt am Main. Die Zeitgeist-Kontexte dieser Geschichte: die Weimarer Republik mit ihrem »zwielichtigem Charakter« (Bracher) und ihrem Einmünden in den Nationalsozialismus; New Deal, Kriegszeit und McCarthy-Ära in den USA; Restauration im Zeichen des Antikommunismus und das Interim der Protest- und Reformperiode in der Bundesrepublik. Die unterschiedlichen Formen der Institutionalisierung im Verlauf dieser Geschichte: ein unabhängiges Stiftungsinstitut als Kern marxistischen gesellschaftskritischen Forschens; ein Rumpfinstitut als Unterpfand Schutz gewährender überindividueller Präsenz von Privatgelehrten; ein von staatlichen Forschungsgeldern bzw. Aufträgen abhängiges Institut als Hintergrund einer kritischen Soziologie und Philosophie. Die Varianten und Wandlungen »der Theorie« im Verlauf dieser Geschichte: ihr Spielraum ist so groß und sie sind so ungleichzeitig, daß eine Einteilung in Phasen für die »Frankfurter Schule« so gut wie unmöglich ist. Am angemessensten ist es, von Tendenzen des Auseinanderdriftens zu sprechen: des Auseinanderdriftens von Theorie und Praxis, von Philosophie und Wissenschaft, von Kritik der Vernunft und Rettung der Vernunft, von theoretischer Arbeit und Arbeit des Instituts, von Unversöhntheit und Unentmutigtheit. Die verschiedenen Kapitel des Buches zeigen Phasen dieses Auseinanderdriftens. Sie zeigen zugleich die im Kontext gesehen ungeschwächte kritische Potenz der einen oder anderen Spielart kritischer Theorie. Am Ende steht der eindrucksvolle Fortbestand der beiden Pole kritischer Theorie – des Adornoschen und des Horkheimerschen – in der jüngeren Generation kritischer Theoretiker.

Martin Jays Buch ist bisher die einzige breit angelegte historische Darstellung der Geschichte der Frankfurter Schule geblieben. Sie schließt allerdings ab mit der Rückkehr des Instituts nach Frankfurt im Jahre 1950. Seine Darstellung war eine Pionierarbeit, die sich außer auf publizierte Arbeiten vor allem auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des Instituts, auf Leo Löwenthals ausgiebige Informationen und auf in der Löwenthal-Sammlung enthaltene Briefe, Memoranden, Selbstdarstellungen des Instituts usw. stützte. Das vorliegende Buch kann außer auf Jays Arbeit auf einer Reihe weiterer inzwischen erschienener historischer oder historisch informativer Arbeiten zur Frankfurter Schule und ihrer Vorgeschichte aufbauen – so von Dubiel, Erd, Löwenthal, Migdal, Söllner – sowie auf einer Reihe neuerer Publikationen von Texten der Frankfurter Schule – z.B. die von Wolfgang Bonß herausgegebene und eingeleitete Untersuchung Fromms über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, die von Rolf Tiedemann herausgegebenen und reichhaltig kommentierten Gesammelten Schriften Walter Benjamins oder die Veröffentlichung von nachgelassenen Schriften Horkheimers im Rahmen der Gesammelten Schriften, die, von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr herausgegeben, seit 1985 erscheinen. Das vorliegende Buch baut ferner auf Gesprächen mit einstigen und jetzigen Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung und Zeitgenossen auf, deren Augenmerk auch der Frankfurter Schule galt. Vor allem aber stützt es sich auf Archivmaterial. Dazu gehören insbesondere im Horkheimer-Archiv vorhandene Briefwechsel Horkheimers mit Adorno, Fromm, Grossmann, Kirchheimer, Lazarsfeld, Löwenthal, Marcuse, Neumann und Pollock, Forschungsberichte, Memoranden usw. Wichtig waren ferner: der vor allem aus Adorno-Briefen bestehende Briefwechsel zwischen Adorno und Kracauer, der zu dem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. Neckar aufbewahrten Kracauer-Nachlaß gehört; der in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrte Briefwechsel Adornos mit dem Academic Assistance Council; die Adorno- und die Horkheimer-Akte des philosophischen Dekanats der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität; die im Frankfurter Stadtarchiv vorhandenen Akten und Sammlungen über das Institut für Sozialforschung und einzelne Personen; die in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung vorhandenen Forschungsberichte über die Arbeiten des Instituts in den 50er und 60er Jahren.

Und am Rande: wäre der Tod nicht dazwischengekommen, hätte ich, das Thema war verabredet, bei Adorno promoviert.

1. KapitelIn der Dämmerung

Der Millionärssohn Felix Weil gründet ein Institut für Marxismus in der Hoffnung, es eines Tages einem siegreichen deutschen Rätestaat übergeben zu können

Kaum hatte die Novemberrevolution in Deutschland begonnen, fuhr Robert Wilbrandt – 43 Jahre alt, seit 1908 Professor für Nationalökonomie in Tübingen, einer der wenigen deutschen Kathedersozialisten und deswegen bei den Universitätskollegen als extremer Linker verpönt – nach Berlin. Dort verbrachte er den Revolutionswinter. Vormittags arbeitete er im Demobilmachungsamt, das für die Eingliederung der zurückströmenden Soldaten in den Wirtschaftsprozeß zu sorgen hatte, nachmittags in der Sozialisierungskommission. »Da galt es, Brauchbares so schnell und so angepaßt zu extemporieren, daß die Massen beruhigt, die Industriellen zum Produzieren befähigt und die organisatorischen Schwierigkeiten gelöst wurden.« (Wilbrandt, Ihr glücklichen Augen, 337) Die sozialistischen Parteien, die sich den Sozialismus als Konsequenz eines überreifen Kapitalismus vorstellten, die nicht durch »Rezepte aus der Garküche der Zukunft auszuspintisieren« (Kautsky) sei, standen 1918, plötzlich an die Macht gelangt, ohne konkrete Vorstellungen von einer sozialistischen Wirtschaftsordnung da. Das Wort »Sozialisierung« war nach der Novemberrevolution in aller Munde, aber als vieldeutiges Schlagwort, das sich selbst ein Rechter wie Alfred Hugenberg zu eigen machte, als er im August 1919 in der Süddeutschen Zeitung die von ihm propagierte Gewinn- und Geschäftsbeteiligung der Arbeiter als antisozialistisch bezeichnete, aber bereit war, dergleichen »Sozialisierung« zu nennen, »um den Beteiligten ein liebgewordnes Wort zu lassen« (Weil, Sozialisierung, 85). In dieser Situation gehörte Wilbrandt zu den wenigen, die mit marxistischer Theorie in situationsgerechter Praxis Ernst zu machen suchten. Vom marxistischsten der Kathedersozialisten, für dessen Sozialismuskolleg man in Tübingen vor dem Krieg wegen des großen Andrangs den Festsaal der Universität hatte nehmen müssen, war er zum Senior der Jungmarxisten oder »praktischen Sozialisten« geworden, der sich in seiner im Frühjahr 1919 erschienenen Broschüre Sind die Sozialisten sozialistisch genug? folgendermaßen beklagte:

»Ich sehe ab von dem Bürgertum, dem ich ein Bürgerschreck zu werden drohe, und von den ›Vaterlandsfreunden‹, die in der Not des Vaterlands nur die Verzweiflung, nicht aber aufbauende Arbeit lieben. Ich wende mich nur an die Sozialisten. Ja, ihr seid treu! Ihr seid der Prophezeiung treu, drum wartet ihr auf das Reifen. Drum sprecht ihr von den ›zur Sozialisierung reifen Betrieben‹. Statt euch selbst zu vertrauen, daß ihr reif genug seid, um sie reif zu machen! Statt gerade die unreifen Früchte einzukochen im Topf der Gemeinwirtschaft, wie der praktische Sozialismus, der Genossenschafts- und Kommunalsozialismus, es mit dem größten Erfolg (bei Bäckereien und Schlächtereien!) getan hat. Und statt die Form selbst zu finden, trotz Marx und Hegel, die uns das Erfinden verboten haben. […]

Nur Sozialisierung, planvoll und rechtzeitig begonnene Überführung in den sozialistischen Zustand, vermag davor zu bewahren, daß das eine (der kapitalistische Betrieb) aus und das andere (ein sozialistischer) nicht da ist. Erhaltung der Betriebe, Überführung in eine die Mitarbeit fordernde und zur Mitherrschaft Raum gebende sozialistische Form der Leitung, Klarlegen der Lage; der Ertrag der Gesamtheit und den Arbeitenden im Betrieb zufließend, also sie interessierend, sie für sich selbst und die Gesamtheit zur Arbeit und zur Bescheidung auf Mögliches von innen heraus verpflichtend: das ist die Forderung des Tages.

Tut man das nicht, so macht der ›Bolschewismus‹ die Sache mit anderen Methoden. Er wühlt die Leidenschaften auf, schafft künstlich eine Armee von Arbeitslosen … er verlangt ausdrücklich Streiks und immer wieder Streiks, er denkt Neues zu erzwingen, indem er das Alte unmöglich macht.« (11, 25f.)

Wie wenig ernst es der Regierung mit der Erfüllung der populären Forderung nach »Sozialisierung« war, wie wenig sie selbst zu Wirtschaftsreformen bereit war, die lediglich radikalen Forderungen durch symbolische Zugeständnisse den Wind aus den Segeln nehmen sollten, zeigte das Schicksal der »Sozialisierungskommission«. Der Rat der Volksbeauftragten, aus SPD- und USPD-Vertretern bestehend, hatte ihr bloß eine beratende Funktion eingeräumt und sie mit Vertretern unterschiedlicher Richtungen besetzt. Zwei USPD-Mitglieder gehörten ihr an, nämlich Rudolf Hilferding und Karl Kautsky, der den Vorsitz hatte; zwei SPD-Mitglieder; ein Gewerkschaftler; bürgerliche Sozialreformer; und einige sozialistische Akademiker: neben Wilbrandt der Berliner Professor für Nationalökonomie Karl Ballod, der Heidelberger Privatdozent Emil Lederer und der Grazer Professor Joseph Schumpeter. Das Programm der Kommission war bescheiden. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel könne nur »in einem längerwährenden organischen Aufbau erfolgen«. Zu beginnen sei mit jenen Gebieten der Volkswirtschaft, »in denen sich kapitalistischmonopolistische Herrschaftsverhältnisse herausgebildet haben« (Programm der Sozialisierungskommission vom 11. Dezember 1918, in: Schraepler (Hg.), Ursachen und Folgen III, 33f.). Aber selbst die in diesem Rahmen bleibende Tätigkeit der Kommission wurde von der Bürokratie sabotiert. Die Gutachten und Gesetzesentwürfe zur Sozialisierung des Kohlenbergbaus, zur Kommunalisierung, zur Verstaatlichung der Fischerei und des Versicherungswesens blieben nicht nur unveröffentlicht, sondern das Reichswirtschaftsministerium versuchte sie außerdem umzugestalten. Daraufhin legten die Mitglieder dieser Sozialisierungskommission Anfang April 1919 unter schriftlichem Protest gegen die Haltung der Regierung ihre Ämter nieder. Wilbrandt kehrte resigniert auf seinen Tübinger Lehrstuhl zurück.

Hier war im Sommersemester 1919 unter seinen Zuhörern Felix Weil. Der 21jährige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftsstudent aus reichem Hause, der sich in den Tagen der Novemberrevolution in vollem Wichs mit seinem Leibfuchs dem Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung gestellt hatte, war eigens, um den sozialistischen Professor zu hören, nach Tübingen gekommen. Er schrieb ein Referat über Wesen und Wege der Sozialisierung, das im Berliner Arbeiterrat veröffentlicht wurde. Auf Anregung Wilbrandts entstand daraus eine Dissertation, mit der Weil – wegen sozialistischer Aktivitäten im Oktober 1919 vorübergehend inhaftiert und anschließend von der Tübinger Universität relegiert und aus Württemberg ausgewiesen – 1920 in Frankfurt promovierte. Diese Arbeit – Sozialisierung. Versuch einer begrifflichen Grundlegung nebst einer Kritik der Sozialisierungspläne – erschien 1921 als siebter und letzter Band der von dem Jenaer Privatdozenten Karl Korsch herausgegebenen Buchreihe Praktischer Sozialismus. Eröffnet hatte sie Korsch, der Wilbrandts Assistent in der Sozialisierungskommission gewesen war, mit seinem eigenen unter dem Titel Was ist Sozialisierung? erschienenen Programm des praktischen Sozialismus. Mit der Schriftenreihe wollte er nach dem Vorbild der Aufklärungsbroschüren der englischen Fabian Society, deren Jugendorganisation er vor dem Krieg während eines zweijährigen England-Aufenthalts angehört hatte, den »geistig Begabten« ein richtiges Verständnis vom Wesen des Sozialismus und die Lust zur Mitarbeit an der Verwirklichung konkreter sozialistischer Entwürfe vermitteln.

Entschlossene und rasche Durchführung einer entschiedenen Sozialisierung oder klarer Verzicht auf alle Bestrebungen in eine solche Richtung – das war der Tenor von Felix Weils Dissertation. »Eines ist wohl sicher«, meinte er, »so wie heute geht es nicht weiter, wo der freie Unternehmer durch Streiks, hohe Löhne, Steuern, Betriebsräte, gegenseitiges Mißtrauen und die Furcht vor der Sozialisierung abgeschreckt wird, mit Wagemut an seine Aufgabe heran zu gehen, wo das deutsche Wirtschaftsleben dahinsiecht.

Zurück zur freien Wirtschaft oder vorwärts zum Sozialismus? Das ist die Frage.

Sie zu entscheiden ist nicht Aufgabe dieser Abhandlung.« (83)

Das war nicht bloß ein strategisches Zugeständnis – schließlich wollte Weil mit der Arbeit bei keineswegs sozialistischen Professoren promovieren –, es hatte auch einen existentiellen Sinn. Es zeugte vom Konflikt zwischen der Unternehmerposition des Vaters und den sozialistischen Sympathien des Sohnes, von einem Konflikt, wie es ihn eher in jüdischen als in nicht-jüdischen großbürgerlichen Familien gab, von einem Konflikt, der aber nicht so scharf war, daß der Sohn mit der Welt des Vaters um jeden Preis gebrochen hätte. Einem Juden mußte Reichtum als Quelle des antisemitischen Ressentiments wie als Schutz erscheinen, als Anstoß zur Identifikation mit antikapitalistischen Positionen ebenso wie als etwas, was man erst aufgeben sollte, wenn man sich einer Zukunft gewiß war, die Schutz nicht länger nötig machte. Immer wieder war z.B. der im Februar 1919 ermordete bayrische Ministerpräsident Kurt Eisner von der Presse als »Galizier« und »Ostjude«, als »Fremdling«, als »Salomon Kosmanowsky aus Lemberg« diffamiert worden.

Zurück zur freien Wirtschaft oder vorwärts zum Sozialismus – das hatte für Weil einen ganz besonderen Sinn. Einerseits war er der Sohn eines geschäftlich überaus erfolgreichen Unternehmers. Sein Vater, Hermann Weil, einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus der badischen Provinz entstammend, war 1890 mit 22 Jahren als Angestellter einer Amsterdamer Getreidehandlung nach Argentinien gegangen. 1898 hatte er sich selbständig gemacht. In kurzer Zeit war es ihm gelungen, seine Firma zu einer der größten Getreidehandelsfirmen Argentiniens aufzubauen, zu einer Weltfirma mit Millionenumsätzen, die er zusammen mit zwei Brüdern leitete. 1908 war der Multimillionär einer progressiven Paralyse wegen nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich mit Frau, Tochter und Sohn (eben dem 1898 in Buenos Aires geborenen Felix) in Frankfurt niedergelassen, wo Paul Ehrlich und Sahatschiro Hata 1909 das Syphilisheilmittel Salvarsan erfanden. Das Feld seiner kapitalistischen Tätigkeit noch um Grundstücksspekulationen und Fleischhandel erweiternd, lebte Hermann Weil in Frankfurt bis zu seinem Tod im Jahre 1927 (zu Weil siehe vor allem: Migdal, Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung; Eisenbach, Millionär, Agitator und Doktorand).

Während des Weltkrieges hatte Hermann Weil sich um die nationale Sache verdient zu machen gesucht. Er nutzte seine langjährigen Erfahrungen und seine Beziehungen für die Beobachtung der Welt- und Getreidemärkte und der Ernährungslage der kämpfenden Großmächte und schickte Berichte darüber an Berliner Regierungsstellen. Der siegesgewisse Optimismus dieser Darlegungen gefiel Wilhelm II. Weils zu optimistische Gutachten über die Auswirkungen der Versenkung von Getreidefrachtschiffen der Entente trugen dazu bei, einen sinnlosen Krieg noch weiter zu verlängern. Am Ende stand der »Vater des U-Boot-Krieges« als jemand da, der eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte. Aber da die Wirtschaftsbeziehungen mit dem deutschlandfreundlich gebliebenen Argentinien nach Kriegsende sofort wieder in Gang kamen und Hermann Weils Importgeschäft einen neuen Höhepunkt erlebte, konnte er sich nun als großzügiger Förderer der Frankfurter Universität und diverser Wohlfahrtseinrichtungen erweisen und schließlich für die Stiftung des Instituts für Sozialforschung den Ehrendoktor der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät entgegennehmen.

Als Sohn eines solchen Vaters hatte Felix Weil ein schlagendes Beispiel für die Erfolge freien Unternehmertums vor Augen. Andererseits mußte ihm ein solches Leben als wenig verlockend erscheinen. Er und seine Schwester waren in Buenos Aires aufgewachsen, ohne daß Vater und Mutter sich für sie Zeit genommen hätten. Statt dessen waren sie von einer Gouvernante und anderen Bediensteten erzogen worden. In Frankfurt hatte Felix Weil zunächst bei seiner Großmutter gelebt, dann mit der Familie bis zur Fertigstellung der Villa des Vaters in einem Hotel. Vielleicht aufgrund eines gewissen Schuldgefühls wegen der lieblosen Kindheit und Jugend des Sohnes drängte der Vater nicht darauf, daß er die Unternehmerlaufbahn einschlug oder einen anderen Geldberuf ergriff. Felix Weil wurde weder ein richtiger Unternehmer noch ein richtiger Wissenschaftler noch ein Künstler, sondern ein linker Mäzen – bereits nach dem Tod der Mutter 1913 hatte er eine Million Goldpesos geerbt (so Weil in seinen unvollendet gebliebenen »Erinnerungen«, vielfach zitiert bei Eisenbach) – und wissenschaftlicher Gelegenheitsarbeiter. Er gehörte zu jenen jungen Menschen, die – durch den Ausgang des Krieges und die Novemberrevolution politisiert – von der Realisierbarkeit und Überlegenheit des Sozialismus als einer höheren Wirtschaftsform überzeugt waren und sich dem Studium der sozialistischen Theorien widmeten, um so gerüstet möglichst bald eine führende Stellung in der Arbeiterbewegung bzw. einer sozialistischen Gesellschaftsordnung einnehmen zu können. Aber er widmete sich diesem Ziel unter Währung einer gewissen Distanz. Als »Salonbolschewist« arbeitete er in den 20er Jahren an der Peripherie des rechten Flügels der KPD mit. Er trat ihr niemals bei, obwohl er eng mit Clara Zetkin und Paul Frölich befreundet war und die Tochter eines alten Sozialisten und einer guten Freundin Zetkins geheiratet hatte. Er finanzierte zu wesentlichen Teilen den Malik-Verlag in Berlin, in dem u.a. Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein erschien. Er half einem linken Künstler wie George Grosz. Die erste Unterstützungsgeste bestand darin, daß er dem ihm bis dahin gar nicht persönlich bekannten Grosz und dessen Frau Anfang der 20er Jahre, als in Deutschland noch große Not herrschte, eine Italienreise finanzierte und die beiden im gemieteten Castello Brown in Portofino großzügig beherbergte. Oder er half dem in Ungnade gefallenen kranken einstigen KPD-Führer Ernst Meyer und dessen ebenfalls kranker Frau durch die Finanzierung eines längeren Erholungsaufenthalts.

Vor allem aber suchte er etwas für die marxistische Theorie zu tun. Auch das bedeutete peripheren Kontakt zur KPD. Diese war in ihrem frühen Stadium noch nicht auf die Interessen der Sowjetunion und den bolschewistischen Weg zum Sozialismus fixiert. Die KPD hatte sich aus einer linken Strömung der deutschen Sozialdemokratie entwickelt und konnte im Unterschied zu anderen kommunistischen Parteien auf Ursprünge zurückblicken, die unabhängig von der russischen Revolution waren. Als kurz vor dem Zusammenschluß des Spartakusbundes und der Internationalen Kommunisten Deutschlands (Bremer Linksradikale) zur KPD an der Jahreswende 1918/19 in Berlin eine Reichskonferenz des Spartakusbundes stattfand, plädierten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches für den Namen »Sozialistische Partei«. Das empfehle sich angesichts der Aufgabe der neuen Partei, »die Verbindung zwischen den Revolutionären des Ostens und den Sozialisten Westeuropas« herzustellen, und angesichts der Notwendigkeit, erst einmal die Massen Westeuropas für die eigenen Ziele zu gewinnen. Bereits auf dem Gründungsparteitag dominierten allerdings die Ultralinken und ein radikaler Utopismus. Von Anfang an bestand für die KPD das Problem, daß sie Zulauf vor allem von Randgruppen der Arbeiter außerhalb der etablierten Arbeiterorganisationen erhielt, die zwar voller Tatendrang waren, aber ohne politische Erfahrung.

Daß die KPD im März 1921 Widerstandsaktionen einzelner Betriebsbelegschaften gegen die Entwaffnung durch preußische Sicherheitspolizei zum Anlaß nahm, zum Generalstreik und zur Bewaffnung aufzurufen, wobei sie durch Sprengstoffanschläge auf eigene Parteilokale, auf die Siegessäule in Berlin usw. die Arbeiter zum Losschlagen anzustacheln suchte und mit all dem eine deutliche Niederlage erlebte, konnte – wie vorher die Berliner Kämpfe im Januar 1919 oder später der kläglich fehlgeschlagene »deutsche Oktober« im Jahre 1923 – als Putschismus verurteilt, aber auch gerade von ungeduldigen jungen Linken als Beweis der Bereitschaft zu revolutionärem Handeln angesehen werden. Phasen der Einheitsfrontpolitik wiederum, also des Bemühens um Zusammenarbeit mit SPD und Gewerkschaften, vermochten den Eindruck vernünftiger Bündnisfahigkeit zu erwecken. In den frühen 20er Jahren, als mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) in der Sowjetunion und der Einleitung eines modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten die Konsequenzen aus dem Ausbleiben westlicher Revolutionen gezogen wurden, die Krisenperiode in Deutschland und die Hoffnung auf eine Internationalisierung der Revolution aber noch anhielten, als die »Bolschewisierung« der Partei noch nicht stattgefunden hatte und noch Raum für innerparteiliche Auseinandersetzungen und theoretische Diskussionen zu bestehen schien – in dieser Phase gab es eine Reihe von Versuchen sozialistischer Intellektueller zur Besinnung auf Charakter und Funktion marxistischer Theorie und Praxis.

Dazu gehörte eine »Marxistische Arbeitswoche«, die in der Pfingstwoche 1923 in einem Hotel in Geraberg bei Ilmenau, südwestlich von Weimar am Fuß des Thüringer Waldes, stattfand. Ihre Initiatoren waren der das Unternehmen finanzierende Felix Weil und Karl Korsch, der schon in früheren Jahren in Thüringen »Sommerakademien« organisiert hatte (s. Buckmiller, Die »Marxistische Arbeitswoche« …). Unter den knapp zwei Dutzend Teilnehmern waren außer den Initiatoren und ihren Frauen u.a. Georg Lukács, Karl August und Rose Wittfogel, Friedrich Pollock, Julian und Hede Gumperz, Richard und Christiane Sorge, Eduard Alexander und Kuzuo Fukumoto. Es waren lauter Intellektuelle, zumeist Doktoren. Sie waren fast sämtlich KP-Mitarbeiter. Bis auf Korsch, Lukács und Alexander waren sie alle jünger als 30 Jahre. Ausgangspunkte der Diskussion waren – die dürftigen und uneinheitlichen Angaben der Beteiligten zwingen zu Mutmaßungen – vermutlich vor allem Referate von Korsch und Lukács über die Themen, ihrer im Jahr des Treffens erschienenen Bücher. Korsch, von radikaldemokratischen Sozialisierungskonzeptionen ausgehend, und Lukács, von der Vorstellung einer von allen Gesellschaftsmitgliedern zutiefst angeeigneten Kultur ausgehend, trafen sich in der Hoffnung auf ein selbstbewußt handelndes Proletariat, das die Welt nicht mit den Augen eines evolutionsgläubigen Kautskyanismus oder eines von der unabsehbaren Fortdauer des Kapitalismus ausgehenden Reformismus sah, sondern aus der Perspektive einer vom dialektischen Geist der Hegeischen Philosophie erfüllten materialistischen Geschichtsauffassung. Das Marx-Zitat am Ende von Korschs Marxismus und Philosophie – »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen« – hatte in der damaligen Situation einen handfesten Sinn. Es konnte nicht darum gehen, den Intellektuellen ihre Intellektualität abzugewöhnen, sondern es galt, sie den Arbeitern zu vermitteln. »Erziehung und Aufstieg der Begabten und Arbeitsverteilung« wurde als Thema für eine zweite Marxistische Arbeitswoche ins Auge gefaßt.

Das Geraberger Intellektuellentreffen, das nicht im KPD-Rahmen, sondern gewissermaßen in der Randzone der kommunistischen Bewegung stattfand, ließ die Schwierigkeiten ahnen, die sich für das Verhältnis zwischen sozialistischen Intellektuellen und organisierten Kommunisten ergeben würden, falls das Bereithalten für die Revolution zum Dauerzustand wurde und eine Partei von Berufsrevolutionären mit Mißtrauen auf die von ihr vertretenen Massen und erst recht auf selbstkritische Angehörige des gegnerischen Lagers blicken würde. Zum Zeitpunkt des Treffens in Geraberg schien noch alles möglich. Korsch – seit Mai 1920 Privatdozent in Jena und seit Dezember des gleichen Jahres KP-Mitglied – war ein Beispiel für den seltenen Versuch, als akademischer Intellektueller eine offen revolutionäre Haltung zu zeigen. Lukács – bei diversen Habilitationsversuchen erfolglos geblieben, seit Dezember 1918 Mitglied der ungarischen KP (s.S. 95) – bot umgekehrt das Bild eines KP-Funktionärs, der auf dem Gebrauch und der Anerkennung seiner intellektuellen Fähigkeiten bestand. Richard Sorge – im Untergrund tätiges KPD-Mitglied und Assistent des Wirtschaftswissenschafts-Professors Kurt Albert Gerlach – war bereits ein Parteikommunist, dessen intellektuelle Betätigung nur der Tarnung der Parteiarbeit diente.

Nahezu die Hälfte der an der Marxistischen Arbeitswoche Teilnehmenden hatte später in der einen oder anderen Form mit dem Institut für Sozialforschung zu tun. Tatsächlich handelte es sich bei dem Treffen offenbar um so etwas wie »das erste Theorie-Seminar« (Buckmiller) dieses Instituts – der erstaunlichsten und folgenreichsten Unternehmung des linken Mäzens Felix Weil.

Weils Bedürfnis nach einer Institutionalisierung marxistischer Diskussion jenseits der Zwänge des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs wie der ideologischen Engstirnigkeit einer kommunistischen Partei traf sich mit Reformentwürfen von Richard Sorges Freund Kurt Albert Gerlach, der zu jenen akademischen Intellektuellen zählte, für die Freiheit der Wissenschaft und das praktische Interesse an der radikalen Beseitigung von Elend und Unterdrückung zusammengehörten. Gerlach, 1886 in Hannover geboren, Sohn eines Fabrikdirektors, hatte sich 1913 nach einem längeren Aufenthalt in England, wo die Fabian Society ihn nachhaltig beeindruckte, mit einer Arbeit über Die Bedeutung des Arbeiterinnenschutzes in Leipzig habilitiert. Danach war er mehrere Jahre Mitarbeiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr gewesen, das sich während des Krieges in den Dienst der Bewältigung kriegswirtschaftlicher Probleme gestellt hatte. Es war dabei u.a. von Felix Weils Vater unterstützt worden – mit Geldspenden und mit Berichten und Artikeln. Seit 1918 hatte Gerlach, zum linken Sozialdemokraten geworden, in seinem Haus Studenten zu Diskussionen über sozialistische Theorien versammelt. 1920 war er, inzwischen Ordinarius für Wirtschaftswissenschaften in Aachen, jüngster und radikalster Gutachter bei einer im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik erfolgten Expertenbefragung zur Reform der staatswissenschaftlichen Studien. 1922 erhielt er einen Ruf der Universität Frankfurt und zugleich die Chance, zusammen mit Felix Weil ein dem wissenschaftlichen Sozialismus gewidmetes Institut aufzubauen.

Die Ausgangskonstellation für Gerlachs und Weils Projekt war denkbar günstig:

ein reicher Vater, der als Wohltäter in die Geschichte der Stadt eingehen wollte und auf den Ehrendoktor spekulierte; der bereits 1920 einen mißlungenen Anlauf zu einer Stiftung zur Förderung von – so die Satzung – »Forschung und Lehre auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, insbesondere des Arbeitsrechts und der Arbeitsverfassung«, zur Förderung sozialwissenschaftlicher Institute und befähigter Studenten und junger Gelehrter, die »die sozialen Probleme im Sinne des sozialen Friedens wissenschaftlich zu klären streben«, unternommen hatte; und der, sei es mehr aus schlechtem Gewissen und Interesse an der akademischen Karriere seines nun einmal mit dem Marxismus sympathisierenden Sohnes oder mehr in der Hoffnung auf Förderung der Handelsbeziehungen seiner Firma zur sowjetrussischen Ukraine (so eine Überlegung Peter von Haselbergs), selbst zur Finanzierung eines linkslastigen sozialwissenschaftlichen Instituts nach dem Vorbild des Moskauer Marx-Engels-Instituts bereit war;

eine Stadt mit dem prozentual höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil unter den deutschen Städten und der berühmtesten und nach der Berliner zweitgrößten jüdischen Gemeinde; eine Stadt, in der großbürgerliches Mäzenatentum besonders ausgeprägt war und in besonderem Maße sozialen und sozial- oder wirtschaftspolitisch orientierten pädagogischen Einrichtungen galt und in der die unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eröffnete Stiftungsuniversität statt der üblichen theologischen eine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät hatte; eine Stadt, in der der Anteil bürgerlicher Sympathisanten des Sozialismus und Kommunismus ungewöhnlich hoch war und in der die Welt der Salons und Cafes eine Grauzone bürgerlichliberalen Lebens bildete, in der zwischen verbindlicher und unverbindlicher Distanzierung von der eigenen Klasse schwer zu unterscheiden war;

ein sozialdemokratisch dominiertes Kultusministerium, das, an einer Reform der widerspenstigen Universitäten interessiert, gerne unterstützte, was die gesellschaftliche Orientierung der Hochschulen zu fördern versprach;

ein linkssozialistischer Professor, der Erfahrungen am 1911 gegründeten Kieler Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr, dem ersten Institut in Deutschland auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, gesammelt hatte, der an die Möglichkeit des Ausbaus sozialistischer Forschung und Lehre in einer reformierten Hochschule glaubte und bereits erste Entwürfe für den Bereich seines eigenen Fachs gemacht hatte.

Bei der Realisierung ihres Projekts verfuhren Weil und Gerlach zweigleisig. Bevor sie Kontakte mit der Universität aufnahmen, verständigten sie sich mit dem preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin. Dort legte Weil – folgt man seinem eigenen Zeugnis – seine Pläne, anders als in den Verhandlungen mit der Universität, offen dar. »Herr Geheimrat Wende … wird bestätigen können«, so Weil in einem Brief an das Ministerium Ende der 20er Jahre, als es zu Auseinandersetzungen um die Regelung der Nachfolge für den erkrankten Institutsdirektor Carl Grünberg kam, »daß ich schon in meinen ersten Unterredungen mit ihm ausgeführt habe, daß wir (mein verstorbener Freund, Professor Kurt Albert Gerlach, und ich) ein Institut zu gründen beabsichtigten, das in erster Linie dem Studium und der Vertiefung des wissenschaftlichen Marxismus zu dienen habe. … Wenn wir sahen, welch günstige Arbeitsbedingungen den meisten Wissenschaften, ja sogar solchen Wissenszweigen eingeräumt wurden, die bisher nicht als ›universitätsfähig‹ gegolten hatten (Betriebswirtschaftslehre, Soziologie usw.), dann drängte sich uns der Gedanke auf, daß in entsprechender Weise das Studium des Marxismus gefördert werden müsse und könne. … Unsere Bestrebungen, welche durch Fürsprache meines verstorbenen Freundes, des Ministers a.D. Konrad Haenisch [er war der erste, radikale Reformen propagierende und nur kurze Zeit amtierende sozialdemokratische Kultusminister in Preußen, R. W.] …, unterstützt wurden, fanden volles Verständnis beim Ministerium. Es beschleunigte sogar die Verhandlungen …« (Weil – Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 1.11.29)

In dem Memorandum Gerlachs, das die Grundlage für die Verhandlungen mit der Universität bildete, war dagegen von Marxismus nur am Rande die Rede. »Es dürfte«, hieß es darin, »sich heute kaum noch jemand finden, der die Augen davor verschließen könnte, von welcher sowohl wissenschaftlichen wie praktischen Bedeutung die Kenntnis und Erkenntnis des sozialen Lebens in seinem ganzen Umfang ist, jenes ungeheuren Geflechtes von Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Grundlage, den politisch-juristischen Faktoren bis zu den letzten Verästelungen des geistigen Lebens in Gemeinschaft und Gesellschaft. Es sei nur an Fragen erinnert wie internationales Gewerkschaftsleben, Streik, Sabotage, Revolution als Lohnbewegung, Antisemitismus als soziologisches Problem, Bolschewismus und Marxismus, Partei und Masse, Lebenshaltung der Bevölkerungsschichten, Verelendung Deutschlands. Wie der Theoretiker auf dem Gebiet der Erfahrungswissenschaften weniger denn je bestehen kann ohne fortwährende Fühlungnahme mit dem pulsenden Leben der Wirklichkeit, ebenso unmöglich ist es für den reinen Praktiker geworden, ohne Pflege des Gedankens und Benützung wissenschaftlicher Ergebnisse und Methoden Überblick zu erhalten über das verwickelte Netz der gesamten Wirtschafts- und Sozialzusammenhänge. … Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften dürften nach jahrzehntelangem Methodenstreit einen Entwicklungsgrad erreicht haben, wo – wie immer das Problem letzter, restloser Werturteilslosigkeit liegen mag – jedenfalls Vorbedingungen und Möglichkeiten solcher wissenschaftlichen Zucht erzielt worden sind, daß mit weitreichender Objektivität an die Erforschung des sozialen Lebens herangegangen werden kann; dies um so mehr, wenn nicht irgendwelche Stellungnahme in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht, sondern grundsätzlich nur der Forschungsstandpunkt richtunggebend ist. Im übrigen ist heute schon die Materialien- und Tatsachensammlung eine solche Aufgabe, daß sie für den einzelnen nicht mehr lösbar, sondern nur durch Organisationen in größerem Maßstabe möglich ist; auch verlangen die verwickelten sozialen Zusammenhänge die kooperative geistige Zusammenarbeit. Ein sich diesen Aufgaben speziell widmendes Institut für Sozialforschung stellt also eine dringende Notwendigkeit dar und würde in der Reihe der schon vorhandenen Institute eine noch bestehende Lücke ausfüllen helfen.« (Denkschrift über die Begründung eines Instituts für Sozialforschung, Anlage zu: Weil-Kuratorium der Universität Frankfurt a.M., 22.9.22)

Für die Mitarbeiter des preußischen Kultusministeriums war das Changieren zwischen wissenschaftlichem Marxismus und umfassender Sozialforschung vermutlich nichts Aufregendes. Ein im Sinne moderner Gesellschaftswissenschaft aktualisierter Marxismus gehörte zu dem, was Sozialdemokraten, die in Preußen, zu dem Frankfurt damals gehörte, in den 20er Jahren fast durchgängig die Politik bestimmten, sich für die Hochschulen wünschten. In der Sache damit mehr oder weniger einig war auch Carl Heinrich Becker, der in den 20er Jahren kontinuierlich als Staatssekretär bzw. Minister in der preußischen und deutschen Kulturpolitik tätig war. Becker, der selber kein Sozialdemokrat war und nach eigenem Bekunden vor der Weimarer Zeit ein guter Monarchist gewesen war, der aber als auf Reformen bedachter Experte von sozialdemokratischen Politikern überaus geschätzt wurde, hatte seit 1919 die Überwindung der Spezialisierung und die Einführung neuer synthetisierender Lehrfächer an den Universitäten gefordert. Er hatte dabei besonders die Soziologie hervorgehoben, weil sie »überhaupt nur aus Synthese« bestehe und deshalb ein wichtiges Erziehungsmittel sei. »Soziologische Lehrstühle sind eine dringende Notwendigkeit für alle Hochschulen. Dabei ist die Soziologie im weitesten Sinne des Wortes gedacht, einschließlich der wissenschaftlichen Politik und der Zeitgeschichte.« (Becker, Gedanken zur Hochschulreform, 9) Der Widerstand der etablierten Fach-Professoren, unter denen einige die Soziologie gar als Sozialismus zu diffamieren suchten, führte dazu, daß die umstrittene und erst vage konturierte Wissenschaft zunächst vor allem im außeruniversitären Bildungswesen, an Volkshochschulen und Fachschulen, bedeutsam wurde.

Ausschlaggebend dafür, daß Weil und Gerlach mit ihrem Projekt eines der Universität angeschlossenen, aber von ihr unabhängigen und dem Ministerium direkt unterstellten Instituts Erfolg hatten, war außer der wohlwollenden Unterstützung des Ministeriums die Großzügigkeit der Stiftung in einer Zeit der Not und finanzieller Restriktionen. Die Weils waren bereit: zur Finanzierung von Bau und Einrichtung des Instituts, zur Zahlung eines jährlichen Betrages von 120000 Mark, zur Überlassung der unteren Etage an die Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Fakultät und später sogar noch zur Finanzierung des Lehrstuhls, den der Institutsleiter an jener Fakultät innehatte. Die WiSo-Fakultät, der das Ausmaß der Unabhängigkeit des Instituts gar nicht behagte, litt aufgrund der rapide gestiegenen Studentenzahlen unter so großer Raumnot, daß sie bald sogar auf Beschleunigung der Institutserrichtung drängte. Gegner des Institutsprojekts, wie z.B. der Kurator der Universität, die einen Mißbrauch von Institutsräumen für parteipolitische Zwecke befürchteten, vermochten lediglich durchzusetzen, daß in den Vertrag zwischen Stadt und Gesellschaft für Sozialforschung die Klausel aufgenommen wurde, daß die Verwendung zu anderen Zwecken als denen der sozialwissenschaftlichen Forschung nur mit schriftlicher Genehmigung des Magistrats zulässig sei (cf. Migdal, 99).

Zu Beginn des Jahres 1923 erfolgte die ministerielle Genehmigung für die »Errichtung eines Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt als einer wissenschaftlichen Anstalt, die zugleich Lehrzwecken der Universität dient«. Im März wurde mit dem Bau begonnen. Das Frankfurter Institut war das zweite sozialwissenschaftliche nach dem Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln, das 1919 mit zwei der geplanten Abteilungen, der soziologischen und der sozialpolitischen, die Arbeit aufgenommen hatte. Mit dem Aufbau des Instituts, einer Einrichtung der Stadt Köln, war Christian Eckert betraut worden, der zugleich erster Rektor der 1919 neugegründeten Kölner Universität wurde, die, ähnlich wie die Frankfurter, u.a. aus einer Handelshochschule hervorging und sich durch die Betonung der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fächer von den traditionellen Hochschulen unterschied. Neben dem bereits vor dem Krieg von Bernhard Harms gegründeten Kieler Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr und dem Kölner Institut war das Institut für Sozialforschung das bedeutendste auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Diese drei bis heute existierenden Institute hatten entscheidende Züge gemeinsam (die allerdings für das Kölner Institut teilweise nur mit Einschränkungen galten): den Status von Universitätseinrichtungen, die aber nicht der Universitätsverwaltung, sondern unmittelbar dem Kultusministerium bzw. der Stadt unterstanden; den Vorrang der Forschungstätigkeit; die Tendenz zur Nutzung der Vorzüge eines Großbetriebs; eine Verbindung zwischen Institut und Universität in der Form, daß vor allem die Institutsleiter gleichzeitig ordentliche Professoren der Universität waren und umgekehrt fortgeschrittene Studenten an Forschungsarbeiten beteiligt wurden.

Ein entscheidender Unterschied zwischen den Instituten ergab sich bei der Finanzierung und der Festlegung der Weltanschauung. Die Mittel für das Kieler Institut wurden zunächst ganz durch eine 1913 gegründete Förderungsgesellschaft bereitgestellt. Diese Förderungsgesellschaft, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereits 200, Ende der 20er Jahre 2500 Mitglieder angehörten, nahm keinerlei Einfluß auf die Verwendung ihrer an die Universitätskasse überwiesenen und dann dem Institutsleiter zur Verfügung stehenden Mittel. Durch die Gründung als »Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel« und Großmäzene wie Krupp von Bohlen und Halbach, der dem Institut am Ende des »verhängnisvollen Jahres 1918« (Harms) einen Komplex von Gebäuden an der Kieler Förde zu erwerben ermöglichte, war aber eine Tradition gegeben, die in Kombination mit der engen Zusammenarbeit mit führenden Männern aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik dafür sorgte, daß die Spannweite der akzeptierten Weltanschauungen keinesfalls den für deutsche Universitäten üblichen Rahmen überschritt.

Das Kölner Institut wurde von der Stadt finanziert (Etat im Anfangsjahr: 120000 Reichsmark). Das »Kollegialsystem« und das fruchtbringende »Zusammenwirken … ernster Persönlichkeiten vom Boden gegensätzlicher Weltanschauungen aus«, von dem Eckert in seinen Darstellungen des Instituts sprach (Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, H. 1, 1921, 16f.; Brauer u.a., Hg., Forschungsinstitute, II, 290f.), gewann reale Gestalt im Sinne des Parteienproporzes. Als Soziologe sozialdemokratischer Prägung wurde der frühere württembergische Staatsminister Hugo Lindemann zum Direktor der sozialpolitischen Abteilung. Direktoren der soziologischen Abteilung wurden Leopold von Wiese als Soziologe liberaler Prägung und – auf Wunsch des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer – als Exponent katholischen Geistes Max Scheler.

Spezifisch für das Frankfurter Institut war eine Konstruktion, die dafür sorgte, daß dieses Spektrum nach links hin eine Ergänzung erfuhr. Analog zur »Gesellschaft zur Förderung des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel« war als Träger der Weilschen Stiftung eine »Gesellschaft für Sozialforschung e.V.« ins Leben gerufen worden. Dieser Gesellschaft gehörten aber außer den beiden Weils, die den Vorsitz hatten, nur noch einige wenige Personen an, die mit ihnen befreundet oder bekannt waren, so Gerlach, Sorge, Horkheimer, Käte Weil. Da der Leiter des Instituts vom Kultusminister im Einvernehmen mit der Gesellschaft für Sozialforschung bestellt wurde, konnte Felix Weil entscheiden, wer Leiter würde, womit wiederum, da der Leiter weitgehend diktatorisch das Institut lenken konnte, die dort herrschende weltanschauliche Linie von Weil nach menschlichem Ermessen festgelegt werden konnte.

Gerlach wäre für Weil der ideale Mann gewesen: jung, mit solider Universitätskarriere und »Edelkommunist«. Aber Gerlach starb, 36jährig, im Oktober 1922 an Diabetes, einer Krankheit, der man damals noch machtlos gegenüberstand. Zwei Frankfurter Bekannte, die Weil in seinem Engagement für das Instituts-Projekt bestärkten, Friedrich Pollock und Max Horkheimer, waren zwar »schon etwas älter …, als man als Student normalerweise ist, denn sie sollten ursprünglich Kaufleute werden und die Fabriken ihrer Väter übernehmen«, und sie waren »die einzigen, die in jenem Jahr 1923 an der Frankfurter Universität in den Geistes- und Sozialwissenschaften den Doktor summa cum laude gemacht haben« (Herhaus, Institut für Sozialforschung, Nachschrift der Tonbandaufzeichnung eines Berichts von Pollock aus dem Jahre 1965, in: Notizen während der Abschaffung des Denkens, 41, 48) – aber für die Leitung des Instituts kamen sie noch keineswegs in Frage. Nach Gerlachs Tod verhandelte Weil zunächst mit dem 51jährigen Gustav Mayer – ein in Berlin lebender Sozialdemokrat, ehemals Journalist, bekannt geworden durch den 1919 erschienenen ersten Band seiner monumentalen Engels-Biographie, Jude und in den 20er Jahren planmäßiger außerordentlicher Professor für Geschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität. Es wurde schnell deutlich, daß Mayer eine andere weltanschauliche und politische Position vertrat als Weil. »Verständnisvolle Zusammenarbeit« zwischen Stifter und Institutsleiter »für eine gemeinsame Sache« war aber in Weils Augen die Voraussetzung dafür, daß die Stiftung ihren Sinn erfüllte.

Mehr Glück hatte er mit Carl Grünberg.

Grünberg wurde 1861 in Focşani in Rumänien (am östlichen Fuß der Ostkarpaten) geboren als Sohn österreichischer jüdischer Eltern. Mit 20 ging er nach Wien, um Jura zu studieren. Seine wichtigsten Lehrer waren Lorenz von Stein und Anton Menger – ersterer ein konservativer Staatsrechtler, der in der kapitalistischen Gesellschaft den günstigsten Boden für die Verwirklichung persönlicher Freiheit sah, sofern die besitzende Klasse mit Hilfe des Staates unermüdlich durch soziale Reformen Mißstände in Grenzen hielt; der zweite ein radikaler Juristen-Sozialist, der von einem aufklärerisch-rationalistischen Standpunkt aus in rechtssoziologischen Arbeiten die Organisation des Privateigentums kritisierte. 1892 trat Grünberg zum Katholizismus über – offenbar im Hinblick auf seine 1893 erfolgte Etablierung als Advokat und seine 1894 als Privatdozent für politische Ökonomie an der Universität Wien begonnene Universitätskarriere. »Grünberg war«, so heißt es in der ersten ausführlichen Biographie über ihn von Günther Nenning, »aus seiner rumänischen Heimat völlig mittellos zum Studium nach Wien gekommen; er hatte sich dieses Studium selbst verdient, wobei er noch den mit ihm gekommenen, gleichfalls Jus studierenden jüngeren Bruder unterstützte. Die Anwaltspraxis scheint keine Besserung seiner materiellen Lage gebracht zu haben, denn er gibt sie schon nach vier Jahren wieder auf, zugunsten der schmal dotierten, aber regelmäßiges Einkommen liefernden Stellung als Gerichtsbeamter.« (Indexband zum Nachdruck von Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 43.)

In diesen Jahren schrieb Grünberg seine fast 1000 Seiten starke Habilitationsschrift über Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien, die inspiriert war von Georg Friedrich Knapp, einem Vertreter der jüngeren Historischen Schule, bei dem er von 1890–1893 als advanced Student gelernt hatte. Unter den weiteren wissenschaftlichen Arbeiten, die in dieser Zeit entstanden, war eine 50seitige Studie über Socialismus, Kommunismus, Anarchismus für Ludwig Elsters 1897 erschienenes Wörterbuch der Volkswirtschaft.

Sobald die von dem Kathedersozialisten Eugen von Philippovich geförderte Ernennung zum außerordentlichen Professor für politische Ökonomie an der Universität Wien Ende 1899 Grünberg den Lebensunterhalt gewährleistete, gab er jede praktisch-juristische Tätigkeit auf, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. 1910 gründete er das Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Zu den Schülern des – so Nenning – »Kathedermarxisten« Grünberg gehörten die späteren Austromarxisten Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Friedrich Adler, Otto Bauer. In seiner wissenschaftlich-theoretischen Tätigkeit ging Grünberg aber über den akademischen Bereich hinaus. Er gehörte zu den Initiatoren der Wiener Volkshochschulen und des Sozialistischen Bildungsvereins. Gewarnt durch das Beispiel eines Kollegen, des Historikers Ludo Moritz Hartmann, der wegen seines Beitritts zur Sozialdemokratischen Partei über den Status des Privatdozenten nicht hinauskam, band Grünberg sich allerdings vor 1919 nicht parteipolitisch. Erst 1912, im 51. Lebensjahr, erhielt er nach vielen Widerständen einen Lehrstuhl, jedoch nicht für die gesamte politische Ökonomie, sondern für neuere Wirtschaftsgeschichte. Erst unter dem sozialdemokratischen Leiter des Unterrichtsressorts, Otto Glöckel, bekam Grünberg auch das Fach Volkswirtschaftspolitik zugewiesen und die Leitung des Staatswissenschaftlichen Instituts übertragen.

Grünberg hatte 1919 Otto Glöckel vorgeschlagen, in Wien ein »Studien- und Forschungsinstitut nach dem Muster des Pariser ›musée social‹« zu errichten und Karl Kautsky zum Leiter zu berufen. Die österreichischen Sozialdemokraten hatten sich jedoch politisch zu schwach gefühlt, ein solches Unternehmen durchzusetzen. In dem Angebot Weils sah Grünberg nun die Chance, eigene Pläne unter eigener Leitung doch noch zu verwirklichen und zugleich einem Übermaß an amtlichen und außeramtlichen Pflichten in Wien zu entkommen. Felix Weil seinerseits hatte mit Grünberg einen Institutsleiter gefunden, der sowohl ein überzeugter Marxist als auch ein anerkannter Wissenschaftler war. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät war sogleich mit Grünberg einverstanden und beschloß Anfang Januar 1923 einstimmig, dem Minister die Berufung Grünbergs auf den von der Gesellschaft für Sozialforschung zu stiftenden Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften vorzuschlagen.

Einen für seine Zwecke Geeigneteren hätte Weil schwerlich finden können. Korsch und Lukács, falls sie bereit gewesen wären, die Leitung des Frankfurter Instituts zu übernehmen, wären nicht in Frage gekommen, da sie als politisch aktive Kommunisten den offenen Protest der gesamten Universität provoziert hätten. Ein Kathedersozialist wie Wilbrandt, der Marx und den Marxismus schon früh sehr klug interpretiert hatte, aber beides ablehnte und angesichts der Entwicklung der Weimarer Republik nach dem Revolutionswinter zur Resignation neigte, hätte bei weitem nicht den weltanschaulichen und politischen Vorstellungen Weils entsprochen. Noch weniger hätten das die beiden anderen damals profilierten »Sozialisten« auf deutschen Lehrstühlen: Franz Oppenheimer und Johannes Plenge. Oppenheimer – ursprünglich praktischer Arzt, dann Wirtschaftswissenschaftler und seit 1919 Ordinarius für Soziologie und Wirtschaftstheorie in Frankfurt am Main auf dem ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie, den der Frankfurter Konsul Dr. h.c. Karl Kotzenburg eigens für seinen Freund Oppenheimer gestiftet hatte – pries als Universalmittel zur Befreiung der Gesellschaft von der Ausbeutung die Überwindung der »Bodensperre«, d.h. die Beseitigung des privaten Großgrundbesitzes, der die Ursache der Landflucht und damit des Überangebots an Arbeitern in der Stadt sei. Plenge – seit 1913 Ordinarius für Staatswissenschaften in Münster, wo er 1920 das »Staatswissenschaftliche Unterrichtsinstitut« gegründet hatte – vertrat, durch das Erlebnis der nationalen Solidarität im Krieg und die Kriegswirtschaft angeregt, einen organisatorischen nationalen Sozialismus, bei dem es um die nationale Gemeinschaft von Kapital und Arbeit ging.

Als Grünberg seine Arbeit in Frankfurt aufnahm, schienen die revolutionären Zeiten vorerst vorbei zu sein, waren aber Revolution und Kommunismus nach wie vor aktuelle Themen. 1923 war das große Krisenjahr gewesen – mit Streiks und Umsturzversuchen von rechts und links. Bei den Landtags- und Kommunalwahlen war der Einfluß der KPD gestiegen – eine Entwicklung, die noch nach der Stabilisierung der Mark im November 1923 und dem vorübergehenden Verbot der KPD im Winter 1923/24 anhielt. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 kam die KPD mit 3,7 Millionen Stimmen auf 12,6 % (nach der SPD mit 20,5 %, der Deutschnationalen Volkspartei mit 19,5 % und Zentrum/Bayrische Volkspartei mit 16,6 %). Daß die KPD nach ihrem kläglich gescheiterten Aufstandsversuch im Oktober 1923 verboten worden war, hatte ihrem Image kaum geschadet. Vom 7. bis 10. April 1924 führte sie in Frankfurt ihren IX. Parteitag durch, der, da auch nach der Aufhebung des Verbots der Partei am 1. März gegen viele Parteifunktionäre noch Haftbefehle liefen, in der Illegalität stattfand. In Frankfurt war gerade Messe, und die Ansammlung von 163 Delegierten fiel nicht auf. Erst im April fand die (von großzügigen Sozialdemokraten geführte) Polizei heraus, daß der kommunistische Parteitag im Frankfurter christlichen Hospiz stattgefunden hatte. Dergleichen konnte das Image einer radikalen und aktiven Partei, das unabhängig von der Mitgliederzahl für Einfluß und Gewicht der KPD sorgte, nur festigen.