Die Frauen von der Purpurküste – Julies Entscheidung - Silke Ziegler - E-Book

Die Frauen von der Purpurküste – Julies Entscheidung E-Book

Silke Ziegler

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Beschreibung

Vom Zauber eines Neuanfangs und dem Traum vom Backen Lara ist dreißig, als ihre Mutter nach langer Krankheit stirbt. Sie fühlt sich verloren und hofft, dass sie auf der Suche nach ihren Wurzeln auch zu sich selbst zurückfindet. Ihre Mutter hatte nie ein Wort über ihren leiblichen Vater verloren, doch durch einen Zufall erfährt Lara von einem vergangenen Au-Pair-Aufenthalt ihrer Mutter in Südfrankreich. Sie reist nach Collioure und stürzt sich dort neben der Vatersuche in die Arbeit in einer kleinen Crêperie und lernt den attraktiven Félix kennen. Durch eine uralte Notiz erfährt Lara von einer schicksalhaften Entscheidung, die 1944 die Schwester einer Geburtenklinik treffen musste, und deren Auswirkungen bis in Laras Gegenwart reichen ...  

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Die Frauen von der Purpurküste – Julies Entscheidung

Die Autorin

SILKE ZIEGLER lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als sie während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs auf ihre erste Romanidee stieß. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist, liest und schreibt sie sich die traumhafte Kulisse einfach herbei.Von Silke Ziegler ist in unserem Haus erschienen: Die Frauen von der Purpurküste - Isabelles Geheimnis

Silke Ziegler

Die Frauen von der Purpurküste – Julies Entscheidung

Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2020 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © nobleIMAGES / alamy images (Crêperie); © FinePic®, München (Landschaft)Autorenfoto: privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-2289-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

1

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4

5

6

7

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9

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Epilog

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Widmung

Prolog

Januar 1944 Maternité suisse d’Elne, Schweizer Mütterklinik Elne

Julie starrte abwesend auf das rot gefärbte Wasser, das unter ihren Händen unaufhörlich in den Abfluss lief, während sie das Blut aus dem braunen Handtuch schrubbte. Der Gedanke an den winzigen Säugling, der vor einer knappen halben Stunde das Licht der Welt erblickt hatte, zauberte ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen. Doch bereits im nächsten Moment wurde die Freude über das neue Leben von der Sorge um die ungewisse Zukunft des Babys überschattet. Was würde dieses Kind erwarten? Wann musste die Mutter zurück in das Internierungslager, aus dem sie vor drei Wochen hergebracht worden war?

Julie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Verzweiflung zu verdrängen, die sich in ihr auszubreiten drohte. Was würden die nächsten Jahre für den kleinen Erdenbürger bereithalten? Würde er jemals ein Leben außerhalb des Lagers kennenlernen dürfen? Würde ihn eine Kindheit erwarten, die man auch so nennen konnte? Würde er mit anderen Kindern herumtoben und Spaß haben können? Oder würde er in einem Lager arbeiten, Hunger leiden und gehorchen müssen?

Die Fragen schnürten Julie die Kehle zu. Sie umfasste das Handtuch fester und tauchte es erneut in die Seifenlauge.

Zwei Schwestern betraten den Waschraum und stellten sich an das Becken gegenüber von Julie.

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Louis hat es von seinem Cousin gehört.«

»Ich frage mich langsam, welchen Sinn unsere Arbeit hier hat, wenn die Deutschen dermaßen brutal gegen ihre eigenen Landsleute vorgehen.«

»Landsleute?« Die Jüngere lachte bitter.

Julie meinte, sich zu erinnern, dass sie Marine hieß. Da sie erst wenige Wochen hier arbeitete, war sie sich aber nicht sicher.

»Louis hat mir erzählt, was sie mit den Juden machen.«

Julie hätte am liebsten ihre Ohren verschlossen. Sie wollte das nicht hören. Natürlich kannte auch sie die Geschichten, die man sich hinter vorgehaltener Hand berichtete. All die Schreckensnachrichten drangen auch zu Julie vor, doch ihr Verstand konnte nach wie vor nicht begreifen, zu was Menschen fähig zu sein schienen.

Julie versuchte, das Gespräch der beiden Frauen auszublenden, und dachte erneut an das Baby, das zumindest erst mal sicher bei seiner Mutter verweilte, die sich hier in den nächsten Tagen von den Strapazen der Geburt erholen konnte. In Ruhe. Ohne Schikanen und ohne die ständige Angst, die die Menschen in den Lagern nie wieder losließ.

Als die Stimmen der beiden Schwestern hinter ihr plötzlich lauter wurden, drehte sie sich um.

»Julie?« Die Schwester, von der sie glaubte, sie hieße Marine, sah sie fragend an. »Du bist doch Julie, oder?«

»Ja.«

»Wir bekommen gleich drei Hochschwangere. Zwei Frauen, die angeblich für die Résistance gearbeitet haben, und eine deutsche Jüdin. Da wir heute Abend nicht voll besetzt sind, wäre es gut, wenn du noch ein wenig bleiben könntest.«

»Drei Schwangere auf einmal?«, fragte Julie überrascht.

Die andere Schwester nickte ernst. »Die Jüdin wurde vor Kurzem auf der Flucht erwischt. Ihren Mann haben die Nazis noch an Ort und Stelle erschossen. Sie ist seit zwei Wochen in Haft, hätte eigentlich nach Deutschland zurückgebracht werden sollen, aber …« Sie verstummte, da sie alle wussten, dass eine Rückkehr nach Deutschland den sicheren Tod für diese Frau und ihr ungeborenes Kind bedeutet hätte.

»Wann kommen sie?«

»Sie müssten jeden Moment eintreffen.«

»Gut, ich bleibe.« Hoffentlich würden sich Julies Eltern keine Sorgen machen, wenn sie nicht wie üblich nach Hause käme. Doch was sollte sie tun? Zu dieser späten Stunde befand sich nur eine Hebamme im Haus. Drei Schwangere, dachte Julie beklommen. Hoffentlich standen ihnen unkomplizierte Geburten bevor.

Als Julie wenige Minuten später das nasse Handtuch aufhängte, drang aus dem Erdgeschoss Stimmengewirr zu ihr herauf, begleitet von schmerzvollem Stöhnen.

»Die da schafft es wohl kaum. Auf der Fahrt dachte ich mehrmals, sie sei schon verreckt.« Der harte Akzent eines Deutschen. Julie presste die Lippen aufeinander. Rasch trocknete sie ihre Hände ab und eilte die Treppe hinunter. Als sie im Erdgeschoss ankam, waren die Schwestern damit beschäftigt, die werdenden Mütter zu stützen und in die Geburtszimmer zu bringen. Eine der Frauen hatte die Augen geschlossen, ihr Kopf hing schlaff auf der Brust.

»Was ist mit ihr?«, wollte Julie leise wissen.

Der Deutsche sah sie stirnrunzelnd an. Er hatte brünettes Haar und war anderthalb Köpfe größer als sie. Hastig senkte sie den Blick.

»Sind Sie auch Schweizerin?«

Julie schüttelte den Kopf, während sie beobachtete, wie zwei Pflegerinnen die Frau behutsam auf einem der Eisenbetten im ersten Geburtszimmer ablegten. »Ich bin Französin«, erwiderte sie unsicher.

Er lachte. »Halten Sie all das hier«, er zeigte in den Eingangsbereich, »nicht für völlig überflüssig? Diese Frauen sind Verräterinnen. Gefangene, Kommunistinnen, Judenschweine. Warum dieser Aufwand?« Er schüttelte den Kopf, während ein dreckiges Grinsen auf seinem Gesicht erschien.

»Eine Geburt ist etwas sehr Persönliches«, erklärte Julie voller Überzeugung. »Jede Frau sollte …«

»Das da sind keine Frauen«, unterbrach der Soldat sie barsch und spuckte auf den Boden. »Das sind nicht einmal Menschen.«

Julie drehte sich bei seinen abfälligen und verächtlichen Worten fast der Magen um. Doch sie wagte nicht zu widersprechen, da sie wusste, dass mit den Deutschen nicht zu spaßen war. Ihr Vater hatte ihr oft genug eingebläut, den Besatzern aus dem Weg zu gehen. Sie waren unberechenbar, richteten Menschen auf offener Straße hin, nur weil ihnen deren Blick nicht gefiel, verhafteten Leute aufgrund von Lappalien. Nein, auf keinen Fall durfte Julie sich auf eine Diskussion mit dem Nazi einlassen. »Pardon, ich muss …« Sie deutete in den Geburtsraum, in dem sich die Bewusstlose noch immer nicht rührte.

Er winkte ungeduldig und drehte sich um.

Lautlos atmete Julie aus und hastete zu der Frau. Da sie keine ausgebildete Krankenschwester war, half sie den Pflegerinnen, indem sie ihnen zuarbeitete, Handtücher und heißes Wasser brachte, Hilfestellung nach Anweisung leistete und die jungen Mütter, soweit es ihr möglich war, umsorgte und pflegte. Es war nicht viel, was Julie tun konnte, doch es war eine sinnvolle Aufgabe, die sie mit Dankbarkeit und Ehrfurcht erfüllte.

Die nächsten Stunden zählten dennoch nicht zu den schönsten Momenten ihrer Arbeit. Sie zogen sich wie ein nicht enden wollender Albtraum dahin. Zwei der Frauen lagen in den Anfangswehen und erfüllten die Klinik abwechselnd mit beklemmendem Wimmern, schmerzerfüllten Schreien und fluchendem Jammern, weil es nicht voranging, während die Schwestern angestrengt versuchten, Sara Rosenbaum, die deutsche Jüdin, zu stabilisieren, weil sie immer wieder das Bewusstsein zu verlieren drohte. Nicht einmal die Hebamme wusste, wie sie der jungen Frau noch helfen konnte. Die aufreibende Flucht, auf der sie und ihr Mann von den Deutschen gefangen genommen worden waren, schien ihr sämtliche Lebenskräfte geraubt zu haben.

Julie half, wo sie konnte. Sie redete den beiden Verräterinnen, wie der Deutsche die Frauen mehrfach tituliert hatte, gut zu und bemühte sich, ihr Leiden zumindest ein wenig zu lindern, indem sie ihnen behutsam Kissen hinter den Rücken schob oder langsam ein paar Schritte mit ihnen im Flur auf und ab ging, um den Geburtsvorgang weiter voranzutreiben. Den Frauen stand der Schweiß auf der Stirn, das Haar hing ihnen strähnig ins Gesicht. Julie mochte sich gar nicht ausmalen, welch unsagbare Schmerzen sie gerade erlitten.

Bei Sara Rosenbaum freute sie sich hingegen über jeden noch so leisen Ton, den die Gebärende von sich gab, denn das signalisierte ihnen, dass die völlig erschöpfte Frau noch bei Bewusstsein war. Die ernsten Gesichter der Pflegerinnen und der Hebamme ließen Julie jedoch erzittern. Das Leben von Mutter und Kind schien am seidenen Faden zu hängen. Das Baby steckte im Geburtskanal fest, und die junge Frau hatte nicht mehr genügend Kraft, um aktiv bei den Wehen mitzuhelfen.

Während Julie ihr ein kaltes Tuch auf die Stirn legte, kämpfte sie mit den Tränen. Ein grausiges Röcheln entfuhr der Kehle der Schwangeren. »Sie schaffen das«, raunte Julie ihr tröstend zu. »Denken Sie an Ihr Baby.«

Sara Rosenbaum schüttelte kaum merklich den Kopf.

Julie war sich nicht einmal sicher, ob sie sie überhaupt verstanden hatte. »Es ist gut«, stotterte sie unsicher auf Deutsch. Im Laufe der Jahre hatte sie immer mal wieder ein paar Brocken der ihr fremden Sprache aufgeschnappt. Und auch durch ihre vorherige Arbeitsstelle kannte sie den einen oder anderen deutschen Ausdruck.

Sara riss die Augen auf und schüttelte erneut den Kopf. »Nichts ist gut. Sie haben ihn erschossen. Wie ein Tier. Er hatte …« Sie begann zu weinen.

Hastig bemühte sich Julie, die Frau zu beruhigen. Sie brauchte jetzt all ihre Kräfte für die Geburt, für das Kind. »Sie bekommen ein Baby«, erklärte sie lächelnd. »Ein Baby, das seine Mama braucht.«

Doch Sara wirkte, als verliere sie jeden Moment das Bewusstsein. Julie erhob sich und starrte verzweifelt in das Gesicht der Gefangenen.

»Wie geht es ihr?«, erklang die Stimme der Hebamme hinter ihr. »Das erste Baby haben wir gerade wohlbehalten willkommen geheißen.«

In diesem Moment ertönte zorniges Säuglingsgeschrei im Nebenraum.

Julie schloss kurz die Augen und dankte Gott, bevor sie der Hebamme antwortete. »Es geht ihr überhaupt nicht gut. Sie ist völlig aufgelöst wegen ihres Mannes. Ich fürchte, dass der Verlust ihr jeden Lebenswillen genommen hat.«

Die Hebamme nickte. »Wir müssen das Kind schnellstens holen. Sie wird es nicht allein schaffen.« Sie bedachte Julie mit einem durchdringenden Blick. »Holen Sie mir zwei Schwestern, und kümmern Sie sich um das Neugeborene nebenan. Hier würde sich Ihnen gleich kein schöner Anblick bieten.«

Julie lief es trotz der hohen Temperatur im Zimmer eiskalt den Rücken hinunter. Ein letztes Mal musterte sie Saras bleiches Gesicht, bevor sie den Raum verließ.

Während sie wenige Minuten später den neugeborenen Jungen sorgfältig wusch und ankleidete und nebenher ein paar Worte mit der Mutter wechselte, die völlig entkräftet in ihrem Bett lag, versuchte sie angestrengt, das schmerzerfüllte Geschrei aus dem Nebenraum auszublenden. Welche Höllenqualen musste die schwache Frau in diesem Moment erdulden? Wohl wissend, dass der Vater ihres Kindes nicht mehr lebte. Dass sie, sobald es ihr besser ginge, zurück in Gefangenschaft käme, gemeinsam mit einem hilflosen und schutzbedürftigen Neugeborenen. Begleitet von dem Gefühl, den Nazis ausgeliefert zu sein, in den Klauen unsäglicher Todesangst.

Julie kehrte zurück zu der Frau und dem Baby vor ihr und legte den Säugling in eine vorbereitete Obststeige aus Holz. »Voilà. Ihr zauberhafter Sohn.« Lächelnd verfolgte sie, wie das Gesicht der frischgebackenen Mutter zu strahlen begann. »Wissen Sie schon, wie er heißen soll?«

»Jean«, hauchte sie glückselig. »Wie sein Vater.«

Gerührt betrachtete Julie, wie die Frau behutsam das Gesicht ihres Kindes streichelte. »Wie zart er ist.«

Julie nickte. Solche Momente waren es, die ihre Aufgabe mit Sinn erfüllten.

»Julie«, ertönte es plötzlich hinter ihr. »Komm schnell.«

Besorgt hastete sie über den Flur ins Nachbarzimmer. Eine der Schwestern hatte ein kleines blutiges Bündel auf dem Arm, während eine andere mit einem frischen Handtuch herbeieilte.

Die Hebamme berührte Julie am Arm. »Der Säugling ist sehr schwach. Wir müssen uns dringend um ihn kümmern.« Sie zeigte mit dem Kinn zu der jungen Mutter, deren Gesicht Julie noch blasser vorkam als vor der Geburt. »Bleiben Sie bei ihr.«

»Aber …«, wollte Julie widersprechen.

»Wir können nichts mehr für sie tun. Sie war zu …«, die Stimme der Hebamme versagte. »Bleiben Sie bei ihr. Spenden Sie ihr ein wenig Trost.«

Julies Augen begannen zu brennen. Wie in Trance registrierte sie, wie die drei Frauen mit dem Säugling den Raum verließen. Sara Rosenbaum lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, die Laken unter ihr waren blutverschmiert. Als sich Julie der Sterbenden näherte, musste sie einen Würgereiz unterdrücken.

»Madame«, setzte sie vorsichtig an. »Sara.« Sie nahm die Hand der Frau in ihre und erschrak über die Kälte. »Sie haben ein gesundes Kind zur Welt gebracht«, bemühte Julie sich, langsam zu sprechen. »Verstehen Sie mich?«

»Ich sterbe«, erwiderte die Frau kaum hörbar, ohne die Augen zu öffnen.

»Sie …« Julie schluckte. Was sollte sie ihr sagen? Wie musste es sich anfühlen, den nahenden Tod zu spüren? Wie konnte sie in diesen letzten Minuten das Leid der Frau lindern? Als Julie einen leichten Druck an ihrer Hand verspürte, sah sie Sara wieder ins Gesicht. Die Lider hoben sich um wenige Millimeter.

»Bitte …«, flehte die junge Mutter schwer atmend.

Julie beugte sich vor, um sie besser verstehen zu können. »Was möchten Sie mir sagen?«

Die nächsten Worte Sara Rosenbaums ließen Julie erschaudern. Ihre Hand begann zu zittern, während sie sich hastig vergewisserte, dass sie allein im Raum waren. Als sie zu der Frau zurückblickte, schlossen sich deren Lider, und die Hand in ihrer eigenen erschlaffte.

Julie begann, bitterlich zu weinen, leise und verzweifelt. Sie weinte um diese Frau, die sie kaum gekannt hatte. Um deren Mann, der erschossen worden war wie ein streunender Hund. Und um ein Baby, das gerade zur Waisen geworden war und dessen Leben in einer Welt, wie sie momentan existierte, weniger wert war als der Schmutz an den Fenstern dieses Zimmers.

Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit eine Hand auf ihrer Schulter spürte, blickte Julie mit tränenverhangenen Augen auf. Eine der Schwestern stand hinter ihr und sah sie mitfühlend an.

»Du wirst dich noch daran gewöhnen. Den meisten können wir helfen, einigen wenigen leider nicht. Du wirst lernen, den Tod zu akzeptieren. Wir können nicht alle retten.«

Julie erwiderte nichts. In diesem Augenblick konnte sie sich nicht annähernd vorstellen, irgendwann einmal anders als mit unendlicher Trauer auf den Tod eines Menschen zu reagieren. Etwas anderes als diese endlose Leere und Mutlosigkeit zu empfinden. Verlorene Leben, sinnloses Sterben. Warum musste die Welt nur so grausam sein?

Julie räusperte sich. »Wie geht es dem Säugling?«

»Das Baby wird es schaffen, wenn wir alle kräftig mithelfen«, erwiderte die Schwester zuversichtlich. »Komm mit.«

Sie verließen den Raum. An der Eingangstür stand der Deutsche und ließ sich gerade von der Hebamme berichten, was in den letzten Stunden geschehen war.

Was interessierte ihn dieses kleine Wesen, dachte Julie zornig. Hatte er etwa Angst davor, dass dieses hilflose Menschenkind seinem großen Führer gefährlich werden konnte? Sie spürte, wie es in ihr zu brodeln begann, während sie sich den beiden näherte.

Als die Hebamme sie ansah, schüttelte Julie schweigend den Kopf.

»Wir werden uns um den Bastard kümmern«, bellte der Nazi ungerührt. »Ich hole ihn morgen Vormittag ab. Sorgen Sie dafür, dass alles vorbereitet ist.«

Das Gesicht der Hebamme nahm einen irritierten Ausdruck an. »Das Baby ist hier besser aufgehoben. Wer soll sich denn im Lager um das Kleine kümmern?«

»Lassen Sie das unsere Sorge sein. Wir holen es morgen ab. Das ist ein Befehl.«

Julie begann zu zittern. Sie versuchte, ihre Hände ruhig zu halten, obwohl sie dem Deutschen am liebsten an den Hals gesprungen wäre. Stattdessen hob sie langsam den Kopf und musterte abschätzig das scharfkantige Gesicht des Besatzers. Während sie dem Mann fest in seine stahlblauen Augen blickte, wurde ihr schlagartig klar, dass diese Nacht ihr Leben für immer verändern würde.

1

»Das Bild würde dem Esszimmer eine besondere Note verleihen«, erklärte Simone Wagner ihrem Mann, während Lara Eriksen nickte.

»Das Blau des Himmels wirkt sehr nahbar und authentisch«, bestätigte Ralf Wagner nachdenklich.

Während das Ehepaar weiter über die Wirkung des Gemäldes sinnierte, schweiften Laras Gedanken ab. Unauffällig sah sie auf die Uhr. Noch drei Stunden, bis sie ihre Mutter auf deren letzten Gang begleiten musste. Sie spürte, wie die Trauer erneut von ihr Besitz ergriff. Vor drei Wochen noch hatte sie mit Freunden, ihren Großeltern und ihrer Mutter ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Zehn Tage später war Vanessa Eriksen gestorben. Neun Monate vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.

»Ist der Preis verhandelbar?«, riss Simone Wagner Lara aus ihrem Grübeln.

»Jan Martin ist ein aufstrebender österreichischer Jungkünstler«, erwiderte Lara wie ferngesteuert. »Kenner der Branche prophezeien ihm eine glänzende Karriere. Sein Talent wurde in mehreren einschlägigen Kunstzeitschriften als außergewöhnlich bezeichnet.«

»Das heißt, der Preis ist fest«, folgerte Ralf Wagner gedehnt.

Lara seufzte innerlich. »Wenn Sie ernsthaftes Interesse haben, kann ich gern mit Frau Weissner sprechen.«

Katinka Weissner war die Inhaberin der Galerie, in der Lara seit vier Jahren arbeitete. Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte hatte sie eine befristete Halbtagsanstellung in einem Hamburger Museum ergattert, bevor sie die Anzeige für die Galeristenstelle entdeckt hatte. Zwischen Katinka und Lara hatte es auf Anhieb sowohl menschlich als auch fachlich gepasst, und so hatte sie sich gegen zwanzig Mitbewerber durchsetzen können und den Job bekommen.

Die Wagners kannte Lara bereits seit Beginn ihrer Tätigkeit in der Galerie. Das wohlhabende Industriellenpaar gehörte zu Katinkas langjährigen Stammkunden. Da Lara den Kontakt zu Jan Martin hergestellt hatte und in der Folge auch seine Werke betreute, hatte Katinka sie vorsichtig gefragt, ob sie das Verkaufsgespräch vor der Beerdigung führen könne.

»Das Bild gefällt uns«, erklärte Simone Wagner, während sie vor dem Werk mit bedächtigen Schritten auf und ab ging, um es in Ruhe auf sich wirken zu lassen.

»Es ist eines seiner schönsten«, bestätigte Lara und betrachtete die einsame Berglandschaft, die Martin in sorgsam ausgesuchten und fein aufeinander abgestimmten Grün- und Brauntönen auf die Leinwand gezaubert hatte.

»Was denkst du?«, wandte Ralf Wagner sich an seine Frau, die ihre Hand ans Kinn gelegt hatte und mit schräg gelegtem Kopf auf das Bild starrte.

»Ich möchte es haben«, entgegnete sie abwesend.

Lara wandte sich ab und verfolgte aus der ersten Etage, wie eine ältere Dame im Erdgeschoss die Galerie betrat und auf Katinka zusteuerte, die hinter dem Empfangstresen gerade damit beschäftigt war, eine Abrechnung zu prüfen.

Wieder musste Lara an die anstehende Beisetzung denken. Als man vor drei Jahren bei ihrer Mutter bei einer Routineuntersuchung Leukämie feststellte, waren sie beide aus allen Wolken gefallen. Vanessa Eriksen war ihr Leben lang eine sehr aktive und lebensfrohe Frau gewesen. Ihren Vater kannte Lara nicht. Er hatte sich schon vor ihrer Geburt aus Vanessas Leben verabschiedet. Doch Lara hatte es all die Jahre während ihrer Kindheit und Jugend an nichts gefehlt. Vanessas Eltern, Laras Großeltern, nahmen seit jeher einen großen Platz im Leben ihrer Enkelin ein. Sigurd Eriksen, der Vater ihrer Mutter, hatte mal mehr, mal weniger die Rolle des männlichen Erziehungsberechtigten übernommen. War mit Lara zum Fußball gegangen, wenn Werder Bremen spielte, hatte ihr gezeigt, wie man aus einem Ast Pfeil und Bogen schnitzte, und sie bei ihrem Abschlussball als Vaterersatz zum Tanz geführt. Nein, Lara hatte nie das Gefühl gehabt, dass ihr etwas fehlte. Für sie war es das Normalste der Welt, mit ihrer Mutter einen reinen Frauenhaushalt zu führen. Und da sie immer nur zu zweit gewesen waren, hatte ihre Beziehung eine sehr innige Nähe und Vertrautheit entwickelt. Von Mutter und Tochter zu allerbesten Freundinnen.

Direkt nach der Diagnose hofften sie noch, dass Vanessa den Blutkrebs besiegen könne. All die Monate wirkte sie erstaunlich stark und kämpferisch. Doch trotz ihres starken Willens gelang es ihrem Körper nicht, die Schlacht für sich zu entscheiden. Im letzten halben Jahr war Vanessa Eriksen sichtlich abgemagert und in sich zusammengefallen. Jedes Mal, wenn Lara ihre Mutter in der Klinik besucht hatte, war die Gewissheit in ihr größer geworden, dass Vanessa es nicht schaffen würde. Ihre Augen begannen zu brennen.

»Gut«, beendete Ralf Wagner in diesem Moment die Entscheidungsfindung seiner Frau. »Wir nehmen das Bild. Simone gefällt es. Und wenn ich den Tag meiner Frau mit einer kleinen Aufmerksamkeit versüßen kann, wäre ich ein Tölpel, wenn ich diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen würde.« Er lächelte zufrieden.

Eine kleine Aufmerksamkeit von knapp zwanzigtausend Euro, dachte Lara im Stillen, bestärkte ihren Kunden aber in seinem Entschluss.

»Ralf, du bist verrückt«, säuselte seine Frau und hakte sich gut gelaunt bei ihm unter.

»Nach dir, Darling«, erwiderte er ernst. »Nur nach dir.«

»Ist er nicht wundervoll?«

Lara erwiderte Simone Wagners Blick und nickte. »Sie haben einen sehr großzügigen Mann mit einem exzellenten Geschmack.«

»Gibt es noch weitere Werke des Künstlers?«

Lara begleitete die beiden nach unten. »Ja, ich kann Ihnen gern den Katalog zukommen lassen.«

»Ja, bitte, schicken Sie mir weitere Informationen zu.«

Wagner hob die Hand in Katinkas Richtung, während er mit seiner Frau auf den Eingang zusteuerte. »Sie regeln alles, Frau Eriksen?«

»Ich melde mich wegen der Anlieferung«, bestätigte Lara dem Ehepaar, bevor sie ihnen die Tür öffnete. »Vielleicht schaffen wir es noch in dieser Woche.«

»Dann könnte ich es Samstagabend schon unseren Freunden aus Dubai zeigen. Rashida wird begeistert sein«, freute sich Simone Wagner und strahlte ihren Mann an.

»Auf Wiedersehen, Frau Eriksen.« Ihr Kunde tätschelte seiner Frau die Hand und zwinkerte Lara verschwörerisch zu.

Sie schloss die Tür hinter den beiden und trat zu Katinka an den Tresen. Die ältere Kundin schlenderte an den ausgestellten Werken im Erdgeschoss entlang.

»Gut gemacht«, lobte ihre Chefin sie lächelnd.

»Wenn alle Kunden so durchschaubar wären wie die Wagners«, seufzte Lara und warf einen Blick auf die Abrechnung. »Alles in Ordnung?«

Katinka zog die Brauen hoch. »Mehr oder weniger.«

Lara sah sie fragend an.

»Nicht jetzt«, wiegelte ihre Chefin ab. »Lass uns morgen sprechen. Ich rechne es dir hoch an, dass du heute überhaupt gekommen bist, trotz …« Sie brach ab.

Lara nickte bedrückt. »Kein Problem. Sonst hätte ich den ganzen Vormittag zu Hause gesessen und gegrübelt. Manchmal ist Ablenkung die einfachere Alternative.«

»Deine Mutter ist gestorben«, entgegnete Katinka ernst. »Trauer zuzulassen ist sehr wichtig.«

Lara nickte. »Sie fehlt mir so unglaublich.« Tränen stiegen in ihr hoch.

»Geh nach Hause«, forderte Katinka sie behutsam auf. »Bereite dich auf euren Abschied vor. Und nimm dir die Zeit, die du brauchst. Wenn du morgen nicht kommen magst …«

»Doch«, unterbrach Lara sie nachdrücklich. »Doch, morgen komme ich auf jeden Fall wieder. Ich … zu Hause fällt mir nur die Decke auf den Kopf.«

»Wie du meinst. Wenn du aber merkst, dass es nicht geht, meldest du dich, einverstanden?«

»Danke, Katinka.« Lara holte ihre Tasche und verließ die Galerie.

Schweren Mutes machte sie sich durch die Wallanlagen auf den Nachhauseweg. Lara hatte fürchterliche Angst vor dem Moment, in dem ihre Mutter für immer in dem dunklen und kalten Erdloch verschwinden würde. Auch wenn ihr Verstand natürlich wusste, dass Vanessa Eriksen tot war, verabscheute sie den Gedanken, die Frau, die sie dreißig Jahre lang in jeder Lebenslage durch ihre kleineren und größeren Abenteuer begleitet hatte, für immer loslassen zu müssen. Fröstelnd zog sie ihre Jacke enger. Es war Mitte September, seit einigen Tagen hatte der Herbst in Bremen Einzug gehalten. Auch heute wehte ein kalter Nordwind.

»Lara!«

Überrascht hob sie den Kopf und sah direkt in das Gesicht ihres Ex-Freundes. Konnte der Tag noch schlimmer werden?

»Frank«, erwiderte sie und bedachte die Frau neben ihm mit einem kurzen Seitenblick.

»Wir haben von Vanessa gehört …«, setzte er unsicher an, während er hastig die Hand von Laras ehemals bester Freundin Saskia Leuthaus losließ. »Es tut mir wirklich sehr leid«, fuhr er fort.

Lara nickte. »Mir auch.« Sie zögerte. »Dass ich mich so in meinem Partner und meiner besten Freundin getäuscht habe.«

»Lara …«, ergriff Saskia das Wort und trat einen Schritt auf sie zu. »Vielleicht könnten wir …«

Lara sah sie überrascht an. »Ach ja? Was meinst du könnten wir?«

Vor vier Jahren hatte Lara Frank auf der Party eines gemeinsamen Bekannten kennengelernt. Bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Den gesamten Abend hatten sie nur Augen füreinander gehabt. Damals hatte es sich mehr als richtig angefühlt, dass Lara Frank bereits in jener Nacht in ihre Wohnung eingeladen hatte. Ihre Kennenlernphase hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einer innigen, leidenschaftlichen und wundervollen Beziehung entwickelt. Nach sechs Monaten hatten sie sich eine gemeinsame Wohnung gesucht, da beide davon überzeugt gewesen waren, den Partner fürs Leben gefunden zu haben. Auch Laras Mutter hatte die Wahl ihrer Tochter wohlwollend zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Vanessa und Frank konnten stundenlang über aktuelle politische Ereignisse diskutieren. Mehr als einmal hatte Lara im Spaß bemerkt, dass er wohl mit der falschen Eriksen zusammen sei. Während ihre Mutter sich ständig in diversen Bürgerinitiativen engagierte und sehr oft ausging, war Lara introvertierter. Sie bevorzugte es, in ihren eigenen vier Wänden die Zweisamkeit mit Frank zu genießen. Aufgrund ihres Berufes war sie allzu oft gezwungen, Vernissagen zu besuchen und Ausstellungen zu begutachten, wodurch ihr Bedarf an Menschenaufläufen meist mehr als gedeckt war.

»Denkst du nicht, wir sollten uns demnächst mal treffen, um …«

»Wozu?«, unterbrach sie Frank ungehalten. »Meine Freizeit verbringe ich gern mit Menschen, die mir guttun und die ich mag. Nachdem ich dich mit Saskia in unserem gemeinsamen Bett erwischt habe, trifft dies leider auf keinen von euch beiden mehr zu.« Sie zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid. Aber vielleicht findet ihr ja bald neue Freunde.«

»Lara, lass uns doch reden«, mischte sich Saskia erneut ins Gespräch.

»Willst du mir tatsächlich sagen, was ich zu tun habe?« Lara schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie lange haben wir uns gekannt, bevor du mit meinem Freund gevögelt hast? Knapp zwanzig Jahre?«

Saskia schaute betreten auf ihre Füße.

»Wisst ihr was? Ich habe keine Lust, meine Zeit noch länger mit euch zu verbringen. Außerdem muss ich weiter.« Lara blickte auf die Uhr. »In zwei Stunden muss ich nämlich meine Mutter beerdigen. Vielleicht erinnert ihr euch noch an sie. Sie hatte zu eurer Aktion übrigens eine klare Haltung: Reisende soll man nicht aufhalten.« Ohne ein weiteres Wort hob Lara eine Hand und ließ die beiden stehen. Während sie sich entfernte, hörte sie Frank und Saskia hinter sich heftig miteinander diskutieren. Doch das war nicht ihre Baustelle. Nicht mehr.

Noch ganz genau konnte sie sich an den Moment erinnern, als sie die gemeinsame Wohnung aufgeschlossen und Saskias Gegluckse aus dem Schlafzimmer vernommen hatte. Frank war an dem Tag davon ausgegangen, sie habe noch eine längere Besprechung mit Katinka, doch ihre Chefin hatte den Termin kurzfristig absagen müssen, da sie von heftiger Migräne geplagt wurde.

Und als Lara zwei Stunden zu früh nach Hause gekommen war, vergnügte sich ihr Lebensgefährte gerade mit ihrer besten Freundin in ihrem gemeinsamen Bett. An die folgenden Minuten konnte Lara sich kaum noch erinnern. Wie in Trance hatte sie die Klinke zur Schlafzimmertür heruntergedrückt, bevor sie beim Anblick der beiden erstarrte. Saskia hatte aufgeschrien und sich eine Decke vor den nackten Körper gezerrt, während Frank die Gesichtszüge entgleist waren. Noch nie in ihrem Leben hatte Lara eine größere Enttäuschung verspürt. Alles, woran sie geglaubt hatte, ihr Lebensentwurf, ihre Beziehung, die gemeinsamen Zukunftspläne, lag plötzlich in Scherben vor ihr. Zerstört von dem Mann, dem sie wie keinem anderen vertraut hatte. Von dem sie dachte, er sei ihr Seelenverwandter. Offenbar hatte sie sich etwas vorgemacht. Frank war erst durch ihre Beziehung sesshaft und häuslich geworden. Vorher war er als Lebemann bekannt gewesen, der seine Freizeit gern auf Partys verbrachte. Seit er mit Lara zusammen gewesen war, waren sie kaum noch ausgegangen. Die lebenshungrige Saskia stellte das perfekte Gegenstück zu Laras Ex-Freund dar. Lara vermutete, dass ihm die Beziehung zu eng, zu eintönig geworden war. Und sie selbst war ein zu konsequenter Mensch, als dass sie ihm seinen Fehltritt hätte verzeihen können. Nein, die erste Zeit war hart gewesen. Sie hatte umgehend die Wohnung gekündigt, die sie allein nicht hätte halten können. Aufgrund der angespannten Immobilienlage hatte der Vermieter sie zwei Monate früher als befürchtet aus dem Vertrag gelassen. Da Lara darauf gedrungen hatte, dass Frank noch an jenem unsäglichen Abend ausziehen musste, hatte sie es in relativ kurzer Zeit geschafft, sich ein eigenes Leben ohne Partner aufzubauen. Und die Krankheit ihrer Mutter hatte ein Übriges getan, Lara an die wesentlichen Dinge im Leben zu erinnern.

In ihren letzten Wochen war sie Vanessa Eriksen nicht mehr von der Seite gewichen. Direkt nach dem Aufstehen fuhr sie ins Klinikum und verließ das Krankenzimmer nur, um in der Galerie arbeiten zu gehen. Nach Feierabend kehrte sie ins Krankenhaus zurück und saß oft schweigend am Bett ihrer Mutter, bis diese einschlief. Und selbst danach hatte Lara ihre Mutter oft noch lange beobachtet, bis die Schwester sie irgendwann nach Hause schickte. Lara hatte gehofft, wenn sie ihre Mutter nur lange genug betrachtete und sich ihr Aussehen einprägte, weniger schnell zu vergessen, wie sich ihre Anwesenheit angefühlt hatte. Und jetzt? Noch immer erschien es ihr völlig unwirklich, dass sie nie wieder mit der doch noch so jugendlich agierenden Frau sprechen konnte. Nie wieder ihre Stimme zu hören, ihre Meinung zu den unterschiedlichen Aspekten des Lebens. Nein, Vanessa Eriksens Zeit war noch nicht gekommen gewesen. Sie hatte noch so viel vorgehabt.

Erst jetzt bemerkte Lara, dass ihre Wangen tränenfeucht waren. Ihre Mutter fehlte ihr so unglaublich. Und es waren noch keine zwei Wochen vergangen seit ihrem Tod. Wie sollte sie es nur allein schaffen?

2

Gedankenverloren starrte Lara in den kleinen Garten hinter dem Reihenhaus ihrer Großeltern, über dem sich ein wolkenverhangener Himmel erstreckte. Sie hatte es geschafft. Die Beerdigung war überstanden. Seit Tagen hatte sie die Angst vor der Endgültigkeit des Abschieds kaum noch schlafen lassen.

Glücklicherweise hatte ihre Oma Lara bei den Pflichtterminen bei Pfarrer und Bestattungsunternehmen stets zur Seite gestanden. Die heutige Trauerfeier war sehr bewegend gewesen. Während der Abschiedsreden von Vanessas Freundinnen waren bei Lara ununterbrochen die Tränen geflossen. Ihre Mutter war eine Seele von Mensch gewesen. Sie hatte über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis verfügt und sich sozial engagiert. Die Kapelle war aus allen Nähten geplatzt, einige Trauergäste hatten nicht einmal mehr einen Sitzplatz ergattern können. Die Feier hätte Laras Mutter gefallen. Die Bänke waren mit weißen Rosen geschmückt gewesen, Vanessa Eriksens Lieblingsblumen. Auch das Pult war in weißen Stoff eingehüllt worden. Laras Mutter hatte die Farbe Schwarz gehasst.

Lara hatte mit ihren Großeltern in der ersten Reihe gesessen. Ihre Oma hatte einige bewegende Worte über ihre Tochter erzählt. Lara bewunderte sie für diese Stärke. Niemals hätte sie es übers Herz gebracht, vor so vielen Menschen zu sprechen. Und selbst wenn Lara sich hätte überwinden können, ihre Trauer hätte es kaum zugelassen, drei Sätze zu formulieren, ohne dass sie in Tränen ausgebrochen wäre.

Fröstelnd schlang sie ihre Arme um den Oberkörper.

»Ist dir kalt?« Sigurd Eriksen sah seine Enkelin über die Lesebrille hinweg an. »Soll ich den Kamin anfeuern?«

Lara winkte ab. »Nein, es geht schon, Opa.«

Am Grab hatte der Chor, in dem ihre Mutter seit knapp zwanzig Jahren Mitglied gewesen war, Robbie Williams’ »Angels« gesungen. Spätestens da waren bei Lara alle Dämme gebrochen. Schluchzend hatte sie sich an ihre Oma gelehnt, Halt suchend und um Trost bittend. Trauer vereinte die Menschen. Lara konnte nicht mehr sagen, wie viele Beileidsbekundungen sie nach der Beisetzung entgegengenommen hatte. Von jedem hörte sie fast immer ähnliche Worte. Wie hilfsbereit und mitfühlend ihre Mutter gewesen sei, wie aufopfernd und empathisch. Als ob Lara sie nicht am besten gekannt hätte. Und ja, sie hatte ihre Mutter stets für deren Arbeit und soziales Engagement bewundert. Sei es ihre Beschäftigung als Kinderärztin oder ihr ehrenamtliches Einbringen für Flüchtlingskinder, die sie in ihrer Freizeit in den verschiedenen Unterkünften aufsuchte und deren Eltern sie mit Rat und Tat zur Seite stand.

Ihre Oma war unbemerkt hinter sie getreten und legte eine Hand auf Laras Schulter. »Wie geht es dir, Kind?«

Lara griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Wenn ich morgens aufwache, denke ich, dass alles nur ein böser Traum ist. Dass gleich das Telefon klingelt und Mama dran ist, um mich zu fragen, ob ich nach Feierabend mit ihr noch ein wenig spazieren gehe.«

»Vanessa wusste immer, wie sie jemanden aufmuntern konnte«, entgegnete die ältere Frau. »Als du dich von Frank getrennt hast, lag sie mir tagelang in den Ohren, ich solle mich auch nur gut um dich kümmern, damit du diesem Idioten …«, sie lächelte, »… so war ihr Wortlaut, damit du diesem Idioten nicht hinterherrennst und ihn auch ja in die Wüste schickst.«

»Das klingt ganz nach Mama.« Lara wurde warm ums Herz. Ihre Mutter hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen und stets geradeheraus zu ihrer Meinung gestanden. Andererseits erwartete auch Vanessa Eriksen von ihrem Gegenüber Direktheit und Offenheit. Nicht jeder kam mit dieser oft schonungslosen Art zurecht, doch wer sie gekannt hatte, wusste, dass man sich in jeder Lebenslage auf sie hatte verlassen können.

»Vor der Beerdigung habe ich ein altes Fotoalbum von Vanessa gefunden«, fuhr Laras Oma jetzt fort. »Ich dachte, dass du es vielleicht mitnehmen möchtest?«

Lara drehte sich um. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein lilageblümtes Album.

»Die meisten Fotos haben wir selbst auch. Es sind einige schöne Erinnerungen von ihr, als sie jung war.«

»Jung«, merkte Lara bitter an. »War sie jetzt etwa alt?«

Sie kehrte auf die Couch zurück und zog das Buch zu sich heran.

Als sie es aufschlagen wollte, rutschte ein Foto heraus und fiel vor ihr auf den Boden. Lara bückte sich, um es aufzuheben. »Wo ist das?«

Ihre Oma kehrte ebenfalls zum Tisch zurück und blickte auf das Bild. »Zeig mal, bitte.«

Als Lara es ihr hinhielt, entdeckte sie die Worte auf der Rückseite des Fotos.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Béatrice Erik­sen das Motiv. »Das ist Vanessa in Collioure.«

»Ma belle Vanessa, 1988«, las Lara nachdenklich vor, bevor sie sich selbst übersetzte: »Meine schöne Vanessa. Wer hat das geschrieben?«

Ihre Großeltern wechselten einen unsicheren Blick miteinander.

»Kennt ihr das Bild?«

»Nein, nicht direkt«, wich ihre Oma aus. »Vanessa war 1988 einige Monate als Au-pair-Mädchen in Südfrankreich und hat dort bei einer Familie gelebt, der sie beim Haushalt und mit der Kinderbetreuung unter die Arme gegriffen hat.«

Lara horchte auf. »Warum weiß ich davon nichts? Das hat sie mir nie erzählt.«

»Sie hatte wohl keine allzu guten Erinnerungen an diese Zeit«, murmelte ihr Opa.

»Was soll das heißen?« Lara rutschte nach vorn. »Wann genau war sie denn in Collioure?« Natürlich war ihr bekannt, dass der kleine Ort an der Côte Vermeille die Heimat ihrer Oma war. Doch ihre Mutter war nie mit ihr nach Frankreich gefahren. Früher hatte sie Lara immer wieder erklärt, dass die Strände angeblich nicht für Kinder geeignet seien und das Land in den letzten Jahren sowieso völlig von Touristen überlaufen sei. Lara hatte diese Aussagen nie infrage gestellt. »Wann genau war sie dort unten?«, wiederholte sie ihre Frage jetzt lauter.

»Im Herbst 1988«, erwiderte ihre Oma knapp.

Lara schnaufte laut.

»Kind, wir wissen nicht, was damals geschehen ist. Vanessa hat mit uns nie darüber gesprochen.«

Lara funkelte ihren Opa an. Demonstrativ hielt sie ihren Großeltern das Bild vor die Nase.

»Ma belle Vanessa, 1988.« Sie nickte nachdrücklich. »Wer würde solche Worte wohl benutzen: meine schöne Vanessa.« Sie schnaubte. »Ihre Au-pair-Familie? Eine Freundin? Sicher nicht.« Sie deutete auf das Motiv. Ihre Mutter trug ein kurzes blaues Kleid, die dunkelblonden Haare waren vom Wind zerzaust, ihre Wangen gerötet. Im Hintergrund konnte man das Meer erkennen, links im Bild befand sich eine alte Kirche.

Ihre Großeltern schwiegen.

»Seht sie euch doch mal genau an. Sie strahlt über das ganze Gesicht.« Lara schüttelte den Kopf. »Ihr Blick verrät sie. Meine Mutter ist auf diesem Foto unübersehbar bis über beide Ohren verliebt.« Triumphierend sah sie zwischen ihren Großeltern hin und her. »Und ihr wisst genauso gut wie ich, in wen. In den Fotografen dieses Bildes. In meinen Vater!«

Lara war nicht in der Lage, den Nachrichten zu folgen, die gerade über den Bildschirm flimmerten. Nachdenklich schaltete sie den Fernseher aus und erhob sich vom Sofa. Ihre Mutter hatte sie belogen. All die Jahre. Wie ferngesteuert verließ sie das Wohnzimmer und holte das Fotoalbum aus dem Flur. Dann trat sie in die Küche, nahm ein Glas und eine Flasche Wasser aus dem Kasten und kehrte an den Esszimmertisch zurück. Für einige Sekunden blieb sie reglos vor dem geschlossenen Album sitzen. Wie konnte das sein? Und sagten ihre Großeltern die Wahrheit, wenn sie behaupteten, Vanessa habe nie mit ihnen über Laras Vater gesprochen? Kopfschüttelnd öffnete sie das Album und holte das lose Bild hervor, um es vor sich auf die Tischplatte zu legen. Behutsam strich sie mit ihrem Finger über das Foto. »Wen lachst du gerade so strahlend an, Mama?«

Warum hatte sie Lara nie die Wahrheit gesagt? Natürlich hatte sie ihre Mutter immer wieder einmal nach ihrem Vater gefragt. Meist dann, wenn Lara durch Einladungen bei Freundinnen oder Bekannten die Tatsache vor Augen geführt wurde, dass in ihrem Haushalt, in ihrem Leben eine wichtige Bezugsperson fehlte. Ihre Mutter war stets bei der Behauptung geblieben, sie habe sich als junges Mädchen von gerade einmal achtzehn Jahren in einem schwachen Moment von einem Austauschstudenten verführen lassen, Name und Herkunft unbekannt. Das Ganze sei eine einmalige Angelegenheit gewesen, die Vanessa zwar nicht bereut habe, auf die sie aber auch nicht stolz sei. Und Lara hatte ihr einfach geglaubt. Hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass sie nicht das Produkt einer romantischen Liebesbeziehung, sondern eines stürmischen »Ausrutschers« war.

Sie nahm das Foto erneut auf und hielt es sich dicht vors Gesicht. Wie jung ihre Mutter darauf wirkte! Wie sie richtig bemerkt hatte, war Vanessa Eriksen auch zum Zeitpunkt ihres Todes keine alte Frau gewesen, doch auf diesem Bild umgab sie unübersehbar noch diese Unschuld der Jugend, die Unbeschwertheit und Leichtigkeit des Augenblicks, die im Alter oft einer gewissen Gesetztheit wich.

Ihre Großeltern hatten Lara erzählt, dass ihre Mutter im Sommer 1988 als Au-pair nach Collioure gegangen war. Vanessa Erik­sen hatte die Gegend aus sporadischen Urlauben mit ihren Eltern bereits gekannt und nach dem Abitur entschieden, sich vor dem Studium diese Auszeit zu nehmen. Als sie im Dezember völlig überraschend und unerwartet nach Hause zurückkehrte, war ihren Eltern klar gewesen, dass während Vanessas Aufenthalt in Südfrankreich etwas furchtbar schiefgelaufen sein musste. Doch trotz fortlaufender Nachfragen hatte sie ihnen nie erzählt, was damals vorgefallen war. Als ihre Tochter Sigurd und Béatrice Eriksen kurz darauf mitteilte, schwanger zu sein und das Kind allein aufziehen zu wollen, hatten sich ihre Eltern in ihrer Annahme bestätigt gefühlt, dass es ein Mann gewesen sein musste, der den Aufenthalt ihrer Tochter so abrupt beendet hatte.

Doch warum hatte ihre Mutter Lara all die Jahre angelogen? Sie erhob sich, nahm das Bild und ging ins Badezimmer. Das Foto legte sie vor sich auf die Ablage. Nachdenklich betrachtete sie sich im Spiegel. Während sie sich durch ihr lockiges hellblondes Haar fuhr, das sie mit ziemlicher Sicherheit von ihrem dänischen Opa geerbt hatte, senkte sie den Kopf und betrachtete erneut ihre Mutter. Das Gesicht war runder als Laras, Vanessa war etwa zehn Zentimeter kleiner als ihre Tochter gewesen. Was hatte sie wohl von ihrem Vater geerbt? Die schlaksige Figur? Wie mochte der Mann aussehen, der in jenem Augenblick den Finger auf den Auslöser gedrückt hatte? Hatte er Vanessa etwas zugerufen, das sie so erstrahlen ließ? Oder hatte er sie so lange am Kai hin und her dirigiert, bis das für seinen Geschmack perfekte Motiv stand? War es lediglich ein magischer Augenblick gewesen, der ihre Mutter derart zum Leuchten gebracht hatte?

Der wolkenlose Himmel über Vanessa leuchtete in einem unvergleichlichen Blauton, Schaumkronen tosten auf dem Meer.

Wer war Laras Vater? Nach belangloser Schwärmerei sah der Blick ihrer Mutter nicht aus. Welcher Mann hatte es geschafft, Vanessa derart zu verzaubern? Und warum hatte sie nie wieder ein Wort über ihn verloren?

Lara nahm das Bild wieder auf und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. Frustriert ließ sie sich auf die Couch fallen und öffnete erneut das Album. Ihre Großeltern hatten recht, es handelte sich um Bilder aus Vanessas Schulzeit. Vereinzelt waren auch Fotos dabei, die ihre Mutter sowohl in der Heimat ihres Opas zeigten als auch in Südfrankreich. Ihre Mutter war schon immer sehr attraktiv gewesen, mit üppigeren Rundungen als Lara und einer glatten Wallemähne, die über den gesamten Rücken fiel.

Lara lehnte sich zurück. All die Jahre hatte sie angenommen, ihr Vater habe für ihre Mutter ein namenloses kurzes Abenteuer dargestellt. Nun musste sie ihre Meinung wohl revidieren. Offenbar hatte ihr Vater Vanessa Eriksen tüchtig den Kopf verdreht. Warum daraus letztlich keine glückliche Beziehung geworden war, darüber konnte Lara nur spekulieren. Ob sie ihre Mutter an deren einstige südfranzösische Liebe erinnert hatte? Was hatte Vanessa gedacht, wenn sie ihre Tochter betrachtete?

Lara zog die Knie an den Körper und umschlang die Unterschenkel. Sie fühlte sich schrecklich einsam. Die Frau, die ihr all ihre Fragen hätte beantworten können, lebte nicht mehr. Wahrscheinlich würde sie niemals erfahren, welche Umstände zu ihrer Geburt geführt hatten. Wusste ihr Vater überhaupt von ihrer Existenz? Konnte sie sich in Bezug auf Vanessa Eriksen überhaupt noch auf ihre Vermutungen und Schlussfolgerungen verlassen? Lara war völlig verwirrt. All die Jahre hatte ihr in ihrem Leben nichts gefehlt. Ihre Mutter war eine Powerfrau gewesen, hatte in jeder Lebenslage einen Lösungsvorschlag zur Hand gehabt.

Jetzt spürte Lara eine eigenartige Sehnsucht in sich aufsteigen. Was für ein Typ Mensch ihr Vater wohl war, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte er weitere Kinder, eine Familie, oder hatte er den Frauen nach der Trennung von Vanessa abgeschworen?

Seit Lara denken konnte, hatte ihre Mutter keine ernsthafte Beziehung geführt. Es gab immer mal den einen oder anderen Mann, mit dem sie essen ging oder von dem sie sich ins Theater ausführen ließ. Soweit sie wusste, hatte es keiner in Vanessas Schlafzimmer geschafft. Warum fiel ihr das erst jetzt auf? Ihre Mutter war neunzehn gewesen, als Lara geboren wurde, eine junge Erwachsene. Wäre es nicht das Normalste der Welt gewesen, wenn sie sich verabredet hätte? Wenn sie vielleicht irgendwann geheiratet und eine Familie gegründet hätte? Der Gedanke an Geschwister fühlte sich für Lara merkwürdig an. Doch mit einer Schwester oder einem Bruder wäre sie jetzt in ihrer Trauer nicht allein.

Ihre Mutter hatte nie auch nur ein Wort darüber verloren, dass ihr etwas fehlte, dass sie etwas vermisste. Und Lara? Sie nahm das Leben hin, wie sie es kannte. Vanessa war immer viel unterwegs gewesen, sie lebte für ihren Beruf, trat für die Dinge ein, die ihr wichtig waren, und war Lara die beste Mutter gewesen, die sie sich überhaupt vorstellen konnte. Doch war dieses hektische, stets von Terminen und Verabredungen geprägte Leben nicht vielleicht eine Flucht vor sich selbst gewesen? Hatte das ruhelose Treiben Vanessas seinen Ursprung tief in deren Vergangenheit? Laras Mutter war eine sehr intelligente Frau gewesen, die zu allem eine Meinung vertreten hatte. Warum hatte sie es nicht geschafft, ihrer Tochter die Wahrheit über den Mann zu sagen, der ihr Gesicht vor über drei Jahrzehnten zu diesem wunderschönen Leuchten gebracht hatte? Die Geheimniskrämerei passte nicht zu einer Frau, die ihrer Tochter stets gepredigt hatte, dass Ehrlichkeit und Vertrauen unabdingbare Faktoren jedweder Beziehung seien.

Lara blätterte die Albumseite um. Die Bilder mussten auf der Abschlussfeier der Schule entstanden sein. Die drei abgebildeten jungen Frauen trugen schicke Kleider in Flieder, Hellgrün und Gelb, die mittlere war Vanessa. »Warum hast du mich belogen?«

Auf dem nächsten Foto hatte ein junger Mann seinen Arm um die Schultern von Laras Mutter gelegt.

Lara legte das Bild, das wenige Monate später in Collioure entstanden war, daneben und verglich die beiden Gesichter ihrer Mutter. Auf dem Abiball sah ihre Mutter auch zufrieden aus. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Schnappschuss mit irgendeinem Klassenkameraden. Auf dem Collioure-Foto blickte ihre Mutter dagegen verträumt und wehmütig in die Kamera, sie leuchtete förmlich von innen heraus. »Wie gern würde ich mit dir reden, Mama.«

Ein Schluchzen entrang sich Laras Kehle. Frustriert warf sie das Album auf den Tisch und starrte ins Leere. Hatte sie nicht das Recht darauf, zu wissen, woher sie kam? Wer das andere Teil des Puzzles darstellte, dem sie entsprungen war? Wut mischte sich in ihre Trauer. Warum hatte ihr ihre Mutter nicht die Wahrheit anvertraut? Und was war mit ihrem Vater? Was wusste er? Wo lebte er? Und warum war er nicht bei Vanessa geblieben?

3

Lara hatte kaum geschlafen. Müde schloss sie die Tür zur Galerie auf. Auf dem Weg hierher hatte Katinka sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie aufgrund eines dringenden Termins später käme. Außerdem hätte sie eine Verabredung mit einer jungen Künstlerin, die Lara doch bitte übernehmen solle.

Lara schaltete das Licht ein und legte ihre Tasche unter den Tresen. Während sie auf die Malerin wartete, überflog sie interessiert die heutigen Termine. Da es draußen ungemütlich und stürmisch war, erwartete Lara einen eher ruhigen Tag.

»Guten Morgen!« Eine junge rothaarige Frau betrat die Galerie, unter den rechten Arm hatte sie eine großformatige Mappe geklemmt. »Ich bin Maria Kaarst. Sind Sie Frau Weissner?« Sie sah Lara lächelnd an.

»Nein, ich bin Frau Weissners Mitarbeiterin, Lara Eriksen.« Sie streckte der jungen Frau die Hand hin. »Meine Chefin ist leider kurzfristig verhindert. Aber sie hat mich gebeten, mir Ihre Werke anzusehen. Kommen Sie.« Lara geleitete die junge Künstlerin an den Besprechungstisch, der sich hinter einem weißen Paravent in einer Ecke des Ausstellungsraumes befand. »Bitte. Nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«

Die junge Frau verneinte.

Nachdem sie sich gesetzt hatten, sah Lara Maria Kaarst aufmunternd an. »Dann zeigen Sie doch mal, was Sie uns Schönes mitgebracht haben.«

Die Künstlerin legte die Mappe auf den Tisch und öffnete sie. Auf dem ersten Bild war eine Dünenlandschaft mit unzähligen Strandkörben von hinten zu sehen. Das Bild wirkte leicht verschwommen, besaß jedoch unbestreitbar einen gewissen Charme. Neugierig beugte sich Lara über die Tischplatte. »Inte­ressant.«

Das nächste Bild war vom Meer her gemalt. Es war derselbe Strandabschnitt, nur diesmal von vorn.  

Maria Kaarst hatte noch drei weitere Werke mitgebracht. Eines schien früh am Morgen entstanden zu sein und zeigte einen phänomenalen Sonnenaufgang, während die beiden anderen sich erneut mit weitläufigen Dünenlandschaften beschäftigten. Auf einem waren Dutzende Reiher und Möwen zu sehen, das andere wirkte allein durch die stark intensivierten Farben der Natur.

Lara nickte anerkennend. »Sie haben unübersehbar Talent.«

Das Gesicht der Künstlerin begann zu strahlen. »Finden Sie wirklich?«

Lara lächelte. »Ja, ganz ehrlich. Ihre Werke gefallen mir sehr gut. Und ich glaube, Frau Weissner wäre ebenfalls angetan.«

Maria Kaarst schloss kurz die Augen und faltete die Hände. »Sie wissen gar nicht, was mir Ihre Worte bedeuten.« Sie blickte Lara wieder offen an. »Meine Eltern liegen mir ständig in den Ohren, ich solle mich um einen Ausbildungsplatz bemühen und meine Zeit nicht mit der Malerei vergeuden.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das Malen ist alles, was ich möchte, alles, was ich brauche. Nach meinem Schulabschluss bin ich auf die Inseln gefahren und habe viele Tage am Strand verbracht. Immer auf der Suche nach dem besten Licht, der perfekten Kulisse.«

»Wo waren Sie?«

»Norderney, Langeoog, Baltrum«, zählte die junge Frau eifrig auf. »Ich liebe die Stille am frühen Morgen, bevor die Touristenboote übersetzen. Oft waren die Strände menschenleer. Und in den Dünen ist man ganz allein mit einer Handvoll Möwen. Die Atmosphäre hat etwas Magisches.« Sie lächelte verlegen. »Sicher halten Sie mich für vermessen, aber als ich mich dort so allein am Strand aufhielt, musste ich sehr oft an van Gogh denken. Er hat doch stets über das besondere Licht Südfrankreichs gesprochen, das ihn zu vielen seiner Bilder inspirierte. Oder auch Gauguin. Ich dachte mir, bei den beiden war es das Licht des Südens. Bei mir ist es nun das Licht des Nordens.«

»Ich finde Ihre Gedanken überhaupt nicht vermessen«, entgegnete Lara ernst, da sie die Worte der jungen Frau berührten. Van Gogh hatte auch für sie eine besondere Bedeutung. »Im Gegenteil. Mir gefällt Ihre Motivation. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass einen die Ruhe und die Weite der Dünen am Strand zu diesen bemerkenswerten Motiven beflügeln.«

»Zu Hause habe ich noch einige mehr. Aber ich dachte, ich bringe Ihnen erst mal eine kleine Vorauswahl mit. Ich wusste ja nicht …«

»Nein, das ist gut so. Wenn es möglich ist, würde ich die Mappe gern hierbehalten und mit Frau Weissner besprechen, sobald sie ins Haus kommt. Wir würden uns dann bei Ihnen melden.«

»Ja, natürlich geht das.« Die junge Frau erhob sich und ließ den Blick durch die Galerie schweifen. »Die Räume sind toll. Wenn ich mir vorstelle, dass auch meine Bilder hier möglicherweise hängen könnten ...«

»Sie haben großes Talent«, wiederholte Lara nachdrücklich. »Ich möchte Frau Weissner nicht vorgreifen, aber ich könnte mir Ihre Werke ebenfalls sehr gut hier vorstellen.«

»Ich danke Ihnen.«

»Gern. Und wie gesagt, wir melden uns bei Ihnen.«

Nachdem die junge Künstlerin die Galerie verlassen hatte, kehrte Lara zu den Bildern zurück und betrachtete sie erneut eingehend. Sie strahlten eine sehr ruhige, friedliche Stimmung aus. Ganz im Gegensatz zu Laras Innerem, in dem ein Sturm an Gefühlen tobte.

Sie seufzte, schob die Bilder vorsichtig zusammen und verstaute sie wieder in der Mappe. Im Anschluss begann sie, altes Prospektmaterial zu sichten und auszusortieren, was nicht mehr benötigt wurde. Wie erwartet, verlief der Vormittag ruhig. Lediglich zwei unentschlossene Kunden unterbrachen Laras Ablagearbeiten.

Gegen Mittag betrat Katinka die Galerie.

»Hat sich dein Termin länger hingezogen?« Lara musterte das ernste Gesicht ihrer Chefin.

»Leider ja.« Katinka zog die Jacke aus und legte ihre Tasche neben Laras. »Hast du einen Moment für mich?«

»Natürlich. Ich wollte auch mit dir reden. Maria Kaarst war vorhin da.«

Stirnrunzelnd verfolgte Lara, wie Katinka zur Eingangstür ging, von innen abschloss und das »Geschlossen«-Schild an der Scheibe anbrachte.

»Ist etwas passiert?«

»Komm, setzen wir uns.« Müde winkte ihre Chefin Lara in die Besprechungsecke.

Besorgt nahm sie Katinka gegenüber Platz. Was war geschehen?

»Ich wollte schon lange mit dir sprechen«, setzte Katinka nach kurzem Zögern an. »Aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt. Erst die Sache mit Frank …« Sie stockte. »Dann deine Mutter. Und als es ihr in den letzten Wochen immer schlechter ging, brachte ich es einfach nicht übers Herz, dir …«

»Um was geht es denn eigentlich?«, unterbrach Lara sie ungeduldig.

Sekundenlang blickten sich die beiden Frauen schweigend an, bevor Katinka die Stille durchbrach: »Ich kann dich nicht länger hier beschäftigen.«

Lara meinte, sich verhört zu haben. »Was?«

»Es tut mir unendlich leid. Du weißt, dass ich deine Arbeit und deine Expertise sehr schätze. In den vier Jahren, in denen wir uns kennen, warst du für mich immer weit mehr als meine Mitarbeiterin. Ich mag dich als Mensch, und ich schätze dich als Kollegin. Aber ich hatte gerade ein Gespräch mit der Bank, und sie haben mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich kurz vor der Insolvenz stehe.«

Lara rieb sich über die Stirn. In ihrem Kopf herrschte heilloses Chaos. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie konnte es nicht fassen. »Wirst du schließen müssen?«

Katinka atmete tief durch. »Ich versuche natürlich erst mal, die Galerie zu halten. Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Die Geschäfte gehen schlecht. Der Umsatz hat sich in den letzten anderthalb Jahren halbiert.«

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Lara ungläubig. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, die Galerie habe sich zu einer bedeutungsvollen Einrichtung in der Bremer Kunstszene entwickelt. »Vielleicht könnte ich ja meine Arbeitszeit etwas reduzieren?«

Bekümmert schüttelte Katinka den Kopf. »Wenn du wüsstest, wie ich mich vor diesem Gespräch gefürchtet habe. Aber ich kann dich nicht mehr bezahlen, Lara. Auch nicht in Teilzeit. Meine eigene Existenz steht auf dem Spiel. Ich muss mir überlegen, ob ich möglicherweise irgendwo anders kleinere günstigere Räume anmiete. Ich habe absolut keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«

»Du kündigst mir also«, folgerte Lara entmutigt.

»Es tut mir sehr leid«, wiederholte Katinka traurig. »Und ich weiß, dass es nicht fair ist. Aber was soll ich machen?«

»Fair«, presste Lara hervor. »Wann ist das Leben schon fair?«

Zwei Stunden später klingelte Lara am Reihenhaus ihrer Großeltern. Die Tränen liefen ihr immer noch unaufhaltsam über die Wangen. Nachdem sie ziellos durch Bremen geirrt war und doch keinen klaren Gedanken zu fassen bekam, hatte sie plötzlich das tiefe Bedürfnis nach Nähe und Trost in das Stadtviertel getrieben, in dem ihre Großeltern wohnten.

Als ihre Oma die Haustür öffnete, erfasste sie mit einem Blick Laras Zustand. »Was ist denn passiert, Kind?«

»Kannst du mich bitte einfach nur in den Arm nehmen?«, schluchzte sie.

Béatrice Eriksen zog ihre Enkelin ohne zu zögern an sich. Lara umarmte die kleine ältere Frau und verbarg das Gesicht an ihrer Schulter.

»Ach je«, seufzte ihre Großmutter mitfühlend. »Lass es raus. Es war einfach alles zu viel in letzter Zeit.«

Minutenlang standen die beiden vor dem Haus auf dem Treppenabsatz und hielten sich in den Armen. Als sich Lara endlich beruhigen konnte, löste sie sich von ihrer Oma und blickte betreten zu Boden.

»Lass uns reingehen.«

Im Flur spürte Lara den Arm ihrer Oma um ihre Taille, die sie mit Nachdruck ins Wohnzimmer schob. »Setz dich.«

Lara rückte sich einen der Stühle zurecht und nahm am Esszimmertisch Platz. Sie schniefte. »Wo ist Opa?«

»Er trifft sich mit einem Arbeitskollegen von früher«, erwiderte ihre Oma leise, während sie ein Glas Wasser vor Lara abstellte.

Sigurd Eriksen hatte als junger Mann direkt nach seinem Studium seine Heimat in Dänemark verlassen, da ihn eine lukrative Stelle als Schiffbauingenieur in eine der großen Bremer Werften lockte. Mit einigen seiner Kollegen stand er bis heute in Kontakt.

»Katinka hat mich gefeuert«, stieß Lara hervor.

»Einfach so?« Ihre Oma verengte die Augen.

»Der Galerie geht es finanziell sehr schlecht, und sie kann sich keine Mitarbeiterin mehr leisten«, erwiderte Lara und nahm einen großen Schluck.

Die ältere Frau setzte sich neben Lara und strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Katinka meinte, sie habe es mir schon seit Längerem sagen wollen, aber nie den richtigen Zeitpunkt gefunden.«

Ihre Oma nickte bedächtig. »Sie hat recht. Erst das Theater mit Frank, dann die Sorgen um Vanessa und jetzt …«

»Und jetzt erfahre ich, dass mein Vater gar keine so unbedeutende Schwärmerei meiner Mutter war, wie sie mich immer glauben machen wollte«, ergänzte Lara.

»Ach, Kind.« Béatrice Eriksen atmete tief durch. »Die letzten Monate waren nicht einfach. Ich wünschte, Vanessa könnte dir noch erklären, was damals geschehen ist.«

»Sie hatte dreißig Jahre lang Zeit.« Lara schüttelte den Kopf. »Und selbst, als sie spürte, dass sie die Leukämie nicht würde besiegen können, hat sie es nicht für nötig gehalten, mir die Wahrheit zu sagen.« Erneut begannen ihre Augen zu brennen. Ungehalten wischte sie die aufsteigenden Tränen weg und stand auf. Während sie den irritierten Blick ihrer Großmutter auf sich spürte, betrat sie entschlossen die Küche. »Was hältst du davon, wenn ich uns ein paar Crêpes backe?« Wieder musste sie an Vanessa denken. »Sicher freut sich Opa auch darüber, wenn er nach Hause kommt.«

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Widmung

Für meine Kinder