Die Frauen von Ahlbeck - Katryn Berlinger - E-Book
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Die Frauen von Ahlbeck E-Book

Katryn Berlinger

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Beschreibung

Dürfen sie es wagen, nach den Sternen zu greifen? Der historische Roman »Die Frauen von Ahlbeck« von Katryn Berlinger als eBook bei dotbooks. Usedom, 1906. Das kleine Seebad Ahlbeck ist Fenjas Heimat – doch nach dem Tod ihrer Mutter scheint nichts mehr, wie es war. Die junge Frau sehnt sich danach, die nicht enden wollende, eintönige Arbeit im Elternhaus gegen eine neue Stelle zu tauschen. Als sie am Strand auf die wohlhabende Liane Hoschwitz trifft, die nach Ahlbeck gekommen ist, um ihren Sohn pflegen zu lassen, eröffnet sich ihr so eine Möglichkeit: Weil sie den kleinen Berthold aus einer gefährlichen Lage befreit, stellt Liane sie als Kindermädchen ein. So begegnet Fenja auch dem charmanten Rittmeister Achim von Bening, einem Bekannten der Familie, und verliebt sich in ihn. Aber darf sie trotz ihrer einfachen Herkunft wirklich auf eine gemeinsame Zukunft hoffen? Und noch dazu hegt auch Liane Gefühle für Achim … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die Usedom-Saga »Die Frauen von Ahlbeck« von Katryn Berlinger, auch bekannt unter dem Titel »Die Meeresflüsterin«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 566

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Über dieses Buch:

Usedom, 1906. Das kleine Seebad Ahlbeck ist Fenjas Heimat – doch nach dem Tod ihrer Mutter scheint nichts mehr, wie es war. Die junge Frau sehnt sich danach, die nicht enden wollende, eintönige Arbeit im Elternhaus gegen eine neue Stelle zu tauschen. Als sie am Strand auf die wohlhabende Liane Hoschwitz trifft, die nach Ahlbeck gekommen ist, um ihren Sohn pflegen zu lassen, eröffnet sich ihr so eine Möglichkeit: Weil sie den kleinen Berthold aus einer gefährlichen Lage befreit, stellt Liane sie als Kindermädchen ein. So begegnet Fenja auch dem charmanten Rittmeister Achim von Bening, einem Bekannten der Familie, und verliebt sich in ihn. Aber darf sie trotz ihrer einfachen Herkunft wirklich auf eine gemeinsame Zukunft hoffen? Und noch dazu hegt auch Liane Gefühle für Achim …

Über die Autorin:

Katryn Berlinger arbeitete lange Zeit als Direktionsassistentin, entschied sich dann aber für ein Studium der Germanistik und Systematischen Musikwissenschaft. Nach ihrem Abschluss war sie in einem Hamburger Schallplattenunternehmen tätig. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen die Familie ein. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Norddeutschland.

Katryn Berlinger veröffentlichte bei dotbooks bereits die historischen Romane »Die Zuckerbäckerin von Riga« und »Die Liebe der Zuckerbäckerin« erschienen; letztere sind im Sammelband »Das Schokoladenmädchen« zusammengefasst. Außerdem veröffentlichte sie den Roman »Die Insel der Herzkirschen«.

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eBook-Neuausgabe April 2022

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Die Meeresflüsterin« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt. Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Olga lutina, Galina Shpak, Mariabo2015, marod-pixcells, Patryk Kosmider

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-167-7

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Katryn Berlinger

Die Frauen von Ahlbeck

Eine Usedom-Saga

dotbooks.

Wispereim Sand der Dünen,am Meer aberschweige.

Schau,wie sie fortwehen,deine Gedanken,über des Meeres launiges Mienenspiel.

Träume, hoffe.

Vor allem abergib dich,gib alles frei,wenn du die Freiheit suchst.

Denn das Meer selbstwird dir eine Antwort geben.

(INSPIRIERT VON ERICH FRIEDS GEDICHT »MEER«)

»Das Meer ist nur ein Behälter für all die ungeheuren,übernatürlichen Dinge, die darin existieren;es ist nicht nur Bewegung und Liebe;es ist die lebende Unendlichkeit.«

(JULES VERNES, AUS: »20 000 MEILEN UNTER DEM MEER«)

Kapitel 1

Niemand hatte am letzten Tag des Jahres 1904 die Katastrophe erahnen können. Es hätte eines Hellsehers bedurft, um zu wissen, was auf sie zukommen würde. Im guten wie im bösen Sinne.

»Müssen wir dir Beine machen, Fenja? Beeil dich gefälligst, Tochter!«

Die Stimme ihres Vaters klang fast so gemein wie die des Hausherrn, seines Freundes Matthies Hocks. Und der prustete los, als habe er schon wieder einen anzüglichen Witz gehört. Und weil Matthies Hocks, der klein und gedrungen war wie ein Klafter Holz, eine ansteckende Lache hatte, dröhnte kurz darauf die Stube vor Gelächter.

Fenja seufzte. Sie stand in der Küche des Segeltuchmachers und wischte verspritzte Punschflecken von den schwarzweißen Steinfliesen. Den ganzen Tag über hatte sie gebacken und gekocht, und das war jetzt der Lohn! Eierpunsch kochen, und zwar jede Stunde ein Glas. Längst wurde ihr vom Dampf von Rum, Wasser, Eiern und Weißwein übel, zumal sie seit dem Frühstück, außer ein paar Happen während der Arbeit, kaum etwas Richtiges gegessen hatte. Und nun würde sie für die nächste Portion Punsch auch noch in die eisige Kälte hinaus auf den Hof gehen müssen, um frische Eier zu holen. Es ist und bleibt doch immer dasselbe, dachte sie. Ich bin die Magd, und Vater ist damit zufrieden. Schließlich bin ich das Einzige, was er den anderen als verarmter Leineweber zu bieten hat. Er nutzt mich aus, wie es auch die anderen tun. Und an einem Tag wie heute lassen sie sich natürlich bedienen, als seien sie Landjunker. Fressen, saufen, Karten spielen, das ist ihre Welt. Das können sie.

Wie erschöpft sie war. Ihre Füße brannten, und ihr Rücken schmerzte, als hätte sie seit dem Morgengrauen für ganz Ahlbeck Brunnenwasser geschöpft. Zwar hatte ihr bis zum Nachmittag die alte Grit geholfen, doch seit dem frühen Abend musste sie allein für die Männer sorgen. Beim Hocks wird Silvester gefeiert, hatte es geheißen. Und so waren alte Freunde gekommen, die verwitwet waren oder die das Zusammensein mit Kindern und Enkeln langweilte. Wenn wenigstens Mutter hier wäre, Hocks’ Frau oder von mir aus auch Hiltrud, mein stolzes Schwesterherz. Aber nein, alle drei mussten ja kurz vor Weihnachten nach Oberschlesien reisen, um Spitzen zu kaufen. Spitzen! Als hätte das nicht Zeit bis zum Frühjahr gehabt. Aber das haben sie nun davon: Mutter und Hock’s Frau liegen seit ihrer Rückkehr mit Fieber und Kopfschmerzen im Bett. Und Hiltrud muss zu Hause bleiben und ärgert sich, nicht Silvester feiern zu können.

Fenja versuchte sich vorzustellen, wie schön es wäre, könnte sie mit Edda, ihrer besten Freundin, im Ahlbecker Hof tanzen ... Aber selbst Edda würde in dieser Nacht genug zu tun haben. Wenigstens brauchte sie sich für ihre Arbeit als Dienstmädchen nicht zu schämen, im Gegensatz zu ihr, der Magd für alle ...

Von der Stube scholl lautes Stimmengewirr herüber. Fäuste schlugen auf die Tischplatte.

»Wo bleibt der Eierpunsch?«, rief der alte Segeltuchmacher.

»Jau! Her mit den Eiern!«

»Ein Ei gibt das andere!« Lautes Gelächter.

»Je mehr, desto dicker!«

»Und ordentlich viel Rum! Das heizt ein!«

»Bring der Alten was hoch, Fenja!«

Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.

»Bin schon dabei!«, gab sie mit überlauter Stimme zurück, rüttelte mit dem Schürhaken die glühende Kohle durch und legte Holz nach. Dann setzte sie den noch halbvollen Topf mit Punsch zum Aufwärmen auf. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Matthies Hocks die angelehnte Küchentür mit dem Fuß aufschob. In seiner Hand hielt er sein leeres Glas.

»Eierpunsch und Silvester ist wie in ’ner Koje ’ne fesche Schwester!« Er schwenkte das Glas. »Gönn dir doch auch mal ein Glas, Fenjachen. Gehört doch dazu und macht launig!« Er prustete. Fenja schenkte ihm schweigend nach. Ihr Vater kam aus der rauchgeschwängerten Stube hinzu und legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter.

»Lass man. Sie soll noch stehen können ... nachher, und nicht gleich umfallen. Du weißt, was ich mein.«

»Bist ein guter Vater, Paul.« Anerkennend klopfte Matthies Hocks ihm gegen die Brust. »Für ihren guten Ruf tust du alles, wie?«

»So wahr die Ostsee Fische hat.« Matthies Hocks trank sein Glas in einem Zug leer, während Fenja den herausfordernden Blick ihres Vaters auffing.

»Und Ostsee und Fisch gehören zusammen wie Wohlgardt und Hocks«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.

Ihr graute. Diese Nacht würde nicht gut enden. Hastig füllte sie beide Gläser bis zum Rand. Die Männer staksten in die Stube zurück. Fenja atmete auf und begann den Topf abzuwaschen. Da schlug die Küchentür hart gegen den Rahmen. Erschrocken wandte sie sich um. Es war Baldur, Hocks’ ältester Sohn. Er war gedrungen wie sein Vater, und sein Kinn war so breit wie seine vorgewölbte Stirn. Ihm war nie zu trauen, auch wenn er anscheinend freundlich war. Er war bei aller Hartnäckigkeit zwiespältig, konnte schöne Worte finden und gleichzeitig zuschlagen. Den ganzen Tag über hatte sie vor diesem Moment Angst gehabt. Und jetzt hielt er ihr auch noch einen zappelnden Silvesterkarpfen entgegen. Sie schrie auf.

»Baldur! Geh mit dem Karpfen in die Waschküche, köpf ihn im Steinbecken, nicht hier. Ich muss Punsch kochen. Willst du, dass mir auch noch vom Fischgestank schlecht wird?«

»Nichts musst du tun, Fenja. Eins nach dem anderen. Wir haben ja keine Eile, oder? Erst der Punsch, dann der Karpfen. Und dazwischen verschönern wir uns die Zeit.«

Sie wich vor ihm zurück, bis sie gegen die Anrichte stieß. Er lachte. Oh, wie sie seinen grausamen Spott hasste.

»Aber nicht doch, Fenja. Du brauchst keine Angst zu haben, du hast doch die Wahl.« Er fasste den sich windenden Karpfen fester, schwenkte ihn hin und her. Er ist mitleidlos, dachte Fenja, er wird anders mit mir umgehen als Martin. Sie versuchte, sich unter seinen Armen hinwegzuducken, doch Baldur schob wie beiläufig sein Knie vor, so dass sie ins Stolpern geriet und sich an der Tischkante festhalten musste. Wütend sah sie ihn an.

»Was fällt dir ein? Ich koche für euch, ich kümmere mich sogar um deine kranke Mutter – und du willst mich noch bei der Arbeit stören?«

»Fenja, nun stell dich nicht so an. Du weißt, dass ich dich mag und dass unsere Väter allerbeste Freunde sind. Du verstehst, was ich meine. Nichts würde sie stolzer machen, als wenn wir heirateten. Heute ist Silvester, da sollten wir uns das Wort geben.«

Ihr klopfte das Herz bis zum Hals.

Er trat mit dem Karpfen sehr nah an sie heran. »Also, meine liebe, schöne Leineweberin, wähle: Küsst du mich, töte ich den Karpfen für dich. Küsst du mich nicht, musst du ihn töten. Bedenke: Wenn du das nicht schaffst, würden unsere Väter sehr ... verärgert sein. Nun?«

»Du weißt, ich bin arm.«

»Das stört mich nicht.«

»Ich habe noch nicht einmal eine Mitgift.«

»Ist mir egal. Dafür besitzt ihr noch Felder, die für Flachs viel zu gut sind. Man kann Bauland draus machen, so wie es die meisten von uns längst schon getan haben.«

»Vater wird sie nie verkaufen, das weißt du. Er will das Geld der Fremden nicht. Da bleibt er lieber arm.«

»Das ist sein Fehler, das sagt ihm mein Vater schon seit über zwanzig Jahren.«

»Da siehst du’s. Ihr kennt ihn doch.«

»Aber wir sind die Jüngeren, Fenja. Wir entscheiden.«

»Unsinn, Baldur.«

»Unsinn? Du glaubst, ich sei feige, würde vor den Alten kuschen? Täusche dich da nicht, Fenja Susann Wolgardt. Ich weiß, was ich will.«

Verzweifelt wich sie aus: »Du weißt, dass Vater meine Schwester viel lieber mag. Sie ist die Ältere, und mit ihr werde ich eines Tages das bisschen Land teilen müssen.«

Er lächelte. »Fenja, sorge dich nicht, mit Hiltrud werde ich schon noch fertig werden. Denke an dich, du bist es wert. Du bist anders als sie. Willst du denn immer noch ihre Kleider auftragen? Du bist schön, viel zu schön für solche Lumpen. Es wird Zeit, dass du dir eigene Wünsche erfüllst. Ich kann dir alles bieten, ein Haus, Geld, Sicherheit. Wir Hocks sind seit Generationen keine armen Leute, das weißt du.«

»Ich ... ich habe deinen Bruder geliebt«, erwiderte sie nervös.

»Martin? Das glaube ich dir nicht. Er war ein Luftikus, der jeder hier im Dorf unter die Röcke geguckt hat. Ein Angeber, der mich nächtelang mit seinen schmutzigen Phantasien vom Schlafen abhielt. Jetzt hat ihn das Meer behalten, und nun bin ich es, der sein Recht auf dich einfordert. Du weißt, ich mochte dich schon immer viel mehr als er. Also, Fenja, küsse mich oder ... du musst den Karpfen schlachten.«

Ohne noch länger zu überlegen, griff Fenja hinter sich, nahm die Schüssel und schüttete das Abwaschwasser auf Baldurs Brust. Der Karpfen entglitt seinen Händen und platschte auf die Fliesen. Baldur fluchte. Fenja nahm ein Küchentuch und kniete nieder, um den zappelnden Karpfen festzuhalten. Da schlug die Haustür auf, und polternde Schritte dröhnten über die Dielen. Eisige Winterluft, vermischt mit Schnee, strömte herein. Fenja hob ihren Kopf. Es waren drei Fischer in schneebedeckten Südwestern, die atemlos auf die Männer einredeten.

»Steht auf!«

»Ihr müsst mit!«

»Das Wasser steigt!«

»Schon starke Böen von Nordost!«

»Der Wind hat gedreht, und keiner hat’s vorausgesagt!«

»Hinnech sagt, angeblich hätte die Hamburger Seewarte alle Ostseestationen über ein Tief über Südschweden benachrichtigt. Man hätte mit allem rechnen können, aber jetzt bläst es von Nordost! Das wird gefährlich.«

»Und schneien tut’s wie schon lange nicht mehr!«

»Es wird immer schlimmer!«

»Vergesst Silvester, das wird einen Orkan geben, Männer!«

»Los, zieht euch an und kommt nach draußen!«

Fenja bemerkte, wie ihr Vater einen langen Blick mit seinem Freund Matthies wechselte. Dieser nickte unmerklich und rief ihr mit schwerer Zunge zu: »Hol frischen Punsch! Für alle. Und ihr, Männer, setzt euch. Der Sturm kommt, ob wir’s wollen oder nicht. Und wenn das Schlimmste geschieht, wollen wir uns ihm mit einem guten Schluck stellen.«

Die Fischer zögerten. Fenja hielt noch immer den Karpfen unter dem Tuch fest. Da bückte sich Baldur über sie, einen Fleischklopfer in der Hand. »Das wirst du noch bereuen«, zischte er und schlug dem Karpfen auf den Kopf. Es knirschte ekelhaft, und unter ihren Händen tränkte sich das Tuch mit Blut. Mein Gott, was bist du nur für ein Ekel, Baldur Hocks, dachte sie, ich könnte mich jetzt geradezu vor dir übergeben. Du weißt genau, wie ich diesen Geruch von Fisch und Blut verabscheue. Angewidert sah sie ihm nach, wie er die Küche verließ und den Fischern in der Stube auf die Schultern klopfte. »Vater hat recht. Jetzt gibt’s erst mal Eierpunsch, dann den Karpfen, und erst dann geht’s raus!«

Die Männer zögerten noch, doch als Fenja aufstand und den toten Fisch auf die Arbeitsplatte legte, nickten sie und setzten sich.

Oh, wie sie ihn hasste, seine Art hasste, wie er ihr nachstellte, sie demütigte und in dieser Stunde auch noch alle Männer davon abhielt, aufzustehen und am Strand nach dem Rechten zu sehen. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich seinem Willen zu beugen. Sie lief hinaus, um Eier aus dem Stallgebäude zu holen. Es war eiskalt, das Heulen des Sturms und das Dröhnen der aufgewühlten Ostsee trieben sie zur Eile an.

Zurück in der Küche, hörte sie, wie Baldur die Älteren immer wieder mit derben Witzen ablenkte. War er feige oder bequem? Es half alles nichts, sie musste den Eierpunsch kochen. Endlich war er püriert, der Karpfen gar. Fenja stellte die Kasserolle mit dem Fisch in die Mitte des Tisches, holte die Schüssel mit den Salzkartoffeln. Noch während sie neben dem Tisch stand, die heiße Schüssel in den Händen, spürte sie, wie Baldur ihr unters Kleid fuhr und ihr in die Pobacken kniff. Sie biss die Zähne zusammen, stellte die dampfende Schüssel aufs Tischtuch. Dann aber glitt seine Hand zwischen ihre Beine und zwickte sie. Sie schrie auf vor Schmerz.

»Da siehst du’s«, zischte er ihr belustigt zu. »Da du mich nicht geküsst hast, küsse ich dich auf meine Art. Ich verspreche dir, du kannst viel von mir lernen. Denk daran, noch hast du alles in der Hand! Ich kann’s auch anders, nämlich viel besser!«

Die Männer lachten, sogar ihr Vater warf ihr einen aufmunternden Blick zu. »Nun mach nicht so ein Gesicht, Tochter. Bist auch nur ein Weib.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um, floh in die Diele und zog sich an. Noch nie war sie so schonungslos vor anderen gedemütigt worden.

Es war nicht mehr zu ertragen.

Weder dieser letzte Tag des Jahres 1904 noch ihr ganzes armseliges Leben.

Die Standuhr schlug Viertel nach elf. Weniger als eine Stunde trennte sie noch vom neuen Jahr. Nichts würde sich ändern. Sie war bereits zweiundzwanzig, und ihr Leben würde weitergehen wie bisher. Sie würde weiterhin dankbar sein müssen, wenn sie Leinen für die Aussteuer anderer weben durfte, weil dies immer noch besser war, als ständig als Dienstmagd herumgereicht zu werden.

Das war ihre Erkenntnis am Ende dieses Jahres.

Nein, sie konnte hier nicht mehr länger bleiben.

Nicht in diesem Haus.

Sollte Baldur sich doch selbst um seine Mutter kümmern. Aber zuvor musste sie etwas für sich tun. Entschlossen kehrte sie in die Küche zurück, nahm Kernseife und Wasser und wusch ausgiebig Hände und Gesicht. Dann lief sie in die kalte Diele zurück und suchte aus ihrem Korb die Dose mit dem spärlichen Rest Holunderblütencreme hervor, die sie Ende Mai angesetzt hatte. Nichts konnte ihr jetzt so guttun wie dieser Duft. Und es war, als locke er sie endgültig hinaus ins Freie. Fenja ergriff ihre Sturmlaterne und entzündete sie. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, war die Stimme ihres Vaters: »Nun geh schon, Baldur, fang sie dir wieder ein. Bist doch ein Kerl, oder?«

Sie rannte in das Schneetreiben hinaus. Natürlich würde er ihr folgen, sie war sich ganz sicher, doch noch hatte sie einen Vorsprung. Und sie würde nicht gleich zum Meer hinunterlaufen, sondern den kleinen Umweg über die Schulzenstraße nehmen. Kurz bevor sie in diese einbog, blickte sie über ihre Schulter, doch sie sah nichts außer Dunkelheit, hörte nichts als das Heulen des Sturms und das ohrenbetäubende Tosen der Wellen.

Noch nie hatte sie so ein Schneetreiben erlebt. Einmal bildete sie sich ein, Feuerwehrsirenen, dann wieder Schritte hinter sich zu hören. Dann vernahm sie plötzlich aus westlicher Richtung, von der Kirchenstraße her, ein gewaltiges Krachen. Es klang, als hätte der Sturm ein Dach abgerissen. Wenige Minuten später wirbelte ihr der schneeschwere Nordost Reet und Zweige ins Gesicht. Sie stolperte über herabgefallene Dachziegel, eine abgerissene Bauplane und Holzlatten, ja sogar über eine rostige Dachrinne.

Endlich erreichte sie die Dünenstraße. Ängstlich drehte sie sich um. Bewegte sich dort eine Gestalt? Fenja raffte ihren Mantel, rannte über den breiten Strand, bis ihr die Wellen schwarz und meterhoch entgegenschlugen. Ihr Tosen war ungeheuerlich. Das eisige Wasser strudelte um Fenjas Stiefel. Es musste schon weit über einen Meter angestiegen sein.

Plötzlich entdeckte sie etwas Dunkles auf dem Wasser. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, trotz Schneetreiben und aufspritzender Gischt etwas zu erkennen. Tatsächlich, es war ein Rettungsboot, in dem ein hochgewachsener Mann unter Aufbietung all seiner Kräfte ruderte. Eine gedehnte Ewigkeit lang sah es aus, als käme er nicht vom Fleck, ja, als driftete er zurück ins Meer, doch endlich gelang es ihm, den Schub mehrerer heftig rollender Wellen zu nutzen, um an den Strand geworfen zu werden. Das Boot barst, der Sturm schleuderte eine Planke mit voller Wucht in die Höhe. Sie wirbelte wenige Meter an Fenja vorbei. Der Ruderer rappelte sich auf, taumelte.

Schiffbrüchige! Fenja ergriff Panik. Wie sollte sie ihnen helfen? Sie spürte, wie ihr das Wasser um die Knöchel stieg und den Sand unter den Füßen fortspülte. Sie sackte vornüber, der Wind riss ihren Haarknoten auf, eisige Gischt schlug ihr ins Gesicht. Sie krabbelte auf allen vieren durch das ablaufende Wasser auf die Gestrandeten zu. Der Ruderer zog einen reglosen Körper aus den Trümmern, stapfte mit ihm zwei, drei Schritte den Strand hinauf und sackte plötzlich in die Knie. Fenja stolperte durch das Schneetreiben auf ihn zu. Der Fremde trug eine Uniform, seine breiten Schultern bebten. Fenja beugte sich über ihn, hörte ihn keuchen. Sie bemerkte, dass der steife, hohe Umlegekragen seiner Uniformjacke lose am Nacken hing und ihm Blut aus einer Platzwunde an der Stirn rann. Sein linker Ärmel war bis zur Schulter aufgerissen, sein linkes Hosenbein zerfetzt. Als er vornüberzusacken drohte, kniete Fenja vor ihm nieder und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. Da schlug er die Augen auf.

Ihre Blicke begegneten sich.

Für einen Moment schien es Fenja, als hielten die Schneeflocken im Flug, die Wellen in ihrem Schlag inne. Alles war still.

Da umfasste der Fremde ihr Handgelenk, schloss die Augen und drückte sein Gesicht an ihre Handflächen. Fenja nahm nichts anderes mehr wahr als diese Berührung. Erst als er sie losließ, spürte sie wieder die Schneeböen und die Gischt auf ihrem Gesicht. Sie ballte die Finger zur Faust, als könne sie den Atem dieses Fremden, seine aufwühlende Wärme für immer festhalten.

»Ich hole Hilfe!«, murmelte sie ihm zu, schlang ihm ihren Schal um den Hals und drückte ihre Sturmlaterne dicht neben ihn in den Schnee. Sie würde alles tun, um ihn zu retten. Sie rannte zu den Dünen hoch, hielt nach Baldur Ausschau. Jetzt hätte sie ihn wirklich gebraucht, aber er war nirgends zu sehen, sie war allein. Feigling, rief sie wütend und rannte, ohne sich zu schonen, durch das Schneetreiben den ganzen Weg zurück. Als sie das Hockssche Haus erreichte, hatte sie stechende Schmerzen in Hals und Brust. Sie riss die Tür auf und stürzte in die warme Stube.

»Geht raus und helft! Draußen sind Schiffbrüchige! Einer von ihnen lebt noch!«

Die Männer sprangen auf, Stühle fielen um. Sie zwängten sich in ihre Stiefel, stülpten Mützen und Mäntel über und stürzten in den Orkan hinaus.

Fenja zitterte vor Kälte, sie würde ihnen folgen, niemals würde sie hier eine Sekunde lang allein bleiben, während der Fremde ... Sie schlug den Truhendeckel in der Diele auf, wühlte zwischen alten Strickjacken, Arbeitshosen und Decken. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie endlich einen schwarzgrauen Männerwollmantel und geflickte Socken. Hastig tauschte sie ihre nassen Strümpfe gegen trockene aus, schlüpfte in Wollmantel und Stiefel und folgte den Männern.

Sie holte sie schnell ein und lief ihnen voraus. Ihre flackernde Sturmlaterne neben dem Fremden wies ihnen den Weg.

Er sah ihr bereits entgegen. Er hatte sich auf eine Planke gesetzt und stützte mit seinem unverletzten Arm den Oberkörper seines Begleiters, der reglos neben ihm lag. Fenja drehte sich zu Baldur um.

»Schnell, beeilt euch! Er muss sofort zum Arzt! Sonst kriegst du noch Ärger!« Sie wies auf die Schulterstücke des Fremden.

»Verdammt! Ein Rittmeister!« Baldur winkte den anderen zu. »Los! Packt mit an!« Dann bückte er sich zu ihm vor. »Bitte ergebenst, Euer Wohlgeboren ... Gestatten ...«

Vorsichtig nahmen sie ihm den reglosen Mann ab, zogen den Rittmeister in die Höhe. Er war größer, als Fenja angenommen hatte. Sie knöpfte ihren Wollmantel auf.

Der Offizier hustete, wehrte ab. »Nein, nein, behalten Sie ...« Seine Stimme war heiser, etwas brüchig, doch von einem tiefen Timbre. Baldur zischte Fenja zu: »Zieh den Mantel aus. Der Herr Rittmeister friert.«

Wieder schüttelte dieser den Kopf, doch Fenja legte ihm den Mantel um die Schultern und schlang den Gürtel um seinen Leib. Als sie ihn vor seinem Bauch verknotete, schabte sein Kinn kurz über ihre Wange. Ihr Herz schlug schneller.

»Beeil dich!«, rief Baldur ungeduldig und winkte einem der Männer zu. »Wir bringen ihn zu uns nach Hause!« Da knickten dem Rittmeister die Knie ein. Gerade noch rechtzeitig konnten sie ihn auffangen. Andere kamen hinzu, trugen beide fort. Fenja zitterte vor Kälte und Aufregung.

Sollte sie nach Hause gehen oder ein weiteres Mal ins Hockssche Haus zurückkehren, aus dem sie geflüchtet war? Müsste sie nicht ihr Versprechen halten und wenigstens noch ein einziges Mal in dieser Nacht nach Baldurs Mutter sehen?

In wenigen Minuten würde dort der kaiserliche Rittmeister auf jemanden warten, der sich um ihn kümmerte, denn Baldur wäre wohl dazu nicht in der Lage. Sie blinzelte in das Schneetreiben, bemerkte, wie Baldur sich nach ihr umdrehte.

»Los, Fenja! Komm mit!«, schrie Baldur ihr über die Schulter zu. »Du hast ihn gefunden, also musst du ihn pflegen! Das bist du ihm schuldig!«

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Sie hatte Angst und wusste nicht, warum.

Seit einer Stunde war sicher, dass, solange der Sturm tobte, niemand bereit sein würde, den verletzten Rittmeister nach Swinemünde zu transportieren. Die Flut, sagten einige, sei schon auf über zwei Meter fünfzig angestiegen, und ein Ende sei nicht in Sicht. Baldur war zu Rittmeister Steffen, dem Ahlbecker Gemeindevorsteher, geeilt, um ihn zu bitten, die Garnison telefonisch von dem Unglück zu benachrichtigen. Er wolle auf keinen Fall Ärger mit preußischen Beamten bekommen und sich den Vorwurf der Nachlässigkeit einhandeln. Doch dann war der Strom ausgefallen, alle Verbindungen via Telefon und Telegraf waren unterbrochen. Und so hatte ihm Rittmeister Steffen geraten, den gestrandeten Rittmeister vorerst zu Hause zu versorgen, bis die Sturmflut vorüber sei. Daraufhin hatte Baldur auf Anraten des Gemeindevorstehers und aus eigener Sorge den reichlich beschwipsten Arzt des Ahlbecker Krankenhauses aus dem Bett klingeln und überreden können, sich den Verunglückten vorsichtshalber anzusehen. Der Arzt hatte mit der Familie des Gemeindevorstehers gefeiert und war nicht begeistert davon, ein weiteres Mal in die Kälte hinauszugehen. Aber auch er musste sich der Pflicht fügen und folgte Baldur zu dessen Haus in der Strandstraße. Er untersuchte den Offizier, vernähte dessen Bein und die Platzwunde am Kopf, drückte Fenja das Fläschchen mit Kampferlösung in die Hand und befahl ihr, den Rest der Versorgung zu übernehmen, er sei todmüde und wolle wieder ins Bett. Dann gähnte er ausgiebig und verließ das Haus mit einem leisen Fluch.

Jetzt war Fenja mit Baldur und dem Fremden allein. Der Wind heulte durch ein geborstenes Fenster im ersten Stock, rüttelte an den Fensterläden, zerrte am Reetdach. Matthies, Baldurs Vater, war noch unterwegs. Fenja hatte noch einmal nach Baldurs Mutter gesehen und ihr einen Teelöffel Baldrian geben müssen, damit sie ruhiger schlief.

Baldur aber ging nicht in seine Schlafkammer. Er legte immer neue Holzscheite nach und lauschte in den Sturm hinaus. Nur das honiggelbe Licht der Bernsteine, die in den alten Feuerschalen brannten, verlieh dem Raum eine beruhigende Wärme. Trotzdem wurde Fenja das beklemmende Gefühl nicht los, dass Baldur sie bewachte. Noch vor gut zwei Stunden hatte er sie in die Küche geschickt, damit sie des Rittmeisters kniehohe schwarze Stulpenstiefel mit Zeitungspapier ausstopfte. Sie wusste, er wollte sie nicht dabeihaben, wenn er den Offizier auszog. Er hatte ihr Wäschestück für Wäschestück durch die Tür zugeworfen, damit sie sie in der Küche zum Trocknen aufhängte. Erst danach hatte er ihr erlaubt, in die Stube zurückzukehren.

Sie hatte unter seiner Aufsicht die Schürfwunden des Bewusstlosen gereinigt und mit Ringelblumensalbe bestrichen. Es war ein schönes Gefühl gewesen, seine glatte, feste Haut zu berühren. Und hin und wieder hatte sie das Gefühl gehabt, er hätte die Augen absichtlich geschlossen gehalten, um die Berührung ihrer Hände zu genießen ... Nun schlief er seit gut anderthalb Stunden tief unter einem rot-weiß karierten Plumeau, mit dem sie ihn hatte zudecken dürfen. Sie saß, seine Jacke im Schoß, neben ihm, das Gesicht von Baldur abgewandt. Sie fühlte sich neben dem schlafenden Rittmeister wohl, der weißgelbe Schimmer der brennenden Bernsteine spendete Trost, der Duft des Harzes beruhigte sie.

Baldur trat neben sie und verschränkte die Arme. »Da wird immer gesagt, ein Mann ohne Uniform sei kein richtiger Mann. Stimmt. Da siehst du’s nun selbst: Ohne Uniform ist auch ein Rittmeister nur ein nackter Mensch.«

Aber er hat einen Körper, der eigentlich viel zu schade für eine Uniform wie diese ist, dachte Fenja.

»Er scheint ein ordentlicher Raufbold zu sein«, fuhr Baldur grimmig fort und wies auf die rechte Schulter des Uniformrockes, an dem das Schulterstück baumelte. »Wenn es um die Ehre geht, versteht ein Wohlgeborener keinen Spaß. So fein, wie er scheint, wird er nicht sein, glaub’s mir.«

»Was redest du da, Baldur? Er wird von einer Planke getroffen worden sein, oder der andere Mann hat sich bei dem Sturm an ihn geklammert und das Schulterstück versehentlich abgerissen. Du willst wohl nur Schlechtes von ihm denken, oder? Hast du keine Angst, er könnte dich hören?«

»Er schläft wie ein Toter und wird von anderem träumen als von mir.«

Fenja rückte den weißen Uniformrock auf ihrem Schoß zurecht. Er war aus reinwollenem Kammgarn mit einem Futter aus Kaschmir. Und obwohl der feste Stoff noch feucht war, bildete sie sich ein, er wärme ihre Hände. Sie hatte den zerrissenen Ärmel bereits geflickt und machte sich nun daran, den losen Umlegekragen wieder anzunähen. Sie rückte das beschädigte Schulterstück zurecht, da glitt ihr Blick zu ihm, und es war, als befehle er ihr, innezuhalten und ihn genau anzusehen. Sie betrachtete sein klar geschnittenes Gesicht mit der geraden Nase und den kräftigen Augenbrauen. Sein breiter Bartschatten wirkte wie dunkler Samt. Seine vollen Lippen zuckten leicht und kamen ihr im Schein des Lichtes verletzlich vor.

Als er nun seinen Arm hob, auf dem Kissen anwinkelte und seinen Kopf darin barg, verwirbelte sein dichtes braunes Haar hinter seinem Ohr.

Baldur trat näher. »Was tust du da?«

Sie hatte, ohne es zu merken, seine Schläfe berührt und war mit ihrem Finger über seine Wange geglitten. Sie schrak zusammen, zog ihre Hand zurück. Hatte sie sich eingebildet, er hätte sie um diese Zärtlichkeit gebeten? War sie verrückt? Abrupt wandte sie sich zu Baldur um.

»Er ... er hat etwas gesagt. Hast du ihn nicht verstanden?«

»Ich hab nichts gehört. Weißt du nicht, dass ein ordentlicher Offizier auch im Schlaf stummen Gehorsam einhält?« Er grinste und verschränkte die Arme. »Gefällt er dir etwa?«

»Unsinn, seine Uniform interessiert mich.«

»Wirklich? Fenja, die Leineweberin, interessiert sich fürs Tuch, obwohl ein nackter Mann vor ihr liegt? Bist du wirklich so prüde, oder spielst du uns allen etwas vor?«

»Sei still, Baldur. Sag mir etwas über ihn, seine Kleider verraten doch alles. Oder interessiert es dich nicht, wen du in dein Haus geholt hast?«

»Wer trägt schon kniehohe Stulpenstiefel, eine enge weiße Stiefelhose und bunte Borten am schneeweißen Koller?« Er reckte sein Kinn in Richtung des Uniformrockes. »So etwas trägt nur die Kavallerie, die stolzen Kämpfer zu Pferde und Kaisers Lieblinge. Jetzt ist der Schlachtenreiter beinah im Meer ertrunken und liegt beim Hocks aufm Sofa.« Er rieb sich die Hände. »Ich werd mir mal ’nen Pfriem genehmigen.« Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und holte einen Tabakbeutel hervor. »Er muss ja ein ganz Kaisertreuer sein, der noch zu Silvester auf Halbstiefel und Galahose verzichtet und stattdessen Reithose mit Stulpenstiefel trägt. Hat er auf den Wellen reiten wollen oder wie? Dem Kaiser hätt’s sicher gefallen. Hohe Stiefel und feste Schenkel haben nun mal was Besonderes an sich, so was Aufputschendes.« Er lachte derb und schniefte, wobei er kurz seine Augen zusammenkniff und mehrmals mit dem Handrücken über Mund und Nase fuhr.

Fenja wandte ihren Blick von ihm ab und beugte sich wieder über den Uniformrock, befühlte das unbeschädigte versteifte Schulterstück, das von einer Biese in Russischblau eingefasst war. Es war von vier eng nebeneinanderliegenden silbernen Plattschnüren geschmückt, die ein schwarzer Seidenfaden – die Farbe Preußens – spitzwinklig durchwirkte. Zwei viereckige Rangsterne aus vergoldetem Metall waren darauf befestigt, die übereinandergesetzt eine große, in Rot gestickte Sechs einfassten. Und wenn sie es richtig erkannte, war da noch ein verschnörkeltes H mit einer kleinen Eins mit Krone aufgestickt. Was diese Abzeichen wohl bedeuten mochten? Am liebsten hätte sie Baldur noch einmal gefragt, doch sie hatte keine Lust, sich weitere anstößige Bemerkungen von ihm anzuhören. Gedankenverloren ließ sie ihre Fingerkuppe auf einem Rangstern kreisen, bis sie das Gefühl hatte, er sei es, der sich drehte, nicht ihr Finger. Sie ließ ihn los und zupfte stattdessen fahrig an einem zerfaserten Etikett unterhalb des Kragens, an dem sie Buchstaben zu erkennen glaubte.

Baldur schnaubte verärgert. »Offiziere haben ihre eigenen Herrenschneider. Er wird einen neuen Rock ordern. Aber gib dir ruhig Mühe, es soll später nicht heißen, im Hocksschen Haus hätte sich keiner um ihn gekümmert.«

Fenja nickte wortlos. Baldur hält etwas auf sich und wird mich nicht aus den Augen lassen, dachte sie. Aber solange der Offizier hier liegt, wird er es nicht wagen, unser Streitgespräch, das wir vor Stunden in der Küche geführt haben, wieder aufzugreifen.

Vom Holzofen her flackerten Rußfahnen über die Wände, warfen unruhige Schatten auf das bleiche Gesicht des Rittmeisters. Fenja nestelte am Stoff, undeutlich tanzten die eingestickten Buchstaben vor ihren Augen. Sie erkannte ein »A«, ein »B«, darunter ein »Hö« und ein weiteres großes »Be«. Alles andere verschwamm im schwachen Licht der verglühenden Bernsteine. Der Rittmeister stöhnte im Schlaf. Fenja beugte sich vor.

»Sophia.« Es war kaum mehr als ein Hauch, und noch einmal »Sophia« und etwas, was Fenja nicht verstand. Sie spürte, wie sich in ihr etwas schmerzhaft zusammenzog.

»Wer sind Sie?«, flüsterte sie, woraufhin Baldur hinter sie trat und seine Hände auf ihre Schultern presste.

»Lass ihn in Ruh. Näh weiter, was kümmert dich ein Offizier des Kaisers, der von seiner Herzdame träumt?«

Er hatte recht, es sollte sie nicht interessieren, wer dieser Mann war, noch, wovon er träumte. Er war von Adel, und sie hatte ihm, auch wenn er schlief, Respekt zu zeigen. Da fing sie Baldurs begehrlichen Blick auf.

»Du hast schöne Hände, Leineweberin. Wie du die Nadel hältst ...«

»Lass mich in Ruh, Baldur. Es ist alles gesagt. Was ich dir im alten Jahr sagte, gilt auch im neuen.«

»Was gelten schon Worte, die in einer einzigen Nacht gesagt werden. Das neue Jahr liegt noch vor uns. Warten wir’s ab.«

Sie schwieg. Sie hatte keine Lust mehr, ihm zu widersprechen.

Die Stunden vergingen. Das Feuer knisterte leiser, die Flammen erloschen, auch Fenja fielen irgendwann vor Erschöpfung die Augen zu.

Als sie erwachte, war es noch dunkel. Der Sturm hatte nachgelassen. Baldur saß schnarchend im Ohrensessel seines Vaters. Bevor Fenja sich fragen konnte, wo dieser die Nacht wohl verbracht hatte, schlug der Fremde die Augen auf und sah sie an. Es war ein überraschter, fragender Blick aus blauen Augen, die schnell einen dunklen Glanz annahmen. Fenja kam es vor, als spiegele sein Blick ihr eigenes Staunen wider, und sie war sicher, er teilte bereits ihren schneller gewordenen Herzschlag ...

Da schlug von draußen etwas Hartes gegen die Tür. Fenja sah erschrocken auf. Der Blick des Fremden veränderte sich abrupt. Seine Augen nahmen einen hellen, wachen Ausdruck an, voll konzentrierter Anspannung, die seine Entschlusskraft ahnen ließ. Baldur sprang auf, rieb sich die Augen und ging hinaus. Mit raschem Schritt kehrte er zurück, schlug die Hacken aneinander und salutierte.

»Melde gehorsamst: Transport zum West-Fort Swinemünde gesichert, Euer Wohlgeboren! Kosten übernimmt Infanterist Baldur Hocks persönlich!«

Idiot, dachte Fenja wütend, was bist du nur für ein Idiot, Baldur Hocks. Merkst du nicht, wie verlogen du wirkst? Sie schämte sich und schlug die Augen nieder. Sie wollte nicht sehen, dass der Fremde, ein attraktiver Mann, sich in seiner Rolle als Rittmeister von Baldurs militärischem Eifer geschmeichelt fühlte. Umso überraschter war sie, als sie seine verärgerte Stimme hörte.

»Festung Swinemünde? Zu den Küstenartilleriebatterien? Wie kommen Sie auf solch eine Idee, Hocks? Haben Sie das Oberkommando übernommen, oder können Sie keine Rangabzeichen lesen?«

Baldur sackte kurz in sich zusammen, schlug ein weiteres Mal die Hacken knallend aneinander und nahm wieder Haltung an. »Verzeihung, Euer Wohlgeboren, ich dachte nur ...«

»Sie werden doch wohl noch Heer und Marine auseinanderhalten können, oder?« Der Fremde musterte ihn mit durchdringendem Blick. »Und wenn schon nicht zu den Brandenburgern an der Havel, so hätten Sie einen Boten zur Kavallerieinspektion in Stettin jagen sollen.«

»Bitte ergebenst um Nachsicht, Euer Wohlgeboren.«

Der Offizier wartete einen Moment, als genieße er die Spannung, dann lachte er auf. »Ist auch egal. Rühren Sie sich. Und lassen Sie das Hackenschlagen und ›Euer Wohlgeboren‹. Zivil geht’s auch. Im Ernst: Der Ahlbecker Hof wäre mir lieber, aber so falsch ist Ihr Vorschlag nicht. Bei diesem Orkan brauche ich Unterstützung von der Marine. Ich muss unbedingt wissen, ob die Männer im Boot überlebt haben. Wissen Sie schon etwas Näheres? Wir waren erst zu acht, zwei gingen über Bord und die anderen, was ist mit denen?«

»Sie haben einen retten können, Herr Rittmeister. Er lebt und wird heute früh in die Station des hiesigen Krankenhauses kommen. Von den anderen weiß ich nichts Genaues.«

»Gut, ich werd mich selbst erkundigen. Haben Sie sonst irgendwelche Nachrichten von dieser Nacht? Gibt es noch mehr Überlebende?«

»Ich weiß es nicht, Herr Rittmeister.«

»Waren Sie denn nicht die ganze Zeit draußen bei den anderen Männern?«

Über Baldurs Wangen huschte eine verlegene Röte. »Nein, Euer Wohlgeboren.« Er war völlig verunsichert.

»Wo waren Sie denn, Mann? Doch wohl nicht hier in der guten Stube, während draußen Land und Leute untergingen?«

Baldur blickte zu Boden, knetete die Hände, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er straffte sich und presste die Hände seitwärts an die Hosennaht.

»Ich habe persönlich Ihre Nachtwache übernommen, Euer ... äh ... wohlge... Herr Rittmeister.«

Der Fremde schwieg beredt und suchte Fenjas Blick. Er verstand. Da legte er seine Hand auf den Uniformkragen, den sie noch immer im Schoß hielt.

»Wie heißen Sie?«, fragte er leise.

»Fenja, Fenja Wolgardt«, wisperte sie tonlos.

Er zog ihre Hand dicht an seinen Mund und deutete einen Kuss an. »Danke, Fenja.« Dann nickte er Baldur zu. »Rasch, helfen Sie mir beim Anziehen. Sie haben doch etwas Trockenes für mich?«

Kurz darauf verließ er in Baldurs Begleitung das Hockssche Haus. In einer Hand hielt er einen Seesack, in dem seine feuchten Kleider verstaut waren.

Fenja sann ihm nach. Ob er fürchtete, Sophia, von der er geträumt hatte, könne ebenfalls ertrunken sein? Oder wartete sie irgendwo auf dieser Welt auf seine Nachricht?

Sophia.

Ein seltsamer Name. Ein Name, der nach dem Duft dunkler Blüten und nach fremder Musik klang. Er wird ihr einen Neujahrsgruß schicken und froh sein, sie in Sicherheit zu wissen.

Er würde sie, Fenja, bereits vergessen haben. Schließlich war sie nur ein armseliges Geschöpf, das noch nicht einmal Silvester feiern konnte, sondern vom Herrgott zur rechten Zeit an den Strand geschickt wurde, um Schiffbrüchige wie ihn aufzulesen.

An ihrer Stelle hätte jede andere Magd, jedes andere Dienstmädchen sitzen und seine Uniform ausbessern können.

Sie war nichts Besonderes.

Aber irgendetwas in ihr war anders geworden.

Sie zog den Ärmel seiner Uniformjacke zu sich heran, dessen Riss sie gerade zugenäht hatte, und biss den Faden durch. Ein heißer Schrecken durchfuhr sie, als ihr bewusst wurde, dass er die Jacke nicht mitgenommen hatte. Sie strich über den festen Stoff, roch an der Innenseite des Kragens, glitt mit den Händen über das Innenfutter, als könne sie den muskulösen Konturen seines Rückens nachspüren.

Kaum war die Kutsche mit dem in Decken gehüllten Rittmeister angefahren, kehrte Baldur schwer atmend zurück. Er riss Fenja den Uniformrock vom Schoß und schlug ihr ins Gesicht.

»Warum hast du ihm deinen Namen genannt? Warum? Meinen sollte er behalten. Meinen!«

Er war blind vor Wut.

Und sie wimmerte vor Schmerzen.

Dann ließ er sie allein.

Sie merkte, dass sie viel zu erschöpft war, um bei dem Sturm nach Hause zu gehen. Sie schlich zu Baldurs Mutter hinauf und weinte. Diese strich ihr mit fiebrig-feuchter Hand über den Kopf. »Er braucht eine Frau. Heirate ihn, Fenja. Dann wird er ruhiger. Ich hab’s mit seinem Vater auch so erlebt.« Sie wandte ihr das Gesicht zu: »Soll ich dir die Wahrheit sagen? Als Mutter mag ich es kaum aussprechen, aber ich glaube, Baldur dankt im Stillen seinem Herrgott dafür, dass der ihm den Bruder so früh genommen hat. Er will nur dich. Er ... hat dich schon immer gewollt.«

Sie hatte es verdrängt, immer wieder verdrängt. Wie gelähmt blieb sie, an den Bettkasten gelehnt, auf dem Boden hocken und starrte in die Dunkelheit. Sie würde weder diesem Mann noch ihrem vorgezeichneten Lebensweg entkommen können.

Langsam schläferten die regelmäßigen Atemzüge seiner Mutter sie ein.

Wenige Stunden später weckten sie die ersten Sonnenstrahlen des Neujahrsmorgens. Fenja fühlte sich ein wenig besser. Sie stand auf, nahm ihren Korb und verließ das Hockssche Haus. Sie würde alles darum geben, es nie wieder betreten zu müssen.

Der Himmel war wolkenlos, die Luft klar und kalt. Fenja trat in das strahlende Sonnenlicht des Neujahrsmorgens 1905 hinaus. Überall funkelten Eiskristalle im noch unberührten Schnee. Die Welt hätte nicht friedvoller aussehen können. Fenja atmete die kühle, beruhigende Meeresluft ein und ging zum Strand hinunter. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Eine Möwe schrie, zwei weitere stoben flügelschlagend neben ihr auf. Ansonsten war es still.

Die Ostsee zeigte ihr unschuldiges Gesicht. Glitzernd streckte sie sich aus wie ein azurblaues Seidendamasttuch mit eingewebten Silberfäden. An ihrem hohen Saum türmten sich Tausende von Eisschollen.

Ob die Wellen der letzten Nacht Bernsteine angespült hatten?

Fenja blickte zur Ahlbecker Seebrücke hinüber. Sie sah aus, als sei sie über Nacht ins Meer gezogen und von unsichtbaren Klöpplerinnen mit Spitzen aus Eis geschmückt worden. Eiszapfen hingen dicht an dicht von ihrem roten Dach, ihren vier grünen Türmchen, vom Geländer der sie umgebenden Plattform und ihres langen Anlegesteges. Die Seebrücke sah aus wie ein verzaubertes Strandschloss, dessen Zugbrücke in die Weite eines geheimnisvollen Meeres hinausführte. Fenja stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie über ihre vereisten Planken auf den dunstigen Horizont zuginge, um das wiederzufinden, was sie in der letzten Nacht berührt hatte.

Und für einen kurzen Moment hätte sie nicht sagen können, ob es nur an ihrer Erinnerung an diesen Mann oder an der Nähe des Meeres lag, dass sie das Gefühl hatte, selbst verzaubert zu sein.

Sie hatte eine Weile geträumt und nicht bemerkt, dass nach und nach immer mehr Ahlbecker an den Strand gekommen waren. Die Stimmen um sie herum schreckten sie auf. Fenja schaute sich um. Nie zuvor war so viel Schnee gefallen. Die Trümmer aber, die von der Sturmflut übrig geblieben waren, waren deutlich erkennbar: zerschellte Boote, Planken, Bretter, Schiffsteile, ein Rohr, Staken, der Überrest eines abgerissenen Strohdaches. In ihrer Nähe hatte sich eine kleine Gruppe Ahlbecker um einen älteren Mann versammelt, der meinte, dass der Wasserstand mit zwei Meter achtzig über Normalnull nicht ganz so hoch gewesen sei wie bei der großen Sturmflut im November 1872, die Schäden längs der Küste aber seien schlimm genug. Neugierig trat Fenja hinzu. Jeder hatte etwas zu berichten, das er selbst gesehen oder von denjenigen gehört hatte, die bereits in diesen frühen Stunden auf der Insel unterwegs waren. Auch wenn Fenja sich bemühte, ihren Berichten zu folgen, wanderten ihre Blicke immer wieder zur vereisten Seebrücke zurück.

Das Eis an der Seebrücke belaste die Holzkonstruktion, hieß es ... Es sei eine große Gefahr für den knapp sechs Jahre alten Seesteg ... zweihundertachtzig Meter vereistes Holz im Meer ... Was das kosten würde, wenn alles zusammenstürze und wieder neu gebaut werden müsse ... Dutzende Schiffe seien vermisst gemeldet ... zahlreiche gestrandet ... Weite Küstenteile überschwemmt ... Viele hundert Stück Vieh ertrunken ... Bei Damerow sei der Damm über dreihundert Meter Länge gebrochen ... Ostsee und Achterwasser seien eins ... Die Insel Ruden sei völlig überspült ... Land verlorengegangen ... In der Peenemündung sei ein Mann aufgefunden worden, festgebunden an einem Dachteil ... wer wohl der Mörder sei?

Von all diesen Schrecknissen abgesehen, waren sich jedoch die Ahlbecker einig: Sie hatten noch einmal Glück gehabt. Die Schäden vor Ort hielten sich in Grenzen. Man würde sie so rasch wie möglich beheben. Grundsätzlich aber müssten dringend Schutzdeiche und Wellenbrecher gebaut und Buhnen errichtet werden. So leicht sollte niemals wieder eine Sturmflut die Küste Mecklenburgs angreifen können.

Die Kaiserbäder mussten erhalten bleiben. Koste es, was es wolle.

Die Stimmen wurden leiser. Fenja war wieder allein. Sie schloss ihre tränenden Augen vor den Lichtreflexen auf Wasser und Schnee. Viel zu lange schon hatte sie auf die Seebrücke gestarrt. Zu lange und vergeblich. Das Gefühl der träumerischen Sehnsucht von vorhin kehrte nicht zurück. Das, was sie in sich wahrnahm, war ein schwermütiger Schmerz, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte. Ob er je heilen würde? Oder war er nur ein Omen für ein weiteres Jahr, das nichts Gutes bringen würde?

Sie stapfte durch den Schnee auf die Stelle zu, wo sie den verletzten Offizier gefunden hatte. Seltsamerweise hatte noch niemand alle Trümmer seines Rettungsbootes fortgeräumt. Sie fuhr mit ihrer Hand über die zerborstenen Planken und brach einen Splitter ab.

Sie schaute über das Meer, das sie so liebte, weil es so atmete wie sie.

Weil sie seine Stimme liebte.

Weil es ihr Echo war.

Weil es so wandelbar war wie sie.

Sie zögerte, hielt ihre noch immer nach Holunderblüten duftenden Hände vors Gesicht und dachte an ihn.

Sollte sie es tun? Oder würde man sie für verrückt halten? Sie schaute sich um, der Strand war leer. Entschlossen trat sie an die Eisschollen heran. »Nur ein Traum?« ritzte sie mit dem Holzsplitter in das Eis. Wenn es schmölze, würden die Wellen ihre Frage hinaus auf das Meer tragen. Und irgendwann, hoffte sie, würde es ihr antworten.

Von der Spitze der Seebrücke stiegen zwei Tauben in den klaren Himmel auf.

Zu beiden Seiten der Lindenstraße, die die Kaiserbäder mit Swinemünde verband, türmte sich der Schnee. Die ersten Pferdegespanne mit Schneepflügen mussten schon frühzeitig am Morgen vorbeigekommen sein. Fenja querte die Bahnlinie und schlug den Korswandter Weg südlich von Ahlbeck ein. Hier hatte niemand geräumt, und sie musste durch fast hüfthohen Schnee stapfen.

Die alten Parchenwiesen und brachliegende Flachsfelder lagen unter glitzerndem Weiß verborgen. Von den wenigen Strohdachkaten stiegen dünne Rauchfahnen in den klaren Himmel auf. Hier leben diejenigen, die anders denken als die Leute unten im Dorf, dachte sie. Trotzköpfe wie mein Vater, der lieber arm bleibt, als mit der Zeit zu gehen.

Als sie auf die Holztür der lehmverputzten Leineweberkate zuging, stieß sie versehentlich mit ihrem Kopf gegen einen Eiszapfen, der von der Dachrinne herabhing. Er brach ab, bohrte seine Spitze in ihren Mantelkragen und fiel klirrend zu Boden. Er jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Als hätte Hiltrud, ihre Schwester, nur auf dieses Zeichen gewartet, riss sie ungestüm von innen die alte Holztür auf.

»Wo bist du nur so lange gewesen?«

»Am Meer, wo sonst?« Fenja trat, die Arme um sich geschlungen, in die Diele. Diffuses Licht fiel durch die beschlagenen Fenster.

»Das glaube ich dir nicht. Vater ist nämlich früh heimgekommen. Er wusste nicht, wo du warst, vermutete dich hier. Er hat erzählt, du seiest ohne Mantel am Strand herumgeirrt. Warst du etwa betrunken?«

»Was fällt dir ein!«

»Wo hast du dich denn herumgetrieben? Kannst du dir nicht vorstellen, welche Sorgen ...?«

»Du machst dir Sorgen um mich? Komm, Hiltrud, belüge mich nicht schon am Neujahrsmorgen.«

»Ich will wissen, wo du warst. Wenn du uns etwas verschweigst, werde ich ...«

»Na? Willst du vielleicht nicht besser Baldur fragen? Tu’s doch, und vergiss nicht, seine Mutter zu besuchen.«

»Ah, so ist das. Du hast Baldur also endlich dein Wort gegeben.«

»Nein, aber das verstehst du nicht. Sag mir lieber, wie es Mutter geht.«

»Oh, hast du ein schlechtes Gewissen? Du fragst nach ihr, obwohl du dich die ganze Nacht herumgetrieben hast? Ich habe neben ihr gewacht, während du schön mit den Männern im Dorf feiern konntest. Es soll ja hoch hergegangen sein. Und du sollst beim Hocks ganz allein die Küchenhoheit gehabt haben!« Hiltrud lachte. »Gefällt dir der Begriff, Schwesterchen? Du magst doch die feinere Sprache, nicht? Ich hab nämlich zufällig deine Bücher entdeckt, die du im Schrank versteckt hast.«

Fenja bemühte sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Die Bücher verdankte sie Edda, ihrer besten Freundin. Sie waren immer ihre Zuflucht nach solchen Momenten wie diesen gewesen. Mit steifen Fingern knüpfte sie ihren Mantel auf. »Wir würden uns besser verstehen, wenn du sie lesen würdest, Hiltrud.«

»Hab ich die Zeit dazu?«

»Mehr als ich.«

»Du bildest dir das nur ein. Hast du wenigstens etwas von deinem Eierpunsch mitgebracht? Vater sagt, er soll gut geschmeckt haben.«

Fenja stieß Hiltrud ein wenig zu heftig beiseite. »Wie gut ihr euch doch versteht.«

»Warte!« Hiltrud packte sie am Arm. »Mutter hat sich übergeben, die Wäsche liegt draußen. Kümmere dich darum.«

Nichts hat sich geändert, dachte Fenja müde, gar nichts. Alles geht so weiter wie bisher. Sie würde von der Harmonie zwischen Schwester und Vater ausgeschlossen bleiben und ihnen weiterhin nur als Magd dienen.

Als sie durch die kalte Stube hinüber zum Schlafraum ihrer Eltern schlich, warf sie einen flüchtigen Blick auf den gut einhundert Jahre alten Webstuhl, der fast die Hälfte der Stube einnahm. Wie viele Stunden hatten sie oder ihr Vater hier schon gesessen und Unmengen von Flachsgarn zu Leinen verarbeitet. Sie hörte ihre Mutter röcheln und eilte an dem Webstuhl vorbei. Dabei achtete sie darauf, ihn nicht zu berühren.

Ihre Eltern schliefen noch, und so setzte sie sich ans Bett ihrer Mutter. Sie lag auf dem Rücken, ihr Mund war weit geöffnet, die Hände ins Betttuch gekrampft. Wie immer, wenn ich dich brauche, kann ich nicht mit dir sprechen, dachte Fenja verbittert, es ist wie ein Fluch. Sie streichelte ihr Stirn und Wangen. Wieder röchelte die Kranke gequält. Leise zog Fenja die Schublade des Nachttisches auf und holte eine Dose hervor. Behutsam salbte Fenja ihrer Mutter Gesicht und Hände ein. Wie Wellen strömten ihr die Düfte der letzten Spätsommerblüten entgegen. Es war ihre einzige gemeinsame Leidenschaft, Blüten zu sammeln und mit Walrat, Bienenwachs und Lanolin im Wasserbad zu erwärmen, zu filtern und in saubere Glasgefäße abzufüllen. Pflegte die eine Salbe, linderte und heilte die andere. Ihre Mutter liebte es, Ingredienzen auszuprobieren, dabei zu singen oder Geschichten aus vergangener Zeit zu erzählen. Wie heiter, wie weiblich sie stets dabei war.

Fenja lauschte auf ihren Atem, der nun ruhig und entspannt war. Sie hob ihre Hände an ihr Gesicht, sog den Duft von Rosen, Reseda und Nelken ein. Sie schloss die Augen und fühlte sich ihrer Mutter so nah wie lange nicht mehr.

Ihre Mutter hatte sie gelehrt, Blütendüfte zu nutzen. Sie liebte die aromatische Süße der Pflanzen ebenso wie den salzig-herben Duft des Windes. Ja, sie liebten das Meer, weil sie im Stillen daran glaubten, dass es ihre Träume forttrug, die der Duft der Blüten in ihnen weckte.

Wer war ihre Mutter wirklich? Und trug sie, Fenja, einen Teil von ihr in sich, der bis heute unerlöst geblieben war?

Es war still. Nur eine Kohlmeise flatterte aufgeregt vor dem Fenster.

Kapitel 2

Das Fieber ihrer Mutter stieg innerhalb weniger Tage an. Elisabeth Wolgardt klagte über Übelkeit, konnte ihren Kopf nur mühsam drehen. Fenja unterdrückte ihren Wunsch, ihr von ihren Sorgen zu erzählen. Schon frühmorgens kochte sie ihr Anistee, fütterte sie zu Mittag mit in Milch getunktem Weißbrot, wusch sie und reinigte ihr Bett, wenn ihre Mutter sich erbrach. Als die Kopfschmerzen stärker wurden, gab Fenja ihr wie schon so oft Laudanum-Tropfen, salbte ihr Gesicht und Hände ein.

Eines späten Nachmittags bat Fenja ihren Vater, ein Huhn zu schlachten. Sie rupfte es, setzte Wasser mit Gemüse auf und ließ alles köcheln. Kurz vor sechs Uhr, sie war gerade mit dem Aufräumen der Küche fertig geworden, stand ihre Freundin Edda vor der Tür. Sie war außer Atem, Kopftuch und Schal waren verrutscht.

»Lass alles stehen und liegen, Fenja, und komm sofort mit. Baldur schickt mich, wir haben uns zufällig getroffen. Der Arzt war gerade bei seiner Mutter. Sie hat Brechdurchfall, muss gewaschen werden ...«

»O nein, nicht jetzt. Mutter braucht meine Hilfe«, wehrte Fenja ab. »Außerdem hat mich Baldur am Neujahrsmorgen geschlagen. Ich gehe nicht mehr zu ihm. Kannst du das nicht für mich übernehmen?«

Sie hörte die Schritte ihres Vaters hinter sich, drehte sich erschrocken um. Er packte sie hart an der Schulter. »Du gehst. Ich werde auf Mutter achten. Außerdem schläft sie erst einmal die nächsten Stunden. Und Hiltrud wird wohl einmal danach gucken können, ob dein Topf überkocht oder nicht.«

»Ja, das könnte sie, aber wenn die Suppe nachher nach Seife schmeckt, weißt du, wer es war.« Hastig zog sie ihren Mantel über.

»Seit Mutter krank ist, widersprichst du ständig. Lass das sein, ich warne dich, Tochter.« Er ging in die Stube hinüber und schlug die Tür hinter sich zu.

»Oje, du Ärmste«, entfuhr es Edda mitfühlend. »Wie hältst du das nur aus? Was macht Hiltrud denn gerade?«

»Sie hat heute Morgen auf dem Dachboden in einer verstaubten Kiste Hausrat unserer Vorfahren gefunden. Jetzt sitzt sie am Feuer und probiert aus, wie sie das Silberbesteck wieder zum Glänzen bringen kann.« Fenja schob Edda ins Freie.

»Sie probiert es aus?« Edda lachte. »Gib zu, du hast ihr dabei geholfen.«

Fenja drückte ihren Arm. »Ja, erst habe ich ihr Schlämmkreide vorgeschlagen, das fand sie ekelig ...«

»Und es gibt Kratzer!«

Sie kicherten.

»Dann habe ich ihr geraten, Salzkartoffeln zu kochen, abzuseihen und das Silber ins heiße Wasser zu legen. Hiltrud wird aber vom süßlichen Geruch weichgekochter Salzkartoffeln übel.«

»Die Ärmste!«

Lachend fuhr Fenja fort. »Nun ja, da blieb dann nur noch das Salz übrig. Ich habe ihr noch zugesehen, wie sie Großmutters ellenlange Seidenhandschuhe überstreifte und ein angelaufenes Fischmesser in die Hand nahm. Als sie damit anfing, das Messer mit Salz und Wasser abzureiben, bin ich schnell weggegangen.«

»Du hast ihr doch wohl nicht etwa verschwiegen, dass sie dazu Zinnfolie braucht?«

Fenja machte ein unschuldiges Gesicht. »Ich muss es wohl vergessen haben.«

»Böses, böses Schwesterchen.« Edda knuffte sie liebevoll. »Na, sie wird sich schon anstrengen, meinst du nicht? Sie will sich doch bestimmt im Silber spiegeln können.«

»Ja, soll sie nur, bis sie Lust bekommt, ihr hässliches Gesicht zu zerkratzen.«

Sie lachten, dann hakte sich Edda bei Fenja unter. »Jetzt sag aber: Warum hat Baldur dich denn geschlagen?«

Während sie in ihrer alten Schneespur dem Korswandter Weg Richtung Lindenstraße folgten, am Bahnhof kurz stehen blieben, weiter über die Bahnhofstraße an der Kirche vorbei Richtung Schulzenstraße marschierten, erzählte Fenja ihr, was sie am letzten Tag des Jahres erlebt hatte. Als sie endlich das Hockssche Haus erreichten und aus seinem Inneren die aufgebrachten Stimmen von Männern hörten, hielten sie atemlos inne.

»Wenn dein Rittmeister jetzt dort bei ihnen wäre ...« Edda spähte durchs Fenster und schüttelte lächelnd den Kopf. »Er ist es nicht. Natürlich nicht. So etwas gibt es nur im Traum.«

»Komm mit, Edda, bitte.«

»Es wird Baldur nicht gefallen.«

»Mir graut aber vor ihm.«

»Mir auch, Fenja.«

Der Wind heulte um das Haus, blies ihnen ins Gesicht.

»Komm!« Fenja stieß die Tür auf und zog Edda kurz entschlossen mit ins Haus.

Auf dem Tisch waren Papiere verstreut, auf die Matthies Hocks sofort seine breiten Hände legte, damit sie vom Luftzug nicht aufflogen. Baldur starrte die beiden Mädchen überrascht an. Er hielt ein Kuvert in den Händen, das er jetzt zusammenfaltete und dabei die Kanten mit den Fingernägeln feststrich. »Mutter liegt in ihrem Kot, und du amüsierst dich mit Edda. Ihr habt lange gebraucht.«

Sein Vater räusperte sich. Da rieb Baldur mit dem Handrücken seine Stirn, als erwache er aus einem Alptraum. Er entfaltete das Kuvert, glättete es zerstreut. »Nein, nein, es ist schon gut, geht nur hinauf.«

Matthies Hocks lehnte sich entspannt zurück, schwieg aber. Da begann Baldur das Kuvert langsam zu zerreißen. Im selben Moment fuhr sein Vater wütend hoch, als stieße jemand von hinten gegen die Stuhllehne. »Bist du von Sinnen?«

Der Stuhl fiel mit lautem Krachen auf den Boden. Ein Luftzug wirbelte die Papierschnipsel auf. Baldur erstarrte, während Fenja sich nach ihnen bückte, um sie aufzuheben. Doch da fuhr er sie mit gepresster Stimme an: »Lass sie liegen, sie gehen dich nichts an.«

Fenja war erleichtert, Edda bei sich zu haben. Sie half ihr, Baldurs Mutter zu waschen und das Bett neu zu beziehen. »Wenn ich dich nicht hätte ...«, begann Fenja, doch Edda wiegelte ab. »Lass nur, ich würde dir ja gerne die Nachtwache abnehmen, aber ich muss morgen früh die Arbeit eines Zimmermädchens übernehmen, das krank geworden ist. Kannst du nicht der alten Grit Bescheid sagen? So erbärmlich, wie du ausschaust, solltest du eigentlich nach Hause gehen und dich ausruhen.«

Fenja schwieg. Baldurs Mutter blickte fiebernd zu ihr auf. »Bleib noch ein wenig, bis ich eingeschlafen bin, Fenja. Sie lassen mich sonst allein, so hilflos sind sie.«

Fenja versprach es ihr.

»Dann bleibe ich auch«, flüsterte Edda. »Wenn Baldur sieht, dass ich gehe, wird er ganz schnell hier oben bei dir sein ... oder dich später abfangen ...«

Sie setzten sich neben das Bett und beobachteten, wie die Kranke einschlief.

»Ich muss dir etwas erzählen«, wisperte Edda. »Zu Silvester hatte ich Dienst. Hör zu. Ich will dir etwas Lustiges erzählen.«

Fenja atmete tief durch und ließ ihren Kopf an die Schulter ihrer Freundin sinken.

»Also«, begann Edda leise, »ich war für eine Herrenrunde abbestellt. Darunter waren Kaufleute und Wissenschaftler aus Berlin, aber auch Offiziere aus den Kolonien. Alle zusammen hatten zunächst mit einer größeren Gesellschaft gefeiert und sich gegen neun Uhr in eine Suite zurückgezogen. Ich musste ihnen erst Kaviar und Wodka servieren, dazu russische Blinis, kaltes Rehfleisch mit Pfeffersauce und Pasteten mit französischem Weißbrot. Um halb zehn trafen vier sehr schöne, sehr verführerische Halbedeldamen ein. Und dann ging es los. Zunächst bestellten die Herren einen ganz speziellen Rum aus der Karibik. Dann zerbrach ihnen eine zuvor verlangte Flasche Burgunder, und ich wurde gerufen, um den ausgelaufenen Wein und die Scherben zu beseitigen. Das dauerte natürlich eine Zeitlang. Sie ließen sich nicht stören und feierten weiter, ohne mich zu beachten. Irgendwann öffnete ein Kolonialbeamter einen Koffer und nahm braune Kugeln mit sperrigen Haaren heraus. Sie waren so groß wie ein Kopf. Er erklärte allen, sie seien essbar und hießen Kokosnüsse. Auf Samoa gäbe es sogar einen verrückten Deutschen, der als Nudist auf einer Insel lebt und sich ausschließlich von Kokosnüssen ernährt. Er aber habe in dieser Nacht zum allgemeinen Vergnügen etwas anderes vor. Er bat die vier Hübschen um je ein Strumpfband und wickelte jedes um eine Kokosnuss. Dann rückte er mit den anderen Herren Sessel und Tisch beiseite und fing an, mit ihnen Boule zu spielen. Ziel waren die bestrumpften Nüsse.«

»Wie kindisch!«

»Das dachte ich anfangs auch. Doch dann bemerkte ich, dass jeder Herr, der mit seiner Kokosnuss eine bestrumpfte Kokosnuss traf, mit der betreffenden Dame im Nebenzimmer verschwand. Nun, du kannst es dir ja vorstellen, die Stimmung wurde immer ausgelassener. Der Sturm aber nahm zu. Schließlich verlangte ein älterer Offizier nach einer telegrafischen Verbindung zu einer Hochseeyacht. Er war aufgeregt, weil sein Sohn in der Ostsee umherkreuzte. Er forderte sogar eine Verbindung zur Wetterstation. Als unser Rezeptionist ihm mitteilte, dass sämtliche Verbindungen gekappt waren, wurde er furchtbar nervös. Er verließ daraufhin die Suite, lief ununterbrochen an der Fensterfront im Speisesaal hin und her. Ständig spähte er in den Orkan hinaus, trank nur noch warmes Wasser. Er tat mir fast schon leid, bis ich ihn schimpfen hörte. Ein anderer Herr hatte ihn angesprochen, und er beklagte sich nun bei ihm darüber, einen Sohn zu haben, den der Krieg in Afrika zu seinen Ungunsten verändert habe. Statt ernsthaft zwölf Monate des Jahres dem Kaiser zu dienen, ziehe sein Sohn es vor, die Launen eines jungen Hohenzollern zu teilen und Silvester auf hoher See zu feiern. Ich habe übrigens heute gehört, dass neben anderen Schiffen auch diese Hohenzollern-Yacht in Seenot geraten sein soll. Vielleicht war ja der Rittmeister, den du ...«

Fenja drückte erregt Eddas Hand und legte ihr die andere auf den Mund.

»Sie schläft doch ...« Edda sah sie im dämmerigen Licht der Milchglaslampe an. Von der Holztreppe her war ein Knarzen wie von schweren Schritten zu hören. Fenja zitterte. Baldur oder sein Vater würde nach ihnen sehen. Sie rückte noch näher an Edda heran.

»Wie hieß er?«, wisperte sie.

Edda schlang ihren Arm um sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Das weiß ich nicht. Kein einziges Mal habe ich gehört, dass ihn jemand mit seinem Namen ansprach. Es tut mir leid. Leider werde ich wohl kaum jemanden direkt fragen können. Wer sagt schon einem einfachen Zimmermädchen die Wahrheit? Aber selbst wenn, was würde es dir nützen?«

Das Knarzen hatte aufgehört, Schritte verharrten vor ihrer Tür.

»Ich kann ihn nicht vergessen«, hauchte Fenja. »Ich ... kann ... nicht.«

Edda wandte ihren Kopf zur Seite. »Er lauscht«, wisperte sie. »Was, wenn er dich gehört hat?«

Sie hielten den Atem an. Da wurde die Tür langsam aufgeschoben. Es war tatsächlich Baldur.

»Ihr unterhaltet euch mit Mutter? Geht es ihr also schon besser?«