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Der preisgekrönte Roman einer der spannendsten jungen Autorinnen Japans. – »Sie werden besessen sein.« Leila Slimani
Die Frau im lila Rock scheint in ihrer eigenen Welt zu leben und bewegt sich traumwandlerisch durch überfüllte Straßen, ohne von ihrer Umwelt Notiz zu nehmen. Sie ist eine alleinstehende Frau. Sie lebt in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung und ist knapp bei Kasse. Sie sitzt jeden Nachmittag auf derselben Parkbank. Sie kauft jeden Tag ein Sahnetörtchen, das sie im Park verzehrt. Aber sie wird beobachtet. Die Frau in der gelben Strickjacke ist unbemerkt immer dort, wo die Frau im lila Rock sich aufhält. Doch sie ist keine Stalkerin – es ist viel komplizierter!
Über zwei Leben, die auf unheimliche Weise miteinander verflochten sind.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zum Buch
Die Frau im lila Rock scheint in ihrer eigenen Welt zu leben und bewegt sich traumwandlerisch durch überfüllte Straßen, ohne von ihrer Umwelt Notiz zu nehmen. Sie ist eine alleinstehende Frau. Sie lebt in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung und ist knapp bei Kasse. Sie sitzt jeden Nachmittag auf derselben Parkbank. Sie kauft einmal in der Woche ein Vanillecremetörtchen, das sie im Park verzehrt. Aber sie wird beobachtet. Die Frau in der gelben Strickjacke ist unbemerkt immer dort, wo die Frau im lila Rock sich aufhält. Doch sie ist keine Stalkerin – es ist viel komplizierter!
Eine düster-komische Geschichte über zwei Leben, die auf mysteriöse Weise miteinander verflochten sind.
NATSUKOIMAMURA ist eine der aufregendsten jungen Autorinnen Japans. Für »Die Frau im lila Rock« erhielt sie den renommierten Akutagawa-Preis. Natsuko Imamura wurde in Hiroshima geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Osaka. Wie die Frau im lila Rock hat sie als Zimmermädchen in einem Hotel gearbeitet.
NATSUKO IMAMURA
Roman
Aus dem Japanischen von Katja Busson
Die japanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »« (Die Frau im lila Rock) bei Asahi Shimbun Publications Inc., Tokyo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe Februar 2025
Copyright © der Originalausgabe © 2019 by Natsuko Imamura
All rights reserved
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
German language translation rights arranged with Asahi Shimbun Publications Inc. through The English Agency (Japan) Ltd. and New River Literary Ltd.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Illustration von: © Colin Webber
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
sl · Herstellung: kh
ISBN 978-3-641-28165-6V002
www.btb-verlag.de
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BEIMIRINDERNACHBARSCHAFT wohnt eine Frau, die die »Frau im lila Rock« genannt wird. Man nennt sie so, weil sie immer lila Röcke trägt.
Erst dachte ich, sie sei jung. Wahrscheinlich wegen ihrer zierlichen Figur und des schulterlangen schwarzen Haars. Von weitem könnte man sie glatt für eine Mittelschülerin halten. Doch aus der Nähe sieht man sofort, dass sie ganz und gar nicht mehr jung ist. Sie hat Altersflecken im Gesicht, und auch ihr schulterlanges schwarzes Haar ist strohig und stumpf. Ungefähr einmal pro Woche geht die Frau im lila Rock in die Bäckerei in der Passage, um ein Vanillecremebrötchen zu kaufen. Ich tue dann immer so, als suchte ich Brot aus, und beobachte sie dabei. Jedes Mal erinnert sie mich an wen. Nur an wen?
In dem Park bei mir in der Nachbarschaft ist sogar eine Bank für sie reserviert. Die hinterste von den dreien an der Südseite, das ist ihre Bank.
Einmal kaufte die Frau im lila Rock in der Bäckerei ein Vanillecremebrötchen und ging die Passage hinunter zum Park. Es war kurz nach drei. Die Blätter der Blaueichen warfen schon Schatten auf ihre Bank. Die Frau im lila Rock setzte sich genau in die Mitte der Bank und aß das Brötchen, das sie gerade gekauft hatte. Damit von der Creme nichts auf den Boden tropfte, hielt sie die linke Hand darunter. Das Stück mit den Mandelblättchen betrachtete sie erst eine Weile, bevor sie es sich in den Mund schob, und den letzten Bissen kaute sie so bedächtig, als täte es ihr regelrecht leid um ihn.
Ich beobachtete sie dabei und dachte: Ich habe das Gefühl, die Frau im lila Rock ähnelt meiner Schwester. Ich weiß natürlich, dass sie und meine Schwester zwei völlig verschiedene Personen sind. Sie sehen sich schließlich überhaupt nicht ähnlich.
Meine Schwester lässt sich beim letzten Bissen auch viel Zeit. Mir gegenüber war sie immer nachgiebig, nur nicht, wenn es ums Essen ging. Wenn es ums Essen ging, kannte sie kein Pardon. Pudding aß sie am liebsten. Sie kratzte den Rest Karamell aus der Schüssel und schaute ihn an, zehn Minuten, zwanzig Minuten, ohne sich sattzusehen. Wenn du ihn nicht willst, ess ich ihn, sagte ich mal und schnappte mir ihren Löffel, was zu einem Streit führte, der das Haus wackeln ließ. Die Narbe an meinem Oberarm ist immer noch zu sehen. Der Abdruck, den meine Zähne in ihrem Daumen hinterlassen haben, vermutlich auch. Seit der Scheidung meiner Eltern vor zwanzig Jahren lebt die Familie getrennt. Was meine Schwester wohl macht? Ob sie immer noch am liebsten Pudding isst? Wahrscheinlich nicht.
Wenn ich das Gefühl habe, dass die Frau im lila Rock meiner Schwester ähnelt, ähnelt sie mir dann auch? Nein. Obwohl. Eines haben wir gemeinsam. Wenn sie die Frau im lila Rock ist, bin ich »die Frau in der gelben Strickjacke«.
Die kennt im Gegensatz zur Frau im lila Rock bloß keiner.
Wenn die Frau in der gelben Strickjacke zum Beispiel durch die Passage geht, wird sie von niemandem beachtet, aber die Frau im lila Rock, ja, die erregt Aufsehen. Die braucht am Ende der Passage nur aufzutauchen, schon reagieren die Leute, und zwar folgendermaßen: Es gibt Leute, die a) demonstrativ wegsehen, b) aus dem Weg springen, c) die Faust recken (ihr Auftauchen könnte ja ein Zeichen sein) oder d) im Gegenteil, in Geheul ausbrechen (weil sie glauben, dass es Glück bringt, der Frau im lila Rock zweimal an einem Tag zu begegnen, aber Pech, wenn man sie noch ein drittes Mal sieht).
Was ich dabei am erstaunlichsten finde, ist, dass die Frau im lila Rock, unabhängig davon, wie die Leute reagieren, nie ihre Schrittgeschwindigkeit ändert. Sie teilt die Menge in konstantem Tempo. Interessanterweise stößt sie dabei selbst am Wochenende, wenn es voll ist, mit nichts und niemandem zusammen. Entweder hat sie hervorragende Reflexe oder aber ein drittes Auge auf der Stirn. Ja, bestimmt verbirgt sich unter ihrem langen Pony ein Dreihundertsechzig-Grad-Auge, mit dem sie ständig die Umgebung scannt. Aber wie dem auch sei: Diese Fähigkeit hat die Frau in der gelben Strickjacke jedenfalls nicht.
Dass man angesichts solcher Geschicklichkeit auf die verrückte Idee kommen kann, jetzt erst recht mit ihr zusammenstoßen zu wollen, kann ich verstehen. Ich hatte diese verrückte Idee auch. Und so wie die anderen scheiterten, scheiterte auch ich. Es war zu Beginn des Frühlings, glaube ich; ich tat jedenfalls so, als ginge ich ganz normal, beschleunigte ein paar Meter vor ihr plötzlich den Schritt und stürmte auf sie zu.
Idiotisch, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Weil die Frau im lila Rock im letzten Moment geschmeidig auswich und ich, weil ich nicht mehr bremsen konnte, in die Auslage des Metzgers krachte, was mir glücklicherweise keine Verletzungen, aber unglücklicherweise eine horrende Rechnung für die Reparatur der Auslage bescherte.
Vor kurzem habe ich endlich die letzte Rate getilgt – dabei liegt die Sache schon länger als ein halbes Jahr zurück –, und das war alles andere als einfach. Einmal pro Monat schmuggelte ich mich sogar in den Grundschulbasar, um mit Dingen, von denen ich dachte, dass sie sich verkaufen lassen, ein paar Groschen dazuzuverdienen. Jedes Mal fragte ich mich, was in aller Welt ich da eigentlich tue. Ein zweites Mal begehe ich so eine Dummheit nicht. Schließlich ist es bisher noch niemandem geglückt, mit der Frau im lila Rock zusammenzustoßen. Sie muss hervorragende Reflexe haben, wenn sie kein drittes Auge hat. Dabei sieht sie so unsportlich aus. Obwohl: Sie gleitet durch die Menge wie eine Eiskunstläuferin übers Eis. Ja, die Frau im lila Rock erinnert mich an das Mädchen, das bei den Olympischen Winterspielen im vorletzten Jahr die Bronzemedaille im Eiskunstlaufen gewann. Das Mädchen in dem blauen Dress, das sich so tantenhaft ausdrückt. Nach ihrem Karriereende wechselte sie ins Showbusiness, wo sie seit letztem Jahr eine Kindersendung moderiert. Seit kurzem ist sie auf Platz eins der »Beliebtesten Showmaster bei Kindern«. An die erinnert sie mich. Auch wenn die Frau im lila Rock viel älter ist, im Bekanntheitsgrad (dem meiner Nachbarschaft jedenfalls) steht sie der Showbiz-Ex-Eisprinzessin nicht nach.
Ja, nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder wissen, wer die Frau im lila Rock ist. Ich wünschte, die Fernsehreporter, die ab und zu in der Passage auftauchen, würden nicht nur den Hausfrauen das Mikro unter die Nase halten und fragen, was es zum Abendessen gibt oder ob das Gemüse teurer geworden ist, sondern zwischendurch auch einmal Alte oder Kinder fragen, ob sie die Frau im lila Rock kennen.
Ich bin sicher: Fast alle würden bejahen.
Die Kinder haben sich ein neues Spiel ausgedacht: Sie spielen eine Runde »Schnick, Schnack, Schnuck«, und derjenige, der verliert, muss die Frau im lila Rock abklatschen. Nicht aufregend, aber die Kinder haben ihren Spaß. Gespielt wird im Park. Der Verlierer pirscht sich an die Bank der Frau im lila Rock heran und patscht ihr auf die Schulter. Das ist alles. Sobald er sie abgeklatscht hat, laufen die Kinder lachend weg, und das Spiel geht wieder von vorne los.
Ursprünglich musste man bei dem Spiel die Frau im lila Rock nicht abklatschen, sondern nur ansprechen. Der Verlierer hatte sich ihrer Bank anzunähern und »Guten Tag« oder »Hallo« zu sagen. Mehr musste er nicht tun, aber schon das machte den Kindern einen Heidenspaß. Sobald die Frau im lila Rock angesprochen war, stoben die Kinder kreischend vor Lachen auseinander.
Die neue Regel ist noch relativ jung. Die alte hatten alle »satt«. Ansprechende und Angesprochene. Die Sätze der Kinder waren so einfallslos – »Wie geht’s?«, »Schönes Wetter heute, nicht wahr?«, bestenfalls »How are you?« –, dass selbst die Frau im lila Rock, die sich anfangs nie gerührt und nur zu Boden gesehen hatte, dazu überging, gelangweilt zu gähnen oder an den Nägeln zu knibbeln. So lustlos, wie sie sich die Flusen vom Pullover zupfte, konnte man fast meinen, sie wollte die Kinder herausfordern.
Die Kinder steckten die Köpfe zusammen und überlegten, wie sie die Routine durchbrechen könnten. Heraus kam die neue Regel, die inzwischen auch nicht mehr so neu ist, die aber, im Moment wenigstens, auch noch niemand »satt« hat. Munter rufen sie: »Schnick, Schnack, Schnuck!« Der Gewinner macht einen Luftsprung, der Verlierer stößt einen Schrei aus. Die Frau im lila Rock sitzt währenddessen auf ihrer Bank und rührt sich nicht. So wie sie dasitzt – die Hände im Schoß, den Kopf gesenkt –, könnte man fast meinen, sie hat sich noch nicht an die neue Regel gewöhnt. Wie sie sich wohl fühlt, wenn ihr eine Hand auf die Schulter patscht?
Ich dachte, die Frau im lila Rock ähnelt meiner Schwester, aber das stimmt nicht. Der Showbiz-Ex-Eisprinzessin ähnelt sie auch nicht. Die Frau im lila Rock ähnelt meiner Freundin aus der Grundschule: Mei-chan. Dem Mädchen, das sein langes Haar immer zu einem Zopf flocht und mit einem roten Haargummi versah. Ihr Vater war Chinese. Eines Tages kurz vor der Klassenabschlussfeier kehrte die Familie in die Heimat zurück, nach Shanghai. Mei-chan saß im Schwimmunterricht auch immer reglos da und knibbelte mit gesenktem Kopf an den Nägeln, anstatt uns beim Schwimmen zuzusehen. Wie die Frau im lila Rock. Ist es möglich, dass die Frau im lila Rock … dass das Mei-chan ist? Wer hätte gedacht, dass sie wieder in Japan ist? Unsere Freundschaft war nach ihrem Umzug eingeschlafen. Dass sie extra wegen mir …?
Nein. So gut waren wir nun auch wieder nicht befreundet. Wir haben ein- oder zweimal miteinander gespielt, mehr nicht. Aber Mei-chan war nett. »Schöner Schwanz«, lobte sie einmal den Hund, den ich gemalt hatte. Ihr Lob machte mich richtig verlegen. Gerade Mei-chan konnte sehr gut malen. Sie wolle Malerin werden, sagte sie immer. Wurde sie auch. Huang Chunmei. In Japan aufgewachsene chinesische Malerin. Im Sommer vor drei Jahren war sie für eine Ausstellung da. Las ich in der Zeitung. Die Frau, die lächelnd vor den Bildern stand, war zwar nicht mehr das Mädchen mit dem Zopf, aber eindeutig Mei-chan. An den Mandelaugen und dem Schönheitsfleck unter der Nase hatte sich nichts geändert.
Die Frau im lila Rock hat Schlupflider. Sie hat Altersflecken, aber keinen Schönheitsfleck.
Geht man nur nach der Augenform, hat sie gewisse Ähnlichkeit mit Arishima-san, einer meiner Klassenkameradinnen aus der Mittelschule. Charakterlich sind sie völlig verschieden, glaube ich, aber bei Schlupflidern muss ich unweigerlich an Arishima-san denken. Vor Arishima-san hatte ich Angst. Blondiert, einschüchternd, kriminell, brutal. Und immer ein dolchähnliches Messer dabei. Einer gefährlicheren Person, kann man sagen, bin ich nie begegnet. Selbst die Polizei wurde nicht mit ihr fertig, geschweige denn ihre Eltern oder die Lehrer. Warum Arishima-san ausgerechnet mir mal einen Kaugummi geschenkt hat, weiß ich bis heute nicht. Es war ein Kaugummi mit Pflaumengeschmack. »Hier«, sagte sie, nachdem sie mir einen Stoß in den Rücken versetzt hatte, also nahm ich ihn. Bei der Gelegenheit sah ich das erste Mal ihre Augen. Schlupflidrige Augen unter abfallenden Brauen. Einen Moment lang war ich so perplex, dass ich nicht mehr wusste, wer vor mir steht.
Ich hätte mich bloß bedanken brauchen, aber ich sagte nichts. Den Kaugummi warf ich beim Getränkehändler in den Müll, weil ich befürchtete, dass er vergiftet wäre.
Er war nicht vergiftet. Ich hätte ihn essen sollen. Und mich am nächsten Tag mit einem Bonbon revanchieren. Zu spät.
Nach der Mittelschule fing Arishima-san etwas mit einem Yakuza an. Man munkelt, sie wäre ins Geschäft mit Prostituierten und Aufputschmitteln eingestiegen. Ihr selbst sollen diese Erfahrungen auch nicht fremd geblieben sein. Inzwischen sitzt sie bestimmt im Knast. In der Todeszelle womöglich. Was bedeutet, dass die Frau im lila Rock nicht Arishima-san sein kann.
Da fällt mir ein: Im Fernsehen gibt es auch jemanden, der der Frau im lila Rock ähnelt. Sie tritt als Kommentatorin in Unterhaltungssendungen auf. Hauptberuflich zeichnet sie lustige Gespenstermangas. Neuerdings auch Kinderbücher, von denen sie selbst sagt, dass die sich besser verkaufen als ihre Mangas. Wenn ich mich nicht irre, ist ihr Mann auch Mangazeichner. Wie hieß der noch gleich …?
Nein. Jetzt weiß ich’s! Die Frau im lila Rock sieht aus wie die Kassiererin aus dem Supermarkt in dem Viertel, wo ich früher wohnte. Die Frau, die mich damals, als ich so fertig war, dass ich kaum das Wechselgeld entgegennehmen konnte, plötzlich fragte, ob alles in Ordnung sei. Die mir am nächsten Tag für meine »Treue« dankte. Weswegen ich ab dem übernächsten Tag nicht mehr hinging.
Neulich habe ich meinem alten Supermarkt auf dem Weg zur Bibliothek einen Besuch abgestattet. Ich linste durch die Scheibe, und da stand sie, die Kassiererin, ein Sternchen mehr an der Brust. Sie sah so aus, als ob es ihr sehr gut ginge.
Was ich damit sagen will, ist, dass ich mir schon lange wünsche, mit der Frau im lila Rock befreundet zu sein.
Wo die Frau im lila Rock wohnt, habe ich selbstverständlich schon längst ermittelt. In einem maroden Apartmenthaus ganz in der Nähe. Zur Passage ist es auch nicht weit. Ein Teil des Daches ist mit Plastikfolie abgedeckt, das Geländer der Außentreppe rostig-rot. Ohne sich daran festzuhalten, erklimmt die Frau im lila Rock die Stufen immer wie auf allen vieren. Das hinterste Apartment ist ihres. Apartment 201.
Von hier geht sie zur Arbeit. Die Leute in der Passage denken vielleicht, dass die Frau im lila Rock arbeitslos ist. Habe ich anfangs auch gedacht. Die, habe ich gedacht, hat definitiv keinen Job. Aber das stimmt nicht. Sie muss einen haben, sonst könnte sie weder Vanillecremebrötchen kaufen noch die Miete für ihr Apartment zahlen.
Sie arbeitet allerdings nicht das ganze Jahr. Es gibt Zeiten, in denen sie arbeitet, und Zeiten, in denen sie nicht arbeitet. Auch die Arbeitsstellen wechseln. Mal arbeitet sie in einer Fabrik für Schrauben, mal in einer für Zahnbürsten, mal in einer für Augentropfenfläschchen. Auf Stundenlohnbasis oder befristet angestellt vermutlich. Wenn sie nicht arbeitet, dann manchmal einen ganzen Monat lang nicht. Ich brauche nur in meinen Notizen nachzusehen, um es genau zu wissen. Letztes Jahr im September hat sie gearbeitet. Im Oktober hat sie nicht gearbeitet. Im November hat sie nur die erste Hälfte gearbeitet. Im Dezember hat sie auch nur die erste Hälfte gearbeitet. Im neuen Jahr hat sie am 10. Januar angefangen zu arbeiten. Im Februar hat sie gearbeitet. Im März hat sie gearbeitet. Im April hat sie nicht gearbeitet. Im Mai hat sie außer in der Golden Week gearbeitet. Im Juni hat sie gearbeitet. Im Juli hat sie auch gearbeitet. Im August hat sie nur die zweite Hälfte gearbeitet. Im September hat sie nicht gearbeitet. Im Oktober hat sie mal gearbeitet, mal nicht. Und jetzt, im November, arbeitet sie vermutlich nicht.
Wenn die Frau im lila Rock arbeitet, arbeitet sie immer Vollzeit. Man sieht ihr die Erschöpfung gleich an. An den Tagen, an denen sie gearbeitet hat, geht sie abends ohne Umweg nach Hause. An ihren wenigen freien Tagen geht sie gar nicht aus dem Haus.
Derzeit ist sie, unabhängig von der Tageszeit, häufig im Park oder in der Passage unterwegs. Nicht dass ich sie ständig beobachten würde, aber soweit ich sehe, geht es ihr gut. Gut, kann man sagen, bedeutet, sie arbeitet nicht.
Ich möchte ihre Freundin werden. Aber wie schaffe ich das?
Während ich überlege, verfliegt die Zeit.
Sie einfach zu fragen, wäre komisch. »Wollen Sie meine Freundin sein?« So etwas hat sie bestimmt noch nie jemand gefragt. Mich schließlich auch nicht. Die meisten Leute wahrscheinlich nicht. Es wäre unnatürlich, sie so anzusprechen. Ich will sie ja nicht anmachen.
Was soll ich also tun? Ich würde mich erst einmal gerne vorstellen. Und zwar so, wie es sich gehört. Wenn wir dieselbe Schule besuchten oder Arbeitskolleginnen wären, wäre das möglich.
Im Park. Ich sitze auf der Bank, die dem Eingang am nächsten liegt. Vor dem Gesicht die Zeitung von gestern. Die habe ich eben aus dem Papierkorb gefischt.
Die Bank zwei weiter ist die Bank der Frau im lila Rock. Dort liegt das Stellenmagazin, das man umsonst im Convenience Store bekommt. Vor etwa zehn Minuten hat die Frau im lila Rock in der Bäckerei in der Passage ein Vanillecremebrötchen gekauft. Gleich dürfte sie im Park auftauchen. Ich habe gerade den Anfang der Rubrik Lebensberatung gelesen – »Soll ich mich von meiner asexuellen Ehefrau scheiden lassen? (Er, Mitte dreißig, im zweiten Jahr verheiratet)« –, als ich ihre Schritte höre.
Das ging aber schnell, denke ich und luge über meine Zeitung. Es nähert sich aber nicht die Frau im lila Rock, sondern ein Mann im Anzug. Wenn man genau hinhört, klingen seine Schritte ganz anders. Müde schlurft er an mir vorbei und setzt sich auf die hinterste Bank.
Ob das ein Vertreter ist? Er hat eine schwarze Aktentasche dabei. Ob er sich einen Moment hier ausruhen will, nachdem er erfolglos die Geschäfte in der Passage abgeklappert hat? Der Park hat insgesamt fünf Bänke (drei an der Südseite, zwei an der Nordseite), und schon an der Wahl der Bank erkennt man, ob jemand neu im Viertel ist oder nicht. Tut mir leid, ihn stören zu müssen, aber da kann er sich nicht hinsetzen!
Ich gehe hinüber, um ihm die Sache zu erklären. Skeptisch sieht er mich von unten herauf an. Aber was soll ich machen? Reserviert ist reserviert. Ordnung muss sein.
Nachdem ich ihm die Sache mehrfach erklärt habe, steht der Mann, wenn auch fluchend, endlich auf. Im selben Moment sehe ich jemanden in den Park kommen. Das ist sie! Ich sprinte zurück zu meiner Bank und verberge mich hinter der Zeitung.
Die Frau im lila Rock hat nur eine Brötchentüte dabei. Sie lässt sich auf ihrer gerade erst wieder frei gewordenen Bank nieder und nimmt das eben gekaufte Brötchen aus der Tüte. Das Vanillecremebrötchen. Die kommen häufig auch in Straßenumfragen vor. Der Reporter pickt sich einen Passanten mit Brötchentüte heraus, hält ihm das Mikro unter die Nase und fragt, was er gekauft hat. Am beliebtesten sind Sauerteigbrot und Vanillecremebrötchen. Wenn ich gefragt würde, würde ich wahrscheinlich auch Vanillecremebrötchen sagen. Das Besondere an denen ist die etwas festere Creme und der dünne Teig. Oben sind sie großzügig mit gebräunten Mandeln bestreut. Die knacken im Mund so schön.
Knack, knack, knack