Die Frau, die gegen den Strom schwamm - Christian Schüller - E-Book

Die Frau, die gegen den Strom schwamm E-Book

Christian Schuller

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Beschreibung

Eine russische Frau wird in ein psychiatrisches Gefängnis eingesperrt, weil sie Briefe politischer Gefangener abschreibt und verbreitet. Diese Geschichte schnappt ein vierzehnjähriger Wiener im Radio auf und beschließt, Journalist zu werden. Wie die Geschichte der Briefschreiberin weiterging, erfährt er erst ein halbes Jahrhundert später – als sie mit siebenundsiebzig Jahren auf den Roten Platz geht, um für Meinungsfreiheit zu demonstrieren. Zu diesem Zeitpunkt lebt Christian Schüller in der Türkei. Er hat in Ländern gearbeitet, wo Unterdrückung und Willkür den Alltag beherrschen. Seine Reportagen handeln von Menschen, die ihre Ohnmacht an Schwächeren auslassen – und von anderen, die sich in große Schwierigkeiten bringen, weil sie ihrem Gewissen folgen. Von denen, die sich von sogenannten starken Männern mitreißen lassen, und von Frauen, die gegen den Strom schwimmen.

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Seitenzahl: 265

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Copyright © 2023 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Александр Пашнин / Adobe Stock

ISBN 978-3-7117-2141-9

eISBN 978-3-7117-5497-4

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Christian Schüller

Die Frau, die gegen den Strom schwamm

Reportagen

Picus Verlag Wien

Für Fanny, Lena und Nina

Inhalt

Kapitel 1:

In dem eine Frau aus Russland mir ein Fenster zur Welt öffnet

Kapitel 2:

In dem eine junge Mutter vor dem Kreml für Aufruhr sorgt

Kapitel 3:

Wie ich erfahre, dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt

Kapitel 4:

Wie ich im größten Land der Welt immer kleiner werde

Kapitel 5:

Wie Natalja ein unanständiges Angebot ausschlägt

Kapitel 6:

Wie Ereignisse sich überstürzen

Kapitel 7:

Wie eine sowjetische Großmutter mir beibringt, dass der Mensch nicht einfach tun kann, was ihm einfällt

Kapitel 8:

In dem Nataljas Bestrafung noch einmal aufgeschoben wird

Kapitel 9:

Wie ich Freuden und Qualen des Erzählens entdecke

Kapitel 10:

Wie ich auf sowjetische Art zwischen den Zeilen zu lesen lerne

Kapitel 11:

In dem Nataljas Mutter sich fragt, was im Kopf ihrer klugen Tochter vorgehen mag

Kapitel 12:

Wie ich zum Nestbeschmutzer werde

Kapitel 13:

Wie ich die komplizierte Geschichte der Sowjetunion in flüssiger Form zu mir nehme

Kapitel 14:

Wie ich früh den Verlockungen der Macht erliege

Kapitel 15:

In dem Nataljas Mutter jahrzehntelang ein Geheimnis bewahrt

Kapitel 16:

Wie ich Menschen begegne, die das Weite suchen

Kapitel 17:

In dem eine der mächtigsten Armeen der Welt von einem Teenager überrumpelt wird

Kapitel 18:

Wie Natalja über Nacht zur Oppositionellen wurde

Kapitel 19:

Wie ich merke, dass die Welt aus vielen kleinen Häufchen besteht

Kapitel 20:

In dem Natalja böse Vorahnungen hat

Kapitel 21:

Wie ich es mit der Angst zu tun bekomme

Kapitel 22:

In dem der Glaube an die Vernunft schreckliche Blüten treibt

Kapitel 23:

In dem Natalja kapitulieren muss

Kapitel 24:

Wie Gott nach langem Schweigen auf die Weltbühne zurückkehrt

Kapitel 25:

In dem russische Liebespaare einen Panzer umarmen

Kapitel 26:

In dem Natalja von einer Begegnung tief berührt wird

Kapitel 27:

Wie ich herausfinde, dass zwei Ohren nicht genug sind

Kapitel 28:

In dem Natalja die sozialen Medien erfindet

Kapitel 29:

Wie das Leben unter totaler Willkür müde macht

Kapitel 30:

In dem an einem Moskauer Küchentisch ein Netzwerk geknüpft wird, das bis ins ferne Wladiwostok reicht

Kapitel 31:

Wie ein Käfig zu meinem neuen Zuhause wird

Kapitel 32:

In dem die Beharrlichkeit eines Soldaten sich als unheilbar erweist

Kapitel 33:

Wie mein Selbstversuch scheitert

Kapitel 34:

In dem die Spezialisten des KGB vor einem psychologischen Rätsel stehen

Kapitel 35:

Wie der Eiserne Vorhang nichts mehr zudecken kann

Kapitel 36:

In dem Nataljas Jugend durchleuchtet wird

Kapitel 37:

Wie ein toter Großvater plötzlich im Raum steht

Kapitel 38:

In dem Natalja zum ersten Mal fürchtet, ihren Verstand zu verlieren

Kapitel 39:

Wie die Oktoberrevolution nach siebzig Jahren wieder ausgegraben wird

Kapitel 40:

Wie ich Nataljas Psychiater gegenübersitze

Kapitel 41:

Wie ich die Sowjetunion gleichzeitig von drinnen und von draußen erlebe

Kapitel 42:

In dem der ehrwürdige Hippokrates eines Besseren belehrt werden soll

Kapitel 43:

Wie der russische Präsident sich im Wald versteckt

Kapitel 44:

In dem Natalja ihr Land verlassen muss

Kapitel 45:

Wie ein schwarzer Oberst rot sieht

Kapitel 46:

In dem die Dissident:innen-Bewegung wieder von vorne anfangen muss

Kapitel 47:

Wie ein Mitläufer über die Wahrheit stolpert

Kapitel 48:

Wie atomare Brennstäbe schlechter bewacht werden als ein Sack Erdäpfel

Kapitel 49:

Wie Natalja wieder aus dem Nichts auftaucht

Kapitel 50:

Wie Russland wieder einmal gerettet wird

Kapitel 51:

In dem das Ende zugleich der Anfang ist

Epilog

Editorische Notiz

Kapitel1

In dem eine Frau aus Russland mir ein Fenster zur Welt öffnet

Abend für Abend, wenn sie die Kinder ins Bett gelegt und ihrer Mutter Gute Nacht gewünscht hat, schiebt Natalja Bügelwäsche und Geschirr beiseite, um sich ihrer illegalen Arbeit zu widmen. Auf dem Küchentisch breitet sie dicht beschriebene Blätter aus. So manchen klitzeklein gefalteten Zettel muss sie erst mit der Hand glatt streichen.

Es sind Berichte von Misshandlungen und Hungerstreiks, die aus sibirischen Straflagern herausgeschmuggelt wurden, manchmal eilig auf den abgerissenen Rand einer Zeitung gekritzelt oder nur auf ein Stück Toilettenpapier. Auch Mitschriften von politischen Prozessen in Moskau und Leningrad sind dabei, und handgeschriebene Lebensläufe politischer Häftlinge in unterschiedlichen Sowjetrepubliken.

Was Natalja entziffern kann, klopft sie eilig in ihre Schreibmaschine, auf dünnem Papier, damit sich mehrere Kopien ausgehen, wenn auch das unterste Blatt schwer lesbar ist. Noch sieben weitere Male wird sie den Text abtippen, um die einzelnen Kopien dann an Leute ihres Vertrauens zu verteilen, die ihn ihrerseits abschreiben und weitergeben. Auf diese Weise verbreitet Natalja unerwünschte Nachrichten, bis es dem KGB gelingt, sie aufzuspüren und zu verhaften.

Ich erinnere mich noch gut an den Abend, als ich zum ersten Mal von Natalja Gorbanewskaja und ihrer Untergrundzeitung gehört habe. Das war wenige Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag. Eigentlich interessierte ich mich damals mehr für Sterne als für Politik. In klaren Winternächten stand ich warm eingemummt auf dem Balkon und starrte durch mein Fernrohr in den schwarzen Himmel. Gerne wäre ich woanders gewesen, weit, weit weg, auf der anderen Seite der Milchstraße.

Das Leben, das mich erwartete, schien genau vorgezeichnet. Auf jede Frage hatten die Erwachsenen schon eine vernünftige Antwort. Und Gleichaltrige, die sich anders geben wollten, folgten doch nur vorgegebenen Moden. Das Weltall hingegen war voller Rätsel und Abenteuer. Weltraumforscher war mein Traumberuf.

Aber da gab es auch dieses Mädchen aus meiner Klasse, dessen Mutter beim Radio arbeitete. Weil ich einen guten Eindruck machen wollte, ließ ich eines Abends mein Fernrohr stehen und hörte mir eine ihrer Sendungen an. Es ging um Menschen in der Sowjetunion, die in psychiatrische Sonderkliniken gesperrt wurden, weil sie kritische Gedanken verbreiteten. Über die Irrenhausjustiz in der Sowjetunion – schon der Titel der Sendung klang schrecklich. Was ich an diesem Abend erfuhr, holte mich blitzartig auf die Erde zurück.

Briefe wurden vorgelesen, die Häftlinge aus der Anstalt schmuggeln hatten können. Dazu brauchte es Helfer:innen, die bereit waren, viel zu riskieren. Noch war das Internet nicht erfunden, und von sozialen Medien konnte keine Rede sein. Unter den Absendern dieser Briefe war auch die Dichterin Natalja Gorbanewskaja, die Frau mit der Schreibmaschine. Psychiater des KGB hatten auch sie eingesperrt und für verrückt erklärt.

Ich habe das Gefühl, mich in einem schwarzen Loch zu befinden, schreibt sie an ihre Freunde. Weil sie ihren kritischen Standpunkt nicht aufgeben will, wird sie täglich mit schweren Medikamenten traktiert, und so fällt es ihr von Tag zu Tag schwerer, sich auf einfachste Aufgaben zu konzentrieren. Meine größte Angst ist es, dass ich allmählich den Verstand verliere.

Die Frau mit der Schreibmaschine ging mir lange nicht aus dem Kopf. Dabei wusste ich nicht einmal, wie sie aussah. Groß und dünn stellte ich sie mir vor, mit einer langen spitzen Nase und rotem Haar, wie eine Schwester von Don Quixote. Zugleich irritierte mich, was sie tat. Warum setzte sie das Leben ihrer Familie aufs Spiel, und das ohne Aussicht auf Erfolg?

Antworten auf meine Fragen fand ich ein halbes Jahrhundert später, als ich Nataljas Namen beinahe schon vergessen hatte. Damals lebte ich in Istanbul, meiner letzten Station als reisender Reporter. Ich hatte über Diktaturen und Umstürze berichtet, über Menschen, die sich auflehnen, und solche, die sich anpassen. Und jedes Mal hatte ich mich gefragt, zu welcher Gruppe ich selbst gehören würde.

Da erreichte mich in Istanbul zufällig ein aktuelles Bild aus Moskau. Eine kleine weißhaarige Frau mit dicker Brille stand auf dem Roten Platz, umringt von Polizisten. Es war Natalja Gorbanewskaja. Inzwischen siebenundsiebzig Jahre alt und fünffache Großmutter, hielt sie ein schwarzes Spruchband in der Hand, auf dem geschrieben stand: Für eure und unsere Freiheit! Ein Déjà-vu. Genau das hatte sie schon einmal gemacht. Auf den Tag genau vor fünfundvierzig Jahren. Am letzten Sonntag im August.

Kapitel2

In dem eine junge Mutter vor dem Kreml für Aufruhr sorgt

Moskau, 25. August 1968. In ihrer Wohnung in der Nowopetschannaja-Straße im Moskauer Bezirk Sokol legt die Dichterin und Übersetzerin Natalja Gorbanewskaja am Sonntagvormittag den drei Monate alten Ossik in den Kinderwagen, um mit ihm zum Roten Platz zu spazieren. Zu den Windeln stopft sie zwei Spruchbänder, die sie in der Nacht genäht hat, und steckt noch einen ausreichenden Vorrat bulgarischer Zigaretten in ihre Handtasche, denn niemand weiß, wie lange dieser Tag dauern wird.

Was sie plant, hat Natalja nur wenigen Freund:innen anvertraut. Sie kann sich nicht damit abfinden, dass die Sowjetunion das kleine, wehrlose Bruderland Tschechoslowakei überfallen hat. Sie muss etwas unternehmen. Zumindest Einspruch möchte sie erheben. Niemand soll behaupten können, die sowjetische Bevölkerung sei einhellig mit der Vorgehensweise der Kremlführung einverstanden.

Mein Gott, Natascha, du bist doch viel zu jung, um auf diese Weise dein Leben wegzuwerfen, wendet eine ihrer besten Freundinnen ein. Langfristig kannst du viel mehr erreichen, wenn du dich unauffällig verhältst. Als Lektorin und Übersetzerin habe Natalja bessere Möglichkeiten, kritische Gedanken zu unterstützen.

Immerhin sind die Zeiten Stalins längst vorbei, und wer es geschickt anstellt, kann sich in den intellektuellen Zirkeln von Moskau und Leningrad halbwegs sicher bewegen. Nachts in der Küche, bei Wodka, Wurst und Gurken, liest man einander kritische Gedichte vor, und verbotene Romane werden unter Freund:innen von Hand zu Hand weitergereicht.

Nur von der Öffentlichkeit muss man sich fernhalten. Flugblätter zu verteilen ist gefährlich. Und wer auf offener Straße seine Meinung kundtut, riskiert, damit seine Karriere zu ruinieren, vielleicht sogar sein Leben und das seiner Familie. Vor allem verliert man damit die Möglichkeit, anderen, die in Schwierigkeiten sind, Rückendeckung zu geben.

All diese Einwände kennt Natalja, sie sind nicht falsch, und doch passen sie für sie nicht mehr, wie ein Sommerkleid, aus dem sie im Lauf der Jahre herausgewachsen ist. Niemand kann sie jetzt noch aufhalten. Sie schäme sich für ihr Land, wird sie später schreiben. Niemals könnte sie ihren Kindern in die Augen schauen, dachte sie, würde sie tatenlos zuschauen.

Im Alexandergarten begegnet sie Liebespaaren, Familien und einsamen Spaziergängern, die gemütlich zwischen prachtvollen Blumenbeeten dahinschlendern. Sind die russischen Sommer nicht zu kurz, um sie mit Politik zu verschwenden? Wer will sich jetzt mit Dingen beschäftigen, die sich ohnehin nicht ändern lassen?

Widerstrebend haben viele das Papier unterschrieben, das man ihnen in der Fabrik oder auf der Universität vorgelegt hat. Damit erklären sie sich einverstanden, dass ihr Bruderland ČSSR von sogenannten konter-revolutionären Elementen befreit werden müsse. Wer nicht unterschrieb, musste mit Schwierigkeiten rechnen.

Aber bei Weitem nicht alle mussten zur Unterschrift gezwungen werden. Zwar ist man geteilter Meinung darüber, ob die Genoss:innen in Prag die Prinzipien des Kommunismus verraten haben. Aber dass ein winziges Land, das dem sowjetischen Volk dankbar sein sollte, sich auf einmal gegen seine Schutzmacht aufspielen will, dafür fehlt vielen das Verständnis.

Und doch sind die Ereignisse in Prag nicht das wichtigste Gesprächsthema. Lieber als die aktuellen Nachrichten schaut man die neue Fernsehserie Schild und Schwert, die seit ein paar Tagen über Millionen sowjetischer Bildschirme flimmert. Da geht es um den heroischen Einsatz eines sowjetischen Spions gegen die Nazis, um Patriotismus und Verrat. Eine Heldengeschichte, die Alt und Jung anspricht. Bei einem fünfzehnjährigen Leningrader namens Wladimir Putin löst die TV-Serie den Wunsch aus, KGB-Agent zu werden. Doch von ihm wird die Welt erst viel später hören.

Weil der Durchgang zwischen dem Historischen Museum und der Kremlmauer von der Polizei abgesperrt ist, muss Natalja einen Umweg nehmen, um auf den Roten Platz zu gelangen. Dort wimmelt es von Besucher:innen aus vielen Teilen des Landes, aber gleich findet sie ihre Mitstreiter:innen, die an der vereinbarten Stelle warten. Von niemandem beachtet, setzen sich die sieben – zwei Frauen und fünf Männer – nebeneinander auf den Steinsockel des Lobnoje-mesto-Denkmals. An dieser Stelle, gegenüber der farbenprächtigen Basilius-Kathedrale, wurden einst Dekrete der Zaren verlesen. Manche behaupten, man habe hier auch Köpfe abgeschlagen. Von hier aus können die sieben unauffällig den Platz überblicken. Beim Lenin-Mausoleum, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, drängen sich Hunderte Tourist:innen dicht an dicht und starren auf die Wachsoldaten, die gleich im Stechschritt zur Ablöse stolzieren werden, so, als wäre in den vergangenen Tagen nichts Außergewöhnliches geschehen. Wenige Orte der Welt strahlen so viel Macht aus wie der Kreml, diese rote Festung mit ihren zwanzig spitzen Türmen. Um Punkt zwölf Uhr, beim dritten oder vierten Schlag der Kremluhr, rollen die sieben Demonstrant:innen wie vereinbart ihre Transparente aus. Für eure Freiheit und unsere Freiheit! Und Hände weg von der ČSSR! Keine Kamera hat die kleine Kundgebung auf dem Roten Platz festgehalten, doch Augenzeug:innen schildern einen lebhaften Tumult. Im Nu bildet sich um die sieben eine Traube von Zivilist:innen. Wütend zerreißen zwei Männer die Spruchbänder, eine Frau schlägt mit einer Tasche auf einen der regungslos sitzenden Demonstranten ein. Verhaftet die Hure!, schreit jemand anderer und deutet auf die junge Mutter mit dem Kinderwagen. Schande!, ruft jemand aus der Menge, Alles Juden!, ein anderer. Wogegen wird denn hier protestiert?, erkundigen sich Passan:innen, die gerade zufällig vorbeikommen. Aber diese Leute haben doch recht!, wirft halblaut ein junger Mann dazwischen und entfernt sich schnell, als er eine blaue Wolga näherkommen sieht. Bald folgen weitere Wagen mit KGB-Beamten. Wenige Minuten nach zwölf ist von den Unruhestifter:innen nichts mehr zu sehen.

Kapitel3

Wie ich erfahre, dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt

Wien, März 1968. Meine Großeltern leben am Ende der Welt. Wenige Kilometer vor dem Eisernen Vorhang duckt sich die Landschaft und wirkt mutlos und trist. Hier ist es so flach, dass man schon am Montag sieht, wer am Samstag auf Besuch kommen wird, feixen die Bauern. Von den Feldern hinterm Dorf ist die Grenze zur Tschechoslowakei deutlich zu sehen. Wir Kinder sollen achtgeben, mit dem Rad nur ja nicht zu nahe an die Grenzlinie heranfahren, denn auf den Wachtürmen stehen Soldaten, die auf uns schießen könnten.

Von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass Menschen aus der Tschechoslowakei durch Minengürtel laufen, mit einem Lastwagen den Grenzbalken durchbrechen oder im Schatten der Scheinwerferkegel über den schmalen Fluss schwimmen.

Mit solchen Geschichten bin ich aufgewachsen. Auf der Landkarte im Büro meines Vaters windet sich die Ostgrenze wie eine rosafarbene Schlange, die von bunten Schwertern durchbohrt wird. In Wirklichkeit sind die bunten Schwerter nichts als Stecknadeln. Blaue Nadeln zeigen Stellen, an denen Menschen aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn die Flucht gelungen ist. Rot zeigt Orte an, wo Menschen verletzt oder getötet wurden, weil Soldaten von den Wachtürmen auf sie geschossen haben. Grün steht für jene Punkte, wo tschechoslowakische oder ungarische Soldaten österreichisches Gebiet betreten haben, um Flüchtende gewaltsam zurückzuholen.

In einem solchen Fall fährt mein Vater nach Prag und trifft dort einen gewissen Herrn Swoboda von der Staatssicherheit. Ein Beamter vom österreichischen Außenministerium fährt auch mit und überreicht seinen tschechoslowakischen Kollegen eine Protestnote. Nach ein paar Tagen kommt mein Vater gut gelaunt zurück und bringt tschechische Schokolade mit, und unser Leben geht weiter.

Manchmal wird ein Flüchtender im letzten Augenblick erwischt und wieder zurückgeschleppt, so wie der kleine Miloš, der ein Jahr jünger ist als ich. Seine Eltern standen schon mit beiden Beinen auf österreichischem Boden, doch Miloš, der hinter ihnen herlief, ist auf den letzten Metern gestolpert. So mussten die Eltern zusehen, wie tschechoslowakische Grenzsoldaten den Buben packten und wegbrachten.

Im Dorf meiner väterlichen Großeltern gibt es keine Kommunisten, aber manchmal höre ich, dass der Soundso ein großer Nazi war. So wie meine Eltern das aussprechen, klingt es wie ein moralisches Todesurteil, ein Fahrschein in die Hölle. Doch die anderen Dorfleute erwähnen es beiläufig, als handelte es sich um eine Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Ob der Nazi einem ins Gesicht geschrieben steht wie eine Leberzirrhose?

In den Ferien, wenn ich meiner Tante Käthe in der kleinen Tabaktrafik helfen darf, kommen genügend Gesichter vorbei, die ich untersuchen kann, fleischige und aufgedunsene, hagere und vertrocknete. Männergesichter mit grotesk blau gefärbten Säufernasen, rundliche Bäuerinnen mit bunten Kopftüchern, die sich nur die Zeitung holen, und Arbeiterinnen mit eingefallenen Wangen, die auch um Zigaretten kommen.

Manchen Männern fehlt ein Stück vom Arm oder ein ganzes Bein, und ich stelle mir vor, wie diese abgetrennten Glieder da drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, vermodern, zusammen mit den Erinnerungen an den Krieg. Manchmal, bei Nacht, so erzählt meine Tante, würde der eine oder andere Kriegsversehrte im Schlaf aufschreien. Das verlorene Bein könne nämlich höllisch wehtun, berichten Frauen, die das Klagen ihrer Männer mit anhören müssen. Ja, so ein abgetrenntes Bein kann schmerzen, als wäre es noch dran, obwohl es doch längst dort drüben liegt, in der Fremde, dort, wo keiner mehr hinkommt, wo nichts mehr ist.

In diesen Geschichten aus der Kriegszeit gibt es keine Helden. Alles ist gekommen, wie es kommen musste, so, als hätte jeder nur sein Schicksal ausgelöffelt. Umso aufregender finde ich, was Tante Käthe über die Courage meiner Großmutter erzählt. Nach dem sogenannten »Anschluss« durfte niemand ihre Trafik mit dem Hitlergruß betreten. Bei mir heißt es immer noch Grüß Gott!, habe sie dann geknurrt, die Oma. Nachts, wenn sie im Wirtshaus meiner Tante Anna mit dem Pfarrer und anderen Männern Karten spielte, soll sie Hitler einen Verbrecher geheißen haben. Mehrmals wurde sie dafür auf den Wachposten zitiert. Einer von den späten Zechern aus der Gaststube hatte sie angezeigt.

Später war ich stolz auf meine Großmutter, und doch blieb sie mir ein Rätsel. Wie konnte dieser einfachen Frau so vieles klar gewesen sein, was anderen erst lange nach dem Krieg dämmerte? Als mir Fragen wie diese einfielen, lebte meine Oma längst nicht mehr. Sie starb, als ich fünf war. Achtzig Zigaretten am Tag hatte sie geraucht, keine Damensorte, sondern schwere Austria 3er, wie die Bauarbeiter. Niemals habe ich sie umarmt, wohl wegen ihrer gelben Fingerspitzen und dem tiefen Husten.

Man braucht sich nur die Leute im Dorf anschauen, die es unter dem Hitler zu etwas bringen, soll sie zu ihren Kindern gesagt haben. Die unbeliebtesten Lehrer, die unfähigsten Bauern, die ungeschicktesten Handwerker rennen ihm nach – was soll da schon Gutes herauskommen? Den Polizisten mit der Hakenkreuzschleife werden die Weisheiten der alten Trafikantin nicht gefallen haben, doch man ließ die Schüllerin immer wieder laufen. Dass sie bald fünf Söhne an der Front hatte, gab ihr eine Art Narrenfreiheit. Nur mein Vater, ihr Jüngster, war noch zu Hause.

Ganz anders klingen die Geschichten, die ich im Dorf meiner mütterlichen Großeltern höre. Unmöglich können die Leute dort den gleichen Krieg erlebt haben, auch wenn zwischen dem einen und dem anderen Ort nur sechzehn Kilometer liegen. Im mütterlichen Dorf wird dauernd vom Krieg geredet, aber fast ausschließlich von der Russenzeit. Damit sind meistens die letzten Kriegstage gemeint, und die ersten Wochen danach.

Von Vergewaltigungen ist die Rede, von Tanten und Cousinen, die sich im Keller versteckten und trotzdem erwischt wurden. Von meinem Großonkel Hans, der seiner schönen Tochter Elly eine Rasierklinge in die Hand drückte, damit sie ihre Unschuld verteidigen konnte, und der kurz nach der Befreiung seinen eigenen Sohn tötete, wahnsinnig geworden vor Wut und Trauer, nachdem befreite rumänische Zwangsarbeiter mit seinen Pferden und einem voll beladenen Anhänger davongaloppiert waren.

Ein endloses Klagelied, bei dem ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde. Mich bringt dieser Krieg völlig durcheinander. Warum reden die Tanten in dem einen Dorf immer noch so, als wäre ihr Land ohne Grund besetzt worden, während meine Großmutter im anderen Dorf schon 1938 wusste, dass Hitler ein Verbrecher war? Warum steht auf den Grabsteinen der Soldaten, sie hätten ihre Heimat verteidigt, wenn sie doch in fremden Ländern gestorben sind? Und warum mussten die russischen Soldaten ihre Wut an Bauernmädchen abreagieren, von denen viele keine Nazis waren, sondern kreuzbrave Christinnen? Um diese Fragen zu beantworten, müsste man auch mit den Menschen drüben reden können, die auf der anderen Seite fragen, was sie erlebt haben. Doch das ist unmöglich.

In dem gallischen Dorf, in dem ich zur Schule gehe, dem Lycée français in Wien, scheint der Weltkrieg schon lange vorbei zu sein. Das Lycée wurde von einem französischen Offizier gegründet, der den Westen Österreichs von den Nazi-Truppen befreit hatte. Im Zimmer des Direktors hängt ein lebensgroßes Ölporträt des legendären Général de Gaulle. Das Wort résistance hat in unseren Ohren einen magischen Klang. Niemand möchte zur anderen Seite gehört haben, zu den collabos, den Kollaborateuren.

Jeden Morgen, wenn ich in die Schule gehe, betrete ich eine Welt, die nicht schon nach wenigen Kilometern aufhört, sondern die ganze Erde umspannt. Einige meiner Mitschüler:innen stammen aus Kamerun, Brasilien, Pakistan oder Israel. Außer der französischen Sprache haben wir wenig gemeinsam, manchmal werden misstrauische Blicke gewechselt. Ein Wiener namens Wolfgang bekommt im Pausenhof einen Kinnhaken, weil er seinem senegalesischen Klassenkameraden Schejch neugierig über das gekräuselte Kopfhaar gestrichen hat. Doch mit der Zeit lernen wir, einander nicht auf die Nerven zu gehen. Am besten funktioniert das auf dem Fußballplatz.

Unsere hübschen französischen Lehrerinnen hingegen scheinen sich in Österreich zu langweilen. Kaum eine von ihnen hat Lust, Deutsch zu lernen. Verglichen mit Paris erscheint Wien ihnen wie ein Ausläufer des Ostblocks, und das heißt für sie grau, fantasielos und ohne Eleganz, eine Welt, die für immer in der Vergangenheit stecken bleiben wird. Aus ihrer Sicht sind wir so etwas wie ein Vorposten der Finsternis.

Kapitel4

Wie ich im größten Land der Welt immer kleiner werde

Ukrainische Sowjetrepublik, September 1987. Je länger ich auf Moskau zusteuere, desto weiter scheint die Stadt von mir wegzurücken. Zwischen Schlaglöchern und Rissen im Asphalt bin ich gezwungen, geplatzten Gummischläuchen auszuweichen, die wie totgefahrene Katzen herumliegen, oder dem einen oder anderen Ziegelstein, den ein überladener Anhänger auf der holprigen Fahrbahn abgeschüttelt hat. An manchen Stellen verschwindet die Straße ganz und mündet unverhofft in ein Schotterfeld, um erst nach ein paar Hundert Metern wieder aus dem Nichts aufzutauchen. Noch zweitausend Kilometer bis ans Ziel.

Am Rand der Fahrbahn steht eine Frau mit Kopftuch und bunter Schürze, eine bauchige Einkaufstasche zwischen die Beine geklemmt. Mit drei ausgestreckten Fingern zeigt sie an, wie viele Rubel sie für eine Mitfahrgelegenheit ausgeben will. Gerne würde ich sie nach Hause bringen, um einen Blick auf ihr Dorf zu werfen und nebenbei mein Russisch aufzupolieren.

Doch westlichen Ausländern ist es verboten, von der Hauptstraße abzubiegen. Noch halte ich solche Vorschriften für unverrückbar. Niemand hat mir erklärt, dass sich hier vieles verhandeln lässt. Das unfassbar große, unwegsame Land lässt mich hinter dem Lenkrad immer kleiner werden.

Alle paar Kilometer ist ein Polizeiposten zu passieren, im Schritttempo, damit der Beamte ausreichend Zeit hat, das Nummernschild zu notieren. Die vorgeschriebenen Routen – auf Russisch marschrut genannt – sollen westliche Ausländer daran hindern, etwas zu erspähen, das nicht für ihre Augen bestimmt ist.

Dabei lässt sich auch von der Hauptstraße aus einiges erkennen. Da schleppt ein Mann auf seinem gebeugten Rücken einen Eisenpflug bergauf, als wäre er ein Lasttier. Dicht hinter ihm geht ein zweiter und drückt die Pflugschar tief in den Boden. Der Hintermann trägt eine Mütze, der vordere, der den Pflug ziehen muss, beugt angestrengt seinen Hals, die Sonne scheint ihm aufs Genick.

Was aussieht wie eine Szene aus dem Mittelalter, spielt sich im September 1987 in der Ukrainischen Sowjetrepublik ab, der Kornkammer des Landes, und das alles, während der neue Parteichef in Moskau seinen Landsleuten ein neues Leben verspricht. Michail Gorbatschow will die Betriebe modernisieren, eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern sicherstellen, Transparenz in alle Lebensbereiche bringen. Aber der Zar ist weit, und im westukrainischen Bergland ist von der uskorenje – der Beschleunigung des Landes – noch nicht viel zu sehen.

Wie ausgestorben wirken die Tankstellen. Hinter dem Kassenfenster ist ein Pappschild angebracht mit den abweisenden Worten: bentsina njet. Zwar zählt die Sowjetunion zu den Erdöl produzierenden Ländern, doch der Durst nach Öl scheint unersättlich zu sein, besonders bei den sozialistischen Bruderstaaten, die mit billigem Treibstoff bei Laune gehalten werden. So bleibt dem sowjetischen Autofahrer nur seine zugeteilte Monatsration, und auch die ist ihm nicht sicher.

Dabei leuchtet auf meinem Armaturenbrett schon das orange Warnlämpchen auf. War da nicht vor ein paar Kilometern doch eine offene Tankstelle gewesen, an der ich sorglos vorbeigefahren bin? Schnell wende ich den Wagen, um zurückzukehren, doch wie aus dem Nichts taucht ein Milizionär auf und versperrt mir den Weg. Schon aus der Ferne muss er mich beobachtet haben.

Ausweiskontrolle. Warum ich Richtung Grenze fahre, wo ich doch meinen Papieren nach Richtung Moskau unterwegs sein sollte? Mein bentsina njet macht wenig Eindruck. Zunächst heißt es einmal aussteigen und Strafe zahlen – und dann wieder umkehren. Ob mein Treibstoff bis zur nächsten Stadt reichen wird, kümmert den Beamten wenig. Dabei wird es schnell finster, und im vorreservierten Intourist-Hotel in der nächsten Großstadt muss mein Meldeschein rechtzeitig abgestempelt werden.

Um Treibstoff zu sparen, verzichte ich aufs Überholen, was die vor mir liegende Strecke noch mehr in die Länge zieht. Was in aller Welt bringt mich dazu, in dieses unwirtliche Land zu übersiedeln? Die Frage ist mir schon am frühen Morgen an der slowakisch-sowjetischen Grenze durch den Kopf geschossen, als ich im Rückspiegel den Schlagbaum hinter mir einrasten sah und drei Uniformierte sich über das Innere meines Wagens hermachten. Wortlos wurden Koffer und Taschen durchwühlt, Bücher aufgeschlagen und nach allen Seiten gewendet. Am Ende schienen meine Bücher weit weniger interessant als meine Unterwäsche, in der jede Menge Rauschgift versteckt hätte sein können.

Ob ich denn wisse, was mein Familienname auf Russisch bedeute, fragt schließlich einer der Beamten, ein blonder junger Mann mit einem rötlichen, runden Gesicht. Ich weiß es nicht, aber die Gesten des Grenzpolizisten lassen keinen Zweifel, und das Wörterbuch wird es mir später bestätigen: Gauner, Betrüger, Falschspieler. Noch lange amüsieren sich die Uniformierten über meine Ahnungslosigkeit, während sie meine Sachen wieder in Koffer und Taschen zurückstopfen und mich weiterwinken.

Eingenebelt vom Qualm der Lastwagen, durchgerüttelt von der holprigen Straße und ermüdet vom Anblick der Birkenwälder und dem unbarmherzigen Einerlei sowjetischer Schlagermusik, bin ich dabei, den Übermut meiner frühen Jahre abzubüßen. Dann geh doch nach Moskau!, bekamen Jugendliche meiner Generation oft zu hören, wenn sie nicht parieren wollten. Wer nicht begreifen konnte, wie glücklich man sich schätzen muss, im Westen zu leben, der konnte es nur auf die harte Tour lernen.

Schließlich kommt doch noch eine offene Tankstelle. Hinter einer Glasscheibe thront die Tankwartin mit einer dicken blauen Wollmütze auf dem Kopf. Es ist ihr anzusehen, dass es ihr reicht, von verärgerten Lastwagenfahrern angebrüllt zu werden. Wortlos schiebt sie mir eine Holzlade entgegen, in die ich meine vorbezahlten Benzingutscheine legen soll. Noch bevor ich bei der Zapfsäule bin, dreht sie schon den Benzinhahn auf und lässt den kostbaren Treibstoff ins Leere schießen. Als ich losstarte, um mit halb vollem Tank Richtung Moskau weiterzufahren, bleibt hinter mir eine braune Pfütze zurück, die langsam in den Boden sickert.

Kapitel5

Wie Natalja ein unanständiges Angebot ausschlägt

Moskau, 25. August 1968. Auf dem Polizeikommissariat Nummer fünfzig in der Nähe des Puschkin-Platzes werden die Demonstrant:innen einzeln verhört, doch es vergehen drei Stunden, bis die Befragungen beginnen. Zu Mittag auf dem Roten Platz hatten die Sicherheitskräfte es eilig, keine Sekunde wurde da verloren, um die Provokation aus der Welt zu schaffen, doch nun lässt man die Unruhestifter:innen dunsten. Immerhin handelt es sich um schwere Verbrechen nach dem Paragrafen einhundertneunzig, Absatz eins und drei: Verbreitung offenkundig falscher Anschuldigungen, die der Verleumdung der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung dienen, sowie Störung der öffentlichen Ordnung. Nacheinander werden Zeug:innen vorgeladen, um die sieben Verdächtigen zu identifizieren. Menschen, die sie noch nie gesehen hat, defilieren vor Natalja, um ihr aus nächster Nähe ins Gesicht zu glotzen und danach ein bereits vorbereitetes Protokoll zu unterschreiben. Die eine oder der andere wird die Szene auf dem Roten Platz mitverfolgt haben. Doch um der Sache mehr Gewicht zu geben, wurden auch Unbeteiligte angerufen und aufgefordert, bei einer wichtigen Staatsaffäre behilflich zu sein.

Nach dem Abschluss der Zeugenaussagen übernimmt ein Untersuchungsrichter, der dem KGB unterstellt ist, die eigentlichen Ermittlungen. Damit seine Arbeit nicht durch Kindergeschrei gestört wird, muss der drei Monate alte Ossik in den Keller verschwinden. Dort kümmert sich zunächst ein junger Polizist um den Kleinen, bis ein befreundetes Paar ihn ablösen kommt. Auch Inna und Mikhail waren zunächst für Teilnehmer:innen der verbotenen Kundgebung gehalten worden, doch nach einer Weile ließ man sie gehen, und nun tun sie ihr Bestes, um den Buben während der nächsten Stunden bei Laune zu halten. Im zweiten Stock will der KGB-Richter von Natalja Details hören. In welchen Räumlichkeiten wurde die antisowjetische Kundgebung geplant und vorbereitet? Wer außer den sieben Festgenommenen war noch beteiligt? Natalja wundert sich, dass sie vorerst nur als Zeugin geführt wird. Verglichen mit der rauen Behandlung auf dem Roten Platz geht man hier beinahe höflich mit ihr um. Offenbar will der Mann sie dazu verleiten, Freunde zu belasten, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Mehrmals stellt der KGB-Richter die gleichen Fragen, lässt dazwischen durchblicken, dass die anderen ohnehin schon geredet hätten.

Die kleine, beinahe von niemandem bemerkte Protestaktion beschäftigt die Behörden mehr, als Natalja erwartet hatte. Welche Bedeutung hat ein kleines Häufchen von Neinsager:innen, wenn Millionen mit ihrer Unterschrift Ja gesagt haben?

Doch es geht nicht nur um Prag. Seit Anfang des Jahres hat der KGB auch im eigenen Land zahlreiche Anzeichen von Unruhe bemerkt. Dass es immer weniger hundertprozentig überzeugte Kommunisten gibt, damit könnte der Staat umgehen. Beunruhigender ist, dass mehr und mehr Bürger:innen aus der Rolle fallen. Naturwissenschaftler:innen schreiben Abhandlungen über Menschenrechte, Dichter:innen mischen sich in Politik, Student:innen schreiben Flugblätter statt Klausurarbeiten, Richter:innen werden von Laien kritisiert und zur Rechenschaft gezogen. Und nun muss sogar der Rote Platz für illegale Aktivitäten herhalten.

Der KGB geht davon aus, dass solche Umtriebe von jemandem gesteuert sein müssen, und es wäre vorteilhaft, Informant:innen im innersten Kreis zu platzieren. Frauen scheinen dafür besser infrage zu kommen, besonders wenn sie sich in einer schwierigen Lage befinden, wenn sie beispielsweise Kinder haben, die zu versorgen sind, und keinen Mann.

Aber Natalja gibt dem Richter nur knappe Antworten, denn das Tauschgeschäft, das man ihr anbietet, kommt für sie nicht infrage. Sie wird nicht kooperieren. Mit unbewegter Miene lässt sie das mehrstündige Verhör über sich ergehen. Um neun Uhr abends unterschreibt sie schließlich, mit einem Anflug von Genugtuung, ein nahezu leeres Protokoll. Nun soll es zur Hausdurchsuchung gehen. Als sie im Keller des Polizeireviers den kleinen Ossik abholt, hat der gerade seine letzte Windel nass gemacht.

Kapitel6

Wie Ereignisse sich überstürzen

Wien, April 1968. Svoboda ist das tschechische Wort für Freiheit, erklärt eine Reporterstimme, die sich vor Begeisterung überschlägt. Im Schwarz-Weiß-Fernsehen sind zum ersten Mal lebendige Menschen aus Prag und Brünn zu sehen. Ungezwungen bewegen sie sich auf der Straße, niemand scheint flüchten zu wollen. Es wird diskutiert, geraucht und manchmal auch gelacht. Auf dem Gehsteig der Karlsbrücke knien junge Männer und schreiben svoboda auf den Asphalt. Entspannt steht ein Polizist daneben, ohne einzugreifen. An einer Straßenecke drängen sich Menschen um eine Zeitungsverkäuferin, im Handumdrehen sind die druckfrischen Blätter auch schon ausverkauft.

Was das alles zu bedeuten hat, erklärt der aufgeregte Reporter, der vor dem Prager Hradschin-Palast steht und immer schneller spricht, beinahe atemlos: Die neue Parteiführung unter Alexander Dubček sei dabei, vieles zu verändern. Keine Zensur mehr, kein Ausspionieren der Bürger durch versteckte Mikrofone, freie Ausreise für alle. Der Reporter wird von Schaulustigen umringt, frischer Wind zerzaust sein Haar. Jeden Moment kann etwas Neues geschehen.

Der erste Fernsehempfänger ist unmittelbar nach meiner Geburt in unserer Wohnung aufgetaucht. Seither kamen uns viele Leute besuchen, aber nicht meinetwegen. Sobald ich groß genug war, revanchierte ich mich, indem ich mich während der Nachrichten vor dem Fernseher aufpflanzte und Faxen machte, manchmal mit einem imaginären Mikrofon in der Hand. Mit der Zeit lernte ich, dass es vernünftiger war, wenn ich mich zu den anderen auf die Couch setzte und meine Ohren spitzte.

Die machen tatsächlich die Grenze auf!