Die Frau, die allen davonrannte - Carrie Snyder - E-Book

Die Frau, die allen davonrannte E-Book

Carrie Snyder

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Beschreibung

Eine Farm am Ende der Welt wird zum Mittelpunkt
eines ganzen Lebens.


Dass Aganetha Smart einst eine kühne Pionierin war, ist in dem Altenheim, in dem sie sitzt, niemandem bewusst. Als zwei junge Leute auftauchen, um sie zu interviewen, sagt sie bereitwillig zu. Trotz ihrer Gebrechlichkeit sehnt sie sich nach Abenteuer. Und auch wenn ihre Erfolge weitestgehend in Vergessenheit gerieten, erinnert sie selbst sich noch sehr genau daran. Als junge Läuferin gewann sie eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Es war ein revolutionärer Sieg, Frauen durften in dieser Kategorie zum ersten Mal teilnehmen. Doch so sehr Aganetha sich bemühte, vor ihrer Vergangenheit konnte sie nicht davonlaufen – ebenso wenig wie vor den Konventionen ihrer Zeit.

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Zum Buch

Dass Aganetha Smart einst eine kühne Pionierin war, ist in dem Altenheim, in dem sie sitzt, niemandem bewusst. Als zwei junge Leute auftauchen, um sie für einen Film über weibliche Athleten zu interviewen, sagt sie bereitwillig zu. Trotz ihrer Gebrechlichkeit sehnt sie sich nach Abenteuer. Und auch wenn ihre Erfolge weitestgehend in Vergessenheit gerieten, erinnert sie selbst sich noch sehr genau daran. Als junge Läuferin trotzte Aganetha jeder Erwartung und gewann 1928 für Kanada eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Es war ein revolutionärer Sieg, Frauen durften in dieser Kategorie zum ersten Mal teilnehmen. Als junges Mädchen wollte sie von ihrer Familie davon rennen, sich von deren Kummer und Geheimnissen befreien. Doch so sehr Aganetha sich bemühte, vor ihrer Vergangenheit konnte sie nicht davonlaufen – ebenso wenig wie vor den Konventionen ihrer Zeit. Durch die beiden jungen Besucher wird Aganetha wieder mit den Erinnerungen an ihr Leben konfrontiert, auch mit einer Lüge, die bis zum heutigen Tag Bestand hat. Und ihr wird mehr und mehr klar, dass die beiden nicht die sind, für die sie sich ausgeben …

Zur Autorin

CARRIE SNYDER ist Mutter von vier Kindern, Autorin, Organisationstalent, Träumerin, Läuferin, Lehrerin, Fotografin und jemand, der sich die Zeit nimmt, um sich mit einer Tasse Kaffee vor den Computer zu setzen und sich mit dem eigenen Blog zu beschäftigen oder ein Buch zu schreiben. Auch wenn ihre Tage mehr als ausgefüllt sind, fragt sie sich immer wieder, was sie noch tun kann, um sie etwas schöner und wertvoller zu machen. Sie veröffentlichte zwei Bücher mit Kurzgeschichten, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Ihr erster Roman »Die Frau, die allen davon rannte« stand bereits wenige Wochen nach Erscheinen auf der Shortlist des Rogers Writers’ Trust Fiction Preises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Carrie Snyder lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und zwei Hunden in Waterloo, Ontario.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © MaxyM (2), schankz, bkp,Jag_cz /shutterstock Mark Owen/Trevillion Images

Autorenfoto: © Melanie Gillis

Carrie Snyder

Die Frau,die allen davonrannte

Roman

Deutsch von Cornelia Holfelder-von der Tann

Die kanadische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Girl Runner« bei House of Anansi, Toronto, Kanada.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juni 2016,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 2014 by Carrie SnyderSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16538-3V001

www.btb-verlag.de

Für Kevin, der mir geholfen hat, meine innere Athletin zu finden. Und für unsere Kinder, Angus, Annabella, Flora und Calvin, die immer wussten wie man spielt.

STAMMBAUM DER SMARTS

VORWORT

Liebesgesang

Dies ist nicht der Liebesgesang der Aganetha Smart.

Nein, und erzählt mir nichts von Müdigkeit oder wohlverdienter Ruhe.

Mein ganzes Leben war und ist Bewegung, immer auf einen Fixpunkt am Horizont zu, der nie näher zu kommen scheint. Anfangs habe ich ihn mit Begeisterung und Zuversicht gejagt, etwas später dann frustriert, noch später voll Trauer und schließlich mit der inneren Klarheit einer Entfesselungskünstlerin. Es ist viel zu spät, um damit aufzuhören, auch wenn ich nur noch im Kopf renne, aus Gewohnheit.

Man tut, was man tut, bis man das Seine getan hat. Man ist, wer man ist, bis man nicht mehr ist.

Ich heiße Aganetha Smart und bin hundertvier.

Glaubt nur nicht, dass das ein Privileg wäre.

Ich habe alle überlebt, die ich je geliebt habe und die mich je geliebt haben. Und ich habe mich auch nicht besonders gut gehalten. Schaut mich doch an.

Ich bin von Fremden umgeben. Tagsüber sitze ich im Rollstuhl in einem Zimmer, das nach Hühnerfett und Windeln riecht. Für die Nacht hieven sie mich in ein ungemütliches Bett und sperren mich unter einer festgestopften Decke ein, die nach Chlorbleiche stinkt. Ich will gar nicht schätzen, wie lange das schon so geht. Ich bin ein bisschen schwerhörig – wenn auch nicht so schwerhörig, wie die Leute hier glauben – und beinah blind, also muss ich zugeben, dass meine Beschreibungen nicht ganz korrekt sind. Es könnte durchaus sein, dass ich in einer lichtdurchfluteten Suite wohne und in einem breiten Himmelbett schlafe und es nur nicht zu würdigen weiß. Aber ich glaube nicht, dass das so ist: Mein Geruchssinn ist noch intakt.

Was das Sprechen anbelangt, kommen die Worte nicht ganz so aus meinem Mund, wie ich es will. Nur mit großer Mühe kann ich mich verständlich machen. Viel leichter, einfach irgendwas vor mich hinzubrabbeln, eine Kette unzusammenhängender, aber vertrauter Floskeln, die auf der Zunge bereitliegen, für den Notfall oder eine Situation, die irgendwelche Artigkeiten erfordert: »Tja, also, ich weiß nicht, ach, wieso denn …«

Es ist eine Einschränkung, das will ich gar nicht verhehlen.

Ich bin in einem Zustand, der schlicht wirkt. Aufs Nötigste zusammengestutzt. Reduziert. Eingedampft.

Das Erstaunliche ist, wie wenig übrig bleibt. Was an Beweisen? Ein klappernder Schuhkarton voller versengter Medaillen und niemand, der sie haben will. Mein Name in einer vergessenen Bestenliste. Tägliche Wortergüsse, unter Termindruck produziert, auf Zeitungspapier gedruckt, beim Abendessen schon überholt.

Meine Leistung ist es, so lange gelebt zu haben, dass ich mein eigenes Leben verschwinden sehe. Wer wird einen Nachruf auf mich schreiben? Das beschäftigt mich wohlgemerkt nicht übermäßig. Aber trotzdem.

Es ist zu spät, um die Taktik zu ändern, Probleme zu umlaufen, mir die große Tempoexplosion für das letzte Stück aufzuheben. Dieses Rennen kann man nicht noch mal laufen. Und ich laufe immer noch. Ich laufe und laufe, ohne auszuruhen, als ob selbst jetzt noch Zeit wäre und ein Ziel, und ich doch noch – bevor die große Stille beginnt – erreichen werde, wovon ich noch gar nicht weiß, was es ist.

1

Besuch

»Gehen wir, Aggie?« Fannie drückt meine Finger.

Wir laufen den staubigen Fahrweg entlang, ich an ihrer Hand. Fannie ist nicht wie die anderen. Sie bewegt sich wie das Wasser eines schlammigen Bachs. Wir bleiben stehen, um Wildblumen zu pflücken, reißen ihre starken Stängel ab. Die zarten Blüten hauchen in unseren Händen ihr Leben aus. Hohes Gras vibriert vor Hitze. Wir bahnen uns einen Weg durch Himbeersträucher und am vorderen Feld entlang, wo Mais steht, der mir bis über den Kopf geht und Fannie auch.

Fannies Haar löst sich aus dem Knoten. Feine Strähnchen umstrahlen sie. Ich blicke in ihr Gesicht; es ist wie der Mond, der auf mich herabblickt.

Wir gehen auf den Friedhof. Wir gehen immer auf den Friedhof.

»Da sind wir«, sagt Fannie zufrieden. Ich klettere über den bemoosten Zaun. Das dunkle, zerfurchte Holz ist feuchtkühl an meinen Knien. Fannie geht durchs Eingangstor. »Hallo, ihr«, sagte sie. »Hallo, Jungs. Guten Morgen, Mutter.«

Ich springe vom Zaun und lasse die sterbenden Wildblumen fallen. Mein Job ist es, die Holzäpfel zu entfernen, die von den überhängenden Ästen fallen. Fannie rafft ihren Rock aus dem Weg und kniet sich auf ein Grab, um das Unkraut auszurupfen. Das ist ihr Job.

Ich schmeiße Holzäpfel, jeweils eine ganze Handvoll, und mache dazu Geräusche wie von Geschützfeuer, von explodierenden Granaten, so wie ich mir vorstelle, dass Krieg klingt. Unser Bruder Robbie ist im Krieg – mein Halbbruder, Fannies Ganzbruder.

Fannie klopft aufs Gras, damit ich zu ihr komme. Ich beiße in einen Holzapfel, spucke das Stück aus.

»Zu früh geboren«, hebt Fannie an. Ich kenne ihre Geschichten in- und auswendig. »Zu früh geboren«, sagt sie noch mal, während sie auf mich wartet, jetzt auf dem Boden sitzend, die Knie mit den Armen an den Busen gezogen. »Ihre Haut war dünner als Krepp, blau wie die Haut von Vogelbabys.«

Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Ich knie mich hin und streichle das Gras über den Zwillingen, die zusammen in einem winzigen, kastenförmigen Sarg begraben sind. Ich sehe schon fast seine Umrisse im Boden, das dünne dunkle Holz, auf das von allen Seiten die Erde eindrückt.

»Waren es Jungen oder Mädchen?«, frage ich. Fannie wartet darauf, dass ich das frage.

»Jungen natürlich.«

Ich weiß es ja längst, aber ihre Antwort macht mir dennoch Gänsehaut. Das hier ist ein Friedhof voller toter Kinder, alles Jungen, meine Halbbrüder. Ich bin froh, dass ich als Mädchen auf die Welt gekommen bin.

Die Zwillinge: die ersten beiden Kinder unseres Vaters Robert Smart und seiner ersten Frau, die Fannies Mutter war – meine nicht – und, wie ich weiß, Tilda hieß. Die Zwillinge lebten jeweils ein paar Minuten, noch nicht mal eine Stunde, geschweige denn einen Tag.

Danach kam Robbie, der am Leben und gesund ist und auf den Schlammfeldern Frankreichs kämpft. Seine Briefe an uns sind nicht sehr ausführlich, außer, wenn es um den Schlamm geht. Er schreibt, dass er immer nasse Füße hat und dass die Soldaten am »Grabenfuß« leiden. Zehen werden schwarz.

Das wüsste ich gern genauer. Ich denke jetzt darüber nach.

»Fallen ihnen die Zehen ab?«, frage ich Fannie.

»Wem?«

»Den Soldaten im Krieg, dort im Schlamm.«

»Darüber sagt Robbie nichts.«

»Kannst du ihm schreiben und ihn fragen?« (Ich kann noch nicht schreiben.)

»Wir haben doch in unseren Briefen nettere Sachen zu sagen, oder? Robbie will bestimmt nicht drandenken, dass ihm die Zehen abfallen könnten.«

»Vielleicht sind sie ihm ja schon abgefallen.«

»Das würde er uns erzählen.«

Aber ich frage mich: Würde er? Ich kann es kaum erwarten, heimlich seine Füße zu inspizieren, wenn er wieder da ist, wann auch immer das sein mag. In der Zeitung steht, unsere Jungs sind Weihnachten wieder zu Hause, aber Weihnachten ist noch lange hin.

Nachdem Robbie auf der Welt war, kamen Fannie und dann Edith, eine Glückssträhne.

Fannie ist älter als Edith, aber Edith wohnt nicht mehr bei uns. Im Herbst hat sie einen Mann namens Carson Miller geheiratet, und sie wohnen auf der anderen Seite vom Maisfeld, auf der nächsten Farm dort drüben. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich Edith unter der Hochzeitslaube stehen, die unser Vater für sie gebaut hat – ich finde die Laube schön, und ich verstehe nicht, warum es meiner Mutter solchen Kummer machte, dass der Bogen angeblich zu kahl war. In meinem Kopf steht Edith allein da, mit einem Strauß von frisch geschnittenen Herbstblumen. Ihr eigens genähtes Kleid ist eng an den Unterarmen und hochgeschlossen, rabenblau.

Fannie rutscht zum nächsten Grab hinüber und zieht mich mit. Ich fahre mit dem Finger die Buchstaben in dem flachen Stein nach, kratze mit dem Nagel Moosflecken weg.

Hier liegt noch ein Junge. Nach Ediths Geburt war die Glückssträhne zu Ende.

»Fieber«, sagt Fannie, und ihre Finger zupfen winzige Unkrautpflänzchen. »Nur ein halbes Jahr.«

Aber ein halbes Jahr ist nicht nur, ich weiß das.

Ediths Baby ist schon ein halbes Jahr. Ich darf das strampelnde, protestierende Kerlchen herumtragen, sooft ich will. Ich darf auch rübergehen, wann ich will, solange ich es Mutter sage – sie gibt mir dann gern ein Körbchen mit irgendwas mit: frischen Salzbrötchen oder einem Klumpen Butter oder Bohnen und Tomaten aus unserem Garten. Zu Hause bin ich die Jüngste, und es gefällt mir, zur Abwechslung »Little Robbie« zu hüten – so nennen wir ihn, um ihn von Robbie, meinem Bruder, und Robert, meinem Vater, zu unterscheiden.

Ich bin immer hin- und hergerissen, wenn ich bei Edith bin. Das Haus und der Garten haben so was Unfertiges, und es fühlt sich anders an als zu Hause. Komisch.

Ediths Gemüsegarten ist halb so groß wie unserer und voll Unkraut. Die Blumen in den Blumenbeeten sind mickrig, als hätten sie es aufgegeben zu wachsen. Das Haus ist vollgestopft und riecht nach Feuchtigkeit und dreckiger Wäsche und Suppe.

Edith begrüßt mich, wenn ich überraschend auftauche, mit einem irritierten »Oh, Aggie«, rot im Gesicht, hektisch, mit schweißfeuchtem Haaransatz. Sie setzt sich nie hin und bietet mir nie einen Keks an. (Vielleicht bäckt sie ja keine?) Sie drückt mir das Baby in die Arme und eilt, vor sich hinmurmelnd, davon, um irgendwas anderes zu machen – Kekse zu backen jedenfalls nicht.

Little Robbie und ich sehen sie dann eine ganze Zeitlang nicht – es ist, als wäre sie verschwunden –, bis er heult und ich schwitze und ihn nicht beruhigen kann und mir die Arme wehtun und ich am liebsten auch losheulen möchte. Da taucht dann plötzlich Edith auf. »Da seid ihr!« Ärgerlich, als ob sie uns schon die ganze Zeit überall gesucht hätte.

Ich könnte also hingehen, sooft ich will, aber ich gehe nicht so oft hin.

Fannie wendet sich langsam von dem Baby, das am Fieber gestorben ist, dem nächsten Grab zu, dem, das für sie das schlimmste ist und zu dem wir uns jetzt beide vorgearbeitet haben: dem Grab des kleinen James.

»Es war Heuernte«, sagt Fannie und zieht jedes Wort in die Länge. »Vielleicht hat er ja geschwitzt und wollte sich abkühlen. Vielleicht hat er sich auch verlaufen. Er war ja erst zwei – wie hat er übers hintere Feld zum Teich zurückgefunden? War schon ertrunken, bevor wir überhaupt merkten, dass er nicht mehr da war, so schnell ging das. So schnell kann es gehen.«

Nachbarsjungen, die am Teich angelten, sahen James bäuchlings im Wasser treiben, zogen ihn heraus und schleppten ihn schreiend zum Farmhaus.

Als sie ihn im Hof ablegten, war der kleine James noch nicht starr, so kurz war er erst tot.

»Ich war sieben«, sagt Fannie. »Älter als du. Die Nachbarsjungen – jetzt sind sie im Krieg, aber damals waren sie noch Jungen – Jerry und Jack – ich höre sie jetzt noch schreien. Sie legten ihn auf das Stück Gras vor der Tür zur Sommerküche. Alle kamen angerannt, meine Mutter kniete sich neben ihn, versuchte, ihn hochzuheben, redete auf ihn ein, er solle atmen, atme doch, bitte. Und da wusste ich, er musste tot sein. Also rannte ich weg und versteckte mich in der Scheune, in den Bansen, unterm Stroh. Der Schock. Der hat meiner Mutter das Herz gebrochen.«

Kurz vergesse ich, dass Fannie, wenn sie »meine Mutter« sagt, die erste Mutter meint, nicht meine, und es erschreckt mich, mir auch nur einen Atemzug lang, auch nur irrtümlich vorzustellen, dass irgendetwas meiner Mutter das Herz brechen könnte.

Von den Kindern meiner Mutter ist keins gestorben, keins der Gräber ist ihre Trauerstätte. Ich glaube, das liegt daran, dass meine Mutter nur Mädchen bekommen hat, uns drei: Olive, dann Cora und zuletzt mich, Aganetha.

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass meine Mutter nicht so ist wie die erste Mutter. Die erste Mutter – Tilda, forme ich lautlos ihren Namen – ist undeutlich, in einen schwarzen Schleier gehüllt von all ihren Trauerjahren. Die Geschichten über Tilda handeln nicht wirklich von ihr. Sie ist im Hintergrund, weint um ihre toten Babys, und dann, plötzlich, ist sie selbst unter der Erde.

»Kindbettfieber«, sagt Fannie, aber ich verstehe etwas anderes. Für mich ist die erste Mutter am Kind-weg-Fieber gestorben.

Das alles ist fast gleichzeitig passiert: dass der kleine James ertrank, dass unser Bruder George zu früh kam – »So winzig, dass wir ihn in eine Schublade legten« – und die erste Mutter starb.

Ich stelle mir Fannie vor, wie sie sich unterm Stroh versteckt, auch nach dem Dunkelwerden noch, wie ein Kätzchen im Nest. Wer zieht sie schließlich hervor? Fannie sagt es nicht.

Die Männer aus der Nachbarschaft kamen, um fertig zu heuen. Vater saß schweigend am Tisch und aß alles, was ihm die Nachbarsfrauen vorsetzten. Fannie und Edith, sieben und sechs Jahre alt, löffelten dem winzigen Neugeborenen Milch in den Mund – meinem Halbbruder George. Alle sahen zu, wie Vater aß und aß und aß, als hätte sein Magen ein Loch, durch das alles Essen hinausfiel, und fragten sich, ob er je wieder sprechen würde. (Muss er getan haben; noch vor dem nächsten Frühling heiratete er meine Mutter.)

Mir ist so etwas Trauriges noch nie passiert.

»Dass James ertrunken ist, das hat meine Mutter umgebracht«, sagt Fannie. »Ich glaube, es war gar nicht George. George konnte nichts dafür.«

Ich weiß, was sie als nächstes sagen wird, und warte darauf.

»Ich hätte auf ihn aufpassen müssen, Aggie. Auf ihn aufzupassen war mein Job. Und was habe ich getan?«

Wir sind jetzt fast fertig. Gleich werde ich wieder Holzäpfel aufsammeln und in die Gegend werfen. Nur eins muss Fannie noch sagen, während wir nebeneinander hier knien.

Dünnes gelbes Haar hebt sich von meiner Kopfhaut. Ich kann mein Gesicht nicht sehen und weiß nicht, dass es voller Sommersprossen ist und jetzt, wo es schweigend zu meiner Schwester aufblickt, lang und feingemeißelt aussieht. Fannie lächelt und ist gleichzeitig ernst.

»Auf dich werd ich immer aufpassen, Aggie. Versprochen.«

Das war’s.

Die Luft ist so klar. Der Himmel so friedlich. Die Insekten sirren und summen. Die Sonne scheint.

»Besuch für Sie, Mrs. Smart!«

Die Pflegerin hat mich geweckt. Eben noch lag ich in einem leicht driftenden Strom von Schlaf, kein unangenehmer Ort, und es ärgert mich, in dieses Zimmer zurückgezerrt zu werden.

»Hallo, aufwachen, Mrs. Smart!«

Mein Mund ist trocken, die Lippen lösen sich mühsam voneinander, als ich ansetze, das allseits Bekannte zu sagen: Ich war nie verheiratet.

Ich sage es ihnen immer wieder, aber sie bestehen auf Missus, als wäre es beschämend für mich, unverheiratet zu sein. Üben sie ihr Zwitschern vor dem Spiegel, diese Pflegerinnen? Die hier zupft meine Wolljacke zurecht, als wäre ich ihr Spielzeug, eine Apfelkopfpuppe, die sie selbst gebastelt hat und jetzt anderen Kindern vorführen will, die zum Spielen gekommen sind.

Ich höre mich brabbeln: »Du liebe Güte, also wirklich …«

»Mrs. Smart, wir haben heute Morgen eine tolle Überraschung für Sie! Sie haben Besuch! Das ist doch was, oder?«

Wo sie recht hat, hat sie recht. Das ist allerdings was. Wer soll mich denn besuchen kommen? Ich kenne doch niemanden mehr. Alle sind doch tot.

Ich versuche zu erklären, dass ich großen Durst habe. Ich erwische sie am Unterarm, aber sie ist stärker. Sie entzieht sich mir, tritt hinter mich, um die Bremse zu lösen – ich höre das Klicken –, und schiebt den Rollstuhl aus der Ecke, in die sie mich gestellt haben, beim Fenster, das nie geöffnet wird und an kalten Tagen völlig beschlägt. Der Heizkörper gluckert. Ich habe nichts gegen das Plätzchen. Geliefert bin ich erst, wenn sie mich vor dem verflixten Fernseher parken.

»Ich habe Durst«, krächze ich.

Nein, sie hört es nicht. Sie beugt sich mit verhaltener Erregung vor und säuselt in mein Haar – das, was noch davon übrig ist, hier ein bisschen, da ein bisschen, wie die Wurzelfäden eines alten Rettichs.

»Da sind ein junger Mann und eine junge Frau für Sie, Mrs. Smart. Sie möchten Sie ein bisschen mit nach draußen nehmen. Und es ist ja auch ein herrlicher Tag dafür. Wir packen Sie gut ein. Ich habe die Namen vergessen. Aber da sind sie ja schon. Machen Sie ein freundliches Gesicht, Mrs. Smart. Sagen Sie Ihrem Besuch Guten Tag.«

Aus Prinzip weigere ich mich zu tun, was man mir sagt.

Der Duft frischgeschrubbter Haut weht mir entgegen. Ich fühle, wie sich eine Hand zaghaft auf meine legt, als hätte sie Angst vor alten Knochen, Sehnen und Adern, Angst, mich zu zerbrechen. Haar schwingt leuchtend rot zwischen unseren Gesichtern. Das Mädchen nennt einen Namen, und meiner ist es nicht, aber vielleicht ja ihrer. Er sagt mir nichts. Kein Klingeln.

»Sprechen Sie lauter, junge Frau, sie ist fast taub. Stimmt doch, Mrs. Smart?« Mit erhobener Stimme. »Aber wir wissen, dass sie uns hört. Ist doch so, Mrs. Smart, oder? Sie ist nicht völlig in ihrer eigenen Welt.«

»Noch mal hallo«, sagt das Mädchen zu mir, dann sagt sie zu der Pflegerin: »Ist schon eine ganze Weile her. Sie erinnert sich vielleicht nicht mehr an uns.«

Ich sage nichts.

»Und Sie kennen Mrs. Smart woher?«, fragt die Pflegerin.

Ich könnte es ihr sagen, weil ich mir ganz sicher bin – dieses Mädchen kennt mich überhaupt nicht. Kann sie gar nicht, so jung, wie sie ist. Alle, die mich kannten, sind tot, unter der Erde, dahin, weg, aus meinem Leben getilgt, Bande gekappt, Brücken verbrannt, alle verschwunden, verschollen.

»Das ist eine lange Geschichte«, höre ich das Mädchen sagen. Sie sei eine entfernte Verwandte, setzt sie hinzu, aber ihr Lachen ist nervös, das Lachen eines Teenagers. Das Mädel lügt, befinde ich, und versuche, ein Rumpeln unter meinem Brustbein zu deuten, das vielleicht nur Aufregung ist. Ich sitze seit Jahren in diesem Rollstuhl, tagein, tagaus, während das Licht draußen vor dem Fenster weniger wird und mehr wird und wieder weniger wird und die Jahreszeiten vorbeizuckeln und der Himmel düster wird von Schnee und matt von Sommerhitze. Hier gibt es nur minimale Veränderungen. Was das Erscheinen des Mädchens zu etwas Monumentalem macht.

Sie sagt etwas – nicht zu der Pflegerin, sondern zu mir.

»Gehen wir?«, fragt sie, als ob ich in meinem Rollstuhl irgendeine Wahl, irgendeine Handlungsfreiheit hätte. Sie berührt wieder meine Hand, ihre Finger gleiten unter meine, um meine herum, so leicht, dass ich ihren Druck gerade eben spüre.

Ich sage zu ihr, du erinnerst mich an jemanden. Komm näher, ich flüstere es dir in Ohr.

Fannie.

Fannie ist immer noch so jung. Sie ist geblieben, wie sie war, und ich nicht. Aber wenn sie mich besucht, das Gesicht stets abgewandt, versteckt hinter ihrem Haar, hinter einem Schatten, dann fühle ich das Mädchen in mir, lösen sich die Jahre in nichts auf. Ich fühle den Trost, wenn meine große Schwester mir die Hand entgegenstreckt.

Gehen wir, Aggie?

Sie ist schon fast hundert Jahre tot, aber sie schreitet mühelos durch meine Gedanken, mit gelöstem Haar, breiten Hüften, weißgebleichter Schürze.

»Gehen wir?« Die Hand des Mädchens streift sachte mein Handgelenk, wie ein Angebot, wartend.

Ich schiebe meine Hand in ihre.

2

Geschwister

Wir sind unterwegs, aus dem miefigen Zimmer in den antiseptischen Flur.

Die vertrauliche Stimme der Pflegerin: »Wissen Sie, Sie sind der erste Besuch, den sie bekommt, seit ich hier arbeite. Nett, dass Sie gekommen sind!« Diesen Ton kenne ich, von Stimmen, die über meinen Kopf hinweg sprechen. Sie hat das Suppenschälchen vom Tisch gerissen, auf ihren Schoß. Sie hat ins Bett gemacht. Sie ist auf dem Gang herumgelaufen, hätte stürzen und sich wer weiß was brechen können. Wer hätte gedacht, dass sie noch gehen kann!

Sprich ruhig weiter. Solange ich nur auf dem Weg irgendwohin bin, auf Gummirädern dahinquietsche, weg von dem plärrenden Fernseher, dem gedämpften Raum, dem Pfeifen und Keckern, Rülpsen und Stöhnen. Kurz bleibt der Rollstuhl an der Schwelle hängen, aber ein professioneller Schubs mit den Handgelenken, und wir sind drüber und draußen.

Ich höre ein freudiges Glucksen aus meiner Kehle kommen, aber es klingt ziemlich erstickt. Still, Alte, denke ich. Sie haben vergessen, dass du hier bist.

Wir bleiben im Flur stehen, im Neonlicht und Desinfektionsmittelgeruch. Die Pflegerin will mich noch nicht weglassen. Sie ist beunruhigt wegen dieses Glucksens.

Sie sagt: »Wenn Sie bitte hier Ihren Namen eintragen, mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift.«

Diese Informationen könnte ich auch brauchen. Und wenn ich Geburtstag hatte und jetzt schon hundertfünf bin? Wenn das Frühstück schon vorbei ist und niemand mir meinen Tee in den Mund gelöffelt hat? Wie heißt das Mädchen? Den Namen zu wissen wäre vielleicht nicht schlecht. Könnte ich womöglich gebrauchen.

»Kaley«, liest die Pflegerin von dem Blatt ab. »Das ist ja ein ungewöhnlicher Name.«

»Nicht besonders«, sagt das Mädchen.

»Heutzutage ist wohl gar nichts mehr ungewöhnlich, nicht wahr?« Die Pflegerin will, dass die Leute sie mögen, was, wie ich ihr sagen könnte, meistens die Garantie dafür ist, dass die Leute einen nicht mögen.

»Kaley«, sagt das Mädchen, »ist gälisch.« Und wir sind wieder bei dem Namen.

Kaley. Ich summe das Wort im Kopf. Kaley, wie Kale, Grünkohl, bitter bis zum ersten Frost und danach praktisch unverwüstlich. Kaley, und der andere – da ist noch jemand, ein junger Bursche – sagt, er heißt Max. Es ist das erste Mal, dass er den Mund aufmacht. Zu Max sagt die Pflegerin nicht, dass er das Formular unterschreiben soll. Zu mir auch nicht.

Jetzt beginnt ein kompliziertes Ausgehritual, das ich mir nicht ausgesucht habe. Das Feststopfen der Flanelldecke. Das Schließen des Taillengurts, damit ich nicht aus dem Rollstuhl kippe. Noch mehr Zurren und Zupfen, noch mehr Gemache an meiner Strickjacke, mit meinen Händen. Die Pflegerin zieht mir eine Wollmütze bis über die Ohren, was mit Sicherheit nicht besonders vorteilhaft aussieht. Es juckt jetzt schon.

Das Mädchen sagt: »Fertig?«

Sie zieht die Wollmütze ein bisschen anders hin, was zwar überflüssig, aber trotzdem von beruhigender Wirkung ist. Ausgezeichnet. Ich fühle, wie die Pflegerin sich entspannt. Sie wird uns gehen lassen, gleich. Sie wird uns zusammen hinausgehen lassen.

Als sich das Mädchen in meine Blicklinie beugt, ist ihr Gesicht plötzlich nicht mehr trüb-verschwommen, sondern etwas klarer. Ich würde sagen, ihr Haar ist gefärbt, nicht naturrot. In meiner Familie hatte niemand rote Haare, wenn auch Edith einen rothaarigen Mann geheiratet hat. Carson, so hieß er. Aber ihr Sohn war dunkelhaarig, wie die meisten von uns – alle außer mir. Ihre Tochter war blond, wie es das Mädchen hier wahrscheinlich auch ist, aber jetzt bringe ich Sachen durcheinander. Sie ist zu jung, um Ediths Tochter zu sein, viel zu jung, wenn ich so alt bin, wie ich glaube.

»Wann dürfen wir Mrs. Smart zurückerwarten?«, fragt die Pflegerin.

Das Mädchen sieht den schweigsamen Burschen, diesen Max, fragend an und sagt dann: »Weiß nicht. In ein, zwei Stunden?«

»Prima! Ein kleiner Spaziergang, ein bisschen Sonne, ein Tässchen Tee vielleicht? Tee mag sie sehr gern, stimmt’s, Mrs. Smart?« Sie ist so leichtgläubig, diese Pflegerin, ganz damit beschäftigt, ihre Autorität herauszukehren, ihr Wissen um anderer Leute Vorlieben und Abneigungen.

Aber ich habe es an der Stimme des Mädchens gehört, an dem Stocken, dem kurzen Anlauf, um die Lüge geschmeidig herauszubringen. Ich wage es kaum zu glauben. Sie haben nicht vor, mich zurückzubringen.

Lügen. All die verschiedenen Sorten.

Da gibt es die Auslassungslüge, die Vermeidungslüge, die glatte Lüge, das Aufschneiden, das leichte Schönen oder Frisieren, das schlitzohrige Vertun, das Auf- oder Abrunden, die Schmeichelei und die kleine Nettigkeitslüge, da gibt es die kühne, großangelegte Lüge, die durch tausend kleine Lügen untermauert wird, die Verschleierungslüge, die vermischt und vermengt, die Ablenkungslüge, die Lüge, die schon weiß, dass sie auffliegen wird, die kaltblütige Lüge und die geistesgegenwärtige Lüge und die panische Lüge, die Lüge, die immer weitere Lügen braucht, um ihre Spuren zu verwischen, und natürlich die Lüge, der sogar der Lügner selbst aufsitzt, weil er gar nicht weiß, was er da verbreitet.

Die letzte Sorte ist die allergefährlichste, weil sie so ziemlich jeden täuschen kann. Sie kann am Ende wie die Wahrheit wirken.

Und so denke ich jetzt an eine weitere Lüge. Die Lüge, die ich selbst gewählt habe, die immer noch fortlebt, mit mir und ohne mich. Die Lüge, die schützt. Die behütet. Die sich ein fragiles Versteck aus Liebe erschafft.

Fannie scheucht mich weg.

»Aber wo willst du denn hin?«, frage ich. »Kann ich nicht mit? Warum nicht?«

Sie geht den Fahrweg entlang, ohne Eile selbst jetzt, wo sie mich abwimmelt. Gelassen.

»Ist es wegen Robbie? Bist du traurig? Bist du sauer?« Ich verfolge sie durch die Himbeersträucher. In diesem Sommer wächst auf unserem vorderen Feld Weizen, der sich dicht und grün hin- und herwiegt.

Fannie bleibt nicht am Friedhof stehen. Sie geht weiter. Ediths Mann, Carson, hat auf dem Feld der beiden wieder Mais angepflanzt, und dorthin scheint Fannie zu wollen.

»Warum sagst du nichts? Warum kann ich nicht mit?«

Sie ist schon ein ganzes Stück am Zaun vorbei, als sie sich umdreht. »Aggie, ich gehe jetzt weiter. Du darfst mir nicht hinterherlaufen.«

»Aber warum denn nicht?« Mein Gesicht verzieht sich. Ich blinzle heftig gegen die Tränen an. Fannie ist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mich nie abweist, mich nie wegstößt, der den Wirbel, den ich nun mal ständig mache, zu genießen scheint.

Sie ruft mich zu sich, und ich renne hin, weil ich glaube, dass sie sich’s anders überlegt hat. Sie drückt mich an ihre warme, weiche Brust. Ich hole von der Größe her auf, gehe ihr schon bis übers Kinn. Ich bin neun und im Wachstum, sie ist zweiundzwanzig und längst ausgewachsen. Sie hält mich mit gestreckten Armen von sich und schaut mir in die Augen, und ich sehe wie durch ein mit Essig und Einwickelpapier frischgeputztes Fenster, dass sie etwas verbirgt.

Fannie verbirgt etwas – Fannie, die mich an allem teilhaben lässt, was sie weiß, die so durchsichtig ist wie Glas.

Etwas in mir verdreht sich, zieht sich zusammen, jäh. Das Schwatzen der Insekten im Gras um uns herum wird lauter und leiser. Fannie streicht über mein widerspenstiges Haar. Ich mag ihr Gesicht so sehr.

Sie sagt: »Komm mir nicht nach.«

Sie wartet, dass ich gehe. Ich gehe zum Friedhof und betrete ihn durchs Tor, stehe da, die Arme steif am Körper, stumm, verraten. Sieht sie’s? Oder nicht?

In diesem Sommer ist da ein neuer Stein, für einen weiteren toten Smart-Sohn. Das Gras auf seinem Grab ist nicht frisch: Da ist nicht gegraben worden, weil es nichts zu begraben gab. Der Stein ist flach wie die anderen, mit seinen eingemeißelten Initialen und seinem Geburts- und Todesjahr. R. S. 1893–1916. Ich schaue auf die Initialen und denke: Robbie Smart. Ich werde nie erfahren, ob seine Zehen nur schwarz geworden oder abgefallen sind.

Ich sammle eine Handvoll Holzäpfel auf und werfe sie als Schnellfeuersalve auf einen Vogel im Geäst eines der Bäume. Als ich nachschaue, ist Fannie weg.

Sie ist nicht mehr zu sehen, aber ich erkenne deutlich den Pfad, den sie ins Gras getreten hat, das auseinandergedrückte Unkraut, das anzeigt, wo sie entlanggegangen ist. Also tue ich, was sie mir verboten hat, und gehe ihr nach. Ich ducke mich, tue so, als wäre ich ein Soldat im Krieg, ein Spion. Hinter den Linien. Oder im Niemandsland, wo Robbie gestrandet war, als er erschossen wurde. In dem Telegramm stand kaum etwas Konkretes. Zum Beispiel stand da nicht, an welcher Stelle des Körpers Robbie der tödliche Schuss getroffen hatte.

Ich glaube, es muss der Kopf oder das Herz gewesen sein. Ich glaube, es muss ein durchgehendes Loch gewesen sein, wie eine Röhre, durch die man das Tageslicht am anderen Ende sehen konnte, und so lag er da am Boden, und ein einziger Tropfen Blut kullerte ihm über die Stirn, und seine Augen starrten in den Himmel.

Ich habe aufgeholt.

Ich sehe Fannie, gar nicht so weit vor mir, und sie ist nicht allein. Sie ist fast so groß wie der Mais auf dem Nachbarfeld, und der Mann ist größer.

Ich erstarre wie ein Kaninchen, das sich auf einer freien Fläche versteckt.

Es ist keiner von den jungen Männern, die der Krieg ausgespuckt hat, weil ihnen ein Bein fehlt oder ein Auge oder weil ihre Lunge vom Gas pfeift. Aber so alt ist er auch noch nicht. Er ist angezogen wie der Farmer, der er ist – ich kenne ihn, gut sogar. Ich sehe, dass er Fannies Hand hält. Ihr Kopf ist geneigt, das Gesicht nicht zu sehen, ihr zusammengenommenes Haar streift seine Schulter, und sie gehen miteinander in den Mais. Sie sind verschwunden, einfach so, die hohen Stängel wackeln, lange Troddeln von braungoldenen Fäden an den hängenden Köpfen.

Ich richte mich auf, als wollte ich ihnen folgen. Aber ich weiß, das Maisfeld ist ein verwunschener Ort, die ordentlichen Reihen hüten seine Geheimnisse, und ich folge den beiden nicht.

Ich denke, dass Fannie doch recht hatte: Sie wollte weitergehen, ohne mich, und ich hätte sie gehen lassen sollen. Ich hätte sie nicht im Mais verschwinden sehen sollen, mit einem Mann, der zur Familie gehört, wenn auch nur angeheiratet.

Ich kann ihn nicht beim Namen nennen, nicht mal im Kopf.

Ich kann gar nichts außer rennen – nur weg.

Ich renne über das zertretene Unkraut.

Ich renne an den Gräbern vorbei.

Durch die Himbeersträucher, die nach mir greifen und mich zerkratzen. Durch den aufgewirbelten Staub des Fahrwegs, der mir die Kehle verstopft. Unser großer schwarzer Hund umkreist mich im Scheunenhof, bellend, verwirrt. Mein Atem geht schwer, mein Herz hämmert, Haar peitscht mein Gesicht. Aber meine Füße berühren den Boden kaum.

Ich wusste gar nicht, dass ich so schnell rennen kann – fliegen kann, so schnell bin ich. Jetzt weiß ich’s. Ich weiß, dass Schock sich in etwas fast schon Rauschhaftes verwandeln kann, durch bloße Geschwindigkeit.

Das Gehirn ist ein primitives Instrument. Seine ältesten, wildesten Lieder spielt es am besten.

Ich sause in den Stall – der nach Mist riecht – und die Leiter zur Tenne mit den Bansen hinauf.

Atme. Klettere. Atme. Niese, niese.

Ich arbeite mich durch das locker fast bis ans Gebälk aufgehäufte Stroh, weil ich weiß, wo ein Nest mit ganz kleinen Kätzchen ist. Scharfes Stroh, das feine rote Linien in nackte Haut kerbt. Mir läuft die Nase, meine Augen tränen, und ich bin fast blind vor Heuschnupfen, aber ich stolpere zu dem Nest, reibe mir das Gesicht fest mit den Handrücken. Die Kätzchen sind noch keine Woche alt, mit Augenschlitzen und enganliegenden Öhrchen, ein Durcheinander von suchenden, hungrigen Fellknäulen. Ohne mich bei der Katzenmutter zu entschuldigen, hocke ich mich hin, ziehe ein rotgetigertes Dingelchen aus der Masse und drücke mir seinen warmen Körper ans Kinn. Es maunzt und ist blind, und ich schmiege Mund und Nase in sein staubiges Fell, bis sich mein Herz beruhigt. Die Rippen des Kätzchens fühlen sich an wie das Gerippe eines winzigen Boots, so zerbrechlich wie ein Boot aus Zweigen. Sein Herz rast. Sein durchdringendes Schreien und sein offenes Maul bringen mich wieder zu mir.

Ich drücke den weichen Kopf des Kätzchens an die weiche Haut unter meinem Kinn. Ich gebe beruhigende Laute von mir. Aber ich kann nicht lange stillsitzen. Meine Beine sind immer unruhig, die Muskeln zucken, meine Füße kicken von allein. Es kommt vor, dass ich meine Schwester Cora unter dem Tisch trete, nicht weil ich sauer auf sie bin, sondern einfach nur, weil mein Fuß hervorschnellt und ich nichts dagegen machen kann.

»Au! Aggie hat mich getreten!«

»Nicht mit Absicht!«

»Geh raus, Aggie. Das dulden wir hier nicht.« Es ist Mutter, die mich zurechtweist; Vater ist langsam mit Strafmaßnahmen, ist überhaupt langsam, wenn es darum geht mitzubekommen, was um ihn herum passiert. Jetzt, wo Robbie tot ist, bewegt sich Vater noch mehr wie jemand, der in einem Traum gefangen ist. Ihn interessiert nur eins: eine selbsterfundene Maschine, die von einer Windmühle angetrieben werden soll und die er in der Scheune baut, auch jetzt gerade.

»Geh und miste den Hühnerstall aus, was du heute Nachmittag schon hättest tun sollen.«

»Aber –«

»Keine Widerworte. Geh.«

Aber Mutters Strafe ist milde: Sie hebt mir einen Teller Essen auf. Sie lässt nie jemanden von uns hungrig ins Bett gehen. Sie musste als Kind hungern, hat sie uns erzählt, und diesen Schmerz sollen wir nie kennenlernen.

Mutter hat es nicht mit Geschichten, und mehr erzählt sie nicht, auch wenn ich’s gern wüsste, auch wenn ich frage: wie lange gehungert und warum und wann, und wie hat es sich angefühlt? Sie spricht kaum von ihrer Familie, obwohl ihr Vater und ihre Brüder noch leben und ihre Farm im County gleich westlich von unserer liegt. Sie könnten in einem anderen Land leben, so wenig bekommen wir von ihnen mit.

Das Kätzchen schnurrt an meinem Hals.

Vater arbeitet ganz in der Nähe, irgendwo über mir. Ich höre ihn. Wahrscheinlich hat er mich auch gehört, wie ich holterdiepolter auf den Heuboden geklettert bin. Er wird sich nichts dabei denken. Es ist ein sengend heißer Julinachmittag, und Vater sollte beim Heuen sein, aber er hat Leute für die Sommerarbeit angestellt, jetzt, wo Robbie tot ist. Im letzten und im vorletzten Sommer sah es so aus, als ob Robbie irgendwann heimkommen würde, wenn auch nicht so bald. Ediths Mann, Carson, hat mitgeholfen und Fannie auch und Mutter, und sogar George musste den Ochsenwagen fahren, während Olive und Cora und ich Brote und Eistee machten und aufs Feld brachten, drei kleine Mädchen in staubigen Kleidern, das Haar von Hauben zurückgehalten.

Wir haben es ohne Robbie geschafft.

Aber diesen Sommer nicht.

Im letzten und im vorletzten Sommer wussten wir, dass Robbie bald wiederkommen würde. Und jetzt wissen wir, dass er nicht wiederkommt. Nicht da sein und verschwunden sein sind zwei Paar Stiefel.

Das Kätzchen bohrt mir eine spitze Kralle in den Daumen, wie wenn man sich an einer Stecknadel sticht. »Au!« Es tut nur ein bisschen weh, aber ich setzte das Kätzchen wieder zu seiner Mutter und stecke den Daumen in den Mund. Ich fühle mich seltsam erholt und steige schnell auf die gefegte Tenne hinunter.

»Hallo!«, rufe ich zu Vater hinauf.

Vater nickt zum Zeichen, dass er es gehört hat. Er baut gerade eine Treppe, die sich bis zum Scheunendach hinaufwindet. Wenn er die Treppe fertig hat, wird er ein Loch ins Dach schneiden und darüber ein Häuschen bauen, wie ein kleiner Turm, zum Schutz für das Räderwerk der Windmühle. Die Treppe führt dann direkt in das Häuschen, sodass er die Mechanik dort drinnen warten kann.

Draußen, oben drauf, werden die Windmühlenflügel kreisen und so Vaters Maschine antreiben.

Wenn wir am Esstisch sitzen, driftet Vater mitten im Satz weg. Er geht seinen Gedanken nach und lässt uns zurück. Aber hier in der Scheune ist sein Vorhaben sichtbar. Das tröstet mich, auch wenn sein Plan in Einzelteilen – Bretterstapeln – daliegt, um die ich jetzt vorsichtig herumgehe.

»Kann ich dir helfen?«, rufe ich hinauf.

»Nicht auf die Stufen treten«, warnt er mich, obwohl er sie selbst gerade runtersteigt, zu dem Plattformgerippe vier Meter über mir. Dort wird seine Erfindung stehen: eine windgetriebene Maschine, die man als Drehmaschine, Scheibensäge oder Mahlwerk nutzen kann. Die Plattform dient dann zugleich als Decke für ein Getreidesilo. Ich bin sicher, mein Vater hat alles genau durchdacht.

Ich habe seine Pläne studiert, mit Bleistift gezeichnete Pläne auf der Rückseite von Reklamezetteln für Mittel gegen Blähsucht, Strahlfäule oder Kolik. Seine Maßangaben sind geheimnisvoll und ganz genau. Ich vertraue meinem Vater felsenfest.

Ich sehe zu, wie er schweigend die Wendeltreppe hinaufsteigt, eine Ladung grob zugesägter Bretter auf den Armen.

Ich mag den Geruch von frischgesägtem Holz. Ich habe Fannie vergessen, hier inmitten der rauen Bretterenden, des Sägemehls und der Abfallstücke. Ich denke überhaupt nicht an sie. Auf einem Tisch aus zwei Sägeböcken und einer alten Tür klopfe ich mit dem Hammer krumme Nägel gerade, die einzige Arbeit, die Vater mich jederzeit machen lässt.

Ich ignoriere Cora, die aus dem Stall heraufgestiegen ist und jetzt schnaufend neben mir steht.

»Was machst du?«, fragt sie.

»Wonach sieht’s denn aus?«

»Du kriegst sie nicht gerade.« Sie inspiziert den Nagel, mit dem ich gerade fertig bin.

»Wohl.« Ich schnappe ihr den Nagel weg. Das Metall fühlt sich noch heiß an. Ich hämmere weiter darauf ein. Cora verschränkt die Arme und beobachtet mich. Ich fühle ihr Urteil, und der Hammer trifft falsch auf, federt zurück.

»Schau mir nicht auf die Finger.«

»Du hast deine Chance gehabt, jetzt bin ich dran. Das ist nur fair.«

ENDE DER LESEPROBE