Die Frau, die im Mondlicht aß - Anita Johnston - E-Book

Die Frau, die im Mondlicht aß E-Book

Anita Johnston

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Beschreibung

Immer mehr Frauen kämpfen heute gegen Magersucht und Bulimie. Anita Johnston zeigt, wie die Betroffenen durch das Eintauchen in die Welt der Märchen und Mythen ihren eigenen Körper, ihre Lebensgeschichte und ihre Gefühle neu wahrnehmen können. Sie entdecken dabei die Wurzel ihrer Ess-Störung und finden einen Weg, sie zu überwinden. Ein Buch für alle Frauen, die nach der richtigen Nahrung für Körper, Geist und Seele suchen.

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Anita Johnston

Die Frau, die im Mondlicht aß

Ess-Störungen überwinden durch die uralte Weisheit von Märchen und Mythen

Aus dem Amerikanischen vonAnnette Charpentier

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoWidmungVorwort1 Weibliche Kraft2 Der vergrabene Mond3 Selbstüberprüfung4 Ablenkungsmanöver5 Süchtig nach Essen6 Hunger als Metapher7 Gefühle8 Beziehungen9 Macht10 Die Mutter als Archetyp11 Intuition12 Traumzeit13 Mondzeit14 Sexualität15 Der Abstieg16 Selbstbewußtsein17 Nahrung18 Das Tagebuch19 Heilung20 Drei Frauen erzählen ihre GeschichteWeiterführende Literatur

Aber die Klarheit der Sonne ist eine

und eine andere des Mondes Klarheit.

Thomas Mann

Für meine Mutter

Emilie Anita Green Johnston

und meine Töchter

Liana Anita Orenstein und

Ariel Emilie Orenstein

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Vorwort

Mein Interesse an Eßstörungen entwickelte sich aus meiner therapeutischen Arbeit mit Frauen und meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage, was es bedeutet, in der heutigen Gesellschaft Frau zu sein. Gestörtes Eßverhalten taucht als Problem vornehmlich bei Frauen auf. Ich interessierte mich zunehmend für Mädchen und Frauen mit diesen Störungen, denn im Gegensatz zur Überzeugung meiner Kollegen und dem, was die Literatur darüber sagt, handelt es sich nicht um furchtbar schwierige Klientinnen, sondern um besonders intelligente, begabte und kreative Menschen. Sie sehen sich selber allerdings nicht so, sondern betrachten sich vielmehr als inkompetent, wertlos und unattraktiv. Mich reizte diese Diskrepanz zwischen meiner Wahrnehmung und ihrer, und so hörte ich ihren Geschichten mit größter Aufmerksamkeit zu.

Diese Frauen erzählten mir ihre Lebensgeschichten in der Hoffnung, dadurch einen Schlüssel zu finden, eine Antwort auf die Fragen nach dem Ursprung jener geheimnisvollen Obsession, die ihr Leben beherrscht. Eine Frau berichtete von dem Mißbrauch durch ihren Vater, während eine andere einen Vater beschrieb, der sie stets ermutigte, förderte und ihre Leistungen lobte. Eine Frau beschrieb eine alkoholsüchtige Mutter, die ums bloße Überleben kämpfte und ihr nur wenig Zuwendung geben konnte, während eine andere ihr Leben mit einer sie abgöttisch liebenden, manchmal überfürsorglichen Mutter schilderte. Ich behandelte Frauen, die einen Elternteil durch Tod oder Scheidung verloren hatten und andere, deren Familien eng zusammenhielten. Auf jede Leidensgeschichte kam eine Lebensgeschichte mit nur wenig augenfälligen Schwierigkeiten.

Die Lebensberichte ergaben kein bestimmtes Muster, doch fiel mir in den so unterschiedlichen Erfahrungen allmählich ein unterschwelliges Thema auf. Der rote Faden, der sich durch sie hindurchzuziehen schien, war das beherrschende Gefühl, nicht richtig in die Familie hineinzupassen, die Dinge nicht so zu sehen wie die anderen, das Gefühl, Außenseiterin zu sein.

Ich erfuhr, daß diese Frauen als kleine Mädchen sehr aufgeweckt und intelligent gewesen waren und ein ungewöhnliches Gespür für die Vorgänge in ihrer Umgebung aufgewiesen hatten. In den meisten Fällen waren die Frauen, die heute mit einer Eßstörung kämpften, einst Mädchen, die Unsichtbares wahrnahmen, die zwischen den Zeilen lesen konnten und spürten, wenn etwas nicht stimmte. Sie bemerkten es, wenn Leute das eine sagten, aber etwas anderes taten. Sie durchschauten Verhaltensmuster und ahnten, wozu sie führten. Sie wußten, wenn sich jemand unehrlich und unaufrichtig gegenüber ihnen verhielt.

Aus irgendeinem Grund wurde diese Fähigkeit in der Familie aber nicht geschätzt. Man wollte mit dem eigenen widersprüchlichen Verhalten nicht konfrontiert werden, noch sich mit dem auseinandersetzen müssen, was als seltsame Sorgen oder ungewöhnliche Erwartungen erschien. Man wollte sich nicht mit der Hypersensibilität für emotionale Zwischentöne befassen. Manchmal fühlten sich die Erwachsenen offensichtlich durch die Frühreife des Kindes geradezu bedroht. Immer wenn es die Wahrheit aussprach oder Dinge in Frage stellte, bekam es die deutliche (oft nonverbale) Botschaft, daß dieses aufrichtige, neugierige Verhalten nicht in Ordnung sei und sogar die Stabilität der Familie gefährde.

Das Überleben des Kindes hing davon ab, sich an die Familie anzupassen. Es mußte einen Weg finden, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, damit die Eltern sich von ihm nicht überfordert fühlten, damit Brüder und Schwestern nicht eifersüchtig waren und ernsthafte Probleme nicht aufgedeckt wurden, die vielleicht ein Auseinanderbrechen der Familie ausgelöst hätten. Das Mädchen kollaborierte daher mit den anderen Familienmitgliedern, indem es so tat, als stimme etwas mit seiner Wahrnehmung nicht, als sei es selbst nicht in Ordnung. Immerhin sah kein anderer in der Familie die Dinge so wie sie.

Auf der Suche nach etwas, was sie von ihrem Unbehagen ablenken und ihre Wahrnehmungen abschwächen konnte, stieß das Mädchen erstmals auf die Bedeutung des Essens.

Vielleicht handelte es sich um ein junges Mädchen, das am Verhalten seiner Mutter erkannte, daß die elterliche Ehe lieblos war. Das ängstigte sie so sehr, daß sie zwanghaft zu essen begann – versuchte, die Wahrheit in sich hineinzustopfen, die drohte, die Familie auseinanderzureißen. Obwohl sie in der Schule unter den Hänseleien über ihr Dicksein stark litt, konnte sie doch immerhin verhindern, daß das Geheimnis im normalen Alltag in ihr Bewußtsein drang und den anderen Familienmitgliedern enthüllt wurde.

Vielleicht war es ein Mädchen, das entdeckte, daß es seine natürliche künstlerische Begabung unterdrücken mußte, um seinem arbeitsamen, ehrgeizigen Vater zu gefallen. Sie entdeckte, daß sie mit einem ständigen Hungergefühl alle Bedürfnisse nach kreativem Ausdruck verdrängen konnte, die zwischen dem Vater und ihr zum Konflikt führten. Ihre Anorexie bereitete der Familie zwar schließlich große Sorgen und Probleme, aber so konnte sie immerhin die für sie wichtige Bindung zum Vater aufrechterhalten, weil sie die Verschiedenheit von ihm vor sich selbst und vor ihm verbarg.

Sie war vielleicht ein schönes und intelligentes Mädchen, das viele Freunde hatte und merkte, daß ihre alleinstehende Mutter ihr jedesmal die Zuneigung entzog, wenn sie aufgeregt von ihren Verabredungen erzählte, und ihre ältere Schwester mit Abneigung reagierte, wenn sie gute schulische Leistungen erzielte. Sie entdeckte, daß sie die Eifersuchtsgefühle der anderen eindämmen konnte, wenn sie selbst ein »Essensproblem« hatte, weil diese sich dann nicht mehr von ihrer Perfektion bedroht fühlten. Nachdem sie mit einem Problem zu kämpfen hatte, konnte sie in den Chor einstimmen: Das Leben ist ungerecht. Das reduzierte die Wahrscheinlichkeit, daß die anderen sie ablehnten.

Für alle diese Mädchen bedeutete die Obsession mit Essen ein neues Zentrum für ihr Leben. Sie konnten nun Kalorien zählen und über jedes neue Kilo klagen, statt ihre tiefer sitzenden Qualen und Ängste zu empfinden. Die zunehmende Beschäftigung mit dem Körper setzte ihrer Angst Grenzen, anders zu sein und Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnahmen. Das Gefühl von Einsamkeit, weil man nirgendwo richtig hineinpaßte, rückte so in den Hintergrund.

Im Vergleich zu den anderen Problemen in ihrem Leben schienen die Schwierigkeiten mit dem Essen und Dicksein – so quälend sie sein konnten – einfacher. Sie brauchte nur eine Diät zu halten, und alles würde wieder gut. Die Botschaften der Medien in einer Kultur, die vom Schlanksein besessen ist, bestätigten diese Denkweise.

Je mehr sie sich aber in den Kampf gegen Essen, Dicksein und Diäten verstrickte, desto unklarer wurde diese »einfache Lösung«. Sie wußte, was sie tun mußte (weiter abnehmen), wußte aber nicht, wie. So entwickelte das Mädchen eine Selbsteinschätzung, in der sie sich als minderwertig, inkompetent und hilflos sah – und die Gesellschaft bestätigte ihre Selbstverdammung, weil sie nicht die Willenskraft besaß, ihren Körper zu kontrollieren.

Die Gabe ihrer Einsicht wurde unter vielen Schichten des Selbstzweifels und des Selbsthasses vergraben.

Als Frau fühlte sie zwar in sich die Fähigkeit zu spüren, wenn etwas nicht stimmte, Zwischentöne herauszuhören, Spannungen in Beziehungen zu erkennen und Differenzen zwischen dem, was andere sagten, und ihrem Verhalten, aber die Interpretation ihrer Wahrnehmung wurde nun durch ihre Selbstzweifel und ihre niedrige Selbstachtung verzerrt. Wenn sie hinter der »hilfsbereiten« Kritik einer Freundin Feindseligkeit spürte, dachte sie, sie sei zu sensibel. Wenn ihr Mann ihr besorgt und in sich gekehrt erschien, glaubte sie, er habe sich über sie geärgert oder fände sie nicht mehr attraktiv. Wenn sie über die Manipulationsversuche ihrer Mutter wütend wurde, nahm sie an, übertrieben zu reagieren. Und ihr emotionales Unbehagen überdeckte sie mit Gedanken an Essen.

Mit außer Kontrolle geratenem Eßverhalten und praktisch ohne Selbstachtung fanden viele der Frauen schließlich den Weg ins Zentrum für Anorexie und Bulimie auf Hawaii, das ich mit zwei anderen Frauen gegründet habe – und begaben sich ins Labyrinth der Gesundung.

Ein Labyrinth ist ein uraltes, geheimnisvolles Sinnbild. Es besteht aus einem Weg, der sich in verschiedene Richtungen windet, Schlaufen dreht, ein Zentrum erreicht und sich dann wieder zurück schlängelt. In vielen Religionen war das Labyrinth ein Symbol für den Weg durchs Leben, für Tod und Wiedergeburt. Es wurde als Meditationshilfe benutzt, führte zum eigenen Zentrum und wieder zurück in die Welt.

Die Frauen auf dem Weg zur Heilung von ihren Eßstörungen begannen eine Reise, bei der sie einem gewundenen, sich schlängelnden und komplizierten Pfad zu ihrem Zentrum folgten. Dazu mußten sie alte Einschätzungen ihres Selbst, die sie von anderen übernommen hatten, zurücklassen und die eigene innere Autorität wiedergewinnen. Sie mußten auf die Stimme in ihrem Innern lauschen, die sie auf dieser Suche nach den wahren Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen leitete und stützte. Sie stellten dabei fest, daß sie die Erwartung eines geradlinigen Fortschritts aufgeben, den Verstand außer Kraft setzen und sich der Macht ihrer Emotionen und Intuitionen anvertrauen mußten.

Durch die Beschäftigung mit Mythen, Märchen und alten Legenden lernten sie die Sprache der Metapher, eine Sprache, die sie für das Verständnis und das Akzeptieren der inneren Wahrheit brauchten, um die eigene mythische Realität zu finden und die tiefe Weisheit ihrer eigenen Geschichte zu verstehen.

Unterwegs in diesem Labyrinth fühlten sie sich zuweilen gefangen, verloren, gelangweilt, desorientiert, frustriert oder voll Angst, aber sie gingen weiter, immer einen Fuß vor den anderen setzend. Doch das Finden der Mitte, der Essenz dessen, wer sie als Frau sind, stellte nicht das Ende der Reise dar. Sie mußten das Labyrinth auch wieder verlassen und mit der neuen Erkenntnis zu einer neuen Lebensweise in der Welt kommen.

Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die sich trauten, ihr gestörtes Eßverhalten in einem anderen Licht zu betrachten, um ihre Visionen und ihre Macht wiederzugewinnen. Es enthält alte Mythen, Geschichten und Märchen, die ich bei meiner Arbeit verwende und die durch die Jahrhunderte genutzt wurden, um Frauen zu helfen, ihre innere Wahrheit zu finden.

Dieses Buch ist für alle Frauen, die sich getraut haben, sich ihrem vollen Potential zu öffnen, der weisen Frau in sich zu lauschen, die Wahrheit zu sprechen und zu helfen, diese Erde zu heilen – und für diejenigen, die dies vorhaben.

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1 Weibliche Kraft

Die Ursache des Hungers

Mehr Frauen als je zuvor kämpfen mit ihrem Körpergewicht. Diätbücher und komplizierte Programme zum Abnehmen sind ein Millionengeschäft. Magersucht, Bulimie und zwanghaftes Essen haben epidemische Ausmaße angenommen. In Amerika allein kämpfen Millionen von Frauen gegen Magersucht und Bulimie, und Tausende davon sterben an den Komplikationen aus diesen Eßstörungen. Die Statistiken besagen, daß 95 % der Personen mit diagnostizierter Eßstörung Frauen sind.

Die Besessenheit vom eigenen Körper, ständiges Diäthalten und übertriebene Fitneßprogramme sind unter Frauen heute so verbreitet, daß man sie als Normalverhalten empfindet. Ein von der kosmetischen Chirurgie so gestalteter Körper, daß er dem eines Jungen vor der Pubertät, aber mit Busen ähnelt, ist zum Maßstab für die ideale weibliche Figur geworden. Da Fotomodelle oder Schauspielerinnen häufig schlanker sind als fast die gesamte restliche Bevölkerung, ist den meisten Frauen die Frustration vertraut, in einem Körper zu leben, der sich einfach nicht dem Ideal anpassen will.

Man kann unmöglich die Ursachen für gestörtes Eßverhalten diskutieren, ohne danach zu fragen, was es heißt, als Frau in der heutigen Gesellschaft zu leben. Umfragen haben ergeben, daß es amerikanischen Frauen wichtiger ist, dünn zu sein, als geliebt zu werden, und daß die meisten dreizehnjährigen Mädchen mit ihrem Körper unzufrieden sind. Aber warum gefällt so vielen Frauen ihr eigener Körper nicht? Liegt es daran, daß dünne, kantige Formen en vogue sind, die nur wenige Frauen von Natur aus aufweisen?

Und wenn das zutrifft, wie konnte die natürlich-männliche Gestalt – breite Schultern, schmale Hüften, keine Taille und flacher Bauch – zum Ideal für den weiblichen Körper werden? Was hat jene Aspekte des weiblichen Körpers, den Bauch und die Hüften, die am engsten mit der natürlichen Fähigkeit verbunden sind, Leben zu tragen und zu nähren, in der Einschätzung unserer Gesellschaft von weiblicher Schönheit so entwertet?

Die Antwort ist leichter zu erkennen, wenn wir einen Blick aus einer breiteren Perspektive auf die Geschichte werfen als üblich. Die Geschichte, die wir in der Schule lernten, gehört dem Patriarchat. Es ist eine Geschichte, in der es um den Kampf um Macht und Oberherrschaft geht. Unsere Geschichtsbücher sind voller Sieger und Verlierer in großen Kriegen und den Namen der Männer, die darin kämpften.

Die Geschichte des Patriarchats beschränkt sich auf die vergangenen fünftausend Jahre. Anstatt nur Jahrhunderte der Zivilisation zu betrachten, haben die Wissenschaftler Merlin Stone, Marija Gimbutas, Riane Eisler und andere den Prozeß der Zivilisation über viele Jahrtausende hinweg untersucht. Sie gehen über dreißigtausend Jahre zurück, noch vor die Entstehung von Judaismus, Christentum und Antike.

Damals, so sagen uns diese Forschungsarbeiten, waren die Erfahrungen von Frauen auf dieser Erde über Tausende von Jahren hinweg ganz anders als heute. In der damaligen Welt wurden alles Weibliche und alle Manifestationen von Weiblichkeit geehrt und die weibliche Seite Gottes in Gestalt der Großen Göttin angebetet und verehrt. Das Weibliche galt als die kreative Lebenskraft der Erde.

Das Symbol dafür war der Kreis, eine Form ohne Anfang und ohne Ende. Alles Runde oder Geschwungene wurde als schön betrachtet: die Gestalt der Erde, das Ei, die natürlich gerundete, weiche Gestalt des weiblichen Körpers. Alles, was sich zyklisch bewegte, wurde als Quelle von Weisheit respektiert und geachtet: Die Jahreszeiten, die Mondphasen, Ebbe und Flut und der Zyklus von Leben-Tod-Wiedergeburt stellten die Antworten auf die Geheimnisse des Lebens dar.

Weibliche Weisheit, die die Frau aus ihrer Verbindung zur Natur mittels des Menstruationszyklus gewann, wurde hochgeschätzt. Frauen wurden wegen ihrer Intuition und ihres Verständnisses für irdische Dinge respektiert. Diese Weisheit wurde Tausende von Jahren lang von Frau zu Frau weitergegeben, von der Mutter an die Tochter.

Aber die Zeit verging, und die Dinge änderten sich. Allmählich schälte sich eine neue Art der Wahrnehmung heraus. Die Linie wurde nun als dem Kreis überlegen betrachtet. Es entwickelte sich eine Hierarchie: Von Menschenhand Geschaffenes galt nun dem, was die Natur schuf, als überlegen.

Der Kreis war nun nicht mehr ein Objekt der Verehrung und wurde durch das Symbol der Linie ersetzt, die einen Anfang und ein Ende hat, ein Oben und ein Unten, einen überlegenen Teil und einen unterlegenen. Und alle Dinge wurden nun entsprechend ihrer Position geschätzt: Die oben hatten mehr Macht als die unten.

Die Göttin wurde verbannt. Nur die männliche Seite des Gottes durfte weiter verehrt werden. Die Erde war nicht mehr die heilige Quelle der Schöpfung – sie wurde zum Objekt, das man für die Männer, die die meiste Macht hatten, in Stücke aufteilte, um sie zu besitzen und zu nutzen. Die Bindung der Frauen an Weisheit durch ihren Körper und den natürlichen Zyklus wurde abgelehnt. Man verspottete die Kraft ihrer Intuition und Emotionen.

Frauen, die weiter das Kreisdenken lehrten, die ihre Bindung an die Erde für Heilzwecke nutzten, die die weibliche Kraft feierten, wurden gefangengenommen oder umgebracht. Eine Generation nach der anderen sah zu, wie die Mütter und Schwestern auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, weil sie die weibliche Kraft geachtet und genutzt hatten.

Es ist viel Zeit vergangen, aber nur wenig hat sich geändert.

Frauen leben immer noch in einer Gesellschaft, in der man alles, was maskulin, geradlinig, rational und logisch ist, dem Weiblichen, Kreisförmigen, Intuitiven und Emotionalen als überlegen betrachtet. Die heutige Frau ist ein runder Stab, der verzweifelt versucht, in ein viereckiges Loch zu passen, damit sie überleben und sich wohl fühlen kann.

Und wie stellt sie das an? Indem sie versucht, ihren Körper in eine kantige, maskuline Form ohne ein Gran Fett zu pressen. Indem sie sich ihres Menstruationsblutes (durch das sie sich einst mit der Erde verbunden fühlte) so schämt, daß sie tut, als existiere es nicht. Indem sie ihre stärksten Emotionen verleugnet und ihre intuitive Stimme zum Schweigen bringt.

Sie lebt, weil sie ihre weibliche Kraft verbannt hat, in einem Zustand ständiger spiritueller Sehnsucht. Ihre ausgehungerte Seele sehnt sich nach Nahrung. Aber die Speisen der Göttin, der Frauenseele, stehen ihr nicht mehr zur Verfügung. Es gibt nur noch Nahrung, die ihren Körper erhält. Wundert es da, daß sie diesen Hunger stillen will? Wundert es, daß sie vor Frustration streikt und beschließt, überhaupt nichts mehr zu essen? Wundert es, daß ihr Körper zum Kampfschauplatz im Krieg zwischen Essen und Schlanksein wird?

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2 Der vergrabene Mond

Die Wiederentdeckung des Weiblichen

Die folgende Geschichte heißt »Der vergrabene Mond«. Es geht darin um die Natur des Weiblichen, wie sie durch den Mond verkörpert wird. Mondlicht ist weich und subtil. Es beleuchtet auf sanfte Weise das Verborgene und leitet uns durch die dunklen Ecken unseres Unbewußten.

Vor langer, langer Zeit gab es ein wunderbares Land, in dem die Menschen einander liebten und alle Dinge in der Natur geehrt und respektiert wurden. Dieses Land war jedoch von Sümpfen und Marschland umgeben, und die Menschen fürchteten die großen Tümpel mit schwarzem Torfwasser, die glitschigen Büschel Sumpfmoos, aus denen grünliches Wasser in dünnen Rinnsalen quoll, wenn man darauf trat.

In diesem Land schien der Mond, genau wie er heute scheint, und die Menschen brauchten sein Licht, wenn sie sich sicher zwischen den Tümpeln und Sümpfen bewegen wollten. Wenn nämlich der Mond nicht schien, tauchten unheimliche, böse Kreaturen auf, die im Dunkeln lebten und ihnen schaden wollten.

Als der Mond von dieser Bedrohung hörte und welchen Schrecken das Land in seiner Abwesenheit überkam, wurde er sehr traurig und beschloß, selbst nachzuschauen, ob es wirklich so schlimm war, wie die Leute meinten. Bei der nächsten dunklen Mondphase verwandelte sich der Mond in eine Frau, wickelte sich in einen dunklen Umhang mit einer Kapuze, verbarg sorgfältig ihr golden glänzendes Haar und ging zum Rand des Marschlands.

Und nun war es dunkel – abgesehen vom Schimmern der Sterne, die sich in den Tümpeln spiegelten, und dem Licht, das von den weißen Füßen der Mondfrau ausging und sich unter dem Saum des dunklen Umhangs hervorstahl. Zitternd machte die Mondfrau sich auf den Weg und trat zwischen den gierig gurgelnden Wasserlöchern vorsichtig von einer Grassode zur nächsten. Nahe bei einem großen, dunklen Teich glitt sie aus und wäre fast hineingestürzt, wenn sie sich nicht an einer knorrigen Wurzel festgehalten hätte. Doch als sie die Wurzel berührte, schlang diese sich rasch um ihre Hand und ihren Arm und hielt sie fest. Je heftiger die Mondfrau daran zog und zerrte, um so fester wurde der Griff.

Als sie überlegte, was sie tun konnte, hörte sie in weiter Ferne eine schwache, schluchzende Stimme, die um Hilfe rief. Dann hörte sie Schritte und sah in der Dunkelheit ein Gesicht mit vor Schreck weitaufgerissenen Augen. Es war ein Mann, der sich im Sumpf verlaufen hatte. Benommen vor Angst hatte er sich auf das flackernde Licht zugekämpft, das ihm Hilfe und Sicherheit zu versprechen schien. Doch merkte er nicht, wie er dabei immer weiter vom Pfad ab und in die Nähe der schwarzen Teiche geriet.

Die Mondfrau versuchte sich nun mit aller Kraft zu befreien, um ihm zu helfen, schaffte es jedoch nicht; aber sie drehte und wand sich dabei so sehr, daß ihre Kapuze von dem hellglänzenden Haar herabrutschte: Das strahlende Licht, das es verströmte, vertrieb sogleich die Dunkelheit. Der arme Wanderer war sehr erleichtert, als sich die bösen Kreaturen wieder in die Dunkelheit zurückzogen, fand seinen Pfad aus dem Sumpf heraus und rannte so schnell er konnte nach Hause.

Die Mondfrau war zwar froh, daß die verlorene Seele den Weg gefunden hatte, doch sie wollte ebenfalls dem Sumpf entkommen und begann heftiger als zuvor, sich gegen den Griff der Wurzel zu wehren. Schließlich brach sie jedoch erschöpft zusammen, und dabei fiel die Kapuze wieder über ihr Haar.

Da ging das gesegnete Licht wieder aus, und die Dunkelheit und mit ihr alle bösen Kreaturen kehrten zurück. Sie griffen die Mondfrau nun wütend und höhnisch an und trieben sie tief in den Morast. Als sich am Himmel ein fahles Morgenlicht zeigte, rollten die Bösen einen großen Felsbrocken auf sie und huschten fort.

Die Zeit verging, aber der Mond kehrte nicht wieder. Ohne das Licht des Mondes war es nachts nun nicht mehr sicher. In der großen Dunkelheit verirrten sich Wanderer, wurden Dinge gestohlen, und böse, schreckliche Wesen versetzten das Land in Angst und Schrecken. Viele Menschen hatten darunter zu leiden. Alle bekamen Angst vor der Finsternis, die das Land nachts einfach zu verschlucken schien.

Da suchten die Menschen dieses Landes Hilfe bei der weisen Frau, die in einer alten Mühle wohnte, und sie verriet ihnen, wie sie den verlorenen Mond finden konnten. Bewaffnet mit Steinen und Haselruten und voll Angst zogen sie in das unheimliche Sumpfland, bis sie schließlich zu dem Teich gelangten, wo der Mond neben der Wurzel begraben lag. Als sie rings um den Felsbrocken eine helle Linie entdeckten, rollten sie mit vereinten Kräften den Stein fort.

Einen kurzen Augenblick lang sahen sie ein seltsames, wunderschönes Gesicht, das sie froh aus dem schwarzen Wasser heraus anblickte, und hörten das wütende Geheul der fliehenden bösen Wesen. Und dann sahen sie, wie der Mond so schön und strahlend wie eh und je in den Himmel stieg und die Marschen und Wege des Nachts wieder sicher beleuchtete.

Der Mond ist seit uralten Zeiten ein Symbol von Weiblichkeit. Er ist voller Geheimnis: seine Zyklen, sein sich ständig veränderndes Bild. Sein Licht ist kühl, indirekt und diffus im Gegensatz zum hellen, direkten und intensiven Licht der Sonne, die man oft mit dem maskulinen Prinzip in Verbindung bringt.

Wir in unserer Kultur schätzen die Sonne, das Tageslicht und den Sommer mehr als Mondlicht, Nächte und Winter. Wir bemerken, ob die Sonne auf- oder untergeht, ob der Tag sonnig oder bedeckt ist, aber achten kaum auf den Mond und seine Phasen. In gleicher Weise schätzen wir heute die männlichen Prinzipien der direkten Aktion, der zielgerichteten Handlung, des logischen Denkens, des zielstrebigen, rivalisierenden Verhaltens, die geradlinige Struktur, Produktivität und Leistung. Wir empfinden Unbehagen angesichts der weiblichen Eigenschaften der Stille, der Zwiespältigkeit, der Emotion. Wir werden ungeduldig bei kooperativer, beziehungsorientierter Haltung und betrachten Ästhetik, Intuition, Nähren und Erdverbundenheit als unwichtig.

Viele traditionelle Kulturen erkennen die Notwendigkeit von sowohl maskulinen wie femininen Aspekten im Leben als notwendig an. Die Geschichte vom vergrabenen Mond erinnert uns daran, daß es einst eine Zeit gab, in der das Mondlicht sehr wichtig war, als man weibliche Eigenschaften schätzte und achtete, eine Zeit, in der Fühlen ebensoviel galt wie Denken, Intuition ebenso wertvoll war wie Logik, Sein ebensosehr geschätzt wurde wie Tun und die Reise ebenso wichtig war wie das Ziel selbst. Fernöstlicher Philosophie zufolge beruht alles im Universum auf der Polarität von Yin- (weiblich/rezeptiven) und Yang- (männlich/aktiven) Energien. Yin ist alles, was offen, nachgiebig und miteinander verbunden ist. Yin verkörpert Intuition, Gefühl und tiefe Weisheit von innen heraus. Es ist die weibliche Macht, die mit den subtilen und scheinbar unsichtbaren Kräften und Rhythmen der Natur und der Harmonie in allen Beziehungen verbunden ist. Yin wird durch einen Kreis, eine Spirale oder ein Labyrinth, das keinen Anfang und kein Ende hat, symbolisiert. Yang hingegen ist aktiv und direkt. Es ist die logische, intellektuelle Energie, die Informationen sucht und Kontrolle anstrebt. Seine Macht rührt vom Tun und Erstellen her. Es hat mit Trennung, Identität, Autonomie und Individualität zu tun. Yang wird oft durch einen Pfeil dargestellt.

Die Geschichte vom vergrabenen Mond warnt vor der Gefahr für die Menschheit, wenn das Gleichgewicht zwischen Weiblichem und Männlichem nicht geachtet wird, wenn das Weibliche vergraben wird und die männlichen Eigenschaften als wichtiger gelten. Es können dann zwar große technologische Fortschritte erzielt werden, aber wenn die weibliche Betonung der Gefühle, von Beziehungen und Harmonie ignoriert wird, folgen daraus leicht Gewalt und Leid.

Die Botschaft dieses Märchens gilt wie die vieler Legenden und Sagen nicht nur für die Menschheit allgemein. Sie spricht auch direkt unsere individuelle Psyche an und warnt uns vor der Gefahr, das Weibliche in uns selbst zu verleugnen. Wir alle, Männer wie Frauen, tragen in uns das männliche wie das weibliche Prinzip und stehen ständig vor der Herausforderung, beide Aspekte zu fördern, damit sie harmonisch zusammenwirken können. Keine der beiden Eigenschaften ist richtig oder falsch. Keine ist besser oder wertvoller als die andere. Probleme entstehen aber, wenn zwischen den beiden ein Ungleichgewicht herrscht, wenn ein Aspekt höher geschätzt wird als der andere oder wenn eine Seite von der anderen beherrscht wird.

Der weibliche Aspekt in uns fördert unsere nährenden, helfenden Beziehungen, der männliche Aspekt Autonomie, Trennung und Individualität. Wenn wir die weibliche Seite zuungunsten der männlichen entwickeln, finden wir uns vielleicht in einer Beziehung, in der wir uns vornehmlich um andere kümmern, ohne Grenzen zu setzen, und verlieren möglicherweise das Gefühl für uns selbst. Wenn wir nur die maskuline Seite entwickeln, werden wir vielleicht in rivalisierende Machtkämpfe verwickelt und empfinden ein starkes Gefühl von Entfremdung, das entsteht, wenn wir uns nicht mit anderen verbunden fühlen. Unser Leben ist dann kaum besser als ein Wettkampf. Eine Person, die ihr größeres Umfeld wahrnehmen und seine oder ihre innere Stimme empfangen, aber nicht ausagieren kann, erlebt ebenso viele Schwierigkeiten wie jemand, der bloß handelt und Impulsen nachgeht – ohne ein inneres Gefühl für ein Ziel oder einen Sinn im Leben.

Das Weibliche in uns ist die weise, intuitive Stimme, die die Wahrheit erkennt. Es ist die offene, empfängliche Seite, die von innen wie außen Informationen aufnimmt und über ein tiefverwurzeltes Wissen verfügt. Seine Aufgabe ist es, ein Gefäß für unsere Wahrheit, unsere Vision und unser innerstes Wesen zu sein. Das Männliche in uns ist der Teil unseres Selbst, der handelt. Es ist eigenwillig, konzentriert und zielgerichtet; es ist die intellektuell-rationale Seite, die unsere Gedanken und Gefühle logisch ordnet und erklärt. Die Aufgabe des Männlichen besteht darin, unsere Wahrheit kühn und auf direktem Weg in die Welt zu bringen.

Wenn zwischen diesen beiden Seiten Gleichgewicht herrscht und sie harmonisch miteinander wirken, erleben wir eine sogenannte »göttliche Verbindung«, in der das Männliche das Weibliche achtet und unterstützt und ihm Schutz auf dem Weg in die Welt bietet. Sagt das Weibliche: »Ich bin einsam«, dann setzt sich die männliche Seite nieder und schreibt einen Brief an einen Freund.

Hat das Weibliche einen Traum, übersetzt und deutet ihn das Männliche.

Ist das Weibliche aufgebracht, wenn ein Freund etwas tut, das seine Gefühle verletzt, dann faßt das Männliche diese Gefühle in Worte und erklärt, warum das Verhalten verletzend war.

Sagt das Weibliche: »Ich habe Hunger«, dann reagiert das Männliche darauf, indem es Nahrung besorgt und zubereitet, oder indem es fragt: »Ist es körperlicher oder emotionaler Hunger?«

Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Gleichgewicht zwischen dem Femininen und dem Maskulinen nicht gefördert wird. Maskuline Prinzipien werden übertrieben betont, weibliche unterdrückt. Es wird heute viel Wert auf zielgerichtete Aktivitäten gelegt, auf Leistung und Produktivität. Tun ist wichtiger als Sein. Was wir erreichen, ist wichtiger als unsere Absicht. Verstandesdinge haben Vorrang vor Herzensdingen. Finanzieller Erfolg wird höher bewertet als Erfolg in Beziehungen, technologischer Fortschritt mehr als innere Weisheit. Unsere Zivilisation hat »ihren Mond verloren«. Wir stehen am Abgrund zu einer Katastrophe, weil aktive, aggressive, nach außen gerichtete Energie nicht im Gleichgewicht gehalten wird mit den inneren, tiefen, nährenden Kräften, die das Leben erhalten und vor allem harmonische Beziehungen fördern.

Dieses Ungleichgewicht haben wir seelisch internalisiert. Als Folge des Lebens in einer solchen Kultur sollen wir der männlichen Seite erlauben, zu dominieren, zu kontrollieren und unsere weibliche Natur zu verurteilen. Statt unsere Gefühle zu erleben und auszudrücken, lehrt man uns, sie zu verdrängen und zu kontrollieren, weil sie irrational sind. Statt auf unsere Träume und Intuitionen zu achten, ignorieren oder verspotten wir sie, weil sie nicht logisch sind. Statt unserem Körper zu vertrauen, daß er uns mitteilt, wenn wir physische Nahrung oder Anregung brauchen, folgen wir komplizierten Diätplänen und starren Sportübungen. Wir konzentrieren uns auf Fakten und Zahlen und mißachten unsere Bauchreaktion, wenn es darum geht, unsere Wahrnehmung zu bestätigen. Wenn deine innere Weiblichkeit sagt: »Ich bin einsam«, besteht die maskuline Seite darauf, daß du keinen Grund zu diesem Gefühl hast.

Wenn du einen Traum hattest, der dich nachdenklich macht, dann lacht deine männliche Seite darüber und tut ihn als »bloßen« Traum ab.

Wenn du dich über das Verhalten eines Freundes aufregst, sagst du dir, du seist überempfindlich.

Wenn du Hunger empfindest, kritisierst du dich, weil du zuviel ißt.

 

Die Epidemie der Eßstörungen unter Frauen ist eindeutig eine Folge des Ungleichgewichts zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen innerhalb unserer Gesellschaft und uns selbst. Viele Frauen erleben eine Verzweiflung und Entfremdung, die nicht nur aus der Unterdrückung des Weiblichen in unserer Welt herrührt, sondern auch aus der Verleugnung des eigenen inneren weiblichen Wesens. Indem wir immer wieder unsere weibliche Stimme ignorieren, gehen wir das Risiko ein, sie zu verlieren oder im Morast zu vergraben wie den Mond in dem Märchen. Wenn wir aufhören, auf unsere Gefühle und Eingebungen zu lauschen, stürzt unsere Seele in eine Dunkelheit, die erschreckend sein kann. In dieser Finsternis werden unsere Gefühle, unser Hunger und unsere Bedürfnisse zu geheimnisvollen, destruktiven Kräften, die in unserem Körper und Verstand Chaos anrichten können.

Frauen, die unter gestörtem Eßverhalten leiden, haben häufig einen zu dominanten männlichen Aspekt, der beständig versucht, ihre innere Weiblichkeit zu beherrschen. Ihre maskuline Seite ist gegenüber der weiblichen Seite gnadenlos kritisch oder sogar feindselig. Daher ist ihr Leben voller Aktivitäten, Pflichten und endloser Listen von Dingen, die erledigt werden müssen. Augenblicke der Tagträumerei, der Entspannung und der Ruhe werden als Zeitverschwendung verdammt und gemieden. Es könnten ja Gefühle oder Bedürfnisse an die Oberfläche steigen, die ihre Ziele und Wünsche vielleicht infrage stellen oder sonstwie beeinträchtigen. Die Nacht wird da besonders gefährlich, weil ohne die Geschäftigkeit und Betriebsamkeit des Tages, des ständigen Tuns, der gefürchtete Trieb zu essen den Raum einnimmt, der nicht einfach leer und still bleiben darf.

Wenn das Männliche das Weibliche beherrscht, erfolgen zahlreiche Taten ohne Sinn. Wir essen womöglich zwanghaft oder zählen obsessiv Kalorien, statt uns auf unseren Körper einzustimmen und zu essen, wenn wir hungrig sind, und aufzuhören, wenn wir satt sind. Und wir hören auch nicht auf innere Führung, durch die wir herausfinden könnten, warum wir essen wollen, wenn wir gar keinen Hunger haben. Wir spielen das nach außen gerichtete Zahlenspiel um Pfunde und Kalorien, an dem wir ablesen, wie gut unser Tag verläuft. Wir nehmen an einem endlosen Kreislauf verschiedener Diäten teil, mit denen wir versuchen, unsere inneren Bedürfnisse und unseren Appetit zu kontrollieren, statt diese zu achten. Wir versuchen, unseren weiblichen Körper so zu gestalten, daß er gradliniger und kantiger wird, weniger rund und geschwungen. Wir glauben, daß hartnäckiges Streben die beste Methode für alles ist, daß große Willenskraft (die sich durch Gewichtsabnahme ausdrückt) die größte Auszeichnung darstellt. Wir versuchen, unsere Gefühle und Instinkte zu kontrollieren, indem wir die Nahrungsaufnahme einschränken. Wenn man Hunger hat, ist es sehr schwer, sich anderen Gefühlen zu widmen. Und wenn unsere innere Weiblichkeit zu rebellieren beginnt, dann beschuldigen wir sie, irrational, überempfindlich, außer Kontrolle zu sein und nicht genügend Willenskraft zu haben.

Die Gesundung von gestörtem Eßverhalten erfordert den bewußten, zielstrebigen Versuch, unsere weibliche Seite wiederzugewinnen, damit die männliche Seite wieder ins Lot gerät. Wie die Menschen in der Vergangenheit müssen wir uns an unsere innere weise Frau wenden, die uns sagen kann, wie wir den Mond zurückholen.

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3 Selbstüberprüfung

In Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« geht es um einen sehr eitlen Kaiser, dem es nicht sonderlich am Herzen liegt, sein Volk gut zu regieren. Statt dessen interessiert er sich nur für kostbaren Schmuck und schöne Kleider.

Eines Tages kamen zwei Betrüger in die Stadt, die behaupteten, sie könnten die ausgefallensten Kleidungsstücke herstellen – so fein, daß nur diejenigen sie sehen konnten, die für das Amt, das sie ausübten, auch geeignet waren. Dumme, unwissende Menschen konnten diese Kleider nicht sehen.

Der Kaiser ließ sich von den beiden überzeugen und beauftragte sie, ihm eine vollständige, neue Garderobe zu schneidern. Die beiden Betrüger taten so, als würden sie das Tuch auf Rahmen weben und den Stoff zusammennähen. Die Höflinge im Dienst des Kaisers redeten begeistert über die schönen Muster und Farben, denn sie wagten nicht zuzugeben, daß sie vielleicht für ihr Amt nicht geeignet waren. Der Kaiser selbst drückte seine größte Zufriedenheit aus – denn auch er wollte seine Dummheit nicht preisgeben – und legte die neuen Kleider für die Prozession durch die Stadt an. Als er durch die Straßen zog, jubelten und klatschten alle Bürger, damit ihre Nachbarn nicht meinten, sie seien dumm. Nur ein kleines Kind wandte sich an seine Mutter und rief mit lauter Stimme: »Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!« Diese Bemerkung wurde rasch in der Menge weitergetragen, und schließlich erkannten alle Städter die Wahrheit.

Dieses Märchen hat für eine Frau, die mit einer Eßstörung kämpft, große Bedeutung. Irgendwann zu Beginn ihres Lebens (gewöhnlich mit etwa vier Jahren) war sie wie das kleine Kind in der Geschichte. Sie sah die Dinge, wie sie tatsächlich waren, und ließ sich nicht von der Realitätswahrnehmung anderer beeinflussen. Sie erkannte die Unterschiede zwischen dem, was die Leute sagten, und dem, was sie taten. Sie spürte, wenn etwas nicht richtig war, auch wenn alle in ihrer Umgebung behaupteten, es sei in Ordnung.

Aber im Gegensatz zu dem Kind in der Geschichte wurde die Wahrheit nicht mit Wohlgefallen aufgenommen, wenn das junge Mädchen sie aussprach oder Dinge ans Licht brachte, die nicht so waren, wie sie erschienen. Statt dessen wurden ihre Bemerkungen entweder ignoriert, oder Familienmitglieder und Autoritätspersonen reagierten darauf mit Angst und Feindseligkeit. Sie erhielt die Botschaft (gewöhnlich nonverbal), daß ihre Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ihre besondere Sensibilität für das, was außerhalb der Wahrnehmung der anderen lag, gefährlich war und sie sich damit nur Spott und Zurückweisung, Mißbrauch oder sogar die Auflösung der Familie einhandelte (eine sehr gefährliche Folge aus der Perspektive einer Vierjährigen).

Das brachte das kleine Mädchen in eine sehr unangenehme Lage. Um zu überleben, mußte sie eine Möglichkeit finden, zu verbergen, wie sie wirklich war, ihre Fähigkeit einschränken, Unsichtbares zu sehen, die Stimme, die die Wahrheit sprach, in sich zum Schweigen bringen. Sie mußte ihren sechsten Sinn, ihre weibliche Intuition, verstecken – und zwar nicht nur vor den anderen, sondern auch vor sich selbst. Denn wenn sie ihr Anderssein (auch bloß vor sich selbst) akzeptiert hätte, wären starke emotionale Probleme die Folge gewesen: das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht dazuzupassen. Das wäre für sie unerträglich gewesen. Und so begann der Prozeß, die kluge Frau in sich selbst zu verleugnen.

Wie fing sie das an? Sie schaffte es, indem sie die Realitätswahrnehmung anderer akzeptierte und die eigene abstritt. Das war leicht; wenn ihre Wahrnehmung ohnehin nicht von den fünf Sinnen oder der Logik verifiziert werden konnte und andere in ihrer Umgebung behaupteten, ihr Realitätssinn sei der einzig richtige. Sie hörte nicht mehr auf ihre innere Stimme, die sie vorher geleitet hatte, und begann, den Regeln anderer zu folgen. Sie verweigerte sich ihre Herzenswünsche und ersetzte sie durch lange Listen des Müssens und Sollens. Sie strebte danach, ein ausschließlich rational denkender Mensch zu sein, ohne jegliche Berücksichtigung der emotionalen und spirituellen Aspekte ihres Seins. Sie betrachtete ihren Appetit und ihre anderen körperlichen Gelüste als böse und sah daher ihren Körper und dessen weibliche Ausdrucksformen als Feind statt als ihre faßbare Verbindung mit einer mächtigeren Erkenntnisquelle.

Diese Verdrängung von einem Großteil ihres Wesens verlangt jedoch ihren Zoll. Im Laufe der Jahre überkommt sie ein verschwommenes, unbehagliches Gefühl von Leere. Sie versucht also, sich zu füllen. Da ihr nun nicht mehr klar ist, nach was sie sich sehnt, nimmt sie an, ihr Hunger sei körperlicher Natur. Und daher ißt sie entweder zwanghaft oder reagiert entsetzt auf ihren vermeintlich unstillbaren Appetit und beginnt zu hungern.

Sie bewegt sich weiter durchs Leben in der Annahme, daß etwas mit ihr nicht stimmt. Schließlich muß etwas mit ihr nicht in Ordnung sein, wenn sie die Dinge auf eine Weise betrachtet wie sonst niemand. Ihr Kampf mit dem Essen bestätigt, daß in der Tat etwas bei ihr nicht normal ist. Essen wird daher zum Brennpunkt, zum Zentrum ihrer Obsession: Wenn sie dieses Problem in den Griff bekommen könnte, dann würde alles wieder gut werden.

Eine Frau auf dem Weg zur Heilung von einer Eßstörung muß als erstes die Vorstellung davon ändern, wie und wer sie wirklich ist. Sie muß ihre kluge, intuitive Gabe erkennen, auch wenn sie ihr Kämpfe und emotionale Wunden zugefügt hat, weil anderen dabei unbehaglich wurde. Sie muß beginnen, sich selbst und der Welt ringsum zu versichern, daß sie nicht minderwertig ist. Sie muß anfangen, ihre Lebensgeschichte zu betrachten und neu zu erzählen, und sie muß davon ausgehen, daß alles mit ihr in Ordnung ist und sie keine zweite Wahl darstellt, auch wenn sie stark verletzt wurde. Ihre Eßstörung ist nicht Beweis dafür, daß sie ein minderwertiger Mensch ist, der dringend geheilt werden müßte.

Die Frau muß für ihre Gesundung erkennen, daß ihre Besessenheit mit Essen und Dicksein nicht ihr Selbst definiert. Sie muß ihre Perspektive ändern, so daß sie diese Obsession nicht mehr als einen furchtbaren Charaktermangel betrachtet, sondern als einen einfachen, aber stark benötigten Mechanismus, den sie auf ihrem Lebensweg irgendwann gelernt hat. Ein Verhalten, das sie lernte, um mit der emotionalen Qual fertig zu werden, weil sie anders war oder sich mißverstanden, unakzeptiert oder überwältigt fühlte. Sie muß die Möglichkeit erwägen, daß die Entwicklung von gestörtem Eßverhalten nicht unbedingt eine so schlechte Wahl war – angesichts der begrenzten Möglichkeiten, die ihr in den Phasen der Überbelastung oder Krise zur Verfügung standen.