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Ein uralter Fluch, ein geheimer Code und eine Frau, die um ihre Freiheit kämpft: Ein fesselnder Pageturner über die Wirkmacht von Frauen, die zusammenhalten Brasilien, 1918: Seit vielen Generationen lastet ein Fluch auf der Familie Flores, der ihre Männer zu einem frühen Tod verdammt. Die Frauen, die zurückbleiben, sichern sich ihren Lebensunterhalt durch die alte Kunst der Spitzenklöppelei. Als die junge Eugênia gezwungen wird, einen älteren, gewalttätigen Offizier zu heiraten, beginnt sie, versteckte Botschaften in den edlen Stoff einzuweben, und schmiedet so einen gefährlichen Fluchtplan, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Ein eindringlicher, mitreißend erzählter historischer Roman über weibliche Solidarität und den unbändigen Wunsch nach Freiheit.
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein uralter Fluch, ein geheimer Code und eine Frau, die um ihre Freiheit kämpft: Ein fesselnder Pageturner über die Wirkmacht von Frauen, die zusammenhaltenBrasilien, 1918: Seit vielen Generationen lastet ein Fluch auf der Familie Flores, der ihre Männer zu einem frühen Tod verdammt. Die Frauen, die zurückbleiben, sichern sich ihren Lebensunterhalt durch die alte Kunst der Spitzenklöppelei. Als die junge Eugênia gezwungen wird, einen älteren, gewalttätigen Offizier zu heiraten, beginnt sie, versteckte Botschaften in den edlen Stoff einzuweben, und schmiedet so einen gefährlichen Fluchtplan, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind.Ein eindringlicher, mitreißend erzählter historischer Roman über weibliche Solidarität und den unbändigen Wunsch nach Freiheit.
Angélica Lopes
Die Frauen der Familie Flores
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
hanserblau
Für Lygia, Hilda, Celina und Sonia, die schon da waren. Für Gabriela, die mit mir kam. Für Cecília, die nach mir gekommen ist.
Es war immer schon ein Akt der Auflehnung gewesen, wenn auch unsichtbar.
Dass es gefährlich war, was wir taten, war uns bewusst. Und vielleicht war es genau dieses Risiko, entdeckt zu werden — so winzig es war und für andere Augen fast nicht zu erkennen, kunstvoll in die Muster unserer Stickereien verwoben —, das uns mutiger werden ließ und uns dazu brachte, immer mehr zu wagen.
Wir waren nicht alle miteinander verwandt, doch die Kunst, Fäden und Garn in einzigartige Ornamente zu verwandeln, verband uns, hier, auf diesem Fleck Erde, wo die kleinen Dinge mehr zählen als große Ereignisse, wo der Boden aus rissigem Lehm so von der Zeit und vom Kummer gezeichnet ist wie das zerfurchte Gesicht meiner Tante Firmina und wo das Schicksal der Frauen so schmucklos erscheint wie die ungleichmäßige Rückseite dessen, was wir als Einziges ganz allein und aus eigenem Willen gestalten konnten: unsere Stickerei. Alles andere gehörte uns nie selbst.
Meine Freundin Vitorina hatte uns in den Besitz dieses Wissens gebracht, als sie von einer Leiter aus das Geheimnis erspähte, das aus der Hauptstadt zu uns gelangt war.
»Was machst du da, Mädchen?«, fragte Dona Hildinha, als sie bemerkte, wie ihre Tochter durch einen Spalt im Dach ins Gästezimmer hineinspähte.
»Lass mich, Mamã, ich versuche etwas zu lernen, das einmal sehr wertvoll für uns sein kann.«
Dank Vitorinas Neugier gelangte die Kunst der Venezianischen Spitzenstickerei, die seit Jahrhunderten die Altäre Europas zierte und deren Technik nur Nonnen in den Klöstern großer Städte beherrschten und streng hüteten, nach Bom Retiro, zu uns.
Ein Zufall, ein loser Faden des Schicksals, durch die Cousine einer Cousine einer Cousine von Vitorina zu uns gebracht, die meiner Freundin den Verrat nie verzieh, ihr das Geheimnis entlockt zu haben.
Sie war Küchenhilfe in einem sehr strengen Kloster, wo sie nach vielen Jahren durch ihre treuen Dienste das Vertrauen der Nonnen gewonnen hatte und schließlich in die Kunst ihrer Spitzenstickerei eingeweiht worden war. Zunächst misstrauisch, beschränkten die Nonnen sich darauf, ihr nur die einfachen Stiche zu zeigen. Irgendwann aber, als sie von der Aufrichtigkeit ihres Charakters überzeugt waren, erachteten sie sie für würdig, auch die komplizierteren Techniken zu erlernen.
Vitorinas entfernte Cousine hatte ein »Händchen dafür«, wie man damals sagte, und sie war verschwiegen, was beides unerlässlich war für eine Hüterin dieses Geheimnisses. Als sie zum Ende des Jahres verkündete, die Feiertage bei ihren Verwandten im Landesinneren verbringen zu wollen, schärften die Nonnen ihr ein:
»Wenn du dort, wo du herkommst, stickst, tu es verborgen vor anderen Blicken.«
Ihrer Dienstherrschaft stets gehorsam, tat sie auch diesmal, wie ihr gesagt wurde. Um das vor allen Heiligen abgelegte Versprechen zu halten, arbeitete sie nur im Gästezimmer allein und im gelblichen Licht einer Talgkerze.
Doch über ihr stand Vitorina auf ihrer Leiter und beobachtete sie, fest entschlossen, herauszubekommen, was ihre entfernte Cousine da tat, bei praller Sonne im dunklen Zimmer und hinter geschlossenen Fenstern.
Sie sah so lange zu, bis sie sich jede Bewegung gemerkt hatte.
Über ein rollenförmiges Kissen gebeugt, stickte die junge Frau mit einer Nadel die unterschiedlichsten Muster.
Schlinge, Besen, Turm, Adergeflecht. Spinne, Mond, Puffmais.
Sonnenuntergang, ewige Liebe und — mein Liebstes — der Korbboden, der mich weniger wegen der Form faszinierte als der Bezeichnung wegen, die wie eine Drohung klang und wie ein Versprechen zugleich. Ein noch unerschlossener, fremder Raum, die Aussicht auf Glück oder das genaue Gegenteil, was auch immer sich dort befinden mochte — eine Silbermünze oder ein Skorpion — und sich nur zu erkennen gibt, wenn man beherzt und mutig ganz weit in die Tiefe tastet.
Natürlich hießen die Muster damals nicht wirklich so.
Als sie zu uns kamen, in unser Tal am Fluss Pajeú, trugen sie fremde Bezeichnungen, die wir nie erfuhren. Doch je mehr wir uns die Stiche aneigneten, desto mehr sahen wir ihre Ähnlichkeit mit den Dingen um uns herum und benannten einen nach dem anderen danach, als gehörten sie immer schon uns.
All die Nachmittage, die ich über mein Kissen gebeugt verbrachte, dachte ich mir Namen für Stiche aus, die ich vielleicht selbst noch erfinden würde. Nicht, dass ich den Anspruch gehabt hätte, es wirklich zu tun, aber eine kurze Unachtsamkeit würde genügen, ein Faden, der sich unbeabsichtigt mit der Nadel verhedderte, und schon wäre es entstanden: ein neues Muster.
Es wäre das erste auf diesem sonnenverbrannten Boden, das nicht wie die vorherigen aus dem Ausland stammte, einen Ozean weit entfernt von unserem Sertão, nicht von Nonnen herübergebracht, sondern durch Vitorina von einer Leiter herab ausgespäht.
Bachlauf, Morgentau, Sonnenaufgang.
Diese Namen hatte ich mir insgeheim ausgedacht für mein erstes eigenes Muster, das es vielleicht nie geben würde. Entstanden im Hochland der Trockensteppe, wo auch der Cangaceiro Virgulino zur Welt kam, der damals, im Jahr des Herrn 1918, erst anfing, sein Unwesen zu treiben. In Bom Retiro erfuhren wie davon jedoch erst Jahre später. Eine Männergeschichte, geräuschvoll und auffallend anders als die unsere, die sich im Gegensatz dazu fast unmerklich abspielte, schweigend und flüsternd.
Mir war klar, dass ich beim ersten Anblick des von mir erfundenen Musters genau wissen würde, welchem Ding aus der Wirklichkeit es ähnlich sah. Wie es Müttern mit ihren Kindern geht. Gibt die Mutter dem Spross einen Namen, der nicht zu ihm passt, nennt ihn Nonato zu Ehren des Großvaters, versucht das Kind lebenslang einem Casemiro zu ähneln. Daher gibt es so viele Spitznamen. Dinge suchen sich ihre Namen selbst, nicht die Leute.
Als die Cousine einer Cousine ihrer Cousine wieder zu Hause in ihrem Kloster war, verbreitete sich das Geheimnis, das Vitorina durch einen Spalt zwischen Dachziegeln ausgespäht hatte, unter allen, die es gern lernen wollten. Bald schon fand sich eine Gruppe von Frauen zusammen, darunter auch ich, um täglich gemeinsam zu sticken: Tischläufer, Platzdecken, feine Servietten.
Und es dauerte nicht lang, bis eins unserer Stücke den Weg in die Hauptstadt fand. Es war einer Dame aus gutem Hause geschenkt worden, die es einer anderen Dame aus gutem Hause zeigte und die es bei Keksen, Tee und Kokosgebäck wiederum einer weiteren Dame aus gutem Hause vorführte.
»Sehen Sie nur, wie fein gearbeitet! Obwohl es aus dem Hinterland stammt, aus der Nähe von Serra Talhada. Es könnte genauso gut aus Europa sein. Wo kann man so etwas kaufen?«
Und dann kamen die ersten Bestellungen.
Wenn sich Damen aus der feinen Gesellschaft für etwas begeistern, nutzt immer jemand die Gelegenheit, ihnen das Leben noch leichter zu machen und selbst daran zu verdienen.
Nach nur wenigen Wochen kam ein Mann in unsere Stadt, der einen dunklen Anzug trug und noch stärker schwitzte als unsere Männer. Er sagte, er sei gekommen, um das, was wir herstellten, zu einem für uns und für ihn guten Preis zu erwerben.
Tante Firmina übernahm die Verhandlungen. Sie war die Älteste von uns, hatte keine Kinder, die ihre Zeit in Anspruch nahmen, und konnte daher Bestellungen aufnehmen und abrechnen, was jeder Einzelnen aus unserer Gruppe von dem eingenommenen Geld zustand.
»Ohne mich würde der Kerl uns doch glatt übers Ohr hauen. Für so ein festliches Tischtuch wollte er nur ein paar Groschen geben, nein, wirklich! Ein Glück, dass ich da bin, so kann ich herausschlagen, was uns zusteht«, erklärte sie stolz.
Als dann die ersten Münzen des Mannes im dunklen Anzug vor uns auf dem Tisch lagen, staunten wir andächtig, und der Augenblick kam uns unermesslich vor.
Als wäre es gar nicht unser Geld, als wären es Museumsstücke mit einem Schild versehen, auf dem »Nicht anfassen!« stand.
»Und das gehört alles uns?«, fragte Vitorina, als wollte sie es noch immer nicht glauben.
Bis dahin war das Sticken von Nadelspitze für uns nur ein Zeitvertreib für die Nachmittage in brütender Hitze gewesen.
Einige fertigten Spitze nur für sich selbst an, nähten festliche Tanzkleider, die in unserer Stadt nie einen Anlass finden würden. Andere stickten feine Deckchen für ihre Mitgift, obwohl noch längst keine Hochzeit in Sicht war. Und Tante Firmina arbeitete wie besessen an ihrem eigenen Leichentuch.
»Ich werde mit einer solchen Eleganz in den Himmel eingehen, wie unser Herr Jesus Christus sie verdient«, sagte sie, mit etwas zu großem Eifer, wie uns schien, denn die meisten von uns schoben diesen Gedanken doch lieber in eine noch ferne Zukunft.
Geld war, so kannten wir es, eine Sache der Männer, die auf dem Feld schufteten und das Vieh hüteten. Seien es Dienstherren, Grundbesitzer oder Viehzüchter. Seien es Arbeiter, Handlanger oder Straßenhändler. Seien es unsere Ehemänner, Väter oder Brüder. Das Geld war immer ihres.
Wir Frauen waren nur diejenigen, die für sie den Tisch deckten oder andere Frauen dazu anwiesen. In unseren Geburtsurkunden und Heiratsurkunden standen die Nachnamen der Männer und bestimmten unseren Platz in der Welt.
Meistens jedenfalls. Doch nicht in meiner Familie.
*
Viele glaubten, an uns »Flores« hafte ein böser Fluch, mit dem uns eine Wahrsagerin vor langer Zeit belegt hatte. Aber für uns war das Leben ohne Männer das einzige, das wir kannten.
»Sie halten nicht lange durch, die Armen«, erklärte meine Mutter einmal meiner Schwester und mir und dachte dabei voller Zärtlichkeit an meinen Vater zurück, der mit noch nicht einmal fünfunddreißig Jahren am Sumpffieber gestorben war.
Sie hatte ihn sehr geliebt, genauso wie sie auch ihren Vater, meinen Großvater, geliebt hatte, und dann ihren Sohn, meinen kleinen Bruder, der kein Jahr alt wurde.
Meine Mutter hatte von ihrer Mutter gelernt, und diese von ihrer Mutter, dass Männer nur kurz in unserer Familie blieben, wie Besuch, der schon beim Eintreten erklärt, es recht eilig zu haben — nur einen kleinen Schluck Kaffee, vielen Dank —, und schon wieder nach dem Hut greift, um zu gehen.
Sie wurden unsere Ehemänner oder von uns zur Welt gebracht, doch gingen nach wenigen Jahren schon wieder von uns, viel zu beschäftigt mit dem, was sie an Wichtigem noch zu erledigen hatten. Manche starben eines natürlichen Todes, andere wurden ermordet, sie starben im Streit oder an hohem Fieber. Manche starben jung, andere in mittlerem Alter, aber nie sahen wir ihr Gesicht faltig werden oder ihr Haar ergrauen.
Als gute Gastgeberinnen ihrer Existenz sahen wir es als unsere Aufgabe an, ihnen die kurze Zeit, die sie auf dieser Welt verbrachten, so angenehm wie möglich zu machen und, wenn ihre Stunde gekommen war, auch ihren Abschied. Wohl wissend, dass sie nicht lange bei uns sein würden, überkam uns die Sehnsucht nach ihnen schon bei der ersten Begegnung.
Als meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal küsste, auf dem Fest zu Ehren unserer Schutzheiligen Sankt Agatha, lag in ihrer Verliebtheit schon der Kummer darüber, bereits den ersten von nicht sehr vielen Küssen vergeben zu haben, die ihnen noch bleiben würden. Sie wusste, dass sie jeden einzelnen davon auskosten musste.
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir die Männer in unser Leben ließen, richteten wir, kaum dass wir ihnen eine weiße Rose aufs Grab gelegt hatten, schon die Wohnung für den nächsten Besuch her. Bald schon würde der Kreislauf von vorn beginnen und auch diesmal viel zu früh enden. An dieses Leben waren wir gewöhnt und litten auch nicht darunter oder fragten nach dem Grund für unser Schicksal, das die Leute in der Stadt als »den Fluch der Flores« bezeichneten.
Die Leute aus Bom Retiro sahen uns meist schräg an, wenn sie uns auf der Straße begegneten, sei es aus Mitgefühl oder Bosheit. Den Wohlgesonnenen von ihnen tat es leid, dass wir niemanden hatten, der sich um uns kümmerte, denn sie waren aufrichtig der Meinung, wir Frauen bräuchten, um über die Runden zu kommen, mehr als nur uns selbst. Die Argwöhnischeren aber waren davon überzeugt, wir hätten gewiss eine Sünde begangen, für die wir nun büßen müssten. »Lasst euch von denen nicht täuschen. Da stimmt etwas nicht«, sagten sie über uns, und das nicht immer nur hinter unserem Rücken.
Meine Mutter ließ sich von diesen bisweilen sogar in der Kirche getuschelten Halbsätzen wenig beeindrucken.
»So ist das Leben«, erklärte sie. »Sich dem Schicksal zu widersetzen, vergrößert den Schmerz nur. Man muss den Weg gehen, der sich vor einem auftut.«
»Die Leute haben doch keine Ahnung«, empörte sich Tante Firmina dagegen, die das Gerede sehr kränkte. »Sollen sie sich ihr Mitleid doch für sich selbst aufsparen oder für die Bedürftigen. Wozu um Himmels willen brauchen wir einen Mann im Haus? Damit er sich rülpsend über die Konsistenz der Marmelade beschweren kann? Ich weiß nicht, wozu so ein Quälgeist gut sein soll.«
Meine Tante war stolz darauf, ihr gesamtes Leben nur einem einzigen männlichen Wesen zu widmen: unserem Herrn Jesus Christus. Und daher litt sie auch nicht auf dieselbe Art wie meine Mutter, die tief in ihrem Inneren, und auch in ihrem Blick unübersehbar, in ständiger Trauer war — über ihr Witwendasein und den Verlust ihres einzigen Sohnes.
»Immerhin habe ich beide sehr geliebt. Sehnsucht ist besser als innere Leere«, sagte meine Mutter in diesen Momenten zu mir und meiner Schwester, wenn Tante Firmina uns davon überzeugen wollte, ein religiöses Leben zu führen und so all die Tränen zu vermeiden, die uns sonst unweigerlich bevorstünden.
»Das entscheiden sie selbst, Firmina. Lass die Mädchen in Ruhe.«
Doch meine Tante gab nie auf:
»Es steht doch schon fest, dass sie nicht glücklich sein werden — und eine Nonne in der Familie zu haben, ist der beste Weg in den Himmel. Ich sage es doch nur zu eurem Besten. Mein eigenes Seelenheil habe ich längst gesichert.«
Trotz der vielen Trauerfeiern, die wir schon in unserem Haus hatten ausrichten müssen, waren wir glücklich. Denn unsere Männer waren trotz alledem immer bei uns, auf Fotos an den Wänden und in unserer Erinnerung. Zarte Erinnerungen und auch weniger zarte. Und manchmal weder das eine noch das andere. Von meinem Vater ist mir seine Tabakpfeife im Gedächtnis geblieben geblieben, die ich für eine Verlängerung seiner Hand hielt und die im Haus einen warmen, holzigen Duft hinterließ. Und wie es klang, wenn er pfiff.
Er war es, der meiner Schwester Cândida und mir beibrachte, Vögel an ihrem Gesang zu erkennen. Nachmittags saßen wir oft auf seinem Schoß, und er zwitscherte die Melodie einer Rotbauchdrossel oder eines Bem-te-vi, damit wir lernten, sie zu unterscheiden. Noch heute, so viele Jahre nach seinem Tod, höre ich im Gesang jedes Vogels meinen Vater pfeifen.
*
Unser Familienname war früher einmal Oliveira gewesen, aber man nannte uns »Flores«. Die Verwirrung begann zum einen der Blumen wegen, die den gepflegten Garten vor unserem Haus schmückten, zum anderen, weil unser Haus auf dem Weg lag, der zur Kirche führte, und wenn sich damals in Bom Retiro ein Fremder nach dem Weg dorthin erkundigte, hieß es: »Am Haus mit den Blumen vorbei und dann gleich rechts.«
Anfangs war unser Haus lediglich irgendein Haus mit einem Garten voll fleißiger Lieschen, Windengewächsen, Affenkamm, Malven und Knöterich gewesen. Doch mit der Zeit war dies so oft gesagt, nachgeplappert und niemals richtiggestellt worden, dass aus dem Haus der Oliveiras das Haus der »Flores« — der Blumen — wurde. Der Blumengarten wurde zu unserem Nachnamen und gelangte schließlich sogar in unsere offiziellen Papiere.
Und eben weil wir die Familie Flores waren, wunderte sich in Bom Retiro auch niemand darüber, dass die Tragödie, die sich dann ereignete, etwas mit dem Haus mit den blauen Fenstern zu tun hatte, wo wir Frauen uns jeden Nachmittag trafen, um an unserer Spitze zu arbeiten.
»Das ist immer so mit den Flores«, hieß es.
Doch das war der Ehre zu viel. Alles, was damals, Anfang 1919, geschah, hatte seinen Ursprung allein in dem Unglück meiner Freundin Eugênia, die mit Mädchennamen Damásio Lima hieß und zur Senhora Medeiros Galvão werden sollte.
Rio de Janeiro, 2010
Am Abend zuvor hatte Alice sich entschlossen, auf eine Party zu gehen, und war anschließend in einer Bar in Lapa versackt.
Dort wiederum hatte sie sich entschlossen, zu trinken, so viel wie sie wollte, denn schließlich war das Bier billig und die Prüfungswoche war stressig gewesen. Doch irgendwie hatte dieser zweite Entschluss sie daran gehindert, den richtigen Moment abzupassen, an dem sie besser aufgehört hätte.
Entsprechend war ihr jüngster Entschluss, sich nun, da es schon fast Samstagnachmittag war, vom Bett zum Regal zu schleppen und nach zwei Kopfschmerztabletten und einer Wasserflasche zu tasten. Doch nicht einmal das gelang ihr. Die Kopfschmerztabletten glitten ihr durch die Finger und rollten unters Bett.
Nachdem sie sich wieder hingelegt hatte, betrachtete sie sich im Spiegel an der Wand gegenüber und wurde an einen Entschluss von vor ein paar Tagen erinnert: sich die Haare blau färben zu lassen.
Sie lächelte in sich hinein. Ihr neuer Look gefiel ihr, trotz der Benommenheit. Gleich würde wohl ihre Mutter anklopfen und sie aus dem Bett scheuchen und ihr auf die Nerven gehen, weil sie tief in der Nacht sturzbetrunken nach Hause gekommen war. Aber auch hier hatte Alice bereits einen Entschluss gefasst, nämlich nicht zuzuhören und höchstens mit einem »Mhm« zu antworten. Schließlich trank auch ihre Mutter, auch sie ging feiern und hatte ihren Spaß, also sollte sie ihre Klappe halten. Gleiche Rechte für alle im Haus. Das war der Deal.
»Alice?« Ihre Mutter war schneller da als gedacht. Oder vielleicht war ihr Zeitgefühl noch verschwommen. »Steh auf.«
»Geht nicht«, brummte Alice, oder vielleicht träumte sie das auch nur.
»Wir haben Besuch. Mach dich fertig und komm.«
Alice fasste nun den Entschluss, die Anweisungen ihrer Mutter einfach zu ignorieren, und drehte sich wieder zur Wand, um unter der Bettdecke noch etwas Schlaf zu bekommen, was ihr nicht gelang.
»Hörst du? Deine Tante möchte dich kennenlernen.«
»Welche Tante?«
Alice zog sich das Kopfkissen übers Gesicht, um sich gegen die Helligkeit abzuschirmen, die plötzlich durch die von der Mutter geöffneten Vorhänge hereinbrach.
»Deine Tante aus Pernambuco. Steh auf!«
Alice konnte sich dunkel erinnern, dass es irgendwo in dem nordöstlichen Bundesstaat, in dem sie noch nie gewesen war, irgendwelche Verwandten gab, und in ihrem Kopf setzte sich langsam ein Puzzle zusammen.
Ihre Großmutter war als junge Frau aus Pernambuco gekommen, aber sie hatte kaum je über ihre Herkunft gesprochen. Nach ihrem Tod hatte Alices Mutter Vera, die in Rio de Janeiro geboren worden war, immer geplant, eines Tages ihre gesammelten Flugmeilen dafür zu verwenden, endlich die Heimat ihrer Vorfahren kennenzulernen, es aber nie in die Tat umgesetzt. Kurz bevor die Meilen verfielen, hatten Alice und Vera sie schließlich für einen Kurztrip nach Buenos Aires mit zwei Übernachtungen eingelöst, bei dem sie sich ununterbrochen gestritten hatten.
Die Tante hieß Helena, wie Alice erst erfuhr, als sie einander im Wohnzimmer vorgestellt wurden. Sie war eine sympathische Dame mit hohen, geradezu hervorstechenden Wangen, die selbst mit ihren etwa achtzig Jahren vitaler wirkte als Alice mit achtzehn.
»Und das, liebste Tante, ist Alice«, sagte Vera, während sie zornige Blicke in Richtung ihrer Tochter warf, die ungekämmt und nur in T-Shirt und Höschen im Wohnzimmer erschienen war, was wie immer nicht dem entsprach, was ihre Mutter von ihr erwartete.
»Ich hatte dir doch den Link mit den Fotos von der Abschlussfeier im letzten Jahr geschickt, oder? Sie studiert jetzt Publizistik und Medien. Zumindest wenn sie gerade nichts Besseres zu tun hat.« Weder Alice noch die Tante lachten über den Witz.
Vera war ganz in ihrem Element, wenn sie mit vermeintlich harmlosen Witzchen gegen Alice stichelte, nur um sich immer dann, wenn ihre Tochter sich dagegen wehrte, mit der Bemerkung herausreden zu können: »Meine Güte, nicht mal mehr einen Witz darf man machen!« Dann lenkte sie das Gespräch auf willkürliche Themen, um das Schweigen zu brechen. Den Link mit den Fotos hatte sie ganz bestimmt nicht geschickt, aber die Tante gab wohl aus Höflichkeit vor, sich zu erinnern.
»Ja natürlich, ich habe mir die Fotos angeschaut. Ein schönes Fest. Du hast so hübsch ausgesehen, Alice.«
Alice versuchte abermals, sich ein Lächeln abzuringen, und bemühte sich, da ihre Mutter immer noch böse zu ihr herüberblickte, etwas Nettes zu sagen. Schließlich verlangen es die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, dass man zu Tanten freundlich zu sein hat, selbst wenn man von deren Existenz bis vor Kurzem nichts wusste. Erst recht, wenn diese Tante ein so strahlendes Lächeln im Gesicht hat, wie es Alice gar nicht verdient hatte mit ihrer nach wie vor mürrischen Einstellung, das Handy in der einen Hand, während sie sich mit der anderen den Schlaf und die Reste alter Schminke aus den Wimpern wischte.
»Wie geht’s, Tante Helena? Wie war dein Flug?«, versuchte Alice sich einzubringen und ließ sich dabei in den Sessel fallen, wobei sie die Beine über die Lehne streckte, was ihrer Mutter sichtlich unangenehm war und sie noch grimmiger machte.
Alice wusste, dass sie einen Schwall aus Gejammer und Klagen über sich würde ergehen lassen müssen, sobald der Besuch wieder weg war. Aber tief in ihrem Innern konnte sie der Versuchung, Vera zu provozieren, nicht widerstehen. Sie brachte sie gern aus der Fassung. Und außerdem hatte sie immer noch viel zu starke Kopfschmerzen, um sich gut zu benehmen.
Dieses stille Kräftemessen zwischen Vera und Alice zog sich schon seit einer Ewigkeit hin: auf der einen Seite die Mutter, die ihre Tochter in ein Korsett zwängen will, in dem ihr kaum Luft zum Atmen bleibt, auf der anderen Seite die Tochter, die immer weiter über die von ihrer Mutter gesetzten Grenzen hinausstrebt. Eine für beide höchst anstrengende Beziehungsdynamik, die sich immer und immer wiederholte. Eine andere Art des Zusammenlebens kannten sie gar nicht mehr.
Ganz bewusst verletzte Alice die Grenzen dessen, was Vera für ein angemessenes Verhalten hielt, und zwar weit über das normale Maß hinaus. Mit Absicht rebellierte sie, damit ihre Mutter nur ja keinen Zweifel daran hegte, dass jeder Versuch, sie zu ändern, vergeblich war.
»Tante Helena«, fing die Mutter wieder an und nannte den Namen der Besucherin noch einmal mit Nachdruck, damit Alice nicht gleich den nächsten Fauxpas beging. »Du bist für eine Feier hier nach Rio gekommen, nicht wahr?«
»Für die goldene Hochzeit einer Freundin aus meiner Kindheit, die schon als Jugendliche nach Rio gezogen ist. Und wo ich schon einmal da bin, konnte ich doch nicht anders, als auch einmal bei euch vorbeizuschauen. Ich habe auch ein paar Sachen mitgebracht! Wollt ihr sie sehen? Sie sind ganz typisch für den Norden.«
Streng genommen lebte die Tante im Nordosten und nicht im Norden des Landes, aber zu ihrer Zeit hatte man Brasilien wohl noch in zwei große Hälften unterteilt: Süden und Norden. So schnell, dass Alice fast schwindelig wurde und sie wieder an die Tabletten unter ihrem Bett denken musste, zog Tante Helena nun mehrere kleine Päckchen aus einer Tüte. Ein Kühlschrankmagnet, ein geflochtenes Körbchen und sogar ein Kuchen wanderten in Veras Hände, die sich dafür bei ihrer Tante auf eine merkwürdig kindische Weise bedankte.
»Aber Tante Helena, das wäre doch nicht nötig gewesen. Wie lieb von dir. Hast du das alles im Flugzeug den langen Weg bis hierher gebracht? Sogar ein bolo de rolo! Ich fasse es nicht.« Sie lobte jedes einzelne Geschenk mit einer Feierlichkeit, als wäre es das Allerwertvollste auf der Welt.
Als ihre Mutter aufstand, um den Kuchen zu servieren, griff Alice aus Gewohnheit nach ihrem Handy, um irgendetwas Belangloses nachzuschauen. In ihrem Posteingang fand sich nur ein »hey, melde dich mal« von dem Professor, der scharf auf sie war.
Beim Anschneiden des bolo de rolo kamen etliche hauchdünne, beinahe durchsichtige Schichten zum Vorschein, gefüllt mit feiner Guavenpaste, die sich markant von dem buttrigen Kuchenteig abhob, so präzise portioniert, dass kaum etwas am Messer hängen blieb. Der Beweis einer Kunstfertigkeit, die Alice zwar bewunderte, deren Sinn und Zweck sie aber nicht ganz einsah. Es wäre doch deutlich einfacher, alles in dicke Stücke zu schneiden und übereinanderzulegen, als den Biskuitteig in zigtausend Schichten auszurollen.
Nach dem Kaffee brachte die Tante dann endlich das zum Vorschein, was das größte Geschenk von allen zu sein schien, sorgfältig eingewickelt in dünnes Seidenpapier.
»Ich habe auch ein altes Familienerbstück mitgebracht«, verkündete sie feierlich. »Es ist für dich, Alice.«
Alice legte das Handy weg und glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Für mich?«
»Ja, natürlich. Schließlich bist du eine Flores«, sagte die Tante und wickelte nun selbst das Päckchen aus. »Schau, es ist ein Schleier. Er hat einmal deiner Urgroßmutter gehört, die eine Spitzenstickerin war.«
Mit einer Vorsicht, die Alice etwas übertrieben vorkam — Spitze ist schließlich kein Kristallglas —, breitete ihre Tante den Schleier stolz über ihrem Schoß aus. Doch noch immer konnte Alice ihr Lächeln nicht wirklich erwidern, wie es die guten Manieren und nicht zuletzt ihre Mutter es verlangten.
»Ein Schleier?« Alice hielt ihr Befremden nicht wirklich im Zaum, als sie das Erbstück vor sich liegen sah. »Ich hoffe, er ist nicht für eine Hochzeit gedacht.«
Vera wand sich unruhig auf dem Sofa angesichts dessen, was sie schließlich als »Unhöflichkeit sondergleichen« bezeichnen würde, »und das gegenüber einer so freundlichen Dame, die dir nur eine Freude machen wollte. Aber eigentlich habe ich von dir auch nichts anderes erwartet, Alice. Ich weiß nicht, von wem du das hast. Von mir sicher nicht. Ich bemühe mich immer, freundlich zu sein, Rücksicht zu nehmen auf die Gefühle anderer. Ganz anders als du, die du ständig versuchst, die Leute mit voller Absicht zu verletzen.« Aber das würde Alice erst später zu hören bekommen.
»Alice!«, rief ihre Mutter nun lediglich, doch mit einem Blick, der sie direkt zu jenem Augenblick in ihrer Kindheit zurückkatapultierte, als sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verlassen gefühlt hatte.
Damals hatten sie Ferien in einem Strandhaus verbracht, das Freunden von Vera gehörte. Die Mutter war in der Küche beschäftigt gewesen und hatte die damals sechsjährige Alice gebeten, ihr aus dem Bad eine Slipeinlage zu holen. Voller Stolz darüber, einen so erwachsenen Auftrag bekommen zu haben, war Alice losgezogen. Als sie die Einlagen in Veras Koffer gefunden hatte, war sie in den Garten gerannt, um sie ihr mit großer Geste zu überreichen, wie um zu sagen: »Guck mal, ich hab sie, ich kann das schon, siehst du, was für eine gute Tochter ich bin?« Doch anstatt des erwarteten Lobs erhielt sie von ihrer Mutter einen Blick, der jedes Vertrauen in ihr schwinden ließ. In gutem kindlichen Glauben hatte Alice ihr die Slipeinlage vor den Augen aller anwesenden Erwachsenen gereicht und nicht im Traum daran gedacht, dass es der Mutter derart unangenehm sein könnte, dass sie anschließend den ganzen Tag lang kein Wort mehr mit ihr reden würde.
Noch nie zuvor hatte sie sich so ungerecht behandelt gefühlt. Damals wusste sie nicht einmal, wozu eine solche Einlage gut war. Wie hätte sie ahnen können, dass sie sie nicht vor den Augen der anderen übergeben durfte? Die Mutter hatte sie um etwas gebeten ohne irgendwelche Vorbehalte. Sie hatte wohl ganz genau auf diesen Fehler gelauert, nur um dann mit ihr zu schimpfen. Eine Gewohnheit, die Vera mit den Jahren bis zur Perfektion weiterentwickelte, ohne sich je größere Gedanken darüber zu machen.
So war Alice schon früh klar geworden, dass niemand sie auf wohlbekannten Pfaden sicher durchs Leben führen würde. Sie würde nicht damit rechnen können, dass ihre Mutter ihr emotionalen Rückhalt bot, und stattdessen lernen müssen, Risiken einzugehen und sich auf eigene Faust in der Welt durchzuschlagen. In vollem Bewusstsein, dass es kein Netz geben würde, das sie im Zweifelsfall auffing.
Tante Helena bemerkte die Spannung zwischen Mutter und Tochter sofort, und um die Situation zu entschärfen, begann sie, die Geschichte des uralten Schleiers zu erzählen.
»Nein, das ist kein Hochzeitsschleier, keine Sorge. Er ist für die Kirche gedacht«, erklärte sie.
Alice wollte schon sagen: »Noch schlimmer!«, doch sie hielt sich zurück. Nicht wegen ihrer Mutter, sondern um der Tante willen. Doch sie wollte auch der Theorie ihrer Mutter, sie verhalte sich prinzipiell allen gegenüber aggressiv, nicht auch noch unnötig Beweise liefern. Diesen Gefallen würde sie Vera nicht tun.
»Ich verstehe schon, dass du nicht religiös bist«, fuhr die Tante fort.
»Richtig geraten«, sagte Alice ironisch, dann aber bedauerte sie ihre spontane Aufrichtigkeit und lobte das schöne Geschenk. »Er ist sehr hübsch. Ich kann ihn sicher auch zu einem anderen Anlass tragen. Jedenfalls cool, danke.«
»Du musst ihn nicht tragen, wenn du nicht willst«, sagte die Tante beschwichtigend. »Ich muss ihn nur an dich abgeben. Seit er gestickt wurde, wird dieser Schleier traditionell von der jüngsten Frau unserer Familie aufbewahrt. Meine Aufgabe ist lediglich, ihn weiterzugeben. Mach mit ihm, was du willst. Du kannst ihn in eine Schublade stecken und nie wieder rausholen, oder ihn ›upcyceln‹, wie ihr heute sagt. Ich habe lange gedacht, er würde einmal deiner Mutter gehören, doch dann hat es so lange gedauert, bis ich es einmal nach Rio schaffe, dass ich ihn nun dir übergebe, Alice.« Dann wandte sie sich an ihre älteste Nichte, der es auch mit einiger Anstrengung nicht gelang, ihre Enttäuschung zu verbergen: »Es tut mir leid, liebe Vera. So ist nun einmal die Tradition, ich hoffe, du kannst es verstehen.«
»Ja, ja, natürlich«, spielte Vera ihren Frust darüber herunter, nicht bedacht worden zu sein, und ging gleich wieder dazu über, Alice verächtlich zu machen: »Ich werde sowieso diejenige sein, die sich darum kümmern muss. Alice ist so etwas völlig egal. Ihr Zimmer kann man kaum betreten vor lauter Unordnung. Ein einziges Chaos.« Für Alice war jedes ihrer Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Rechte Faust, linke Faust, Kinnhaken, zack, paff. Aber diesmal wollte sie nicht zum Gegenangriff übergehen, sondern einfach nur den Gong abwarten, der den Boxkampf beendete. »Sie wird in zwei Tagen nicht mehr wissen, wo er ist, du wirst sehen. So ein geschichtsträchtiges Erbstück und so lange von dir aufbewahrt. Wirklich schade drum.«
Die Tante schien weder die Warnung ernst zu nehmen noch Alices angebliche Unzuverlässigkeit. »Deine einzige Verpflichtung ist es, den Schleier einmal an deine Tochter weiterzugeben«, sagte sie schließlich zu ihr.
Alice lachte laut auf. Die Frau hatte wirklich keine Ahnung von ihr.
»Oder die nächste jüngere Verwandte«, korrigierte sich Tante Helena, als sie den ärgerlichen Ausdruck auf Alices Gesicht bemerkte. »So wie ich es gerade tue.«
Alice war sich sicher, dass sie nichts davon tun würde. Es war noch so lange hin, bis eins dieser Szenarien eintreten würde, und wenn es so weit wäre, würde sie sicherlich nicht mehr an die Aufgabe denken, die ihr gerade übertragen wurde. Trotzdem beruhigte sie ihre Tante mit einem »Du kannst dich auf mich verlassen«. Damit betrachtete sie ihren Part in der ganzen Angelegenheit als erledigt, stand auf und machte sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Den Schleier ließ sie auf der Armlehne des Sessels liegen.
»Wie ich’s dir gesagt habe! Ihr ist wirklich alles egal, Tante Helena«, sagte Vera mit vollster Überzeugung, während Alice noch einmal kehrtmachte, um das Geschenk doch noch an sich zu nehmen. In ihrem Kopf hämmerte es immer noch. Sie musste unbedingt diese Kopfschmerztabletten finden.
Bom Retiro, 1918
Was ist das für ein Durcheinander, Eugênia!«, schimpfte Tante Firmina beim Anblick der Spitze, an der Eugênia den Nachmittag über gearbeitet hatte. »Kein Stich wie der andere, kein Muster, kein Kleeblatt, keine Vogelmotive. Was soll das?«
»Ich hatte eben Lust, es so zu machen, Dona Firmina. Warum denn nicht?«, antwortete Eugênia, leicht ungehalten und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
An diesem Nachmittag, an dem wir Maiskuchen zum Kaffee aßen und die Aprilbrise zaghaft durch die Verandatür wehte, stickte Eugênia nach Belieben vor sich hin und achtete gar nicht mehr auf die Skizze mit klassischen Mustern, die sie noch am Vortag gezeichnet hatte.
»So ein freches Mädchen! Nicht zu fassen, was sie sich herausnimmt!«, zeterte Tante Firmina weiter, empört über das, was in ihren Augen »schlampige Arbeit« war. »Da reiht sie einfach nur einen simplen Stich an den nächsten. Am besten ziehst du alles noch einmal auf, damit du wenigstens den Faden wiederverwenden kannst. Das ist reine Verschwendung, Eugênia, hörst du? Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Auf dem Mond?«
»Kann schon sein, Dona Firmina«, antwortete Eugênia trocken und versagte meiner Tante wieder einmal den Respekt, den sie von ihr erwartete. Ein junges Mädchen wie Eugênia durfte mit einer älteren und erfahreneren Frau nicht so sprechen. Tante Firmina geriet darüber nur noch mehr in Rage.
»Redet man heutzutage so mit den Alten? Wollen wir doch mal sehen, ob du nach deiner Hochzeit immer noch so vorlaut bist.«
Eugênia verharrte kurz mit der Nadel in der Luft, als ließe sich so auch die Zeit anhalten. Noch bis vor wenigen Wochen hatte sie ein beinahe sorgenfreies Leben gehabt und ihre Zeit damit verbracht, die Modezeitschriften durchzublättern, die ihre Mutter aus der Hauptstadt kommen ließ, oder Lotterielose zu verkaufen für das Fest der heiligen Agatha, der Schutzpatronin unserer Stadt. Als Tochter des örtlichen Polizeichefs fehlte es ihr mit ihren fünfzehn Jahren an nichts. Sie hatte Freizeit im Überfluss, dafür umso weniger Verpflichtungen, und obwohl sie sich manchmal danach sehnte, etwas Aufregendes zu erleben, gab es nichts, worum sie uns andere Mädchen beneidete, die, wie ich, Brot backen, den Gemüsegarten pflegen oder sich um die Haustiere kümmern mussten.
Da sie sich für ein höheres Schicksal als das unsere auserkoren hielt, war es für sie auch kein Anlass zur Beunruhigung, als auf einmal der gerade verwitwete Coronel Aristeu Medeiros Galvão mit seinen zwei kleinen Kindern bei ihr zu Hause auftauchte.
Später erzählte sie mir, dass sie sich sogar gefreut hatte, wieder einmal Besuch zu empfangen. Ihre Mutter war den ganzen Vormittag so damit beschäftigt gewesen, Köstlichkeiten für ihre Gäste vorzubereiten, dass sie keine Zeit fand, ihr den Grund für den Besuch zu verraten.
Haargenau beim elften Glockenschlag der Kirchturmuhr hatte Eugênia vor dem Hoftor jemanden klatschen hören. Der Coronel war bekannt als ein Mann seines Wortes, der Verabredungen genauestens einhielt. Er kam nie zu früh und erst recht nicht zu spät.
»Bitte schön, treten Sie ein. Fühlen Sie sich wie zu Hause, Coronel. Eine Hitze ist das heute, nicht wahr? Und das im April! Nehmen Sie bitte hier Platz, da ist es etwas kühler. Und was für liebe Kinder! Kommt nur herein. Möchtet ihr etwas Cajá-Saft? Wir haben auch ein paar Kekse. Frisch aus dem Ofen.«
Eugênias Mutter wirkte wie ausgewechselt. Gehetzt und zugleich unterwürfig, schien sie etwas durcheinander zu sein und wischte sich immer wieder nervös mit den Handflächen über den Rock ihres Kleides. Dabei suchte sie ständig den Blick von Eugênia.
»Eugênia, meine Liebe. Geh doch bitte kurz in die Küche und frag nach Saft und Keksen. Nun geh schon. Und zeig den Kindern den Garten. Sie können sicher etwas Bewegung gebrauchen nach der langen Fahrt. Mach schon, Mädchen, hörst du? Hier entlang, Kinder. Geht mit Eugênia, geht ruhig.«
Die Kinder gehorchten ihrer Gastgeberin und folgten Eugênia, hinter deren Lächeln sich auch eine morbide Neugier verbarg. Die Kinder hatten ja erst vor kurzer Zeit ihre Mutter verloren, und Eugênia hatte die romantische Vorstellung, sie müssten deswegen recht bleich sein und ständig den Tränen nahe. Ein wenig enttäuscht war sie daher, als sie sah, wie die rotwangigen Kinder, ohne zu zögern, zum Spielen in den Garten stürmten und ihr keine Gelegenheit boten, hingebungsvoll ihren Schmerz zu lindern.
»Kommt, ich zeige euch, wo die Schaukel ist.«
»Danke, Senhora Eugênia«, sagte der Ältere artig und mit einer Förmlichkeit, die Eugênia belustigte.
»Wie meinst du das, Kleiner? Eine ›Senhora‹ ist oben im Himmel. Ich bin nur Eugênia.«
»Mein Vater hat gesagt, wir sollen Sie mit ›Senhora‹ ansprechen, Senhora«, erklärte der Junge, und Eugênia bemühte sich noch einmal, das, was sie für ein kindliches Missverständnis hielt, richtigzustellen.
»Dann hat dein Vater bestimmt meine Mutter gemeint. Mich könnt ihr einfach Eugênia nennen, in Ordnung? Ich bin doch gar nicht viel älter als ihr«, sagte sie zu dem Jungen, der erleichtert lächelte, froh darüber, dass er sie nicht mehr so ehrfurchtsvoll anreden musste.
Auch als man sie nach dem Essen in den Salon rief, machte sich Eugênia noch keine Sorgen und dachte, ihr Vater würde sie nur darum bitten, ihnen Kaffee zu bringen oder die noch verschlossene Flasche mit dem Graviola-Likör, die seit Jahren ganz hinten in der Vitrine stand, falls einmal solch hoher Besuch kam wie heute. Allein der unsichere und ungewöhnlich sorgenvolle Blick ihres Vaters hatte Eugênia verraten, dass etwas Ungutes passieren würde.
Noch während sie in der Tür stand, hatte sie dann jene Nachricht erhalten, die fortan den Glanz in ihren Augen verschwinden ließ. Der Coronel hatte um ihre Hand angehalten, und ihr Vater hatte dem hocherfreut zugestimmt.
»Eine bessere Partie wirst du hier in der Gegend nicht machen, Kind«, versuchte die Mutter sie später zu überzeugen. »Du hast das ganz große Los gezogen und wirst deine Tränen schon bald bereuen.«
Der Coronel sah gut aus, war kaum älter als dreißig und würde Eugênia auf seinem Landgut Fazenda Caviúna mit allen Annehmlichkeiten, die ihr zustanden, versorgen können.
»Und du wirst auch gleich Kinder haben«, betonte ihre Mutter und setzte die Liste von Vorteilen fort, die ihre Tochter ihrer Ansicht nach noch nicht erwachsen genug war zu erkennen. »Ganz ohne leibliche Mutter, die armen Dinger!«
Eugênia müsse doch Mitgefühl haben mit diesen Kleinen, die schließlich jemanden bräuchten, der sich um sie kümmere. Und auch sie hätte dann endlich eine Lebensaufgabe. In weniger als einem Jahr, da war sich ihre Mutter sicher, würde sich Eugênia kaum mehr daran erinnern, dass die Kinder gar nicht ihre eigenen waren, und, wer weiß, vielleicht trüge sie dann sogar schon ein eigenes in sich.
»Was für ein Segen das wäre. Mein Enkel, ein Erbe von Caviúna«, träumte ihre Mutter bereits vor sich hin.
Aber das war nicht das Leben, das sich Eugênia vorstellte. Sicherlich war der Tod ihrer Mutter ein Schlag für die Kinder des Coronel gewesen, aber sie hatten so rote Wangen und ihr Lachen war so fröhlich gewesen beim Schaukeln, dass sie ihre Fürsorge ebenso wenig nötig hatten wie Eugênia ein Leben auf dem Landgut des Coronel. Sie fühlte sich wohl in der Stadt, wo sie in der Kirche mit ihren neuen Kleidern angeben und Menschen auf der Straße beobachten konnte.
Noch während sie im Türrahmen stand und auf die Stimme des Vaters hörte, wie sie von der Entscheidung erzählte, die ihr Leben für immer verändern würde, schnürte es Eugênia die Kehle zu. Ihr gegenüber saß Coronel Aristeu und verzog keine Miene, schwieg respektvoll und zeigte kein wirkliches Interesse an seiner künftigen Braut. Er war gekommen, um sich etwas zu holen, das er für das Räderwerk seines Lebens brauchte. Noch bis vor wenigen Monaten war dieser Motor zuverlässig gelaufen, hatte dafür gesorgt, dass Essen auf dem Tisch stand, die Wäsche gebügelt war, die Familie im sonntäglichen Gottesdienst in der ersten Reihe saß. Nun jedoch war er beschädigt und musste dringend repariert werden.
An diesem Nachmittag schien er zunächst abschätzen zu wollen, ob sich die Tochter des Polizeichefs auch dafür eignen würde, jene Lücke zu füllen, die der vorzeitige Tod seiner Frau hinterlassen und damit all dieses Durcheinander verursacht hatte. Wenn er nun eine gute Entscheidung traf, würde er sicher in einigen Jahren gar nicht mehr daran denken, dass seine zweite Frau nur ein Ersatz war und nicht das Original.
Eugênia hatte jedenfalls niemand gefragt. Ihre Meinung zu dem, was da in ihrer Abwesenheit über ihr zukünftiges Leben vereinbart worden war, interessierte weder die beiden Männer noch ihre Mutter, die sich schon in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um von dort Gott, unsern Herrn, zu bitten, alles möge so kommen wie geplant und dass der Coronel es sich nicht noch einmal anders überlegte.
Hätte irgendjemand Eugênia gefragt, hätte sie Nein gesagt. Sie wollte nicht die Ehefrau des Coronel werden und schon gar nicht die Mutter seiner Kinder. Sie war als behütetes Einzelkind aufgewachsen, hatte nie Strafen fürchten müssen und keinerlei häusliche Pflichten gehabt, weder die Wäsche aufzuhängen noch Mais zu schälen, die besten Körner für das Mehl herauszusuchen und den Rest an die Hühner zu verfüttern. Sie war ein Mädchen mit Wünschen und Bedürfnissen, und die neue Frau des Coronel Aristeu Medeiros Galvão zu werden gehörte nicht dazu.
»Los, steh nicht so herum, Eugênia. Begrüße deinen Verlobten«, vernahm sie den Befehl ihres Vaters, immer noch fassungslos. Anstatt zu gehorchen, wandte sie sich blitzschnell um und rannte zurück ins Haus, was ihre Eltern als ernste Beleidigung des Coronels betrachteten und Eugênia mehrere Tage Hausarrest einbrachte.
Um ein Haar hätte der Polizeichef sie sogar mit dem Gürtel geschlagen, wenn nicht ihre Mutter ihm flehend entgegengehalten hätte, dass Mädchen in diesem Alter bisweilen zu sprunghaften Handlungen neigten. »Der Coronel wird sicher verstehen, dass es nur die Gefühlswallung war wegen der unerwarteten Nachricht. Was auch sonst?« Obwohl tief beschämt über das ungezogene Verhalten seiner Tochter, hängte der Polizeichef, der in der Stadt für seine Strenge bekannt war, seiner Familie gegenüber jedoch meist ein weiches Herz hatte, den Gurt wieder an die Tür. Doch er warnte Eugênia, dass an der Entscheidung, sie an den Coronel zu verheiraten, nicht zu rütteln war.
Insgeheim aber machte er sich selbst Vorwürfe. Er hatte die Zügel bei seiner Tochter viel zu lang schleifen lassen. Dies war der eigentliche Grund für die peinliche Lage, in die er geraten war, und das vor dem mächtigsten Mann der Region. Wenngleich er nun darauf verzichtete, die Hand gegen sie zu erheben, verzieh er seiner Tochter keineswegs, sondern verfügte, dass sie die nächsten Wochen keinen Fuß vor die Tür setzen durfte, nicht einmal in den Garten. Das würde sie hoffentlich zur Vernunft bringen. Sie würde erst wieder auf die Straße dürfen, wenn sie gelernt hätte, sich so zu benehmen, wie es sich für eine verlobte Frau gehörte, und beim nächsten Besuch des Coronel aufrichtige Reue zeigte.
»Sie wird ihren Bräutigam um Verzeihung bitten«, versicherte Eugênias Mutter in ihrem Namen. »Wenn sie erst verheiratet ist, wird sie schon erwachsen werden. Du wirst sehen. Das ging uns allen so. Auch ich habe geweint, als mein Vater dich mir vorgestellt hat und mir sagte, dass wir heiraten würden. Und ich bin immer noch da, oder nicht?«
Der Polizeichef war irritiert. Nach fast zwanzig Jahren Ehe hörte er dies zum ersten Mal.
»So sind die jungen Leute eben. Trink etwas von deinem Likör, und morgen sieht alles schon ganz anders aus.«
Als Eugênia schließlich wieder aus dem Haus durfte, nachdem sie den Coronel bei seinem zweiten Besuch förmlich um Verzeihung gebeten hatte, kam sie wieder zu uns zum Sticken. Die Spitze, an der sie gearbeitet hatte, war immer noch nur halb fertig, aber Eugênia war nicht mehr dieselbe. Alle Kunstfertigkeit schien ihr abhandengekommen zu sein. Hatte sie einst so gewissenhaft gearbeitet, schienen ihre Stickereien nun völlig ungeschickt. Statt kunstvoller Arabesken wie früher produzierte sie nun diese ganz und gar formlosen Muster, über die sich meine Tante so ärgerte.