Die Insel der Herzkirschen - Katryn Berlinger - E-Book
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Die Insel der Herzkirschen E-Book

Katryn Berlinger

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Beschreibung

Hat sie noch eine Chance, ihre Liebe zu finden? Der bewegende Roman »Die Insel der Herzkirschen« von Katryn Berlinger jetzt als eBook bei dotbooks. Die Hoffnung leuchtet auch an dunklen Tagen … Ihr ganzes Leben lang hat Isabel unter der Kälte ihrer Mutter gelitten – und unter der Angst, dass diese Recht behalten sollte: Darf Isabel nicht von ihrem Glück träumen, weil es den Frauen ihrer Familie vorherbestimmt zu sein scheint, allein zu bleiben? Doch dann passiert etwas, das Isabels Leben auf ungeahnte Weise verändern wird – sie erbt von einer Unbekannten ein Grundstück auf einer schwedischen Insel. Was hat es damit auf sich? Und wird das Geheimnis aus der Vergangenheit ihr dabei helfen, ihren Weg in die Zukunft zu finden? »Dieser Roman geht zu Herzen.« Dresdner Morgenpost am Sonntag Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Familiengeheimnisroman »Die Insel der Herzkirschen« von Katryn Berlinger. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 614

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Über dieses Buch:

Die Hoffnung leuchtet auch an dunklen Tagen … Ihr ganzes Leben lang hat Isabel unter der Kälte ihrer Mutter gelitten – und unter der Angst, dass diese Recht behalten sollte: Darf Isabel nicht von ihrem Glück träumen, weil es den Frauen ihrer Familie vorherbestimmt zu sein scheint, allein zu bleiben? Doch dann passiert etwas, das Isabels Leben auf ungeahnte Weise verändern wird – sie erbt von einer Unbekannten ein Grundstück auf einer schwedischen Insel. Was hat es damit auf sich? Und wird das Geheimnis aus der Vergangenheit ihr dabei helfen, ihren Weg in die Zukunft zu finden?

»Dieser Roman geht zu Herzen.« Dresdner Morgenpost am Sonntag

Über die Autorin:

Katryn Berlinger arbeitete lange Zeit als Direktionsassistentin, entschied sich dann aber für ein Studium der Germanistik und Systematischen Musikwissenschaft. Nach ihrem Abschluss war sie in einem Hamburger Schallplattenunternehmen tätig. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen die Familie ein. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Norddeutschland.

Bei dotbooks sind von Katryn Berlinger bereits die historischen Romane »Die Frauen von Ahlbeck«, »Die Zuckerbäckerin von Riga« und »Die Liebe der Zuckerbäckerin« erschienen; letztere sind im Sammelband »Das Schokoladenmädchen« zusammengefasst.

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eBook-Neuausgabe Juli 2022

Dieses Buch erschien bereits 2013 unter dem Titel »Das Geheimnis der Herzkirschen« im Knaur Taschenbuch.

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Patryk Kosmider, Mikael Broms, Anastasiia Veretennikova, Emilio 100

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-101-1

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Katryn Berlinger

Die Insel der Herzkirschen

Roman

dotbooks.

Und hätte ich

die Stimmen der Welt,

nur die eine,

die der Liebe

nicht,

wäre ich ein Sandkorn

im Spiel der Winde.

***

»Ears can hear deeper than eyes can see.«

D. H. LAWRENCE, Die Saligen

Teil I

Kapitel 1

Nacht im Hafen von Swakopmund,

Kolonie Deutsch-Südwestafrika,

Januar 1904

Er hatte ihr ein Geschenk versprochen. War es vor zehn Minuten, vor hundert Stunden gewesen? Agnes hatte den Klang seiner Stimme noch im Ohr, die ihr bis zu diesem Moment die Gewissheit gegeben hatte, Paul würde zu ihr zurückkehren. Eine Ewigkeit schien das her zu sein. Nervös glitt ihr Blick über Passagiere und Lastenträger, die von der Mole her mit Brandungsbooten am Schiff anlegten.

Paul aber war nicht unter ihnen.

Sie hörte, wie sich einige Männer darüber beschwerten, dass der Kaiser noch immer kein Geld bereitgestellt habe, damit Swakopmund einen richtigen Hafen bekäme. Denn in halb undichten Nussschalen an Bord eines Schiffes geschaukelt zu werden, sei eines deutschen Kolonisten unwürdig. Angestrengt starrte Agnes zur Mole. Das Unbehagen, das der Anblick der starken Brandungswellen in ihr auslöste, war nichts gegen die Angst, die sie um Paul empfand. Er hatte ihr keine Erklärung gegeben, woher dieser Dampfer kam und warum er nur wenige Stunden nach seiner Anlandung wieder in See stechen würde. Nein, keine Erklärung, aber die Versicherung seiner Liebe. Und deshalb hatte er sie schließlich davon überzeugen können, wie wichtig es sei, wenn sie noch heute Nacht die Kolonie verließen.

Wo aber blieb er?

Noch während des Festes hatte er sie an Bord gebracht. Sie waren sich schon länger über eine gemeinsame Abreise einig gewesen, hatten nur auf eine günstige Gelegenheit gehofft. Und jetzt war es so weit. Agnes versuchte, sich an Einzelheiten des Abends zu erinnern, doch in ihrem Inneren klang nur Pauls Stimme. Auf diesem Schiff, hatte er ihr versichert, würde niemand sie vermuten, und sie brauche keine Angst haben, verfolgt zu werden.

Wer aber, fragte sie sich, hätte sie verfolgen wollen? Sie hatte keine Feinde. Arthur, ihr Ehemann, wäre der Einzige, der Grund hätte, sie aufzuhalten. Doch er kannte die Wahrheit nicht. Und das, was er gesehen hatte, hatte ihm Anlass gegeben, Paul sogar dankbar zu sein. Schließlich sorgte Paul sich um ihre Sicherheit und nahm Arthur ein wenig von der Sorge um seine junge Ehefrau. Es war einfach nicht auszudenken, würde sie Opfer der aufständischen Herero werden. Denn Arthur, der mit Geist und Seele dem deutschen Kaiser ergeben war, hätte selbst den von einem Herero aufgewirbelten Staub auf ihren Stiefelspitzen als persönliche Kränkung empfunden.

Das war der eine Teil der Wahrheit. Vom anderen wusste Arthur nichts. Er ahnte nicht einmal, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte.

Agnes’ Herz krampfte sich zusammen, als sie sich dem Moment stellte, in dem sie mit Paul die gemeinsame Kabine betreten hatte. Ihm war eingefallen, dass er noch seinen Geschäftskoffer aus dem Hotel holen müsse. Wie selbstverständlich hatte er dem Kapitän ein Bündel Geldscheine in die Hand gedrückt, mit der eindringlichen Anweisung, erst abzulegen, wenn er wieder zurück sei.

Und schon in diesem Augenblick hatte sie die aufkeimende Angst, dass irgendetwas schieflaufen könne, verdrängt.

Sie erinnerte sich, dass der Kapitän, ein fettleibiger, x-beiniger Mann mit dröhnendem Bass, widerwillig zugestimmt hatte. Immer noch trieb er, Befehle bellend, die Mannschaften an, die erst schwere Gewehr- und Munitionskisten entladen hatten und nun leere Bier- und Weinfässer, riesige Schafwollgebinde und Tonnen voller afrikanischer Kunstgegenstände von den Brandungsbooten hinauf an Deck und hinab in den Bauch dieses Dampfers schleppten.

Von Minute zu Minute flößte ihr diese Karikatur eines Kapitäns mehr Furcht ein. Er hatte versprochen, auf Pauls Rückkehr zu warten. Noch konnte sie sich einreden, Pauls Geld besäße genügend Macht, dass alles gutgehen würde.

Warum aber kam er nicht endlich zurück? Was, um Himmels willen, war geschehen? Wer konnte es wagen, ihn aufzuhalten? Ihn, der das Meer so liebte wie die Steppe, die seine Heimat war. Der die wichtigsten Hafenstädte der Welt ebenso gut kannte wie die Eitelkeiten ihrer Regierenden.

Er war erst vor kurzem aus New York zurückgekehrt – und hatte die kaisertreu und national gesinnten Kolonialbeamten schockiert, weil er drei dunkelhäutige Männer mit seltsamen Instrumenten mitgebracht hatte. Nur, weil ihre Musik ihn so fasziniert hatte. Noch immer erschien es Agnes traumhaft, dass diese fremden Klänge ihr ganzes Sein von einem Atemzug auf den nächsten verändert hatten. Das eigentliche Wunder war jedoch, dass ausgerechnet dieser weltgewandte Mann, Paul Henrik Söder, sich in sie, die Ehefrau eines einfachen Schutztruppen-Feldwebels, verliebt hatte.

Ja, Paul hatte ihr ein Geschenk versprochen.

Agnes lauschte in sich hinein.

Ein Geschenk, das sie, wie er ihr versichert hatte, immer aneinander erinnern, für ewig miteinander verbinden würde. Noch über den Tod hinaus.

Und sie glaubte ihm.

Ein kühler Wind von Nordost blies feinen Wüstensand über die Reling. Er legte sich auf Agnes’ Gesicht, erinnerte sie an die Schönheit einer rauhen Landschaft, an unendliche Weiten, an Farmen, zu denen einsame Köcherbäume den Weg markierten. Gegen ihre Tränen anblinzelnd, hob sie den Kopf und schaute einem niedrig fliegenden Schwarm Kapscharben nach, zuckte zusammen, als in der Nähe laut ein Brillenpinguin rief.

Nachtschwärze umhüllte die Hafenstadt, hatte längst den Ausblick auf die flache Küste mit ihren endlos langen Dünenketten und die Gebirgsschemen des Landesinneren verschluckt. Selbst die imposanten Gebäude des Kaiserlichen Bezirksgerichts und der Woermann-Schifffahrtslinie waren kaum noch zu erkennen. Nur der Leuchtturm unweit der Mole verbreitete ein hoffnungsvolles Licht.

Die Luft roch nach Meer, gegerbten Häuten, feuchtem Holz und einer eigenartigen kühlen Süße von Baumharz und kaltem Sand. Klar glitzerten die Sterne durch die Schwärze der Nacht. Unter ihr ertönte ein Rumpeln aus dem Bauch des Schiffes, als sei eine schwere Tonne umgefallen und hätte drei kleinere Tonnen mit sich gerissen. Die dumpfen Schläge erweckten wieder den Klang dieser leidenschaftlichen, rhythmischen Musik, die bereits in ihr ruhte wie ein zweites Herz, das nur darauf wartete, schlagen zu dürfen.

Rumba. Rumba hieß der Tanz, den Paul sie gelehrt hatte. Schritte, aufreizend langsam, dann wieder schnell, wiegender Hüftschwung, ohne Innehalten. Ein erotisches Spiel zwischen Mann und Frau, das sie nicht kannte, nie vom Leben erwartet hätte.

Und doch war es geschehen.

Agnes lehnte sich gegen die Bordwand, suchte nach dem Halt, der sie noch vor wenigen Stunden so glücklich gemacht hatte. Sie schloss die Augen, um noch einmal Pauls werbende Bewegungen zu spüren. Sanft hatte er sie geführt, ihr bedeutet, wie sie sich um ihn, von ihm fortdrehen solle. »Dime que no«, hatte er ihr zugeflüstert. »Sag mir ›nein‹.« Er war es, der sie erobern, sie umwerben wollte. Dabei hatten seine Augen geblitzt, und sie hatte das Gefühl gehabt, aus feuriger Seide zu bestehen, die Paul voller Begehren in ihren Bann zog.

Sie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Doch Paul hatte es verstanden, seine Sehnsucht geschickt zu verbergen. Am ersten Abend hatte er, der Etikette gehorchend, zunächst der Rangfolge nach die anwesenden Kolonialbeamten um die Erlaubnis eines Tanzes mit ihren Ehefrauen gebeten. Nachdem aber eine nach der anderen, teils aus Unvermögen, teils aus Schüchternheit, dankend abgelehnt hatte, war Paul schließlich mit einem eleganten Scherz auf Arthur zugetreten. Sie hatte ihrem Mann angesehen, wie er mit sich gekämpft hatte, weil er sich der ungewöhnlichen Beachtung durch einen weltgewandten Herrn durchaus bewusst war, sich aber schon im Voraus für das Unvermögen seiner jungen, unerfahrenen Ehefrau glaubte schämen zu müssen.

Wie schon so oft hatte Arthur sich in ihr getäuscht. Sie hatte es besser gewusst und ihm ihre Zuversicht mit einem bedeutungsvollen Blick zu verstehen gegeben. Da hatte Arthur sich, hochrot im Gesicht, von seinem Stuhl erhoben, vor Paul verbeugt und ihm für die außergewöhnliche Ehre gedankt.

Noch im gleichen Moment hatte sie Pauls dargebotenen Arm ergriffen – und Arthur vergessen. Schon bei der ersten Berührung wusste sie, dass sie und Paul füreinander geschaffen waren und sie diesen Tanz schnell lernen würde. Schneller, als jeder der erwartungsvollen Zuschauer es erwartet hätte, bewegten sich ihre Körper harmonisch im Takt der Musik. Trotzdem verstanden beide sich sofort darauf, nach außen hin Distanz zu wahren, um vor der Welt ihr stummes und doch so wortreiches Liebesgeflüster zu verbergen.

Wie mühelos hatten sie einander umtänzelt. Ihre Körper lockten und verzögerten die lustvolle Spannung, mal spielerisch streng, mal glutvoll gelassen.

Noch einmal glaubte Agnes, das Applaudieren der Gäste zu hören, erinnerte sich, dass Hauptmann Höchst, Arthurs Vorgesetzter, befremdet und zigaretterauchend auf die Terrasse hinausgetreten war.

Dem ersten Auftritt der fremden Musiker waren hitzige Gespräche über die Moral und Schändlichkeit dieser aufreizenden Klänge gefolgt. Agnes entsann sich, wie einer der Kolonialbeamten von primitiven »Urwaldtrommeln« sprach, die Sittlichkeit und Anstand einer christlichen Gesellschaft verletzen würden. Paul war daraufhin ans Klavier getreten, hatte, ungerührt von der Kritik, ein bekanntes Salonstück gespielt und nebenbei das Gespräch geschickt auf sein eigentliches Anliegen gelenkt. Überzeugend hatte er die günstigen Voraussetzungen der deutschen Farmer für sein Projekt hervorgehoben, zukünftige Profite in die rauchgeschwängerte Luft gemalt. Man brauche nur zuzugreifen. Agnes hörte noch deutlich die begeisterten Hochrufe des Farmers Martin Grevenstein auf den Kaiser, der als Erster Pauls Idee in die Tat umsetzen wollte und dem die »Negermusik« genauso gefiel wie Paul.

Und das war ihr beider Glück – und gleichzeitig Geheimnis, das sie vor Arthur hatten verbergen können.

In den Tagen danach hatte sie eine Nachricht erhalten, dass Martin Grevenstein ihr, Paul, den Musikern und einigen verschwiegenen Tanzbegeisterten eine leerstehende Scheune anbieten könnte, wo sie heimlich Rumba tanzen konnten. Offiziell hatte Grevenstein erklärt, nach der Augenoperation seiner Frau sei eine vernünftige Haushaltsführung ohne Agnes nicht mehr möglich. Natürlich war auch das nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte sie wirklich im Grevensteinschen Haushalt mit angepackt, anschließend aber war sie zur Scheune hinübergeeilt, wo die anderen bereits tanzten.

Wie sehr hatte sie diese Stunden genossen.

Wie oft hatte sie sich klopfenden Herzens von Paul fortgedreht, um sich von ihm lodernd vor Sehnsucht zurückziehen zu lassen. »Du wirst mir nie einen Korb geben, Agnes, nicht?« Er hatte ihr im flackernden Licht der Lampions tief in die Augen gesehen. Seine Fingerkuppen setzten magische Punkte auf ihren Rücken, tänzelten, zogen sie an seinen Körper.

»Que sera, wer weiß«, hatte sie leise erwidert und wie beiläufig mit ihrem Mittelfinger sein Handgelenk gestreift. Lächelnd hatte er sie daraufhin um sich herumgelenkt. Sie tanzten im schwingenden Takt heißer, nach Weihrauch duftender Luftwirbel. Es war ein Ineinanderfließen intimster Gefühle. Kein Kampf, sondern unermüdliches Bejahen gegenseitigen Begehrens.

Das Gebrüll des Kapitäns riss Agnes aus ihren Gedanken. Neue Passagiere drängten auf das Schiff, heimreisende Kaufleute, Händler, zahlreiche deutsche Siedler mit ihren aufgeregten Kindern, Missionsschwestern in grauem Habit.

Gelangweilt machten sich die Schiffsjungen daran, die Strickleitern zu halten und nach den ausgestreckten Händen zu fassen. Schon wurde die erste Leiter eingeholt.

Wenig später bot sich die letzte Möglichkeit, in eines der Brandungsboote zu steigen, an Land zu gehen und nach Paul zu suchen. Hatte sie nicht schon viel zu lang hier gestanden und in Erinnerungen geschwelgt?

Und wenn Paul im allerletzten Augenblick auf das Schiff zuschwimmen würde? Agnes beugte sich über die Reling, bildete sich ein, kraftvolle Schwimmstöße, seinen Atem zu hören. Doch unter ihr schlug das Wasser nur kalt und gleichgültig gegen die Bordwand.

Der Kapitän schloss eine Luke, ohrfeigte einen Schiffsjungen und lief fluchend die Reling entlang, wobei er mit einem Stock gegen die Bordwand schlug. Hastig zerrten die Schiffsjungen unter hartem Scheppern die letzten Leitern an Deck, während im Schiffsinneren die Dampfturbinen anliefen und die Planken vibrieren ließen.

Eine nie gekannte Verzweiflung breitete sich in Agnes aus. Ihr war, als glitte sie auf fremden Füßen davon, fort von einer vertrauten Vergangenheit und zugleich fort von ihrer einzigen Hoffnung auf Glück.

Eine Träne nach der anderen lief ihr übers Gesicht. Ohnmächtig starrte sie in die Schwärze der Nacht, die den flachen Küstenstreifen unerbittlich einsog. Und wenn sie dies alles nur träumte? Vielleicht erlebte sie gerade ein Märchen? Ein Märchen, in dem die unglückliche Frau eines kaiserlichen Soldaten einen Prinzen trifft, der sie wach küsst und mit all ihren Sehnsüchten wieder allein lässt.

Doch anders als im Märchenbuch wollte dieses Märchen kein gutes Ende nehmen. Agnes stieß einen dumpfen Laut aus, umklammerte mit der einen Hand die Reling, ballte die andere zur Faust und presste sie auf ihre Lippen.

Der Schmerz, die große Liebe ihres Lebens gefunden und wieder verloren zu haben, raubte ihr fast den Verstand. Für kurze Momente tröstete sie sich mit der Vorstellung, gutmeinende Mächte hätten Paul wieder an den Platz seines Lebens zurückbeordert. Doch schließlich redete sie sich ein, dass sie gesündigt hatte. Dann war dies jetzt die Stunde, in der sie akzeptieren musste, von einem gerechten, aber grausamen Gott bestraft zu werden. Je weiter das Schiff sie in die dunkle Unendlichkeit des Atlantiks hinausführte, desto mehr glaubte sie, an diesem Schuldgefühl ersticken zu müssen. Und auch, wenn sie sich nicht eigentlich verantwortlich fühlte: Bald kam sie sich so tot und abgestorben vor wie die Viehhäute und Felle, Hörner und Straußenfedern, die der Bauch dieses Dampfschiffes vor Stunden noch verschlungen hatte.

Es war ihr Lebenstraum gewesen. Der Traum, zu tanzen und zu lieben.

In einem Anflug trotzigen Mutes beschloss sie, Arthur eines Tages die Wahrheit zu erzählen. Sie würde ihn bitten, ihr ihre Lüge zu verzeihen und ihr zu glauben, dass sie ihn nicht mit Paul betrogen hatte. Schließlich schuldete sie Arthur zu viel, mehr noch, sie musste einsehen, einer solch großen Liebe wie der zu Paul gar nicht würdig zu sein. So war es das Beste, heimzukehren und das alte Leben wieder aufzunehmen. Bestimmt würde Arthur zu Weihnachten seinen ersten Heimaturlaub erhalten. Und wenn sie erst ein Kind hätten ...

Ein eigenartiges Erschauern durchfuhr sie, und sie fragte sich erschrocken, woher es kam. Irgendwo an Deck schlug eine Bordtür auf und entließ langgezogene Akkorde eines Schifferklaviers. Eine brüchige Männerstimme hob zu einer melancholischen Melodie an, brach sie ab und führte sie auf höherer Tonlage weiter.

Nein, sie würde ihn nie vergessen können.

Aber was blieb ihr? Auch, wenn sie ihn niemals wiedersehen dürfte, wuchs in ihr der Wunsch, zu erfahren, welcher Art Pauls Geschenk gewesen wäre, das sie beide über den Tod hinaus miteinander verbunden hätte.

Sie kehrte zu ihrer Kabine zurück. Ein Streifen fahlen Mondlichts durchschnitt die stickige, von Scheuerwasser und Schweiß getränkte Luft. Agnes starrte auf die Koje, tastete taumelnd nach einem Halt. Wie ein durchsichtiges Feenband bedeckte ein kleiner Lichtstreifen Pauls Koffer. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Kapitel 2

Schweden, auf der Insel Visingsö,

am Ufer des Vätternsees,

August 1978

Den ganzen Juli über war es trocken gewesen, Mitte August aber änderte sich das Wetter über Nacht. Es wurde schwül, dann setzte tagelanger Regen ein. Als er nachgelassen hatte, schwirrten Tausende von Mücken zwischen den Beeten und Hecken des Gartens, der sich bis an das Ufer des Sees erstreckte. Trotz ihres hohen Alters hörte Linnea das geisterhafte Sirren deutlich, ihre welke Haut jedoch spürte die Stiche kaum noch. Heute allerdings schienen die Schwärme sogar den Ausblick auf den geliebten See zu trüben. Trotzdem wusste Linnea, dass er glatt, wie ermattet, vor ihr ruhte ... wie erkaltetes Glas. Sie musste nicht mehr alles sehen, und das war für eine alte Frau wie sie Trost genug. So würde sie auch niemanden darüber täuschen können, dass dies ihr letzter Sommer war. Schon jetzt war sie müde und fast zu schwach, das Telegramm unter ihren zittrigen Händen zu glätten.

Dessen einzige Zeile aber sah sie deutlich vor sich: Das Kind ist da. Ein Mädchen.

Ein Mädchen, murmelte sie vor sich hin. Ob es wohl eines Tages ... ihr gleichen würde?

Linnea bildete sich ein, ein Mädchen in blütenweißem Kleid im flachen Wasser zu sehen. An seinen Ohren baumelten Pärchen reifer, blutroter Herzkirschen. Es winkte ihr zu, raffte sein Kleid und lief jauchzend an ihr vorbei. Zurück in den Obsthain.

Aber warum, fragte sie sich, war dieses Kind erst jetzt, kurz vor ihrem Tod, geboren worden? Warum nicht vor zwanzig Jahren? Einen kurzen Moment lang flammte Ärger in ihr auf. Aber natürlich war dies unsinnig. Gott hatte es eben so gewollt, und er würde auch diesem Kind seine Lebensaufgabe nicht ersparen. Was für sie zählte, war, dass das Mädchen überhaupt auf die Welt gekommen war.

Ein Entenpaar landete platschend am Ufer. Linnea beugte sich ein wenig vor, sank wieder zurück und stieß einen langen Seufzer aus. Wie gerne hätte sie jetzt mit der Mutter gesprochen. Und wäre es möglich gewesen, hätte sie alle, Verstorbene wie noch Lebende, um sich versammelt, um die Geburt dieses Kindes zu feiern.

Linnea seufzte wieder. Welche Kapriolen das Leben doch schlug. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie unter der Ohnmacht ihres hohen Alters litt. Selbst wenn sie in zehn Jahren ihren hundertsten Geburtstag erleben würde, wäre das Kind noch zu jung, um diese große Geschichte zu verstehen. Dabei hatte das Leben gerade sie Geduld gelehrt, Geduld, aber auch Nachsicht.

Gesichter glitten vor ihrem inneren Auge vorüber. Gesichter, die sie einmal vor langer Zeit geliebt hatte. Lebensfäden tauchten auf, gingen verloren, rissen ab. Sie hatte sie nicht zu dem Muster verweben können, das ihr gefallen hatte. Und wenn sie ehrlich war, war alles nur bei einer Papierzeichnung geblieben, und selbst diese war mit der Zeit verblasst.

Nur die Geburt des Kindes erinnerte sie wieder daran, dass Leben Hoffnung bedeuten konnte. Ob wohl wenigstens dieses Kind eines Tages als Frau glücklich werden würde?

Eine eigenartige Unruhe ergriff von ihr Besitz. Noch immer tanzten am Seeufer im Dunst die Mücken. Ihr Sirren war wie eine monotone Musik, die zu den blassen Bildern der Vergangenheit spielte. Mal näher, mal ferner klangen die Stimmen längst Verstorbener, glichen dem wechselhaften Gemurmel eines Gebirgsbaches. Linnea atmete flacher, hoffte, irgendein Wort zu verstehen, einen Satz. Vergeblich. Erst nach einer Weile stellte sie fest, dass das Einzige, was sie hörte, ihre eigene Stimme war: die Stimme ihrer Schuld.

An diesem See hatte sie einmal einem Menschen das Versprechen gegeben, ein Geheimnis zu hüten. Und hier hatte sie denselben Menschen betrogen.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Plötzlich verspürte sie eine seltsame Angst. Vage ahnte sie, dass sie etwas mit der Geburt des Kindes zu tun hatte. Und je stärker diese Angst sie quälte wie ein falscher Akkord, desto deutlicher verspürte sie den Wunsch, etwas gegen sie zu tun. Am besten noch heute, dachte sie. Denn die Stunden waren gezählt, in denen ihr Verstand noch ungetrübt war. Linnea hüstelte und zog ihr kupferfarbenes Wolltuch über ihren Schoß. Dann blinzelte sie einem flatterigen Schemen nach, dessen chräik-Schreie sie daran erinnerten, dass der September nahte und die ersten Graureiher gen Süden zogen.

Gleich nachher würde sie telefonieren. Die Zeit war gekommen, dass sie endlich ihr Schweigen brach. Buchstäblich im letzten Moment würde sie den Schutt von Fehlern und Versagen beiseiteräumen. Noch war Zeit, ihrer Freundin endlich Abbitte zu leisten, um deren Erbe zu retten.

Linnea atmete auf, strich über das Telegramm. Ihr war schwindelig, gleichzeitig aber war sie erleichtert, dass sie endlich wusste, was sie zu tun hatte. Etwas blitzte vor ihrem Auge auf, gleichzeitig verspürte sie einen Stich im Kopf. Wollten die Mücken sie vertreiben? Als griffe sie ein Schwarm Glühwürmchen an, schreckte sie vor den vielen hellen Punkten zurück, die auf einmal vor ihr flirrten. Panik stieg in ihr auf, plötzlich wurde ihr eng um die Brust. Vielleicht ist es besser, dachte sie beunruhigt, wenn ich meinen Plan notiere ...

Sie fingerte hastig einen Bleistiftstummel aus der Seitentasche ihres Kleides und stellte sich vor, was sie Agnes unbedingt sagen wollte.

Ich hole das Kind. Bringe es hierher. Sorge dich nicht. Sie wird ...

Die Bleistiftspitze brach ab, dennoch vollendete Linnea den Satz, ohne zu merken, dass sie die letzten Worte nur ins Papier drückte.

Motorengeräusch schreckte sie auf. Ein weißes Boot schoss über den See, ließ Wellen ans Ufer schwappen. Dumpfe Taktschläge drangen an ihre Ohren.

Dieser Lärm, dachte sie halb benommen und wischte zittrig eine Haarsträhne von der Lippe. Hirnbetäubend. Der Rhythmus. Alles.

Sie versuchte, die Musik fortzuwischen, blinzelte, erinnerte sich daran, was sie jetzt unbedingt erledigen wollte. Ja, gleich würde sie Agnes anrufen. Auch, wenn es schon spät war. Gleich ... wenn ihr Herz sich beruhigt hatte. Sie würde noch eine Weile sitzen bleiben und atmen. Einfach nur atmen.

War Nebel aufgezogen? Alles schien plötzlich so hell.

Sie musste die Augen schließen, dachte an das kleine Mädchen. Und wie von allein fügten sich ihre Finger zum Gebet zusammen.

Kapitel 3

Ostsee, Lübecker Bucht,

ein Landhaus, Valentinstag,

Februar 2012

»Und nun, wer fängt auf? Gleich fliegt er, mein Brautstrauß!«

Simone, Isabels beste Freundin, stellte sich in Positur. Isabel schaute sie erwartungsvoll an. Doch das Gedränge um sie herum war so groß, dass eine Kübelpalme umstürzte und ein Mädchen mitriss, das offenbar noch immer Amy Winehouse verehrte. Vergeblich versuchte sie, ihr zum Bienenkorb hochgestecktes Haar zu schützen, doch ihre Frisur wurde von den peitschenden Palmblättern gründlich zerzaust. Ohrenbetäubendes Gelächter ertönte. Auch Isabel musste lachen. Dabei schob sich fast wie von allein der Rollstuhl mit ihrer Mutter Constanze vor und stieß mit der Fußstütze gegen die runden Waden von Mo, Isabels Lieblingsfeindin. Seit dem Abitur vor sechzehn Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Daher war Isabel überrascht gewesen, wie rundlich Mo geworden war. Bestimmt zwanzig Kilo mehr. Dabei hatte Mo einmal Stewardess werden wollen ... Bestimmt hatte sie damals ihr Ziel erreicht, aber es war schwer vorstellbar, wie Mo heute, in enger Uniform und mit Hüftspeck, in einem überfüllten Flugzeug Getränke austeilte. Isabel hörte ihre Mutter hüsteln, und sie stellte sich vor, wie fantastisch es wäre, wenn Mo sich umdrehte und in Constanzes hasserfüllte Augen blickte ...

Sie beugte sich vor, um zu sehen, wie Mo reagierte. Doch Mo tat, als hätte sie plötzlich Engel entdeckt, die um das Brautpaar flatterten. Isabel seufzte. Mo drehte sich nicht um, sondern zuckte mit den nackten Schultern, als wäre Staub von der Decke gerieselt. Mo behielt also die Nerven. Typisch, das war ihr auch damals gelungen, als sie zwei Jahre vor dem Abitur Isabels Vater verführt hatte. Constanze, geistig noch immer fit, hatte sie natürlich vorhin wiedererkannt und »Biest« vor sich hin gemurmelt. Zu gerne hätte Isabel gehört, was sich diese beiden Frauen, die ihr so sympathisch waren wie Nacktkatzen, sonst noch zu sagen hätten. Vielleicht würde es ja nachher eine Gelegenheit zu giftigen Bemerkungen geben. Dann nämlich, wenn sie, Isabel, Simones Brautstrauß auffangen würde.

Natürlich würden diese beiden ihr den Strauß nicht gönnen. Das war klar.

Sie winkte Simone zu, in der Hoffnung, ihre Freundin drehte sich in diesem Durcheinander so, dass sie, Isabel, den Brautstrauß auch bestimmt auffangen würde. Zu ihrem Ärger aber nutzte Simone in diesem Moment den Zwischenfall mit der umgestürzten Kübelpalme, um Falk, ihren Liebsten, leidenschaftlich zu küssen. Und auch wenn Isabel Simone ihr Glück gönnte, musste sie neidisch zur Seite gucken. Simone war innerhalb von zwei Jahren bereits die dritte Freundin, die es geschafft hatte, ihre große Liebe zum Traualtar zu führen. Nur sie, Isabel, war noch dabei, ihre Single-Tage zu zählen. Heute allerdings, da war sie sich sicher, würde Simone ihre Glücksfee sein. Außerdem war heute Valentinstag, und eine Hochzeit an diesem Tag musste auch ihr, Isabel, endlich einmal einen Wunsch erfüllen ...

Sie seufzte, stellte sich auf die Zehenspitzen. Für einen Moment stützte sie sich auf den Griffen des Rollstuhls ihrer Mutter ab, um zwischen den Brautjungfern und deren fotografierenden Eltern Blickkontakt mit Simone aufzunehmen. Sie musste diesen Strauß bekommen. Unbedingt. Und Simone schien jetzt auch endlich dafür sorgen zu wollen, denn sie lächelte ihr verschwörerisch zu.

Was sollte da noch schiefgehen?

»Bitte sei so gut, Schatz, und nimm mir mal kurz Mama ab, ja?« Isabel zog ihren Freund Henning näher zu sich, der wieder einmal rauchte und so unbeteiligt tat, als besuche er eine Marionettenausstellung und keine Hochzeit.

Henning versuchte sich an einem Rauchkringel, hielt dann die Zigarette mit der Glut nach oben. »Muss das sein?«

»Das fragst du auch noch? Komm, jetzt tu nicht so. Ich weiß, dass Blumen nicht dein Ding sind, aber Simone wirft jetzt gleich den Brautstrauß. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du möchtest, dass ich das verpasse.«

»Verpassen sollst du es ja gar nicht.«

»Männer!« Sie schüttelte ihren Kopf, darauf bedacht, dass ihr Haar Hennings glühender Zigarette nicht zu nah kam. »Nein, ich meine natürlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass du möchtest, dass ich den Strauß ...«

»Okay, probier’s. Attenzione, sie hebt den Arm.« Henning wechselte die Zigarette in die linke Hand und sah ihr direkt ins Gesicht.

»Du tust, als sei es dir egal, ob ich ihn auffange!« Verärgert riss Isabel Henning die Zigarette aus der Hand und warf sie in hohem Bogen in den nächstbesten Eiskübel.

»Aberglaube tut nicht gut. Höchstens an der Börse. Aber mach nur, doch wenn’s dir nicht bekommt, will ich nicht schuld sein.«

»Mistkerl!«

»Tsss.« Er blies den Rauch zu einem weiteren Kringel über die Köpfe hinweg, grinste zufrieden und streckte lässig seinen Fuß nach dem Rollstuhl aus, um Isabels Mutter Constanze näher zu sich heranzuziehen. Isabel hätte ihn am liebsten geschüttelt, stattdessen spürte sie, wie sich ihr Hals verkrampfte, als sie sah, wie begeistert Simone jetzt ihren Strauß schwenkte.

»Mädels, Jungs, Verliebte und die es werden wollen: Achtung, Flug!«

Sieben unterwegs, fuhr es Isabel durch den Kopf ... Rosen und Jasmin, rot und weiß, Sünde und Unschuld ...

Sie streckte die Arme aus. Wie gut Simone werfen konnte! Genau ihre Richtung! Strahlend sprang sie hoch, doch im selben Moment schnellte Henning vor, als wollte er per Kopfball einen Freistoß verwandeln.

»Bist du verrückt?« Der Strauß entglitt ihren Händen und landete auf Mos Schulter, die ihn kreischend an sich presste. Mo! Isabel hätte ihr am liebsten jeden Rosendorn einzeln über die Arme gezogen.

Sie drehte sich zu Henning herum. »Sag, dass du komplett bescheuert bist. Dass du betrunken bist oder bankrott. Sag es!«

Sie war so wütend, dass der Absatz ihres linken Pumps drei Zentimeter im Rattanteppich versank. Immerhin hatte sie eine einzige Blüte packen können, aber es war keine Rose, sondern nur eine Jasminblüte.

»Ich hab es dir immer gesagt. Er findet immer eine andere. Du aber wirst keinen Besseren bekommen.«

Der Kommentar ihrer Mutter, der Mo den Hut vom Kopf gefegt hatte. Henning hob ihn auf und reichte ihn Isabel, die ihn mechanisch ihrer Mutter gab.

»Sorry, aber ich hatte gedacht, du hättest mich endlich verstanden.«

Noch so ein Satz. Diesmal aber von Henning, der wieder nicht sie ansah, sondern ihre Mutter, deren Greisinnenfinger ungeduldig um den Hut zappelten.

Isabel verspürte das Verlangen, ihr den Hut zu entreißen und über die Reifen ihres Rollstuhls zu zerren. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als schwanke der Boden.

»Verstehst du endlich, Isabel?« Henning sah sie an, als müsse sie ihm auch noch dankbar dafür sein, wenn er ihr ihre Dummheit nachsähe.

»Ja, ja, verstehst du endlich.«

Sie konnte Henning nur nachäffen, während sie ihrer Mutter den Hut aufsetzte. Wenn sie doch bloß für immer schweigen würde, schoss es ihr durch den Kopf. Und diesmal blieb das Schuldgefühl aus, das sie sonst bei derartigen Gedanken hatte.

»Isabel!«

»Ja, Henning.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie Simone an ihrem Schleier nestelte und sie stirnrunzelnd beobachtete. »Du ... hast damit angedeutet, dass Schluss ist, stimmt’s? Ausgerechnet heute, am Hochzeitstag meiner besten Freundin. Ein guter Zeitpunkt, Henning, perfekt getimt. Mein Respekt. Das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut.«

Henning schaute unbeteiligt über die Schar der Hochzeitsgäste hinweg. Er nestelte nach seinem Zigarettenetui, hielt inne und hob die Stimme, ohne Isabel anzusehen: »Ich frage mich, warum ihr Frauen immer behauptet, sensibel zu sein, wenn ihr nicht einmal die kleinsten Andeutungen von uns Männern begreift. Wenn ich nicht zurückrufe, heißt das nein. Wenn ich keine Lust habe, dich mit Ayurveda-Ölen einzuschmieren, heißt das nein. Wenn ich weder Salsa noch Tango noch sonst was mit dir tanzen will, heißt das nein. Wenn mir deine Fältchenkrisen egal sind, heißt das, verdammt noch mal, nein! Nein, da ist nichts mehr in mir, was dich braucht. Wie deutlich wollt ihr Frauen das noch haben? Liebe, verdammt, kann man nicht erzwingen.«

Den letzten Satz hatte er so laut gesprochen, dass die Mehrheit der Hochzeitsgäste sich zu ihnen umdrehte. Es wurde still, und als auf der beheizten Terrasse der Kellner den Korken einer Flasche Champagner knallen ließ, zuckte nicht nur Isabel zusammen.

»Henning hat recht. Und ich sag es nur ungern. Du musst und wirst es akzeptieren. In unserer Familie gibt es die große Liebe nicht. Das ist auch dein Schicksal.«

Die Stimme ihrer Mutter ließ Isabel frösteln. »Nein«, erwiderte sie, »es ist mein Fluch.« Sie hörte sich wie aus weiter Ferne sprechen, als hätte ihr eine fremde Seele das Wort auf die Lippen gelegt. Mit den Tränen kämpfend, schaute sie Henning nach, der sich beim Brautpaar entschuldigte und zur Garderobe eilte.

Endlich kam Simone auf sie zu und nahm sie in die Arme. »Unsinn, Isabel, was für ein Fluch denn? Du hast den Strauß zuerst berührt, nur das zählt. Vergiss das nie. Und ob Mo wirklich etwas von Hennings Manöver hat, sollte sie sich gut überlegen. Ich wäre mit so einem Ausgang nicht glücklich.«

»Klar, das wäre ja auch noch schöner.« Isabel tupfte sich die Tränen von den Wangen und löste sich von ihr. »Erst hat sie meinen Vater scharfgemacht ... und jetzt soll sie mit ihrem nächsten Lover zum Traualtar? Tut mir leid, aber das wäre wohl wirklich ungerecht, oder?«

Simone nickte. »Ja, Isy, natürlich. Komm, ich hol dir ein Glas Champagner. Das muss jetzt sein. Überhaupt: Wir sollten es mit den Symbolen und Bräuchen auch nicht übertreiben.« Sie hob den Saum ihres Kleides und zwängte sich durch die dichte Menge zur Bar.

Isabel versuchte zu lächeln. Mo, die ihren Blick suchte, breitete zu ihrer Überraschung die Arme aus, als wolle sie sagen: Wie gewonnen, so zerronnen. Nimm’s nicht so ernst, ist ja eh alles nur Einbildung. Isabel nickte ihr kurz zu, bemüht, sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Aber wenigstens triumphierte Mo nicht. Nachdem ihr Vater die Affäre mit ihr beendet hatte, war Mo lange Zeit allein geblieben. Und offensichtlich hatte sie in diesen Jahren andere moralische Maßstäbe für sich entdeckt.

Isabel schob den Rollstuhl mit ihrer Mutter in einem weiten Bogen auf die Terrasse. Die Bewegung linderte den nagenden Schmerz, den Hennings Demütigung ihr zugefügt hatte. Vor einer Woche noch hatte er sich vor ihr als Abteilungsleiter aufgespielt und ihr und zwei anderen Kollegen betriebsbedingt gekündigt: Das Hypothekengeschäft mit Privatkunden würde eingestellt. Die Nord-Hyp habe leere Kassen, alles käme jetzt auf den Prüfstand. Angeblich wisse er selbst nicht, ob er in einem halben Jahr noch dabei sei. Dabei verfügte Hennings Vater als erfolgreicher Anlageberater über beste Kontakte zu Bankern. Henning jedenfalls musste sich um die Finanzierung seines Lofts in der Hamburger Speicherstadt keine Sorgen machen. Derartige Nöte würde er nie haben. »Und heute nutzt dieser Mistkerl diese Bühne, um allen zu beweisen, dass er im Privatleben auch der Chef ist.«

»Was hast du gesagt? Sprich doch lauter.«

»Mama, das war für mich. Sei jetzt bitte still.« Vor Ärger stieß sie mit ihrem Bauch ein wenig härter gegen die Krempe des Hutes. Constanze tat, als hätte sie einen Hustenanfall. »Du wirst sie nie ... nie finden ... keine Liebe. Nie. Ich ... nicht.«

»Es reicht, Mutter«, erwiderte Isabel und berührte deren magere Schultern. »Ich habe es nicht vergessen.«

Vor gut einem Jahr aber hatte sie an die große Liebe geglaubt. Wie sehr hatte sie Henning für seine virile Selbstsicherheit bewundert. Darum, wie geschickt er tagsüber bei der Arbeit sein Verlangen verborgen, raffiniert mit Blicken und kleinen Gesten gespielt hatte, sobald sie allein waren. Seine Lust auf sie hatte Isabel lange Zeit mit Stolz und Vorfreude auf immer neue amouröse Abenteuer erfüllt. Nun aber war ihr von dieser Liebesgeschichte nichts als die Erkenntnis geblieben, der Eitelkeit eines selbstverliebten Machos zum Opfer gefallen zu sein.

Isabel roch an der Jasminblüte des Brautstraußes. Schließlich nahm sie Simone das Champagnerglas ab. »Danke dir. Ich könnte mir vorstellen, mich kopfüber in ein Gärfass zu stürzen, um mich darin aufzulösen.«

»Erst genießen.« Simone lachte und stieß mit ihr an. »Gewinne allem doch einmal eine positive Seite ab. Heute beginnt dein neues Leben. Zwar nicht so wie meines, aber diesen Macho bist du endlich los. Erstens habt ihr überhaupt nicht zueinander gepasst, und zweitens ist ein Mann, der so etwas tut, sowieso unmöglich.« Sie nahm Isabel die Blüte aus der Hand, küsste sie und ließ sie in Isabels Glas fallen. »Siehst du? Jetzt ist sie persönlich von der Braut geweiht. Damit wird sie dir Glück bringen.«

Isabel hob zweifelnd die Augenbrauen und beobachtete, wie sich um die Blüte Champagnerbläschen bildeten und nach oben perlten. Aber dann setzte sie das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug.

»Und? Gu-huut?« Simone grinste und legte den Arm um Isabels Taille.

»Wenn Trost so schmeckt, werde ich Henning bestimmt vergessen können – dafür dann aber bald völlig pleite sein.« Isabel lächelte eher gezwungen über ihren Scherz, weil er sie mit Schrecken daran erinnerte, dass sie etwas Wahres aussprach. Denn wenn sie in einem Monat arbeitslos war, würde sie sich trotz der Abfindung höchstens einen schlichten Prosecco vom Discounter leisten können.

Im Saal setzte Musik ein. Ein Walzer.

»Versprich mir, dass du bleibst, ja?« Simone hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Und pass bitte auf deinen Glücksbringer auf.«

Isabel schob den Rollstuhl in die Nähe eines Pfeilers, der mit einer blütenverzierten Efeugirlande geschmückt war. Sie betätigte die Feststellbremse und überließ ihrer Mutter den freien Ausblick auf die Tanzfläche, auf der Simone mit ihrem Mann tanzte.

Ihr war schwindelig. Sie lehnte sich gegen den Pfeiler und schaute auf die Terrasse. Dort, wo der Palmenkübel umgefallen war, stand eine Gruppe rauchender junger Männer, die auf die Idee gekommen war, ihre Autoschlüssel zu vergleichen. Neben ihnen kniete ein Serviermädchen auf dem Boden und fegte wie in Zeitlupe Erdkrumen zusammen. Gebannt verfolgte Isabel ihre Handbewegungen. Für einen Moment vergaß sie Henning, die Hochzeit, ihre Mutter. Nur das Mädchen, das fegte, schien auf einmal wichtig. Tief in ihrem Herzen aber musste Isabel sich eingestehen, wie durcheinander sie in Wirklichkeit war. Am liebsten wäre sie nach einem kurzen Bad in der Ostsee so schnell wie möglich wieder zurück nach Hamburg gefahren.

Kapitel 4

Schweden,

auf der Insel Visingsö,

August 1978

Linnea schreckte hoch. Sie war etwas verwirrt und versuchte, sich zu erinnern, warum sie nicht in ihrem Lehnsessel und auf ihrer windgeschützten Veranda saß, sondern hier, unter den Birken, auf der alten Lärchenbank am Seeufer. Es wollte ihr nicht einfallen, zumal lautes Lachen und aufgeregte Stimmen es ihr erschwerten, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie rutschte zur Kante vor und drehte sich mühsam in Richtung Garten um. Weit oberhalb in der Nähe der knorrigen, verwachsenen Herzkirschenbäume bewegten sich helle Gestalten. Überrascht kniff sie ihre Augen zusammen, weil Britt, ihre Haushälterin, deren Tochter Inga mit Ehemann Styrger Sjöberg und ihren zwei Söhnen nun bereits mit schnellen Schritten den Gartenpfad zu ihr hinabeilten. Styrger trug hüftenge blaue Schlaghosen und Rüschenhemd, Britt trug Tracht, Inga dagegen ein orangefarbenes Minikleid mit weißen Tupfen.

Verständnislos schüttelte Linnea den Kopf. Sie empfand es als anstößig, dass heutzutage so viele junge Frauen halbnackt in der Öffentlichkeit herumliefen und junge Männer Rüschen trugen – und dies mit Hosen kombinierten, die den Eindruck erweckten, als ginge es nur noch darum, ihre Männlichkeit zur Schau zu stellen.

»Na, hast du auch die Krebse gut aufgepäppelt?«, rief Styrger ihr lachend zu. Wie Britt und Inga schleppte er eine karierte Reisetasche und einen Korb.

Du liebe Güte! Kräftskiva, das Krebsfest!

Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Und jetzt hatte sie sogar vergessen, ob sie überhaupt dazu eingeladen hatte. Linnea zog ihre Stirn so kraus, dass sie fürchtete, Kopfschmerzen zu bekommen. Wie konnte dies passieren? Wo sie dieses Fest doch seit ihrer Kindheit wie kein anderes liebte? Aber sie war eben neunzig Jahre alt ... neunzig! Trotzdem: War es nicht so, dass später auch alle Nachbarn kommen würden? Alle würden sie feiern wollen. Weil jeder wusste, dass ihre Edelkrebse zu den wenigen gehörten, die vor Jahrzehnten die große Krebspest überlebt hatten. Soweit Agnes sich erinnerte, war die Pest in Finnland ausgebrochen und hatte sich dann rasend schnell in ganz Europa bis nach Russland ausgebreitet. Als Ersatz hatte man resistente Krebse aus Amerika in die Gewässer gesetzt. Doch sie kannte niemanden, der diese dem köstlichen Geschmack ihrer echten schwedischen Krebse vorzog ...

Britt schwang zwei große, bis an den Rand gefüllte Körbe.

»Hier! Schau! Wir haben an alles gedacht! Hüte, Schürzen, Tischdecken, Brot, Bier, Käse. Und für dich haben wir einen ganz besonders guten Schnaps!«

Schnaps. In ihrem Alter. Das würde sie nicht überleben!

Linnea tastete nach einem Taschentuch. Dabei knisterte das Papier, auf dem ihre Hand, während sie schlief, geruht hatte. Das Telegramm. Das Kind. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatte unbedingt etwas erledigen wollen. Doch bevor sie weiter nachdenken konnte, prallten Björn und Jan, dreizehn und neun Jahre alt, stürmisch gegen die Rückenlehne der Bank.

»Kinder, lasst Linnea am Leben!«

»Na klar doch, Mama! Aber heute ist Krebsfest!«

»Dürfen wir nachher mit Knut die Krebse holen?«

»Wenn euer Vater es erlaubt ...«

»Von mir aus.«

»Ja! Allein mit Knut! Das ist viel besser!«

Die Kinder rannten zweimal um die Bank. Was für eine Kraft sie hatten.

»Was hast du da, Tante Linnea?« Björn, der Ältere, neigte den Kopf zur Seite und blickte sie atemlos an. »Ist das eine Überraschung für uns?«

»Nein«, entfuhr es ihr heftig, »dass ihr immer gleich glaubt ... nein.« Ihr Herzschlag kam für einen Moment ins Straucheln, doch es gelang ihr, das Telegramm in der Kleidertasche in Sicherheit zu bringen.

Björn indes hatte längst alles Interesse daran verloren. Er bückte sich, um seine Schuhe aufzuschnüren, und lief seinem Bruder hinterher, der unschlüssig neben einer Uferbirke stand und aufs Wasser guckte. Kurz entschlossen warf Björn Hemd und Hose auf einen Birkenzweig, streckte die Arme in die Luft und rief: »Komm, beeil dich! Wir schwimmen raus. Vielleicht finden wir eine Reuse voller Riesenkrebse!«

Da müsst ihr weit schwimmen, dachte Linnea. Aber Jungs wie ihr werdet es schaffen. Jungen kennen keine Angst. Sie schüttelte den Kopf. Wie kam sie darauf, zu glauben, dass Mädchen der Mut für so etwas fehlte? Warum? Sie schaute um sich. Sie sollte sich jetzt zusammenreißen und zeigen, wie sehr sie sich über diesen Besuch freute. Lächelnd ließ sie, während die Jungen in den See hinausschwammen, die Begrüßung der Erwachsenen über sich ergehen.

»Geht es dir gut, Linnea?« Britt nahm Linneas Hände und rieb sie ein wenig. Sie und Styrger hatten sich links hingesetzt, Inga rechts. »Du hast ja ganz kalte Hände. Sitzt du etwa schon lange hier, so allein? Hast wohl gar nicht damit gerechnet, dass wir kommen, stimmt’s?«

Alle lachten.

»Nein, so vergesslich bin ich nun doch nicht. Macht euch nur lustig über mich. Aber schön, dass ihr mich nicht vergessen habt.«

Sie blinzelte und hoffte, die anderen würden ihr die Notlüge nicht ansehen. Styrger schlug die Knie aneinander. Inga nestelte nervös an ihrem BH. »Ich geh mal kurz rein, ich fürchte, ein Träger ist abgerissen.«

»Tu das.« Styrger drehte jetzt sogar seine Stiefelspitzen gegeneinander.

Linnea fragte sich, warum er seiner jungen Frau nicht nachging. Taten das junge Männer heutzutage nicht mehr?

»Und?« Britt tätschelte Linneas Wange. »Wie hast du die letzten Tage ohne mich erlebt?«

»Wunderbar. Du hast ja alles eingerichtet. Vor allem das Bett auf der Veranda. Ich hab so gut geschlafen. Und das viele Obst. Ich fürchte, es hat die Obstfliegen angelockt. Am besten, du kochst nachher noch ein Kompott.«

»Du liebe Güte, Linnea, hast du etwa vergessen zu essen? Ich seh schon, ich werd dich ab heute nicht mehr allein lassen. Drei Tage sind zu viel. Ich habe angenommen ... ach was, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Du magst dich zwar gut fühlen, ich aber habe trotzdem ein schlechtes Gewissen.«

»Übertreib nicht, Britt. Du siehst doch: Ich bin noch sehr lebendig.«

»Umso besser, dass es heute Abend Krebse gibt. Ich werde dir ein paar edle Happen zurechtmachen.«

»Langsam, in meinem Alter schmeckt vieles nicht mehr. Selbst die Krebse nicht, fürchte ich. Mach mir lieber ein Glas Herzkirschen auf.« Sie lächelte.

Britt hob überrascht die Augenbrauen. »Bist du dir sicher? Deine kostbaren Kirschen? Erinnere dich, wir haben in diesem Jahr nur vier Gläser gefüllt.«

»Das weiß ich. Und wenn eines nicht reicht, mach noch eins auf. Ich möchte, dass heute alle etwas von ihnen haben. Und koch ein bisschen Grieß dazu, ja?« Sie tätschelte Britts Hand.

Britt zog erneut die Augenbrauen hoch und streckte ihre Beine aus. »Ich weiß nicht ... wäre es nicht besser, du würdest dir deine Kirschen für den Winter aufbewahren? Heute kommen noch mehr Gäste als sonst. Haben dir die Larssons nicht gesagt, dass ihre Kinder Freunde aus Stockholm mitbringen wollen? Sie studieren dort.«

»Egal, tu mir den Gefallen. Und stell die alten Gläser auf den Tisch, du weißt schon, meine ersten Gläser ...«

»Die mit den Moosglöckchen-Blüten?«

»Ja, stell sie auf. Es ist schon richtig so. Und dann sollen ruhig alle kommen. Mir macht das nichts aus. Es ist schön, so viele junge Leute um sich zu haben.«

»Gut, dass du keine Einwände hast und dir der Trubel nichts ausmacht. Und es ist ja auch ein wunderschöner Tag. Hat dich etwa Knut, dein alter Verehrer, besucht?« Britt lachte und drückte kurz ihre Hand.

»Unsinn.« Linnea schluckte und bekam einen leichten Hustenanfall. »Heute Morgen kam in aller Herrgottsfrühe ein Postbote. Ich ... ich hatte noch geschlafen.«

»Ein Postbote? Dann muss es wegen etwas Wichtigem gewesen sein, oder?« Styrger sah sie neugierig an.

Linnea biss sich auf die Zunge. Wie dumm von ihr. Wie konnte sie nur so leichtfertig losplappern. Nun aber war es zu spät. Dann soll es wohl so sein, dachte sie. Alles kommt, wie es bestimmt ist.

Trotzdem zauderte sie und überlegte, ob das, was sie empfand, wirklich wahrhaftig war. Wie um sich zu vergewissern, befühlte sie das Telegramm in ihrer Kleidertasche. Aber es gab keinen Zweifel.

»Das Kind ist da.« Sie lächelte, erfüllt von Stolz. »Ein Mädchen.«

»Ein Kind? Von wem?« Britt runzelte die Stirn. »Du hast nie davon erzählt, dass du Verwandte hast.«

»Ja, ich habe keine Verwandten. Keinen einzigen.« Sie nickte. Es stimmte, sie hatte nie jemandem die Wahrheit über ihr Leben erzählt. Erst jetzt wurde ihr deutlich, wie viel Kraft es sie gekostet hatte, so lange zu schweigen. Ihr entging nicht, wie Styrger einen Blick mit Britt wechselte, der dieser signalisieren sollte, dass er sie für geistesschwach hielt, wenn sie erfreut von der Geburt eines Kindes berichtete.

Britt tätschelte ihr liebevoll, wenn auch etwas ungeduldig, den Unterarm. »Wie heißt es denn?«, fragte sie.

»Das Kind?« Linnea presste die Lippen zusammen. Aber es war vergeblich, ihr fiel kein Name ein. Es würde zur Mutter passen, dem armen Kind keinen Namen zu geben. O nein, sie durfte nicht so gehässig sein. Das war ungerecht. Zu ungerecht.

»Es ist noch nicht getauft«, beeilte sie sich zu antworten. »Aber ich muss sagen, ich wollte, es wäre jetzt hier bei mir. Ich hätte sie euch so gern gezeigt.«

Sie bemerkte, wie Britt Styrger anschaute und das Gesicht verzog. Jetzt hält auch sie mich für verrückt, durchfuhr es Linnea. Beide halten mich für eine schwachsinnige Greisin, die in ihrem letzten Sommer nach und nach den Verstand abgibt.

»Oh, diese Mücken!« Britt beugte sich ruckartig vor und schlug auf ihren Knöchel.

»Ein Blutfleck mehr.« Linnea sprach lauter als gewöhnlich, um Britt und Styrger zu beweisen, dass sie durchaus noch die Realität wahrnahm. »So, jetzt bringt mich ins Haus. Ich will sehen, was ihr mitgebracht habt. Und dann möchte ich mit jemandem telefonieren.«

Styrger nickte. »Natürlich. Mit der Mutter ... dieses Kindes, nicht?« Er bemühte sich, nicht zu grinsen.

»Nein, Styrger, nicht mit der Mutter.« So entschlossen wie möglich entzog Linnea Britt ihre Hand. Was für einen einfältigen Schwiegersohn ihre Haushälterin doch hatte. Sie würde mal ein ernstes Wort mit ihr reden müssen ... aber halt, jetzt war sie ungerecht. Woher sollte Styrger denn alles wissen? Schließlich war noch nicht einmal Britt im Bilde und konnte irgendetwas mit dieser Nachricht anfangen.

Nur eines war sicher. Britt kannte sie zu gut, um nicht mit dem Instinkt einer Frau zu erahnen, dass es eine Wahrheit hinter ihrem greisen Geplapper geben musste. Es war nur die Frage, ob Britt in der Lage sein würde, sie zu schützen ...

Im Laufe des Spätnachmittags genoss es Linnea, zuzuschauen, wie Britt und Inga bunte Girlanden legten, Dutzende gelber Lampions mit Vollmondgesichtern im Garten aufhängten, Windlichter zwischen den Sträuchern aufstellten und schwedische Fähnchen an den Stuhllehnen befestigten. Dann trafen rasch hintereinander Nachbarn und Freunde ein. Jeder brachte etwas Selbstgemachtes für das Büfett mit: eingelegte Heringe, geräucherten Lachs, Würstchen und Fleischbällchen, Salate, Aufläufe, Käse, Brot, Bier und Schnaps. Sonst hätte man sehr viele Krebse essen müssen, um satt zu werden. Und so viele waren selbst von einem Mann wie Knut, Linneas altem Jugendfreund, nicht zu fangen.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit legte er mit seinem Boot an und lud ein paar Kinder ein, mit ihm und zwei weiteren Männern zu den Reusen hinauszurudern. Nach einer knappen Stunde kehrten sie mit Körben voller Krebse zurück. Die älteren Jungen machten sich den Spaß, sie mit Stöckchen zu reizen. Erst nachdem ein Krebs einem der Jungen in die Hand gezwickt hatte, ließen sie die Tiere in Ruhe.

In der Zwischenzeit hatten die Frauen Salzwasser mit Dillblüten zum Kochen gebracht. Die mutigsten von ihnen packten die ersten, sich krümmenden Exemplare und ließen sie ins siedende Wasser fallen. Nach nur wenigen Minuten landeten die Krebse tiefrot auf den Tischen. So ging es in einem fort, und so weit die Krebse auch ihre Scheren öffneten, es half ihnen nichts.

Alle Gäste trugen spitze Papierhütchen und bunte Schürzen. Sie scherzten miteinander, witzelten, wer als Schnellster diese oder jene Schere aufknacken konnte, oder wer es schaffte, das Fleisch so aus dem Panzer zu lösen, dass möglichst wenig Saft über die Unterarme hinab in die Schürzen tropfte. Jedem schmeckte es, und es gab viel Gelächter, als eines der Kinder einen Panzer so ungestüm aufbrach, dass den Tischnachbarn warmes Seewasser ins Gesicht spritzte. Die Nacht war lau, und bald erklangen die ersten Schnapsgesänge.

Es rührte Linnea, wie sehr sich alle bemühten, keinen Abfall in ihrem Garten zu hinterlassen. Jeder achtete darauf, versehentlich herabgefallene Krebsschalen nicht zu zertreten. Und sobald sich die leeren Krebspanzer und ausgehöhlten Scheren in den Schüsseln türmten, verständigten sich die Frauen, wer von ihnen an der Reihe war, die Schüssel in einen vor dem Haus stehenden Eimer zu entleeren.

Ihre Krebse. Ihre Nachbarn, ihre Freunde. Ihre große, fröhliche und doch blutsferne Familie.

Nichtsdestotrotz – Linnea bildete sich ein, nie ein schöneres Fest erlebt zu haben.

Nach fünf Krebsen und drei Schnäpsen war sie noch bis kurz vor zehn Uhr bei ihnen geblieben, dann hatte sie Britt gebeten, sie zurück in ihr improvisiertes Bett auf der Veranda zu begleiten. Die Fenster waren weit geöffnet, so dass sie die Sterne wie ein engmaschiges Fischernetz am Himmel glitzern sah.

Wie schön das Alter sein konnte, wenn man nicht allein war.

Linnea lehnte sich in die Kissen zurück, ließ ihren Blick über die weißen Regale gleiten, auf denen sie vor langer Zeit einmal ihre schönsten Gläser und Vasen aufgestellt hatte. In diesem sanften Licht schien es, als tanzten die Muster an der Wand. Ihre rechte Hand zitterte, und sie bildete sich ein, den Pinsel fester halten zu müssen, damit ihr die Farben nicht verwischten.

Nach einer Weile beruhigte sie sich und genoss die Stimmen, selbst die ihr so fremde Musik, die die jungen Leute zwischen den Schnapsliedern mit ihren Kassettenrecordern abspielten. Sie hatte erreicht, was sie sich am Morgen vorgenommen hatte. Jetzt freute sie sich darauf, endlich von ihrem sich selbst auferlegten Schweigen Abschied nehmen zu können. Ganz gleich, was ein Jüngelchen wie Britts Schwiegersohn Styrger von ihr denken mochte.

Die Männer ihrer Generation waren einfach anders gewesen. Imposant, sich ihrer Stärken bewusst, entschieden, mutig, elegant.

Da drehte jemand die Lautstärke eines dieser schnell pulsierenden Popsongs hoch. Linnea setzte sich auf, lugte in den bunt erleuchteten Garten hinaus. Noch immer hockte die Mehrzahl der Gäste an den langen, mit Krebsschalen, Schüsseln und Brotresten übersäten Tischen. Und wie sie es geahnt hatte, tanzten ein paar junge Leute zwischen Buchsbaum, Asternrabatten und Mehlbeersträuchern.

Zufrieden schloss sie die Augen. Wie gut es diese Jugend hatte. Glücklich musste sein, wer sie genießen konnte. Als sie blinzelte, entdeckte sie zwei Falter, die inmitten eines zitternden Lichtflecks einander umkreisten.

Ja, zum Glück gehörte Licht.

Schatten waren der Tod.

Kapitel 5

Hamburg,

am Oberlauf der Alster,

März 2012

Simone schien tatsächlich recht zu behalten: Das Leben, das sie, Isabel, nun seit zwei Wochen in Atem hielt, war wirklich ein Neuanfang. Allerdings hätte Isabel sich nicht im Traum vorstellen können, an wie vielen banalen Dingen ihr dies bewusst werden sollte. Aber seit sie in diese Zweizimmerwohnung eingezogen war, geschahen täglich Dinge, die ihr früher nie passiert waren. An der Lage der Wohnung am oberen Alsterlauf konnte es nicht liegen, es sei denn, die Geister des in der Nähe gelegenen Ohlsdorfer Friedhofs machten dann und wann Ausflüge zu ihr.

So hatte die Heizung die Tücke, morgens für eine Stunde auszufallen, und wenn Isabel dann ihren alten Elektroheizkörper aktivierte, glühte dieser manchmal so heiß, dass er ihr beinahe die Handtücher versengte. Zudem sirrte ihr Föhn, seit er ihr auf die Fliesen gefallen war, so unheimlich, dass sie fürchtete, er bereite sich darauf vor, ihr überfallartig die Haare abzufackeln. Eigenartig war auch das Verhalten ihres Handys. Einen Tag, nachdem sie eingezogen war, verweigerte es sich seinem Akku. Ob es nun dreißig Minuten oder vier Stunden an der Steckdose hing: Nach einem Ladebalken war Schluss. Sie würde nicht umhinkönnen, sich in den nächsten Tagen ein neues zu kaufen.

Aber das war nicht alles. Auch die Orchideen, die ihr ihre Vormieterin in dunkelblauen Majolikatöpfen überlassen hatte, schienen mit ihr als Nachfolgerin nicht einverstanden zu sein. Auf Isabel wirkten sie, als litten sie unter Liebesentzug, zumindest wellten sich die Blüten an den plötzlich mager gewordenen Stengeln bedenklich.

Natürlich schlief sie auch schlecht. Sie hatte Alpträume von alten Bäumen, in deren Geäst sie irgendwo feststeckte, dann wieder rüttelte etwas undefinierbar Böses am Griff ihrer Tür, sog sie durch Türspalt und Schloss oder zerrte sie durch endlose Korridore.

Noch nicht einmal zum Stricken war sie gekommen, ein Hobby, das sie bei anderen immer belächelt hatte. Großmütter taten das oder Hausfrauen, aber doch nicht sie. Bis ihr eines Tages eine Kollegin mehrere Knäuel Merinowolle und Bambusstricknadeln geschenkt hatte. Stricken hätte ja auch mit Zählen zu tun, hatte sie gemeint, Masche aber beständig an Masche zu setzen, das würde ihr helfen, zur Ruhe zu kommen und Kredite, Zinssätze, Laufzeiten zu vergessen. Isabel hatte es versucht, wieder verworfen, erneut begonnen, einfache Muster ausprobiert, Foren besucht und voller Ungeduld komplizierte Anleitungen studiert. Sie wollte ihre kreisenden Gedanken zur Ruhe zwingen, die überdrehte Betriebsamkeit des Alltags von sich abschütteln. Nicht immer gelang es ihr. Das lag natürlich auch daran, dass sie ans Ganze dachte, nicht immer an den Moment ...

Natürlich machte sich Simone über sie lustig, was sie sehr ärgerte. Aber sie würde ihr schon noch beweisen, dass sie keineswegs altbacken war. Im letzten Winter hatte sie nämlich aus dicker Wolle ein kurzes Wollkleid mit Zopfmuster begonnen. Noch fehlte der hohe U-Bootkragen, und die Overknee-Stulpen würde sie wohl im Sommer nachholen müssen, wenn Simone auf Hochzeitsreise war. In dieser Wohnung hatte sie ihre Strickarbeit allerdings erst ein einziges Mal in die Hände genommen. Schon nach einer halben Reihe war sie auf die Idee gekommen, nach dem Ergebnis ihres letzten Vorstellungsgesprächs zu fragen. Sie hatte ein gutes Gefühl gehabt. Umso heftiger erschütterte sie die Absage. Ob Henning seine Beziehungen hatte spielen lassen? Sie hatte jedenfalls ihre Strickarbeit hochgenommen, die Maschen bis zum Nadelende gedrückt und das Wollknäuel aufgespießt. Seitdem staubte die Wolle vor sich hin.

Erschrocken fuhr sie hoch. Eine Stichflamme schoss unter der Eisenpfanne hervor. Warum ausgerechnet jetzt? Hatte die Gasbrennerscheibe auch schon vorher schief aufgelegen?

»Ich zieh aus. Das mach ich nicht mehr mit!« Isabel drehte das Gas ab, angelte sich einen Topflappen und zog die Pfanne von der Gasstelle. Zwei Fetttropfen fielen auf die Bodenfliesen. »Ah, wenigstens eine natürliche Ursache. Und kein Grund, wieder Selbstgespräche zu führen.«

Beruhigt stellte sie die Pfanne auf einen Untersetzer und freute sich über das appetitlich geschmorte Gemüse: grüne und rote Paprika, Möhrchen in feine Streifen geschnitten, zwei Shiitakepilze, Schalotten. Dazu eine Handvoll frische Kräuter, Baguette aus dem Backofen und ein Glas Teroldego.

Dass trotz der eigenwilligen Tücken des Gasherdes wieder alles gut gelungen war, lag, davon war Isabel überzeugt, nicht an ihrer Kochkunst, sondern an dieser einzigartigen Gusseisenpfanne. Sie war ein Erbstück, schon ihre Mutter und deren Mutter hatten sie benutzt. Die Pfanne hatte auf Holzkohleherden und elektrischen Herdplatten funktioniert und nun also auch auf Gas. Zufrieden stellte Isabel fest, dass das Gemüse deswegen so al dente geblieben war, weil man mit Gas die Hitze einfach präzise dosieren konnte.

Sie legte sich etwas auf den Teller, schenkte sich ein Glas Wein ein ... und verlor genau in diesem Moment ihren Appetit. Dabei hätte sie dringend etwas Warmes gebraucht. Zwar war heute die Heizung nicht ausgefallen, doch die Heizkörper blieben lauwarm. Sie hatte schon überlegt, ihre Mutter zu besuchen, nur um sich in deren gut geheizter Seniorenresidenz ein bisschen aufzuwärmen.

Sie gabelte ein grünes Paprikastück auf. Appetit kommt beim Essen, versuchte sie sich zu überreden, aber im nächsten Moment hörte sie sich mit einem Anflug von Bitterkeit auflachen. Ihre Mutter würde, wenn sie sie jetzt so sähe, die Lippen zusammenpressen und sich dabei räuspern wie ein Rabe. Das tat sie immer, wenn sie der Meinung war, ihre Tochter sei selbst beim Essen zimperlich. Wie oft musste Isabel an diesen Gesichtsausdruck denken – daran, was damit zum Ausdruck gebracht wurde: Ihre Mutter würde es ihr nie ins Gesicht sagen, Isabel aber genügte es, zu wissen, dass ihre Mutter sie für die weibliche Ausgabe eines männlichen Weicheis hielt.

Ohne dass sie es wollte, erinnerte Isabel sich an einen kalten Tag vor den Osterferien, an dem sie ihre Mutter von der Schule abgeholt hatte. Es war die Zeit, als eine Mitschülerin, deren Mutter im Elternbeirat mitarbeitete, ausgeplaudert hatte, dass ihre Mutter, die »Hammer-Bach«, in Wahrheit schon vierundsechzig Jahre alt sei und im nächsten Jahr, 1993, pensioniert werden würde. Sie, Isabel, war damals gerade fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte ein Dreivierteljahr zuvor das Gymnasium gewechselt, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, wegen ihrer Mutter ständig als Außenseiterin dazustehen. Nie hatte man ihr eine Zigarette angeboten, bewusst ihre Beiträge in der Gruppenarbeit unterdrückt, und beim Sport war sie immer bis zuletzt auf der Bank sitzen geblieben, wenn sich die Volleyballgruppen zusammenfanden.

Dabei hatte sie ihre Mutter immer glühend um ihr gutes Aussehen und dynamisches Wesen beneidet. Für Isabel war sie schlichtweg eine Heldin, die über die magische Energie verfügte, dem Alter und der Einsamkeit Kontra zu bieten.

Allerdings blieb es ihr bis heute ein Rätsel, warum ihre Mutter so lange gewartet hatte, um schwanger zu werden. Noch heute, also fast zwanzig Jahre später, spürte Isabel bei dieser Frage eine eigenartige Beklemmung. Hatte ihre Mutter gewartet, schwanger zu werden? Hatte sie sich überhaupt ein Kind gewünscht? Oder war ihre plötzliche Schwangerschaft mitten in den Wechseljahren ein Unfall gewesen? War sie, Isabel, das Produkt einer wie auch immer gearteten, hormonell fruchtbaren Hitzewallung?

Vielleicht hatte Constanze so verbissen gearbeitet, um sich nicht als älter werdendes Muttertier zu fühlen, sondern als durchsetzungsstarke Lehrerin, die jeder bewunderte.

Der Appetit kam tatsächlich mit dem Essen. Oder lag es am Teroldego? Auf jeden Fall hätte zum Gemüse frisches Ciabatta-Brot besser gepasst als das Nullachtfünfzehn-Baguette aus der Folie. Isabel pflückte den weichen Baguetteteig von der braunen Kruste und tunkte ihn gedankenverloren in die Sauce, köstlich ... wie ein Trost.

Also, da war der Tag vor den Osterferien.

Schneeflockenwirbel hatten den Siebziger-Jahre-Schulhof wieder einigermaßen verschönt. So jedenfalls waren Rutschstreifen, Kaugummiflecke und Kratzer auf den orange, braun und weiß gestrichenen Betonquadern nicht mehr zu sehen, die im Sommer zuvor zum Sitzen zwischen den eingezäunten Jungplatanen aufgestellt worden waren. Die Krokusse entlang des Maschendrahtzauns waren natürlich wie immer zertreten und hatten ausgesehen wie matschige Tuscheflecken auf schmuddeligem Papier. Mädchen in Leggings und viel zu kurzen Jäckchen waren frierend an ihr vorbeigehuscht, eine Gruppe Jungs ballte sich an der Ecke des Schulhofs um einen Typen mit Piratentuch um den Kopf, der türkischen Tabak verkaufte. Sie hatte zwei Klassenkameradinnen, die die Köpfe zusammensteckten, zugeschaut. Sie wusste, dass sie mit dem Problem kämpften, ob man sich nun rasieren müsse oder nicht. Ein Problem, das sie nicht hatte, denn ihre Mutter hätte es niemals geduldet, weil sie eine geradezu hysterische Abneigung gegenüber Messern, Rasierklingen und Nagelscheren hatte.

Trotzdem wollte sie, Isabel, mit einer der beiden, Isa, am Nachmittag telefonieren. Obwohl sie sich bereits im Unterricht fürs Kino verabredet hatten. Für Schindlers Liste.

Plötzlich war ihre Mutter aufgetaucht, ins Gespräch mit zwei sehr viel jüngeren Kolleginnen versunken. Sie war so schnell gelaufen, dass Isabel sich fragte, ob sie sie absichtlich übersehen oder sich nicht hatte ablenken lassen wollen. Dazu kam der Schmerz – oder war es Neid? – über das Äußere ihrer Mutter. Constanze hatte einfach fantastisch ausgesehen und ihr nicht unähnlicher sein können. Schlank und behände in ihren Bewegungen, das graue Haar raspelkurz, mit schwarzen Strähnchen im Nacken, enge Jeans, ein lässiger Trench mit hochgeschlagenem Kragen.