Die Frauen von Salem - Brunonia Barry - E-Book

Die Frauen von Salem E-Book

Brunonia Barry

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Beschreibung

Salem, Neuengland: drei tote Frauen, ein kleines Mädchen als Augenzeugin und eine bekannte Historikerin unter Mordverdacht – ein Fall, der nie ganz gelöst werden konnte. Auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre nach dieser unheilvollen Nacht, an Halloween 2014, wird wieder ein Mord verübt. Erneut wird Rose Whelan verdächtigt, der man damals jedoch nichts nachweisen konnte. John Rafferty, Polizeichef in Salem, untersucht den aktuellen Fall und rollt im Zuge der Ermittlungen auch diesen berühmtesten Cold Case der Stadt wieder auf. Callie Cahill, das Mädchen, das damals verschont wurde und später Salem verließ, erfährt aus dem Fernsehen von dem Mord – und kommt zurück in ihre Heimatstadt, denn sie muss beweisen, dass Rose nicht die Täterin sein kann. Rose, die Frau, bei der sie aufwuchs, die ihr einst so nahe stand. Sie kann es einfach nicht gewesen sein – weder damals noch heute. Oder etwa doch?

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Seitenzahl: 686

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Zum Buch

Salem, Neuengland: drei tote Frauen, ein kleines Mädchen als Augenzeugin und eine bekannte Historikerin unter Mordverdacht – ein Fall, der nie ganz gelöst werden konnte. Auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre nach dieser unheilvollen Nacht, an Halloween 2014, wird wieder ein Mord verübt. Erneut wird Rose Whelan verdächtigt, der man damals jedoch nichts nachweisen konnte. John Rafferty, Polizeichef in Salem, untersucht den aktuellen Fall und rollt im Zuge der Ermittlungen auch diesen berühmtesten Cold Case der Stadt wieder auf. Callie Cahill, das Mädchen, das damals verschont wurde und später Salem verließ, erfährt aus dem Fernsehen von dem Mord – und kommt zurück in ihre Heimatstadt, denn sie muss beweisen, dass Rose nicht die Täterin sein kann. Rose, die Frau, bei der sie aufwuchs, die ihr einst so nahe stand. Sie kann es einfach nicht gewesen sein – weder damals noch heute. Oder etwa doch?

Zur Autorin

BRUNONIA BARRY, geboren und aufgewachsen in Massachusetts, studierte Literatur am Green Mountain College in Vermont und an der University of New Hampshire. Sie verbrachte ein Jahr in Dublin, um sich intensiv mit James Joyce’ Meisterwerk »Ulysses« zu befassen. Barry war Mitbegründerin der Portland Stage Company und arbeitete jahrelang als Drehbuchautorin in Kalifornien. Inzwischen lebt Brunonia Barry mit ihrem Mann in Salem, Massachusetts. Ihr Romandebüt »Die Mondschwimmerin«, das sie zunächst im Selbstverlag publiziert hatte, wurde dank Mundpropaganda ein sensationeller Erfolg. Es wurde in über 20 Länder verkauft und stand wochenlang auf den ersten Plätzen der New York Times Bestsellerliste.

BRUNONIA BARRY

Die Frauen von Salem

Roman

Aus dem Englischen von Elke Link

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Fifth Petal« bei Crown Publishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2017

Copyright © Brunonia Barry 2017

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Des Panteva/Arcangel Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AH · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-18944-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Für Gary

Es fordert Blut, sagt man; Blut fordert Blut. Man sah, dass Fels sich regt’ und Bäume sprachen …

WILLIAM SHAKESPEARE, MACBETH

PROLOG

1. November 1989

SALEM, MASSACHUSETTS

Ein bisschen spät, um zu beten«, dachte Tom Dayle, ohne es auszusprechen. Das Kind saß auf einer Liege hinter dem Trennvorhang in der Notaufnahme des Salem Hospital und hielt etwas in der Faust. In Dayles Augen, denen eines nicht praktizierenden Katholiken, sah es aus wie die Perlen eines Rosenkranzes.

Es war ein seltsamer Anblick: ein kleines Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs, Gebetsperlen baumelten an den verkrampften, weiß angelaufenen Fingern, die den Anhänger des Rosenkranzes so fest umklammerten, dass es blutete, angetrocknete rotbraune Rinnsale liefen über die Unterarme und zwischen den Fingern hindurch. Tiefe Kratzer bedeckten Arme und Beine des Kindes. Wenn es einem gelang, das Blut nicht zu beachten, sah sie aus wie ein Engel von Botticelli: Dunkle Locken fielen ihr über den Rücken, die alabasterfarbene Haut war noch nicht von Solarien oder der Sommersonne in Mitleidenschaft gezogen.

Die beiden Nonnen, die sie begleiteten, trugen zur engelsgleichen Erscheinung bei: Die jüngere saß neben dem Kind und hielt selbst einen Rosenkranz in der Hand, während sie lautlos die Gebete sprach, die ältere, die er als Mutter Oberin der St James Schule erkannte, stand direkt dahinter und hielt Wacht.

Die Nonnen hatten das Kind gefunden. Auf dem Weg hierher hatte Dayle die Geschichte gehört. Während der Morde hatte sich die Kleine im Gebüsch versteckt, den Rosenkranz umklammert und gebetet. Die Nonnen, die zugaben, in der Nacht Schreie gehört zu haben, hatten sie erst am nächsten Morgen gefunden, als nur noch ein schwermütiges Klagen zu vernehmen war. Sie waren dem Geräusch den North River entlang gefolgt und hatten das kleine Mädchen neben der Spalte entdeckt, in der die Leichen seiner Mutter und zweier weiterer, bisher noch nicht identifizierter Frauen lagen.

»Vielleicht hätte sie beten sollen, dass Sie früher die Polizei rufen«, sagte Dayle zu der älteren Nonne. Er wollte ihr damit weniger einen Vorwurf machen, als verhindern, dass ihm selbst beim Anblick des kleinen Mädchens das Herz brach. Sie musste etwa im selben Alter sein wie seine Enkelin.

Ein Beamter hatte die ältere Nonne aber bereits gefragt, warum sie mit dem Notruf gewartet hatte, obwohl die Schreie bis in die Nacht hinein angedauert hatten. »In Salem wurde Halloween gefeiert«, sagte sie traurig. »Es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn wir keine Schreie gehört hätten.« Ein anderer Beamter vor Ort glaubte, eine der jungen Frauen zu erkennen, als ihre Leiche aus der Spalte gezogen wurde. Bei der näheren Untersuchung änderte er seine Meinung.

An diesem Vormittag hatten sie eine verdächtige Person aufgegriffen, eine Frau aus dem Ort, die in der Daniels Street wohnte, aber diese Informationen wollte er den Nonnen nicht preisgeben. »Im Moment sind wir noch mit der Identifizierung der Opfer beschäftigt.«

»Eines der Opfer war die Mutter des Kindes.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte er, als hörte er das zum ersten Mal.

»Die Kleine hat es uns erzählt. Sie hat bis gerade mit uns geredet«, sagte die ältere Nonne. »Sie hat erst aufgehört, als Sie hereingekommen sind.«

In all seinen Jahren als Kriminalbeamter hatte Tom Dayle nie etwas so Grässliches gesehen wie das, was in der letzten Nacht bei Proctor’s Ledge passiert war. Drei junge Frauen waren mit durchschnittener Kehle in eine schmale Felsspalte in der Nähe geworfen worden, in jenes Massengrab, in dem man damals in Salem ohne viel Federlesens die Leichen der Männer und Frauen entsorgt hatte, die während der Hysterie von 1692 wegen Hexerei angeklagt und hingerichtet worden waren.

Eine Krankenschwester kam herein und versorgte die Kratzer an den Armen und Beinen des Mädchens. Das Kind zuckte zurück.

»Es tut mir leid, Kleines, aber ich muss das sauber machen.«

»Wo hast du denn diese Kratzer her?«, fragte Dayle das Mädchen. Sie antwortete nicht, sondern starrte, als würde sie durch ihn hindurchsehen.

»Sie hat sich fast die ganze Nacht im Gestrüpp versteckt«, sagte die Mutter Oberin zu Dayle. »Daher rühren die Kratzer.«

Die Schwester ging Verbandszeug holen. »Sie wird eine Tetanusspritze brauchen«, sagte sie.

»Nein«, sagte das Kind. Mit einem Mal war der tranceähnliche Zustand beendet, und sie benahm sich zum ersten Mal wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Sie fing an zu weinen.

»Warten wir erst einmal ab, was der Arzt sagt«, versuchte die Schwester sie zu trösten. »Vielleicht brauchst du ja gar keine Spritze.«

»Ich will zu Rose«, sagte das Mädchen. Das war der Name der Frau, die sie gerade auf dem Friedhof in der Broad Street aufgegriffen hatten. Als sie Rose Whelan gefunden hatten, war sie voller Blut und hatte unzusammenhängendes Zeug geredet. Der Streifenpolizist, der sie in Gewahrsam genommen hatte, war eine Verstärkung von außerhalb gewesen. An Halloween zog Salem häufig Kräfte aus anderen Orten hinzu. Er hatte angenommen, Rose wäre einfach übriggeblieben, hätte in der Nacht zuvor zu viel gefeiert und müsste ausnüchtern. Das war eine naheliegende Vermutung. Als er jedoch gemerkt hatte, dass das Blut auf ihrer Haut und ihrer Kleidung nicht das Theaterblut war, das sie in den Kostümläden verkauften, sondern echt – er hatte genügend Autounfälle und Prügeleien in Bars gesehen, um das zu wissen –, hatte er sie auf die Wache gefahren, wo man die Frau umgehend erkannte, was die Geschichte noch bizarrer machte.

Rose Whelan war eine bekannte Historikerin, die mehrere Bücher über die Geschichte von Salem geschrieben und das städtische Forschungszentrum über die Hexenprozesse von Salem gegründet hatte, ein Archiv, das Wissenschaftler aus der ganzen Welt anzog. Sie war eine angesehene Frau, die irgendwann zwischen dem letzten Abend und diesem Morgen den Verstand verloren zu haben schien.

»Sie fragt ständig nach Rose«, sagte die Mutter Oberin. »Rose ist die Frau, die sie ins Gebüsch geschubst und ihr gesagt hat, sie soll beten. Sie hat ihr den Rosenkranz gegeben.«

»Der Rosenkranz hat sie gerettet«, sagte die junge Nonne und streckte ihm ihren eigenen entgegen, an dem der gekreuzigte Leib Christi schwang wie ein Pendel. »Es ist ein Wunder.«

Die Krankenschwester reinigte die Kratzer, ließ aber die größere Wunde auf der Hand des Mädchens unberührt. »Der Arzt ist auf dem Weg. … Mach die Hand nicht auf, meine Kleine. Wir wollen doch nicht, dass du wieder zu bluten anfängst. Halte sie einfach genau so wie jetzt, bis er da ist.« Sie ging hinaus.

Als die Schwester nicht mehr störte, konnte sich Dayle auf das Kind konzentrieren. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, um weniger bedrohlich zu wirken.

»Wie heißt du denn?«, fragte er so freundlich wie möglich.

Sie gab keine Antwort. Sie hatte eindeutig Angst vor ihm.

»Das ist schon in Ordnung, er ist Polizist. Du kannst es ihm sagen«, versuchte es die jüngere Nonne.

Dayle zog den Stuhl noch näher an die Krankenliege. »Wie alt bist du?«

Wieder gab sie keine Antwort, sondern drückte die Hände noch fester zusammen, die Finger ineinander verschränkt, so dass ihr ein einzelner Tropfen frischen Blutes an der Innenseite des Unterarms herunterrann. Als sie wieder Blut sah, erhöhte die jüngere Nonne die Geschwindigkeit ihrer eigenen Gebete und sprach die Ave Marias in schneller Abfolge, als würde ein rasches Bittgebet alles auslöschen, was da vor sich ging.

»Ich habe eine Enkelin so etwa in deinem Alter.« Dayle zwang sich zu einem Lächeln. »Wie alt bist du denn, vier ungefähr?«

»Ich bin fünf!«

»Ah, fünf! Das ist schon sehr erwachsen.«

Das Kind starrte ihn an. »Ich will zu Rose.« Sie geriet langsam in Panik.

»Vielleicht kann ich ja helfen«, sagte er. »Weißt du, wie Rose mit Nachnamen heißt?«

Sie nickte. »Rose Whelan.«

»Und weißt du, wo ich diese Rose Whelan finde?«, fragte er lächelnd. »Ich möchte sie für dich holen. Weißt du, wo sie wohnt?«

Wieder nickte sie.

»Sagst du uns den Namen der Straße, in der sie lebt?« Es gefiel ihm gar nicht, sie so auszutricksen, aber er musste es doppelt überprüfen.

»Ich wohne da auch«, sagte sie abwehrend.

»Kannst du uns denn die Adresse sagen?« Heutzutage kannte fast jedes Kind seine Adresse. Er selbst hatte auch dafür gesorgt, dass es zu den ersten Dingen gehörte, die seine Enkeltochter gelernt hatte.

Als würde sie etwas Auswendiggelerntes aufsagen, antwortete sie: »62 Daniels Street, Salem, Massachusetts, 01970.«

Der Arzt kam herein, und damit war jede weitere Chance auf ein Gespräch beendet. Dayle stand auf und schob seinen Stuhl aus dem Weg.

»Dann sehen wir uns mal die Wunde an«, sagte der Arzt.

Das kleine Mädchen wirkte unsicher.

»Schon gut, du kannst jetzt loslassen.« Er berührte sanft ihre Hand.

Nacheinander löste sie die Finger aus der verkrampften Gebetshaltung, und dann sahen alle, was sie so verzweifelt umklammert hatte.

Mit der Oberseite nach unten lag eingebettet in ihrer Handfläche ein hölzernes Symbol, das Dayle nicht erkannte: Es war abgerundet und geschnitzt, mit scharfen Rillen, die sich tief in ihre Handfläche gruben. Er wusste nicht, was es war, aber es war auf keinen Fall ein Kruzifix.

Vorsichtig befreite der Arzt die verkrusteten Ränder mit einem Skalpell und löste den hölzernen Rosenkranz heraus. Er fiel auf den Boden. Dayle hob ihn auf.

Es dauerte einen Moment, bis die Handfläche des Mädchens wieder durchblutet wurde. Langsam sammelte sich das Blut, färbte den weißen Abdruck nach und nach rot, bis schließlich eine purpurrote Abbildung des Medaillons entstand, das Dayle jetzt in der Hand hielt: eine vollkommene Rose mit fünf Blütenblättern.

TEIL EINS

KAPITEL 1

31. Oktober 2014

SALEM

1692 gab es keine Hexen in Salem, heute jedoch gedeihen sie in hoher Zahl.

ROSE WHELAN, Die Hexen von Salem

Rafferty hatte es noch nie erlebt, dass an Halloween so viele Verkleidete auf der Chestnut Street unterwegs waren. Und er war auch noch nie damit betraut gewesen, eine so lange Hexenprozession zum Gallows Hill zu eskortieren. Dieses Jahr waren es mindestens 150 Teilnehmer – Wicca, Druiden, Kelten, Ökohippies mit einem Hang zum Übersinnlichen, Pantheisten wie Polytheisten –, die langsam hinter seinem Streifenwagen herliefen, einem 1980er Ford Crown Victoria, den er vor der Verschrottung gerettet hatte. Aus Sicherheitsgründen waren mehrere Straßen gesperrt worden. Der Verkehr staute sich schon bis auf die Highland Avenue, während die Besucher zu den Feierlichkeiten in die Stadt strömten.

Er lebte mittlerweile beinahe zwanzig Jahre in Salem. Damals in den Neunzigern war die Stadt nur im Sommer und im Frühherbst voller Touristen; im Hochsommer waren im Stadtzentrum nirgendwo mehr Parkplätze zu finden, was wirklich lästig war. Aber am 1. November, da konnte man parken, wo man wollte. Nun nicht mehr. Salem war kein vergessener Seehafen mehr. Keine alternde Industriestadt. Salem war entdeckt worden, und zwar nicht nur als Urlaubsziel, sondern als neuer, angesagter Wohnort. Heutzutage konnte man das ganze Jahr über von Glück sagen, wenn man einen Parkplatz in der Stadt fand, und deshalb fuhr Rafferty immer den Streifenwagen, auch an seinem freien Tag. Als Polizeichef konnte er überall in zweiter Reihe parken. Und meistens wurde er von Touristen gebeten, neben dem Streifenwagen zu posieren, damit sie das Witch-City-Logo mit aufs Bild bekamen: eine Polizeimarke, geschmückt mit einer Hexe, die auf einem Besen reitet und einen spitzen Hut aufhat.

Doch das war alles nichts im Vergleich dazu, was hier im Oktober los war. Die Stadt hatte den Titel »Welthauptstadt des Halloween« bekommen. Das war keine große Überraschung. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass die Feiern irgendwann einen ganzen Monat lang andauern würden. In letzter Zeit war es sogar mehr als ein Monat, was gut für die Händler war: Jeden Oktober stieg die Anzahl der Einwohner um mindestens 300 000 Personen an. Salem holte sich jedes Jahr zusätzliche Polizeikräfte aus Boston und Lynn und sogar aus dem entfernten Connecticut, und trotzdem waren sie jedes Jahr unterbesetzt. Auch die Menschenmengen heute Abend waren nicht von schlechten Eltern. Selbst hier im Wohnviertel warteten die Verkleideten in langen Schlangen vor den historischen Herrenhäusern, die eigens für diesen Anlass geschmückt waren, auf ihre Süßigkeiten.

Rafferty fuhr die Chestnut Street in der falschen Richtung zur Ecke Flint Street.

»Hey, Rafferty«, rief ein als Pirat verkleideter Mann, den man im Ort als Worms kannte, »jetzt kannst du dir mal selber ’n Strafzettel ausstellen. Das hier ist eine Einbahnstraße!«

Jedes Jahr trafen sich die Piratendarsteller beim Phillips House, um den Kindern Lieder vorzusingen und ihnen vielleicht ein bisschen Angst einzujagen. Das Philipps House war das einzige historische Haus in der Chestnut Street, das als Museum zugänglich für die Öffentlichkeit war.

»Tunichtgut!«, brummte sein Begleiter Mickey Doherty.

»Pah«, rief Rafferty ihnen zu.

»Das ist eine Beleidigung, John«, sagte Mickey und nahm es als Einladung, sich dem Streifenwagen zu nähern.

»Pah ist nur ein Ausruf, Mickey«, sagte Rafferty. Mickey Doherty hatte so viel Unternehmergeist wie kaum ein anderer in der Stadt. Er besaß zwei Spukhäuser in der Derby Street und den Piratenladen am Pier, wo er nebenher ein bisschen Gras verkaufte. Da der Besitz von Marihuana heutzutage als geringfügiges Vergehen galt und Mickey nicht an Jugendliche verkaufte, schaute Rafferty einfach weg. »Und wenn dir das nicht klar ist, solltest du vielleicht mal ein paar Dark ’n’ Stormys weniger trinken. Das ist doch ein Fest für Kinder, oder?«

Mickey lachte und haute mit der Faust auf den Streifenwagen. »Diese kleinen Teufel kann ich nur mit einer Stärkung ertragen!«

Rafferty schüttelte den Kopf.

»Wie schaut es denn auf den Straßen aus?«, wollte Mickey wissen. »Ich hab vorhin mit Ann gesprochen, und sie hat mich gewarnt. Heute Nacht liegt eine seltsame Spannung in der Luft.«

Ann Chase. Salems berühmteste zeitgenössische Hexe. »Na, sie muss es ja wissen …«, sagte Rafferty, und Mickey lachte. »Ehrlich gesagt, mir kommt es ziemlich harmlos vor«, sagte Rafferty. Das stimmte.

Der Herbst war in diesem Jahr spät gekommen, aber jetzt kühlte die Luft ab, und die Dunkelheit griff um sich. Er nickte Mickey zu, schaltete die Sirene ein und fuhr ein Stück vor, so dass er den von der Essex Street kommenden Autos den Weg blockierte und die Prozession die Straße überqueren konnte. Während sich der Zug mit den Kerzen weiterbewegte, drückte ein Fahrer auf die Hupe, und andere machten gleich mit, um gegen die Verzögerung zu protestieren. Die Hexen gingen in Formation, bedächtig wie Bräute.

Sobald die letzte Hexe die Straße auf dem Weg hinauf zum Gallows Hill Park überquert hatte, war Raffertys Eskortdienst beendet. Er fuhr rund um die Stadt, kontrollierte die auswärtigen Kräfte und die berittenen Polizisten. Eine seltsame Spannung. Ihm fiel auf, dass lange Bänder aus Toilettenpapier die Choate-Statue an der Ecke Essex und Boston Street zierten – das war weder neu noch sonderlich seltsam. Hier zogen kostümierte Kinder durch die Gegend, meistens ohne ihre Eltern: Die kleinen hatten die Taschen voller Süßigkeiten und sprangen herum, die älteren suchten nichts als Ärger. Er entdeckte ein paar Teenager auf dem Parkplatz einer Autolackiererei in der Boston Street. Sie zerstreuten sich sofort, als sie ihn kommen sahen – wahrscheinlich vertickten sie Drogen. Das gab es in letzter Zeit häufig in dieser Gegend. Er hoffte, das neue Seniorenzentrum, das hier gebaut werden sollte, würde dem Viertel einen anderen Stempel aufdrücken. Das Grundstück hatte sowieso schon zu lange brachgelegen.

Er wendete vor der Dairy Witch und fuhr wieder zurück, als er die Meldung bekam, es gebe Unruhe auf dem Walgreens Parkplatz ein paar Häuser weiter. »Ich übernehme«, sagte er in der Annahme, dass es sich wahrscheinlich um dieselben Jugendlichen handelte. Aber als er auf den Parkplatz einbog, war niemand zu sehen. Er fuhr um das Gebäude herum und entdeckte den Leichenwagen, der auf der Seite von Proctor’s Ledge parkte. Touren mit dem Leichenwagen waren in Salem ein einträgliches Geschäft; aber nicht nur das, im Angebot war alles von Spukhäusern bis zu dem Wohnblock drüben an der Lafayette Street, in dem der Boston Strangler Anfang der Sechzigerjahre sein einziges Opfer an der North Shore ermordet hatte. Kleinunternehmer in Salem bemühten sich sehr, die Touristen in Schrecken zu versetzen, besonders an Halloween, auch wenn das handgemalte Geisterlogo von Fright Tours, das die Seite des Leichenwagens zierte, eher dem Gespenst Casper als Jacob Marley ähnelte.

Außer bei berechtigten Beschwerden der Nachbarn unternahm die Polizei nichts, um die Gruseltouren und ähnliche Angebote zu verhindern, mit denen die Leute, die von Halloween leben mussten, ein bisschen Geld verdienten. Aber das hier war kein öffentlicher Grund, es war Privatgrund, und die Flut von Touristen störte nicht nur den Geschäftsführer von Walgreens, sondern auch die Anwohner oben auf dem Hügel. Besonders in letzter Zeit, seit die Besichtigung des Tatorts der immer noch ungelösten Morde von 1989 zur beliebtesten Tour von Salem geworden war.

Von hier aus konnte er die Kerzen sehen. Er erkannte die Stimme eines Darstellers aus Salem, dem man den Spitznamen Bühnenbob gegeben hatte. Als Sprecher eines Werbespots für Seebestattungen hatte er genug Geld verdient, um sich den alten Leichenwagen zu kaufen und ihn mit bequem zurechtgeschnittenen und mit Satin ausgekleideten Särgen als Sitzen auszustatten. Bühnenbobs Bariton war heute weit weniger beruhigend als seine ozeanische Bestattungsstimme. Heute klang die Stimme rau und gespenstisch.

»Und jetzt kommen wir zu Proctor’s Ledge. Auch wenn Ihnen manche etwas anderes erzählen, viele glauben, dass hier und nicht Gallows Hill der Ort ist, an dem in Salem im Jahr 1692 neunzehn der Hexerei beschuldigte Menschen hingerichtet wurden. Hier ist auch die Stelle, wo an Halloween 1989 drei schöne junge Frauen brutal ermordet worden sind: Olivia Cahill, Cheryl Cassella und Susan Symms. Von Susan Symms Leiche wurden eine Strähne ihrer geisterhaften weißen Haare und ein Stück Haut abgeschnitten, um sie für irgendein satanistisches Ritual zu verwenden.«

Die Menge murmelte entsetzt.

Rafferty hatte schon mehrfach gehört, wie Bühnenbob die Tour leitete. Er spielte den Zuschauern immer etwas vor, veränderte die Geschichte wirkungsvoll und gestaltete sie aus, aber dieser letzte Teil war erst vor kurzem hinzugefügt – und übertrieben ausgeschmückt worden.

»Behaltet ihre Namen im Gedächtnis. Und behaltet den Namen im Gedächtnis, den ihnen die Stadtbewohner gegeben haben. Diese jungen Frauen waren so schön und so bezaubernd, dass man sie nur ›die Göttinnen‹ nannte.«

Wieder Gemurmel der Zuschauer.

»In dieser Nacht hörten die Leute, die in der Boston Street und am North River wohnten ihre Schreie, aber man rief erst am nächsten Morgen die Polizei. Als wäre die gesamte Stadt Salem mit einem Bann belegt worden, den niemand durchbrechen konnte. Denn was die Mädchen damals an jenem Halloween getan hatten, war seit 1692 verboten. Sie wollten das Massengrab ihrer Vorfahren weihen, fünf Frauen, die in dieser dunklen Zeit hingerichtet worden waren – weil sie sich in das Buch des Teufels eingetragen hatten.«

Bob machte wieder eine Pause.

»Das Ritual, das die Göttinnen in der Halloweennacht von 1989 vollzogen, verstieß gegen das puritanische Gesetz von 1692. Den Boden zu segnen, in dem eine Hexe von Salem begraben worden war, galt als Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand. Und genau dieses Schicksal ereilte im Jahr 1989 paradoxerweise diese schönen jungen Frauen. Jemand oder etwas beschloss, sie zu bestrafen.

Auf mysteriöse Weise verschwanden die Leichen all derer, die 1692 gehenkt worden waren, kurz nach der Hinrichtung und wurden nie gefunden. Das ist eines der großen Rätsel von Salem. Aber die Leichen der Göttinnen wurden zurückgelassen, so dass alle sie sehen konnten. Man hatte ihnen die Kehle durchgeschnitten und ihre Leichen in dasselbe Massengrab geworfen wie einst ihre Vorfahren.«

Schon wieder eine Lüge, dachte Rafferty. Die Leichen der Göttinnen waren nie zur Schau gestellt worden. Woher hatte Bob nur diesen Unsinn?

»In der Nacht von 1989 gab es nur zwei Überlebende, eine Frau mittleren Alters und ein kleines Mädchen. Die Frau wurde auf dem Friedhof in der Broad Street aufgefunden, befleckt mit dem Blut der Opfer, und sie redete wirres Zeug über ein schauerliches Wesen, das die Mädchen angeblich getötet hatte. Die meisten halten die Frau für die Schuldige. Früher war sie eine angesehene Historikerin und Wissenschaftlerin, aber in dieser Nacht verlor sie den Verstand und wurde nie wieder gesund. Bis zum heutigen Tag sieht man sie durch die Straßen von Salem ziehen, und jedem, der ihr über den Weg läuft, sagt sie den Tod voraus. Sie wurde nie angeklagt. Man konnte nie beweisen, wer wirklich schuldig war. Manche glauben, es war die Verrückte. Andere glauben, es war ein teuflisches Wesen, ein schreiender Geist uralter Mächte, der jedes Jahr an Halloween zurückkehrt, um neue Opfer zu fordern.«

Auf das Stichwort erscholl gleich hinter Rafferty ein markerschütternder hoher Schrei.

Die Leute schnappten nach Luft.

Rafferty wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um Bühnenbobs Komplizen aus dem Wald laufen zu sehen. »Hau bloß schnell ab«, sagte Rafferty leise. Er kämpfte sich durch das dornige Gebüsch und fluchte, als ihn ein zurückschnalzender Zweig im Gesicht erwischte.

»Und das kleine Mädchen?«, fragte eine Touristin. »Was ist mit ihr passiert?«

»Das weiß niemand.« Bob hielt wieder effektvoll inne. »Das kleine Mädchen ist kurz nach den Morden verschwunden. Seither hat sie niemand mehr gesehen oder von ihr gehört.«

Als Rafferty unwillkürlich stöhnte, wandten sich die mittlerweile verängstigten Touristen zu ihm um. Selbst Bühnenbob stockte der Atem, bis er Rafferty entdeckte, der sich durch die Dornensträucher schlug.

»Sind wir dann bald fertig?«, fragte Rafferty. »Oder willst du diesen armen Leuten noch mehr von dieser haarsträubenden Geschichte verkaufen? Du weißt genau, dass das hier nicht erlaubt ist, Bob.«

Rafferty gefiel es nicht, dass der ungelöste Fall Futter für Gruseltouren und Touristendollars geworden war und mittlerweile, ausgestattet mit völlig übertriebenen Details, die schlichtweg nicht wahr waren, mythische und paranormale Dimensionen angenommen hatte. Die Morde waren schon Jahre bevor er nach Salem gekommen war, begangen worden, aber für Rafferty stellte der ungelöste Fall einen Schandfleck für die Polizeibehörde dar, die er mittlerweile leitete.

Rafferty begleitete die Touristen zurück zu dem Leichenwagen, dann fuhr er voraus aus dem Parkplatz und auf die Boston Street. An der Kreuzung bog er links ab und fuhr bis ans andere Ende der Essex Street, dem Zentrum der Feierlichkeiten.

Wie immer drängten sich die Feiernden auf der Fußgängerzone: Piraten, sexy Hexen, Monster und Zombies. Eine Menge Zombies. Die Untoten waren den Piraten und Hexen im Verhältnis von ungefähr zehn zu eins überlegen. Aus der Mitte der Menschenmenge drangen die verstärkten Stimmen der Wanderprediger, die den Verkleideten Feuer und Schwefel androhten und ihre Seelen in die Hölle verdammten, wenn sie nicht Buße taten und aufhörten zu feiern. Dieses Jahr hatten sie noch Trommeln und Becken dabei, die jedes Mal gegeneinander geschlagen wurden, wenn ein Prediger das Wort Hölle benutzte. Die Leute lachten und applaudierten. Es machte nicht den Eindruck, als würde es heute Nacht zu Konfrontationen zwischen den Gruppen kommen.

In einer Menschenansammlung an der Ecke sah Rafferty eine Familie in selbstgemachten Kostümen mit blutigen Stumpen anstelle ihrer Gliedmaßen. Sie zogen einen kleinen roten Wagen mit Körperteilen hinter sich her. An der Seite stand ein Mann, der als Herd verkleidet war, mitsamt Kochplatten, die sich ein- und ausschalteten. Ein äußerst überzeugendes Paar zusammengeklebter siamesischer Hundezwillinge rannte vor seinem Streifenwagen her, sie kniffen sich gegenseitig ins Gesicht, missmutig wegen der erzwungenen Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Auch die üblichen Verdächtigen waren unterwegs, die Frankensteins und Mumien, die bei ihren Stammplätzen am Peabody Essex Museum für Fotos posierten, weltferne Vampire, die als Huldigung an »Twilight« immer noch mit glitzerndem Glitter geschminkt waren. Nächstes Jahr sind die auch Zombies, dachte Rafferty. Vampire waren in Salem nun schon eine ganze Weile out.

Manche Ladenbesitzer taten ihm leid. Sie zahlten Miete für Geschäfte, zu denen niemand durch diese Menschenmasse hindurchdrang. Das passierte jedes Jahr. Zig Wahrsager stellten ihre Stände in der Essex Street genau vor den ganzjährig betriebenen Läden auf, die auf dieselben Kunden aus waren. Die Konkurrenz zwischen den lokalen und den zugereisten Hellsehern war vor ein paar Jahren ein großes Problem gewesen. Mittlerweile stellt Salem den Hellsehern Lizenzen aus, bevor ihnen erlaubt wird, im Oktober ihre provisorischen Buden aufzubauen.

»Wie zum Teufel gibt man denn Lizenzen an Hellseher aus?«, hatte Rafferty gefragt, als er von dem Plan gehört hatte. »Ich meine, lässt man sie wahrsagen und wartet dann ein paar Monate, um zu sehen, ob etwas von ihren Vorhersagen eingetroffen ist?«

»Wir machen es so wie in San Francisco«, hatte der städtische Beamte ihm erklärt. »Wir verwenden einfach dieselben Vorgaben für die Lizenzen für Hellseher, dort wird lediglich das Strafregister überprüft.«

»Natürlich.« Rafferty hatte gelacht. Er war froh darüber, dass er sich nicht ausdenken musste, wie man so etwas Absurdes bewerkstelligen konnte. Schließlich stellte sich heraus, dass sie die Leute lediglich auf frühere kriminelle Aktivitäten überprüften, bevor sie die Lizenzen erteilten. Wer keine Vergangenheit hatte, durfte jetzt die Zukunft vorhersagen.

Von der Essex Street fuhr Rafferty hinüber zum Pickering Wharf. Die Autos schoben sich im Schritttempo durch die Stadt. Manche fuhren noch vor den Feuerwerken, mit denen der Abend beendet wurde, aus der Stadt heraus, aber es wollten immer noch viele hinein. Er war froh, dass die Gruppe unten am Hafen einigermaßen friedlich war. Er ließ das Fenster herunter, um mit einem Polizisten zu sprechen, der aus Jamaica Plain gekommen war.

»Bleiben Sie einfach so lange, bis der Verkehr sich wieder normalisiert hat, dann fahren Sie entweder nach Hause oder gehen auf die Party im Hawthorne. Das ist die beste Halloweenparty der ganzen Stadt.«

»Mache ich, danke.«

Das Hawthorne Hotel veranstaltete jedes Jahr ein paar Nächte vor Halloween den berühmten Hexenball. Heute Abend fand das traditionellere Kostümfest statt, mit Preisen für die besten Kreationen; vor ein paar Jahren waren Rafferty und seine Frau Towner mit in der Jury gewesen.

Er parkte vor Bunghole Liquors und ging hinüber zum Pier.

Ann Chase machte ihren Shop of Shadows heute frühzeitig dicht.

Ann war eins achtzig groß und hatte eine dicke rote Mähne, die ihr fast bis ins Kreuz fiel. Sie selbst bezeichnete sich als »graue Hexe«, denn sie praktizierte weder weiße noch schwarze Magie, sondern etwas dazwischen. Heute Abend trug sie ihr traditionelles schwarzes Hexengewand. Es bewegte sich mit ihren Schritten wie ein Schwarm Amseln und verstärkte ihren magischen Auftritt noch, wenn das überhaupt möglich war.

Es wurde behauptet, Ann besitze eine magnetische Ladung, die normale Grenzen außer Kraft setze. Je nachdem, wie man selbst gepolt war, stand man meistens entweder zu nah bei Ann Chase oder zu weit weg von ihr. Rafferty begab sich absichtlich in die letzte Kategorie – sosehr er sich auch wünschte, dass es nicht geschehen wäre, aber wegen ihrer gemeinsamen Geschichte hielt er sie auf Armeslänge, wann immer das möglich war.

Ann hatte ihm einmal erklärt, warum sie sich für graue Magie entschieden hatte statt für die weiter verbreitete »weiße Magie«, die die meisten Hexen von Salem praktizierten. Eine Hexe, die schwarze Magie betrieb – von der bösen, bedrohlichen Art, wie man es im Fernsehen sah oder im »Zauberer von Oz« –, galt als undifferenzierte Karikatur, die in Salem keine Hexe, die etwas auf sich hielt, begrüßen würde. Außerdem wussten alle Hexen, die etwas taugten, dass jeder »schwarze« Zauber, den man ausübte, drei Mal auf einen selbst zurückschlagen würde.

»Wieso hältst du dich denn nicht an die Liebeselixiere und den Lottoscheinzauber wie die meisten Hexen hier?«, hatte er sie gefragt.

»Die Welt ist zu kaputt für eitel Freude und Sonnenschein, Rafferty. Manchmal muss man sich wehren. Gerade du solltest das wissen.«

Ann spielte normalerweise die gute Hexe. Sie verkaufte alles von pflanzlichen Heilmitteln bis zu Klöppelspitze. Aber manchmal, wenn sie gelangweilt von den Touristen war, jagte sie ihnen auch gerne einen Schrecken ein. Besonders an Halloween.

»Du hast genug von den Touristen, wie?« Rafferty lachte.

»Das ist noch untertrieben.«

»Mickey hat mir erzählt, du hättest ein Gerücht in die Welt gesetzt, heute wäre eine seltsame Spannung zu spüren.« Er klang leicht spöttisch. Er schaute wieder zum Pier. Alles schien in Ordnung zu sein. Die Leute sahen jetzt dem Feuerwerk über dem Wasser zu, das den dort liegenden Nachbau der Friendship beleuchtete. Als er das große Segelschiff betrachtete, stellte er sich – einen kurzen Moment lang – sich selbst zu Anfang des 19. Jahrhunderts vor, als Hunderte der gewaltigen Schiffe noch von Salem aus lossegelten, das einst der reichste Hafen in der Neuen Welt war.

»Du misstraust mir, oder?« Ann schaute amüsiert.

»Das würde ich niemals wagen.« Unwillkürlich lachte er noch einmal.

»Es liegt am Blutmond«, insistierte sie, »und an den Mondfinsternissen.« Sie zeigte zum Himmel. Die Wolken hatten sich gehoben, und der zunehmende Viertelmond leuchtete jetzt ohne eine verbleibende Spur von Rot. Die Mondfinsternis vor ein paar Wochen war während des Tages aufgetreten und von der Ostküste aus nicht sichtbar gewesen, aber in jener Nacht hatte der volle »Blutmond« die Farbe von Rost gehabt.

Rafferty kannte die alte Überlieferung. Seine irisch-amerikanische Großmutter hatte »Hunter’s moon« dazu gesagt, aber die Neuheiden hatten das unheilvoller klingende Wort gebildet. Es stand schlichtweg für den Vollmond im Oktober. »Der Blutmond ist vor ein paar Wochen aufgegangen«, sagte Rafferty. »Ich glaube kaum, dass er der Schuldige ist.«

»Wir befinden uns in der Tetrade, Rafferty.« Ann seufzte, als würde sie es einem Kind erklären. »Vier Mondfinsternisse. Diese seltsame Spannung, an die du nicht glaubst, wird erst nächstes Jahr im September abklingen.«

Wie um Ann recht zu geben, kam ein plötzlicher Windstoß und erzeugte ein Kreischen, das perfekt in die Spukhäuser in der Derby Street gepasst hätte. Es war so schnell wieder vorbei, wie es angefangen hatte.

»Ist das wieder so ein Zaubertrick von dir?«, fragte Rafferty.

»Hey, das war ich nicht. Der kam von der anderen Seite.«

Wieder eine heidnische Sage. Halloween und sein heidnischer Vorgänger Samhain waren zu der Zeit des Jahres, wenn der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten angeblich am dünnsten war. Was Rafferty nicht alles gelernt hatte, seit er hierhergezogen war! Natürlich glaubte er kein Wort. »Hältst du das für eine Art Warnung?«

»Ich glaube, es ist eher wie eine Eröffnung.« Sie sah ihn an, als sie das sagte. Sie meinte es ernst.

Trotz seiner Skepsis fröstelte Rafferty.

* * *

Das Feuerwerk war vorüber, die Hexen waren weg. Rose Whelan stellte ihren Einkaufsroller unter die einzige Eiche, die noch oben auf dem Gallows Hill stand, nicht weit von dem Pavillon mit seinem abgesackten Dach und dem Uringestank. Heute Nacht hatte sie die Bansheemusik in den Ohren, und überall war der Tod. Jeden Herbst sahen die Blätter erschöpft aus, bevor sie ihre wahren Farben offenbarten, die unter ihren grünen Masken lagen. Jedes Jahr, wenn sie den unentrinnbaren Todessog des Herbstes spürten, verwandelten sie sich in die Rot-, Orange- und Gelbtöne, die die Touristen nach Neuengland zogen. Die Ahornbäume, deren Blätter sich immer als Erste wandelten, waren jetzt kahl, ihre verzweigten Äste fegten den dunklen Himmel wie Hexenbesen. Nur die Eichen standen noch da wie scharlachrote Flammen.

Rose war auch erschöpft. Sie begrüßte den Baum, als sie sich daruntersetzte. Dann sprach sie mit den Tauben; sie erklärte ihnen, dass sie sich nur für eine Nacht zu ihnen gesellen würde. Bald dämmerte sie hinüber, mal war sie kurz wach, dann schlummerte sie wieder ein, sie träumte einen immer wiederkehrenden Alptraum von ihrem Aufenthalt in der staatlichen Anstalt. Darin wurde der Galgenbaum, an dem die Hexen aufgehängt worden waren, gefällt, und dann trieb der dicke Stamm über den North River auf das offene Meer zu, wie ein Wikingerschiff, das die Seelen der Toten nach Walhall brachte. Der Traum weckte sie auf, wie jedes Mal. Obwohl sie nur kurz eingenickt war, brauchte sie einen Augenblick, um sich zu orientieren. Das Gurren der Tauben brachte sie wieder zu sich: Gallows Hill, Galgenhügel, ein irreführend benannter Park, der nichts mit dem zu tun hatte, was hier wirklich passiert war.

»Wenn ich nicht wäre«, erzählte Rose den Vögeln, »würden die Historiker immer noch behaupten, dass Salem einen Galgen gebaut hätte, um sie hinzurichten. Genau an dieser Stelle.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber wenn es so wäre, dann würdet ihr nicht hier wohnen. Ihr würdet eure Nester nicht an einem Ort bauen, wo so etwas geschehen ist, nicht wahr? Natürlich nicht.«

Der Ort der Hinrichtungen, auf Proctor’s Ledge, lag unmarkiert, verlassen und zugewachsen ein Stück über dem Walgreens-Parkplatz. Der Galgenbaum, an dem die Verurteilten erhängt worden waren, war vor langer Zeit verschwunden, und selbst die Spalte, die als Massengrab gedient hatte, war heute kaum noch sichtbar. Aber Rose spürte seine Anwesenheit, er war unheilig und brachte der ganzen Gegend Unglück. Das große Feuer von Salem im Jahr 1914 war auf der anderen Straßenseite ausgebrochen. Es hatte Hunderte von Häusern vernichtet, und die Hälfte der Bevölkerung war danach obdachlos. Bis zum heutigen Tag gab es hier Kriminalität, Gewalt und eine Dunkelheit, die diese Gegend nicht loswurde. Die einzige Möglichkeit, dem ein Ende zu bereiten, bestand darin, das Ritual zu vollenden, das sie in jener Nacht auf Proctor’s Ledge begonnen hatten. Der Nacht, in der Roses Mädchen ermordet worden waren.

Es war damals falsch von Rose gewesen, die Mädchen dort hinaufzubringen. Nicht weil der Ort nicht hätte geweiht werden müssen, sondern weil die Überreste der Menschen, die 1692 hingerichtet worden waren, sich nicht mehr dort befanden. Kurz nach dem Ende der Hysterie waren die Leichen nach und nach aus der Spalte verschwunden, in die man sie geworfen hatte. Zwei Leichen waren von den Familien abgeholt und anständig begraben worden, aber die Überreste der anderen, die in diesem dunklen Jahr hingerichtet worden waren, waren einfach verschwunden. Was war nur mit ihnen passiert?

»Finde den Galgenbaum, dann löst du das Rätsel«, hatten die Eichen Rose immer wieder gesagt, und sie glaubte ihnen mittlerweile. »Finde den Baum und bringe die Weihe zu Ende. Denn nicht nur die zu Unrecht Hingerichteten brauchen die Gnade Gottes, sondern auch der Baum, wegen der Rolle, die er gezwungenermaßen spielen musste.«

Rose hatte aufmerksam zugehört, als die Bäume angefangen hatten zu sprechen. Die Eichen hatten sie in jener grauenhaften Nacht von 1989 gerettet, und sie schuldete ihnen Dankbarkeit. Den Galgenbaum zu finden, war mittlerweile zu Roses einzigem Lebensziel geworden.

Die Vögel wirkten wenig beeindruckt, und Rose schloss die Augen wieder. »Da war ein Galgenbaum«, murmelte sie immer langsamer, während sie müde wurde. »Das ist wahr. Dort unten.« Sie zeigte in Richtung Proctor’s Ledge. Rose war seit der Nacht damals nicht mehr dort gewesen. Näher wagte sie sich nicht heran.

»Der Galgenbaum verschwand … alles verschwand. Der Baum, die Überreste der neunzehn wegen Hexerei hingerichteten Personen, und sogar die jungen Frauen, die ich gekannt habe.« Rose dämmerte weg. »Auch ihr werdet eines Tages verschwunden sein«, raunte sie den Vögeln zu, sie sprach immer langsamer. »Ihr wisst das nicht, aber es stimmt. Alles verschwindet. Die Banshee holt sie alle …« Der Kopf fiel ihr auf die Brust, und sie wurde still.

»Hey, Oma, die Hexen sind alle nach Hause.«

Rose riss die Augen auf. Drei Jungen standen vor ihr, zu nahe. Derjenige, der das Wort ergriffen hatte, konnte nicht älter als fünfzehn sein. Tiefsitzende Baggy-Jeans und schwere Stiefel ließen ihn jung aussehen, ganz im Gegensatz zu dem OG-Tattoo auf seinem Arm. Original Gangster.

»Ich bin keine Hexe.«

Er kam noch näher, grinste, seine blauen Augen bildeten einen starken Kontrast zu dem dunklen Blick, den er auf Rose richtete. »Ich weiß ganz genau, wer du bist. Und ich weiß, was du gemacht hast.«

»Halt dich von mir fern«, warnte ihn Rose.

»Gute Idee«, sagte er und fächelte sich Luft zu. »Krasser Mief hier, Oma. Wann hast du denn zum letzten Mal geduscht?«

»Geh nach Hause«, sagte der zweite Junge und schubste sie.

»Sie hat kein Zuhause, stimmt’s, Oma?« OG lachte.

»Fass mich bloß nicht an.« Rose drückte sich mit dem Rücken gegen den Baum, sie hörte den Puls in den Ohren. »Ich habe keine Angst vor euch.«

»Solltest du aber«, sagte der zweite Junge lachend.

»Du bist derjenige, der Angst haben sollte«, konterte Rose.

»Ach ja? Und wieso?«, spottete der zweite Junge. »Willst du mich genauso umbringen, wie du die anderen getötet hast? Durch Schreien?«

»Schreien?« OG lachte. »Sie hat sie nicht durch Schreien getötet. Das hat sie nur den Bullen erzählt. Sie hat ihnen die Kehlen aufgeschlitzt.«

»Ich weiß«, sagte der zweite Junge.

»Ich will niemanden umbringen.« Rose hoffte, sie würde es nicht tun müssen. Sie dachte an Olivia, Susan und Cheryl.

»Die spinnt«, sagte der dritte Junge. »Gehen wir.«

Diesen Jungen mochte Rose. Seine Augen waren noch sanft. Sie sprach ihn direkt an. »Vor ihr müsst ihr Angst haben. Nicht vor mir.«

»Vor wem?«, fragte Sanftauge und blickte sich um.

Sie wandte sich wieder an OG. »Sie könnte dich jetzt sofort umbringen, und niemand könnte sie daran hindern.«

»Habt ihr das gehört? Sie hat gesagt, sie könnte mich umbringen.« OG zog ein Messer aus der Tasche. »Heute Nacht habe wohl ich die Klinge in der Hand. Hab Angst, Oma. Hab große Angst.« Mit einer schnellen Bewegung zog er ihr die stumpfe Seite des Messers über den Hals.

Rose rappelte sich hoch.

»Ich habe nicht gesagt, dass du gehen darfst«, sagte OG.

»Hat er doch.« Sanftauge wandte sich an den zweiten Jungen. »Er hat ihr gesagt, sie soll gehen.«

»Hab ich nicht«, sagte OG. »Setz dich wieder hin.« Er drückte sie fest, knallte sie mit dem Rücken gegen den Baum, so dass es ihr den Atem nahm.

»Du bist derjenige, der sich hinsetzen muss«, sagte Rose mit erstickter Stimme. »Wenn nicht, dann stirbst du.«

OG lachte. »Und wie?«

»Du bist in Lebensgefahr. Vor der Banshee.«

»Was für ein Ding? Bungy?«, fragte Sanftauge.

»Du kennst doch die Geschichte«, sagte der zweite Junge. »Das ist die, die damals die ganzen Mädchen umgebracht hat. Sie behauptet, das wäre eine Banshee gewesen. Mit ihren Schreien.«

»Genau«, sagte Rose. »Sie könnte euch auch umbringen.«

»Ich hab dir doch gesagt, die spinnt«, sagte Sanftauge. »Kommt, wir hauen ab hier.«

»Auf gar keinen Fall.« OG grinste Rose an. »Ich will das hören. Erzähl meinem Freund hier von der Banshee. Mann, Oma, es ist Halloween. Ich will eine Gruselgeschichte.« Er drückte ihr die Spitze des Messers gegen die Wange.

Sie konnte sein Leben sehen. Es hatte schon Gewalt darin gegeben, viel Gewalt. Vor ihm erstreckte sich eine ganze Serie von Brutalität. Sie sah nicht seinen Tod, wie sie es bei den meisten Menschen konnte. Aber als sie in seine leeren Augen blickte, sah sie den Tod von allen um ihn herum.

»Erzähl es ihm, oder ich mach dich hier an Ort und Stelle kalt. Und daran kann mich niemand hindern. Erzähl ihm genau die Geschichte, die du den Bullen erzählt hast. Über die Banshee.« OG ließ nicht locker.

Sie wandte sich wieder an den Jungen mit den sanften Augen. Er war derjenige, der das eines Tages würde verstehen müssen. Sie schluckte mühsam.

»Na los, erzähl es ihm!«, befahl OG. »Es war einmal …«, fing er an und drückte ihr das Messer fester in die Haut.

»Na gut.« Rose atmete tief durch.

»Als ich klein war, hat mir meine irische Großmutter erzählt, dass es im alten Land eine heilige Eiche gab, die Bansheebaum genannt wurde. Es war ein wildes, verkrüppeltes Gewächs, das ein paar Jahre zuvor vom Blitz getroffen worden war.«

Sanftauge starrte sie nur an.

»Einige glaubten, die gälische Göttin des Lebens und des Todes sei viele Jahrhunderte vor einem Unwetter genau in diesen Baum eingesperrt worden, überlistet von den christlichen Priestern, die nach Irland gekommen waren, um die keltischen Stämme zu bekehren, und die keine anderen Götter als ihre eigenen duldeten, von Göttinnen gar nicht zu reden. Sie glaubten an den einen Gott, sagten sie, um ihren Fang zu rechtfertigen. Manche behaupten, sie hätten die Cailleach eingesperrt, aber wieder andere gaben ihr andere Namen. Seht ihr, damals gab es viele Göttinnen, die sich mit Leben und Tod auseinandersetzten. Die Gefangenschaft änderte das Wesen der Göttin, sie verkleinerte sie bis auf die Größe der Elfen, die in den Hügeln wohnten. Es war eine gewaltige Tragödie.

Aber der Baum liebte die gefangene Göttin und erbarmte sich ihrer. Er war den neu angekommenen Priestern noch nicht treugesinnt und heckte einen Plan aus: Der Baum zog den Blitz an, um die gefangene Göttin zu befreien.«

Der zweite Junge schnaubte. »Was laberst du denn da?«

»Sei still, dann sagt sie’s dir«, fuhr OG dazwischen.

»Das Unwetter, das die Eiche zerstörte, war das schlimmste seit Menschengedenken; der heulende Wind fuhr ein Mal um die Stadt herum, zwei Mal und dann ein drittes Mal und jagte allen Angst und Schrecken ein. Der Blitz ließ das Wasser im Holz verdunsten, so dass die Äste explodierten und – so behaupten manche – die gefangene Göttin befreit wurde. Aber die Göttin zu befreien war das Schlimmste, was der Baum hätte tun können, denn durch die Gefangenschaft hatte sich ihr Wesen geändert. Sie hatte sich von einer Göttin in eine Banshee verwandelt, und zwar nicht in eine wie die, von denen ihr gehört habt, die nur den Tod vorhersagen, sondern in eine, die wirklich tötet.«

»Eine Mörderbanshee.« Der zweite Junge lachte. »Genau.«

»Der Baum hätte die Göttin weiter gefangen halten sollen, denn die Befreiung sollte Folgen haben, die weit über alles hinausgingen, was sich die Eiche hätte vorstellen können. Die Wandlung erweckte Hass in der Göttin. Sie war immer noch verkleinert, und ihre Kräfte waren nicht mehr stark genug, um über Leben und Tod zu entscheiden. Sie brauchte einen Wirt. Das Leben interessierte sie nicht mehr; sie sehnte sich nur noch nach dem Tod. Sie ernährte sich von Hass und Angst, und wo diese niederen Gefühle wohnten, würde die Bansheegöttin immer einen willigen Wirt finden.

Vielleicht war es der Baum, der am meisten litt, denn er war gezwungen, das Gemetzel mit anzusehen, das er entfesselt hatte. Nach dem Blitzschlag, der die gewandelte Göttin befreit hatte, wurde der Saft des Baums auf alle Ewigkeit rot, als würde er bluten.«

»Blutende Bäume?«, spottete der zweite Junge. »Gewandelte Göttinnen …«

Rose erschauerte bei der Erinnerung daran, wie diese Göttin sich gewandelt hatte. In der Nacht von 1989 hatte Rose sie alle an das Wesen verloren, zu dem die Göttin geworden war: die Banshee. Die jungen Frauen, die die Banshee getötet hatte, waren wie ihre eigenen Töchter für sie gewesen. Nachdem es passiert war, nachdem die Schreie aufgehört hatten, war die Welt in dieser entsetzlichen Nacht still geworden und verschwunden. Rose hatte in eine ewige Leere gestarrt, die sich in alle Richtungen ausbreitete und für immer andauerte. Als das Wehklagen begann, hatte Rose geglaubt, die Töne kämen aus ihrem eigenen Mund. Dann hatte sie gesehen, wie sich die Äste und Zweige des Baums mit den Tönen bewegten, und die letzten Blätter brannten in dem schwarzen Himmel wie knisterndes Papier. Dann hatten die Bäume begonnen zu sprechen. Weg mit dir, hatten die Bäume gesagt. Schnell weg. Ihre traurige Klage war von einem Baum zum nächsten weitergesprungen, und Rose war ihr gefolgt. Aber etwas war durch ihr Ritual freigesetzt worden. Was geweiht werden sollte, hatte stattdessen etwas anderes entfesselt, etwas, das in Rose übergegangen war.

»Du hast sie doch nicht mehr alle, Oma«, sagte OG und betrachtete genussvoll das Aufblitzen seines Messers im Mondlicht, während er ihr mit der Klinge über die Wange fuhr, so dass sie diesmal blutete.

Es war das Letzte, was er sah, bevor das unheimliche Kreischen einsetzte.

KAPITEL 2

31. Oktober 2014

SALEM

Ein leiser Wind ist ein gefährlicher Wind, denn er ruft die Banshee.

ROSES Buch der Bäume

Rafferty parkte auf dem für ihn reservierten Platz vor der Wache. Vor ein paar Minuten, gerade als er den Pickering Wharf verlassen hatte, hatte ein Jugendlicher ein Ei auf seinen Streifenwagen geworfen. Es war ein Volltreffer. Die Hexe auf dem Polizei-Logo trug jetzt einen schaumigen gelb-braunen Bart. An ihrem Kleid klebten ein paar Schalenstückchen.

»Bloß keinen Kommentar«, sagte Rafferty zu einem Beamten, der mit amüsierter Miene die Treppe herunterkam.

»Würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Was haben wir?«

»Ein paar Betrunkene.«

»Das ist alles?«

»Und ein paar Schlägereien in Bars. Nicht viel.«

Rafferty ging hinein und blieb am Empfang stehen, um sich die Festnahmen anzusehen.

Jay-Jay LaLibertie, der Dienst am Empfang hatte, war Mitte dreißig, sah aber immer noch aus wie ein dürrer Highschool-Schüler. Er war ungekämmt, das Hemd hing ihm lose aus der Uniform.

»Gibt es was?«, fragte Rafferty.

Als er nach den Zetteln griff, stieß Jay-Jay seine Limo um, so dass alles durchtränkt war. »Tut mir leid, Chief.«

Rafferty schnappte sich die heruntergefallene Dose und roch daran, bevor er sie zurückgab.

»Diesmal bin ich nüchtern, ehrlich«, sagte Jay-Jay.

Seufzend nahm Rafferty den durchnässten Stapel entgegen. Die oberen beiden Zettel waren von seiner Frau Towner. Er ging in sein Büro und schloss die Tür. Aus dem Schreibtisch nahm er eine kleine Tafel Hershey’s, wickelte sie aus und biss hinein. Dann griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer von zuhause. »Was gibt’s?«

»Nichts. Du hast mir nur gefehlt. Wann kommst du heim?«

»In einer Stunde ungefähr.«

Er nahm den kalten Kaffee, den er auf seinem Schreibtisch hatte stehen lassen, roch daran und setzte den Becher wieder ab. Er stellte das Telefon auf Lautsprecher.

»Wie viele Streunerinnen hast du schon aufgenommen?«

Towner hielt an Halloween immer Ausschau nach Mädchen, die zu betrunken waren, um nach dem Feuerwerk noch nach Hause zu kommen. Sie wusste nur zu gut, in welche Schwierigkeiten junge Mädchen geraten konnten, und sie machte es sich zur Aufgabe, ihnen zu helfen.

»Streunerinnen« waren in ihrem Heim stets willkommen. Rafferty mochte das an seiner Frau. Um die Wahrheit zu sagen, er mochte so gut wie alles an ihr. Er hätte sie einmal beinahe verloren, und diesen Gedanken konnte er kaum ertragen. »Wie viele?«, fragte er noch einmal, denn sie war der Frage ausgewichen.

Sie lachte nur.

»Sei vorsichtig«, sagte er. »Ich will keine bei uns im Bett finden.«

»O Gott, das hatte ich ganz vergessen! Weißt du noch, wie sie …«

Jay-Jay platzte herein, ohne anzuklopfen. »Wir haben einen Mord! Drüben auf dem Gallows Hill!«

»Du hast auch bestimmt nichts getrunken?«, rutschte es Rafferty heraus.

»Was ist los?«, erklang Towners Stimme über den Lautsprecher. Sie klang besorgt. »Ist das Jay-Jay?«

Rafferty schaltete den Lautsprecher aus.

»Ich schwöre! Es ist wahr. Ein Jugendlicher ist tot. Porter war drüben in der Pope Street und hat die Tatverdächtige in Gewahrsam genommen«, insistierte Jay-Jay. »Die Freunde des Jungen sagen, die alte Dame hat ihn umgebracht …«

»Ich ruf’ dich zurück.« Rafferty legte auf und wandte sich Jay-Jay zu. »Jetzt mal langsam. Wer ist tot?«

»Billy Barnes! Und seine beiden Freunde behaupten, sie hat ihn umgebracht.«

»Wer ist sie?«

»Diese alte Obdachlose – die sich selbst als Banshee bezeichnet.«

»Rose Whelan?« Was zum Teufel? Er hatte gerade an Rose gedacht. Und schon brach draußen im Gang das Chaos aus.

»Porter hat sie festgenommen?«

»Yep. Hat ihr die Rechte vorgelesen und so. Sie stecken die alte Dame gerade in die Arrestzelle. Sie schlägt wild um sich, sieht aus, als würde sie sich mit jemandem prügeln, den keiner von uns sehen kann. Du musst dir das anschauen. Es ist unheimlich.«

Rafferty war schon durch die Tür und im Gang, bevor Jay-Jay eine Chance hatte, ihn einzuholen.

»Was ist denn da los, verdammt?«, fragte Rafferty Porter, einen stämmigen Mann Mitte vierzig. Das geht alles viel zu schnell. »Sie wissen, dass Sie nicht einfach so irgendjemanden verhaften können.«

»Sie hat ein Geständnis geschrieben«, sagte Porter. »Unterschrieben und alles.« Er reichte Rafferty ein Blatt Papier. Darauf stand: Sagt Rafferty, dass ich den Jungen getötet habe. Es musste sein. Er war dabei, sich zu wandeln.

Rafferty erkannte die Handschrift. Und er war sich ziemlich sicher, dass das Geständnis auf einer herausgerissenen Seite von Roses Tagebuch geschrieben worden war. Er hatte das Tagebuch ein paar Mal gesehen, es hatte einen Ledereinband und bestand aus ungewöhnlichem handgemachtem Papier. Das Einzige, was er zuvor in dem Buch gesehen hatte, waren Zeichnungen von Bäumen gewesen.

»Was soll das heißen? Hat sie etwas gesagt?«

Porter zuckte mit den Schultern. »Sie hat im Auto ständig etwas vor sich hingemurmelt«, sagte er. »Es war schwer zu verstehen.«

»Und was war es?«, fragte Rafferty.

»Irgendwas wie das geringere Übel.«

Rafferty starrte Porter an. »Das hat sie gesagt?«

»So hat es sich angehört.«

»Sie hat eine üble Schnittwunde«, sagte Jay-Jay zu Rafferty. »Da sollte jemand rein, der sie versorgt.«

Zwei der anderen Beamten, die die Szene in der Arrestzelle beobachtet hatten, traten beiseite.

Rafferty blickte in die Zelle: Rose saß auf der Pritsche und wirkte ruhig. Auf ihrer Wange klaffte eine blutige Wunde. Jay-Jay, der den Vorschlag gemacht hatte, trat einen Schritt zurück. »Ich gehe jedenfalls nicht in ihre Nähe.«

»Herrgott noch mal.« Rafferty nahm den Erste-Hilfe-Kasten von der Wand am Ausgang und ging in die Zelle. »Rose«, sagte er und kniete sich neben sie. »Du bist in Sicherheit. Du bist bei uns.« Er streckte die Hand vor, um sie am Arm zu berühren, aber Rose schreckte zurück, als hätte es ihr einen Stich versetzt. »Alles ist gut«, sagte er. »Ich bin es nur, Rose. Rafferty. Du kennst mich.«

Es begann als leises Knurren. Es war so leise, dass Rafferty sich gar nicht sicher war, ob er es wirklich hörte, bis der Ton immer höher und immer lauter wurde. Auf einmal war es ein Kreischen, das von den Betonziegelwänden abprallte, so dass die Beamten auf der anderen Seite des Gitters sich die Ohren zuhielten.

»Herrgott«, sagte Jay-Jay. »Komm raus da!«

Rafferty wich verunsichert zurück. »Okay, Rose«, sagte er, sobald er draußen war. »Ich lasse dich jetzt erst mal in Ruhe.«

»Bleib besser draußen«, wies Rafferty einen der Beamten an. Er bestimmte einen als Wachmann für die Zelle. »Nicht zu nahe rangehen«, warnte er ihn, aber das hätte er sich sparen können. Der Beamte postierte sich so weit wie möglich von der Zelle entfernt, so dass er sich gerade noch im Korridor befand.

»Wo sind die Zeugen?«, fragte Rafferty.

Porter meldete sich zu Wort. »Sie sind am Ende des Gangs. Sie hatten auf dem Weg hierher eine Menge über Gallows Hill zu sagen, aber jetzt wollen sie nicht mehr ohne Anwalt reden.«

»Natürlich nicht.« Rafferty seufzte und fuhr sich durch die Haare. »Ab zum Empfang, Jay-Jay.« Rafferty ging rasch in sein Büro und schloss die Tür. Er nahm das Telefon und wählte die Nummer von Zee Finch, der Psychiaterin, die Rose seit Jahren immer mal wieder behandelte. Er rief sie nur ungern zu Hause an.

»Zee hier«, meldete sie sich. Sie klang erschöpft.

»Es tut mir leid, dass ich dich so spät anrufen muss«, sagte Rafferty. »Wir haben ein Problem.«

Zee hörte zu, während ihr Rafferty erklärte, was er bisher wusste.

»Ach je, geht das schon wieder los«, sagte sie, als er fertig war. »Ich ziehe mir nur schnell etwas an und komme.«

»Danke.« Rafferty legte auf und wählte noch einmal, diesmal die Nummer von Barry Marcus, einem Strafverteidiger, von dem er wusste, dass er bestimmte Mandanten auch kostenlos vertrat.

»Rose Whelan, ja?«, sagte Barry. Er hatte noch nicht geschlafen. »Was wirft man ihr denn diesmal vor?«

»Sie soll Billy Barnes getötet haben.«

»Billy Barnes?«, wiederholte Barry. »Das ist allerdings unglücklich …«

»Kommt darauf an, wie man es betrachtet«, sagte Rafferty. Er kannte Barry gut genug, um ehrlich zu sein. Billy Barnes war in ganz Salem als Störenfried bekannt. Aber er hatte Beziehungen. Seine Großtante Helen war eine der einflussreichsten Bürgerinnen von Salem.

»Haben Sie sie festgenommen?«, fragte Barry.

»Was glauben Sie?«

»Ich schätze nein. Wer war es dann?«

»Porter.«

»Warum überrascht mich das nicht?«

Porter handhabte es gerne so, dass er zuerst jemanden festnahm und Fragen erst danach stellte. Das hatte ihn schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht.

»Was haben die Zeugen gesagt?«

»Ich habe sie noch nicht vernommen. Sie wollen einen Anwalt. Was bedeutet, dass sie glauben, dass man sie wegen irgendetwas unter Anklage stellt.«

»Ist das so?«

»Ich weiß es noch nicht.«

»Faxen Sie mir doch den Polizeibericht.« Barry seufzte. »Ich komme morgen Früh vorbei. Lassen Sie Rose in der Zwischenzeit mit niemandem sprechen. Was beim letzten Mal passiert ist, sollte sich nicht wiederholen.«

»Einverstanden.« Rafferty legte auf. Er dachte an die Morde von 1989, Salems berühmtesten ungelösten Fall. Man hatte Rose Whelan inoffiziell immer die Schuld an den Morden gegeben, trotz des überwältigenden Mangels an eindeutigen Beweisen, wie er gehört hatte. Sie hatten »keine Wahrheit, nur Spekulation«, und das wurde von den Einheimischen für die Dollars der Touristen dramatisiert und übertrieben, wie er es heute Abend bei Bühnenbob mitbekommen hatte. Die Fakten waren anders und sogar noch uneindeutiger: Drei junge Frauen waren getötet worden. Es war ein Blutbad gewesen. Jemand hatte den Frauen die Kehlen durchgeschnitten, und sie waren schnell verblutet. Einer der Frauen, einer Frau mit Albinismus, hatte man Haare und ein Stück Haut vom Körper entfernt. Ein Kind und Rose selbst waren die einzigen Überlebenden gewesen. Das alles war fast fünf Jahre, bevor Rafferty nach Salem gekommen war, passiert. Er hatte den Fall wieder aufnehmen wollen, aber es hatte in dieser Stadt immer irgendetwas gegeben, um das man sich dringender kümmern musste: Drogen, Straßenkriminalität, häusliche Gewalt, alles echt und aktuell. Und dann war da noch Halloween, das jedes Jahr länger dauerte.

»An Halloween passieren hier merkwürdige Sachen«, hatte ihm sein Vorgänger Tom Dayle gesagt, als er ihm ein paar von den Akten mit den ungelösten Fällen überreichte. Dieser Fall, den sie als die »Göttinnenmorde« bezeichneten, hatte zuallerunterst gelegen.

Rafferty hatte schon die Gerüchte über Dayle gehört. Vier Jahre vor seiner Pensionierung hatte der Polizist einen Nervenzusammenbruch erlitten, so dass er mehr als vier Jahre krankgeschrieben war. Die Polizisten sagten hinter vorgehaltener Hand, dass ihn dieser ungelöste Fall um den Verstand gebracht hatte.

»Die restlichen Beweise sind im Archiv«, erklärte Dayle ihm. »Ich würde mir nicht die Mühe machen. Da ist nichts.« Nachdem er mit Rafferty einen Nachmittag lang aktuelle Fälle durchgegangen war, ging er wegen Arbeitsunfähigkeit in den Ruhestand. Offiziell nicht wegen des Zusammenbruchs, sondern wegen einer »starken Kniegelenksarthrose«. Das gleiche Geld, eine bessere Geschichte.

Rafferty hatte in der Stadt eine Menge über den Fall gehört, alle möglichen Details, die sein Interesse weckten. Auch heute noch, fünfundzwanzig Jahre nachdem es passiert war, redeten die Leute darüber, besonders wenn es um Rose Whelan ging. Jetzt, nach zwanzig Jahren seiner eigenen Amtszeit, würde Rafferty sich den Fall noch einmal genauer ansehen müssen. Er warf den Rest der Schokolade weg, holte sich einen frischen Kaffee und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über den Fall wusste.

Er hatte nie verstanden, warum alle in der Stadt Rose Whelan für die Täterin hielten und nicht für ein weiteres Opfer. Er hatte sie über die Jahre kennengelernt. Zu Anfang hatte er sie für eine von Towners »Streunerinnen« gehalten. Aber Rose Whelan war weit mehr als das. Sie hatte geforscht und sich dabei sowohl auf Mythologie als auch auf Kolonialgeschichte spezialisiert, insbesondere auf die Hexenprozesse von Salem. Als er sie einmal fragte, wie so offensichtliche Gegensätze denn zusammengingen, hatte sie ihn verständnislos angeblickt, als wäre die Verbindung offensichtlich. »Um zu verstehen, was mit den Puritanern in Salem passiert ist, muss man zuerst die heidnischen Religionen verstehen, die sie so gefürchtet haben. Dass die Katholiken die eingeführten heidnischen Feste und Feiertage angenommen hatten, war für die Puritaner fast, als hätten sie den Teufel beschworen.«

Aber mit den Morden an den drei Frauen 1989 hatte sich für Rose alles geändert. Das Ereignis hatte sie schwer traumatisiert, und wegen ihres Geisteszustands und weil sie in jener Nacht auf dem Hügel gewesen war, hatte sich der Verdacht gegen sie gerichtet. Immerhin hatten die jungen Frauen bei ihr im Haus gewohnt. Nach allem, was Rafferty gehört hatte, hatte ihr Benehmen Rose missfallen, und nachdem sie ihnen mehrfach die Gelegenheit gegeben hatte, etwas daran zu ändern, hatte sie sie schließlich gebeten auszuziehen. Das Ritual, das sie in dieser Nacht vollziehen wollten, sollte angeblich eine letzte Zusammenkunft darstellen, sie wollten irgendein Versprechen erfüllen, das die Frauen Rose gegeben hatten, irgendeine Bedingung, weshalb sie bei ihr wohnen durften.

Nachdem sie auf so rätselhafte und brutale Weise umgekommen waren, hagelte es Vorwürfe in Roses Richtung. Man hatte eine Grand Jury einberufen, die aber keine hinreichenden Beweise für eine Anklage gegen Rose gefunden hatte – seiner Meinung nach nicht überraschend. Alle konnten sich lediglich darauf einigen, dass Rose Whelan, einst eine respektierte Heimatforscherin und Expertin für die Hexenprozesse, seit dieser schrecklichen Nacht auf Proctor’s Ledge nicht mehr ganz bei Verstand war. Rafferty glaubte an Roses Unschuld. Außer Rose hatte es noch eine Zeugin des Verbrechens gegeben; nun ja, so eine Art Zeugin, die zweite Überlebende, die fünfjährige Tochter eines der Opfer. Dieses Kind behauptete kategorisch, dass Rose Whelan ihm geholfen habe, sich vor »dem bösen Ding« zu verstecken, und dann zurückgegangen sei, um zu versuchen, die anderen zu retten.

Statt ins Gefängnis schickte man Rose dann schließlich in mehrere staatliche Nervenheilanstalten. Und nachdem sie ein ganzes Jahr kein Wort gesagt hatte, hatte sie ihre Stimme wiedergefunden und eine wilde Geschichte darüber erzählt, was den drei ermordeten Frauen, die mittlerweile von den Medien und allen in der Stadt »Göttinnen« genannt wurden, zugestoßen sei. Das war der Grund, weshalb Barry Marcus nicht wollte, dass Rose ohne die Anwesenheit eines Anwalts mit Rafferty sprach: Rose hatte vor Jahren nach einem längeren Verhör behauptet, die jungen Frauen seien von einer Banshee getötet worden. Rafferty kannte die Banshee von den Geschichten seiner eigenen irischen Großmutter: Eine Banshee war ein mythologisches weibliches Geisterwesen, dessen klagende Schreie als Vorboten des Todes galten. Seine Großmutter hatte immer behauptet, Raffertys Familie habe eine Banshee, die über Generationen jeden Todesfall vorausgesagt hatte.

Aber er hatte nie gehört, dass eine Banshee selbst mordete. Rose hatte angegeben, dass diese Banshee nach den Morden in sie hineingefahren sei und dass sie dieses Wesen nun in sich gefangen hielt, um es daran zu hindern, noch einmal zu töten. Hätte sie einen Anwalt gehabt, hätte er ihr geraten, diese Geschichte niemandem zu erzählen, am allerwenigsten der Polizei.

Rafferty kannte Rose gut genug, um zu wissen, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hatte – sie hatte verdammt noch mal ihr Haus verloren –, aber sie war keine Mörderin. Sein Polizisteninstinkt hatte immer gut funktioniert; damit würde er es gegen die Besten dort draußen aufnehmen.

* * *