Die Freiheit, allein zu sein - Sarah Diehl - E-Book

Die Freiheit, allein zu sein E-Book

Sarah Diehl

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Beschreibung

Die erste umfassende weibliche Betrachtung des Alleinseins Je mehr Freundschaften und Projekte, je fester der Job und die Partnerschaft, desto größer das Lebensglück? In ihrem aufrüttelnden Debattenbuch zeigt Sarah Diehl, wie trügerisch diese Vorstellung ist und warum vor allem Frauen immer noch zu wenig Räume zum Alleinsein haben. Dabei ist es nicht nur der Grundstein eines verantwortungsvollen Miteinanders – es ist die Triebfeder für Reflexion und Veränderung sowie ein elementarer Teil der Selbstfürsorge. Frauen hatten im Laufe der Geschichte kaum ein »Zimmer für sich allein«. Auch heute gilt die Kleinfamilie als Garant für ein glückliches Leben. Anhand von kulturhistorischen Betrachtungen, Interviews mit Frauen, aber auch Männern sowie der Erkundung verschiedener Lebensentwürfe offenbart Sarah Diehl die Fallstricke dieser Annahme. Dabei blickt sie ebenso auf die Bedeutung des Alleinseins innerhalb der Familie oder Partnerschaft wie in der Öffentlichkeit, in der Natur oder auf Reisen. Sie fordert den Erhalt der Einsamkeit und ermutigt alle, das Alleinsein immer wieder bewusst zu suchen. Denn so entziehen wir uns der Bewertung durch andere und erkennen unsere wahren Bedürfnisse. Alleinsein ist eine elementare Freiheitserfahrung, die allen ganz selbstverständlich zugänglich sein muss.

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Seitenzahl: 586

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Sarah Diehl

Die Freiheit, allein zu sein

Eine Ermutigung

Originalausgabe

© 2022 Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Dr. Angelika Künne, Erfurt

Covergestaltung: Annemike Werth, Hamburg

Motiv: basierend auf einem Design von Visual Fear

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-134-2

 

www.arche-verlag.com

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Einleitung

Ich weiß bis heute nicht, ob ich introvertiert oder extrovertiert bin. Ich weiß es in dem Moment, wenn ich in eine Gruppe tauche. Deshalb wusste ich selbst noch nicht genau, wohin die Reise gehen würde, als ich den Entschluss fasste, dieses Buch zu schreiben. Aber ich ahnte, dass es kein geradliniger Weg zu einem Ziel sein würde, nichts vollkommen Folgerichtiges, sondern ein Ausschwärmen und Mäandern. Denn die Qualitäten des Alleinseins sind so vielschichtig wie ein See mit kühlen und wärmeren Strömungen, die einen beim Schwimmen streifen. Ich wusste, dass Fragen auf mich zukommen würden, die ich mir so noch nie gestellt hatte, aber ich wusste auch, dass es eine gute Gelegenheit sein würde, den Überfluss des Lebens abzuschöpfen, in dem ich vorher noch nicht gefischt hatte.

Ich weiß, dass Alleinsein wie eine bewusstseinserweiternde Droge wirken kann: Sie verstärkt den Ist-Zustand, man kann wahrnehmen, welche Schönheit einen umgibt, muss aber auch begreifen, in welchem Käfig man zumeist steckt. Man kann sich nicht mehr ablenken, sondern muss ehrlich betrachten und sortieren, worin man sich verheddert hat, oder das Grundvertrauen finden, in das man eingebunden ist, um das Unvorhergesehene und Freischwebende auszuhalten oder genießen zu können. Man ist mit den eigenen Bedürfnissen konfrontiert und muss sie eigenverantwortlich organisieren, eigene Standards setzen und somit schonungslos Normen hinterfragen. Man ist sich selbst ausgesetzt.

 

In der Debatte um das Alleinsein geht viel durcheinander, vor allem begrifflich: Wir sprechen vom Alleinsein, von Einsamkeit und von sozialer Isolation. Tatsächlich benannte der Begriff Einsamkeit vor dem 18. Jahrhundert auch das Einssein in der Gotteserfahrung – hatte mit Isolation also nichts zu tun –, während Alleinsein negativer aufgeladen war und die Abgeschiedenheit von der Gemeinschaft benannte. Im heutigen Sprachgebrauch werden beide Formulierungen oft synonym verwendet, wobei Einsamkeit tendenziell vermehrt für die Beschreibung von Isolation im negativen Sinne genutzt wird oder zumindest ambivalent, wie auch der Begriff der Melancholie ambivalent verstanden wird. In diesem Buch gebrauche ich beide Bezeichnungen – Einsamkeit und Alleinsein – als etwas, dem man nicht passiv ausgesetzt ist, etwas, das man sich aneignen kann, wobei das Alleinsein als selbstgewählt verstanden werden kann, während das Gefühl der Einsamkeit oft unfreiwillig einsetzt. Beiden Bezeichnungen ist aber gemein, dass sie kraftvolle, schöne, aber auch ambivalente Möglichkeitsräume bieten und konstruktives Potenzial entfalten, welches positive Veränderungen in unserem Leben begründen kann. Daher verwende ich beide Begriffe häufig in Verbindung miteinander, auch, da eine kategorische semantische Grenzlinienziehung ohnehin nicht möglich ist. Ich grenze beide Bezeichnungen aber klar gegen den Begriff der (sozialen) Isolation ab, der für mich den destruktiven und krank machenden Raum beschreibt.

 

Einsamkeit, die früher ein philosophisches oder religiöses Ideal darstellte, ist mittlerweile zum Marker für eine soziale Katastrophe geworden.

Einsamkeit wird seit den 1960er-Jahren als gefährliche Zivilisationskrankheit betrachtet und mit einer Reihe von Krankheitssymptomen in Verbindung gebracht. Soziologie und Psychologie benennen vor allem den Verfall, das Leid, das Defizit, die Ängste, die sich aus der Einsamkeit, die ich in diesem Fall als soziale Isolation bezeichnen würde, ergeben. Der kulturkonservative Blick zimmert daraus nicht nur ein unerquickliches, sondern ein verzerrtes Bild vom Menschen als Wesen, das ohne alte Strukturen und Werte orientierungslos bleibt, statt Neues gestalten zu können. Nach dieser Logik driften wir in die soziale Isolation, weil wir aus den alten Strukturen ausbrechen. Aber Werte lösen sich nicht einfach so auf, wir verändern uns und sie sich mit uns. Viele Menschen fühlen sich vielmehr sozial isoliert, weil diese Veränderungen noch nicht weit genug gehen. Die Singlegeneration, auf die wir so ängstlich blicken, entsteht, weil Menschen aus alten Konzepten wie der Kleinfamilie ausbrechen, sich aber noch in neue Konzepte des gemeinschaftlichen Lebens hineinfinden müssen. Dies wird erschwert, wenn sie sich an den alten Mustern noch messen müssen und wenn uns Gesetze und Moralvorstellungen, z.B. wer auf welche Art Familie sein darf, davon abhalten. Isolation ist auch politisch und wird künstlich erzeugt, indem man Gemeinschaften durch Statusdenken, Armut, Nationalitätsunterscheidungen, Konkurrenzdenken, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, stringente Geschlechterzuweisungen und Grenzen spaltet. Mit den negativen Vorstellungen von Einsamkeit – asozial, egoistisch, verrückt – werden wir zudem diszipliniert und erpresst: Wir bekommen Angst davor, eigene Wege zu gehen, und bleiben in den gängigen Bahnen: Eheschließung, Karriere, Familienplanung, Kreditlasten für ein funktionierendes Leben, das sich gegen das Alleinsein wehren soll. So ist dieses Buch auch keines über Singles, sondern schenkt dem Alleinsein können gerade in der Zweierbeziehung ein besonderes Augenmerk.

 

Tatsächlich können Alleinsein und Einsamkeit Gegengifte für soziale Isolation sein. Denn im Alleinsein entwickelt man die Fähigkeit, sich selbst genug zu sein, erkennt den Sumpf der Zwänge, die uns etwa die Wettbewerbsgesellschaft oder die Kleinfamilie auferlegen. Oft werden die Ursachen der sozialen Isolation verschleiert, weil überholte Formen von Gemeinschaft idealisiert werden, deren Starrheit, Erwartungshaltung und Normen uns erst in die Isolation treiben und so ein negatives Bild der Einsamkeit entstehen ließen. Und denen viele durch ihr Alleinsein eigentlich entkommen wollten. Aber wir lieben es, uns vor dystopischen Visionen von Singlefrauen, Überalterung, Pflegerobotern und Menschen, die sich in der eigenen Erzählung ihrer vermeintlichen Autonomie verloren haben, zu gruseln, und gefallen uns in der Rolle als Visionäre unseres eigenen Untergangs.

 

Dieses Buch zeigt außerdem, wie wir eine Gesellschaft schufen, die Menschen dazu anhält, sich selbst als Mängelwesen zu betrachten, die angeblich nie genug sind und durch Statussymbole und Erfolgsgeschichten in Karriere und Familienplanung erst zu jemandem werden müssen. Es zeigt auch, was wir verlieren, wenn wir das Potenzial von Alleinsein und Einsamkeit unterschätzen und die Fähigkeit des selbstbestimmten Alleinseins nicht erlernen. Dabei plädiere ich keineswegs für individualisierte Lösungen gegen systemische Ungerechtigkeit, die uns als Menschen trennt. Aber um Ungerechtigkeit zu verstehen, muss man zunächst einmal zu sich kommen und seine Bedürfnisse, sein Leben verstehen. Man muss einen Raum für sich etablieren, in dem man sich gegen das Narrativ der Mangelhaftigkeit mit sich selbst komplett fühlen kann.

Alleinsein ist nämlich nicht (nur) die Abwesenheit von etwas oder jemand anderem, sondern die Anwesenheit meiner ungestörten Wahrnehmung, die mich mit der Welt verbindet. Gerade die Leere in der Einsamkeit ermöglicht es mir, die Fülle des Lebens zu spüren. Das Gefühl der Isolation hingegen entsteht immer auch aus der Unfähigkeit, »all-ein«, also ganz mit sich selbst sein zu können. Wir haben jede Menge Anreize und Zerstreuungen um uns herum, sodass wir glauben, nicht allein sein zu können. Deshalb sind »Zwischen-Orte« und »Zeit-Räume« wichtig, in denen wir unsere Fähigkeit zum Alleinsein kultivieren können, denn dies fördert auch die Fähigkeit, Gemeinsamkeit erfüllt leben zu können. Doch diese Räume werden immer weniger, sie sind zudem entwertet von einer Kultur, die uns permanent auf Trab hält, weil wir funktionieren und streben müssen.

Ich möchte das Alleinsein als Kur von den Zivilisationskrankheiten betrachten, als Heilmittel für das, was in unserer kompetitiven Leistungsgesellschaft, in unserem isolierenden Individualismus und unserem Missbrauch der Liebe als Statussymbol für Ehe und Elternschaft krank geworden ist.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich mir in meiner Arbeit gern Themen aussuche, die Missverständnisse vorprogrammieren. Themen, bei denen man erst mal durch einen Wust an Projektionen schwimmen muss, bevor man Luft holen kann, um die komplexe Realität dahinter sichtbar zu machen: Themen, mit denen viele Menschen komplizierte oder negative Gefühle assoziieren, weil darüber zu wenig oder zu einseitig gesprochen wird. Deshalb weiß ich aber auch, wie inspirierend und schön es ist, wie viele Steine vom Herzen fallen, wenn man sich im vollen Bewusstsein seiner Handlungsfähigkeit diesen Themen mit neuen Perspektiven zuwendet.

Große Lust bereitete es mir zudem, dass das Thema es ermöglicht, das Politische und das Sinnliche zusammen zu denken, was viel zu oft getrennt voneinander betrachtet wird. Ich war schnell im wortwörtlichen Sinne begeistert, an welche Vielzahl von Themen und Phänomenen man das Alleinsein zwischen Idealisierung und Pathologisierung anbinden kann. Oft funktionieren diese Verbindungen für Frauen und Männer unterschiedlich und rufen verschiedene Klischees und Assoziationen hervor: Der einsame Waldschrat ist vielleicht verschroben, aber dennoch weise, während es im Selbstverständnis der Begriffe liegt, dass die einsame Hexe und alte Jungfer hässlich sind, lächerlich, gefährlich und ungeliebt. In diesen Bildern zeigt sich bereits, dass das Alleinseinwollen Männern eher verziehen wird als Frauen.

Deshalb betrachte ich in diesem Buch vermehrt, wie die Erzählungen über Einsamkeit die Freiräume von Frauen immer noch beschränken. Bei meiner Recherche merkte ich schnell, dass in Büchern, die die Komplexität der Einsamkeit behandeln, kaum Autorinnen oder Akademikerinnen genannt werden. Ich empfand es als überaus frustrierend, dass die meisten Autoren den immer gleichen Reigen von Thoreau über Nietzsche bis zu Schopenhauer zitieren. Noch nicht einmal das nächstliegende Werk zur Bedeutung des Alleinseins fand bei den meisten männlichen Autoren Eingang in ihre Überlegungen: Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein. So ist dieses Buch auch der Versuch, einige andere Pionierinnen des Alleinseins wie Annie Dillard, Saea Maitland, Alice Walker, Hannah Arendt, Violette Leduc und Zora Neale Hurston ins Licht zu rücken.

Beim Schreiben dieses Buches fiel mir eine Parallele zu meinem vorherigen Sachbuch Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich auf: Schon damals war ich darüber verwundert, dass zahlreiche Menschen viel Zeit darauf verwenden, ihre eigene vermeintliche Minderwertigkeit zu suchen und darum zu kreisen. Ich habe mich gefragt, warum ich von dieser »Zivilisationskrankheit« weitestgehend verschont geblieben bin. Nun weiß ich die Antwort: Weil ich gut mit mir allein sein kann und mich dann in und mit mir komplett fühle. So ist es mir ein Anliegen, vor allem Frauen Inspiration zu liefern, wie sie sich aus Narrativen der Minderwertigkeit in Bezug auf Mutterschaft oder Kinderlosigkeit befreien können, die sie dazu bringen sollen, auf eine bestimmte Art zu funktionieren, um mehr für die Bedürfnisse anderer da zu sein als für die eigenen und ihre Freiräume, auch die Räume des Alleinseins, dafür aufzugeben.

Wenn ich Menschen von der Arbeit an diesem Buch erzähle, fällt mir auf, dass sich das Grundverständnis des Themas bei Männern und Frauen zumeist unterscheidet: Frauen reagieren begeistert auf die Buchidee, sie verstehen es als Handreichung, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Männer reagieren zögernd, manchmal verwirrt; sie wundern sich, warum ich das Alleinsein zelebrieren will, während sie doch gerade erst gelernt haben, dass sie sozial aufmerksamer werden und sich mehr in die Gemeinschaft einbringen sollen. Mit diesem Buch möchte ich auch zum gegenseitigen Zuhören einladen, denn Emanzipation ist ein gemeinschaftliches Projekt aller Geschlechter. Männer sehen immer mehr, wie die Frauenemanzipation sie dazu inspiriert, ihrem eigenem Geschlechterkäfig auf die Spur zu kommen.

Generell ist es mir ebenfalls wichtig, den Blick dafür zu schärfen, dass das Alleinsein gut für die Gemeinschaft ist: Wenn man lernt, sich den bewertenden, toxischen und isolierenden Strukturen der Gesellschaft, die Individuen gegeneinander ausspielt, immer wieder zu entziehen, um eigene Bedürfnisse zu leben, kann man mit der dadurch gewonnenen Stabilität, Durchlässigkeit und Gelassenheit Gemeinschaft besser leben und fördern. Das Selbstbewusstsein, das man im Alleinsein erlangen kann, hilft sehr dabei, sich in Gemeinschaften einzubringen, Verständnis für andere aufzubringen und sich mit anderen zu verbinden.

Andererseits kann man sich gerade in Gemeinschaften sehr verlassen fühlen, vor allem, wenn sie sehr viel Konformität verlangen, während man sich allverbunden fühlen kann, wenn man allein ist und deshalb ohne die Ablenkung anderer offen für seine Umwelt ist.

 

Einsamkeit wird häufig als etwas dargestellt, das Menschen passiv ertragen müssen, während es doch eine Handlungsoption bietet, einen Denk- und Erfahrungsraum, den man gestalten kann, in den hinein und aus dem hinaus man sich aktiv bewegen kann. So fühlte ich mich beim Ergründen des Alleinseins nie isoliert, ich war ja in bester Gesellschaft von Autorinnen, Abenteurern, Wissenschaftlerinnen. Sie waren mir mit ihrer eigenen Betrachtung des Alleinseins wichtige Begleiterinnen und Begleiter, auch wenn ich die tatsächlichen Schritte allein gehen musste. Auch Freundinnen und Freunde standen vor ihrem Bücherregal und suchten mir ein paar Weggefährt:innen heraus. Auf Spaziergängen tauschte ich mich mit anderen über die Einsamkeit aus. Tatsächlich konnte ich fast überall Gesprächsfetzen, Mitteilungen und Austausch zu diesem Thema entdecken, viele Fremde packte ich im Vorbeigehen am Schlafittchen, damit sie mir mehr darüber erzählten. Dann, allein am Schreibtisch, fühlte ich mich eingebunden in all diese Erzählungen und Empfindungen.

Dieses Gefühl der Verbundenheit im Alleinsein ist das vielleicht größte Geschenk, denn wenn ich allein bin, ist die ganze Welt bei mir. Dieses Geschenk möchte ich nun mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, teilen.

1Warum lässt man uns nicht allein?

Alleinsein als Feind der Leistungsgesellschaft und die Weisheit der Lust

Die Cosmopolitan porträtierte mich einmal gemeinsam mit zwei weiteren Frauen in einem Beitrag darüber, wie man mit 40 Jahren ein unkonventionelles Leben führt. Ich wurde dort unter anderem mit der Aussage zitiert, dass ich gerne ausschlafe. Bis heute frage ich mich, ob die Redakteurin dies so außerordentlich fand, dass sie aus all den Dingen, die ich im Interview erzählte, ausgerechnet diese Information herausstellte. Ebenso unsicher bin ich, wie die Betonung meines Schlafverhaltens bei den Cosmo-Leser:innen wohl ankommt. Bin ich in ihren Augen eine Versagerin, weil ich mir nicht für Kind, Ehemann und Job den Wecker auf 6:00 Uhr stelle? Oder denken sie vielleicht, ich hätte es im Leben zu etwas gebracht, gerade weil ich ausschlafen kann? Neben meiner Verwunderung darüber, dass ich die Reaktion auf so eine Aussage nicht einschätzen konnte, weiß ich allerdings auch noch, dass ich mich angesichts dieser Darstellung etwas schämte, mich dieses Schamgefühl aber auch wunderte. Was einem selbst als normal, richtig und sogar gesund erscheint, wirkt unter den kritischen Augen der Öffentlichkeit plötzlich abwegig. Es erinnerte mich an den Carrie-Bradshaw-Moment aus Sex and the City, als sie mit einem ungeschminkten, verschlafenen Blick, grauem Teint und Zigarette in der Hand auf dem Cover des New York Magazines landete, mit der Überschrift Single and Fabulous. Das Ganze wurde mit einem Fragezeichen versehen, statt, wie ihr versprochen worden war, mit einem Ausrufezeichen und einer glamouröseren Abbildung.

 

Ähnlich wie Tagesabläufe oder Lebensweisen, die nicht an den Tagesrhythmus eines »normalen« Jobs gebunden sind, sind auch das Alleinsein und die Faulheit interessante Marker, an denen man messen kann, welche Werte eine Gesellschaft umtreiben. Beide haben gemeinsam, dass sie ein Rückzug aus dem bzw. eine Verweigerung des Leistungsprinzips darstellen.

»Wer lange schläft, hat einen schlechten Charakter«, heißt es schlicht und ergreifend in dem Roman Gilgi – Eine von uns von Irmgard Keun, der – auch wenn er, wie so viele Romane von Schriftstellerinnen, leider von einem männlichen Kanon ignoriert wurde und so in Vergessenheit geriet – in den 1930er-Jahren ein Bestseller war. In dem Roman wird das Arbeitsethos unter Angestellten in der Weimarer Republik unter die Lupe genommen. Einer Zeit also, in der es auf der Kippe stand, wie in Zukunft Werte wie Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit umgesetzt werden können; alles Werte, die sich nicht entfalten können, wenn dem Einzelnen Zeit und Raum zum Nachdenken genommen werden und die Möglichkeit, sich der Fremdbestimmung zu erwehren, erschwert wird – ganz gleich, ob sie autoritär oder als Versprechen der Selbstverwirklichung daherkommt. Die Literatur der Neuen Sachlichkeit beschrieb die als neu empfundene Erfahrung der Moderne, als Mensch nun nur noch ein winziger Teil einer Massenkultur zu sein. Einer Massenkultur, die, gelockt von dem Wunsch, Teil der neuen städtischen Mittelklasse zu sein, auch geprägt war von Einzelkampf, Konkurrenz und Statusdenken, anstatt in der breiten Bevölkerung Solidarität zu leben und gewerkschaftliche Organisation voranzutreiben. »Sozial und ökonomisch seien sie proletarisiert, ideologisch zählen sie sich aber zum bürgerlichen Mittelstand – auf Grund dessen sie sich kaum politisch engagieren.«[1] Jede Begegnung mit Armut ist deshalb lästig, weil sie einen mit der eigenen Ignoranz der Verhältnisse wie auch mit der Angst vor dem eigenen Abstieg konfrontiert. Es war u.a. diese mit der Entpolitisierung verzahnte Vereinzelung und Entsolidarisierung in der Massenkultur, die die Atmosphäre für eine Generation schuf, die den Nationalsozialisten Vorschub gewährte.

Gilgi ist eine junge Frau, die sich dem gängigen Ethos, Interesse und Motivation für eine Arbeit zu zeigen, die wenig mit den eigenen Bedürfnissen zu tun hat, vollkommen unterordnet und darin paradoxerweise ihre Unabhängigkeit sucht. So zeigt sich bereits in der Weimarer Republik eine Tendenz, die seither aktuell ist: Selbstausbeutung wird als Selbstverwirklichung verkauft. Man lebt, um zu arbeiten, und arbeitet nicht, um zu leben. Zeit und somit auch Schlafenszeit, wurde in der industriellen Gesellschaft rationalisiert und in sinnvoll und sinnlos unterteilt. Die Arbeit war sinnvoll, die Freizeit und damit potenzielle Räume zum Alleinsein sinnlos. Der Mensch als Leistungsträger hat Wert nur qua seiner Arbeit und findet in dieser Dauerkrise des Arbeitsfetischismus keine Ruhe mehr. Irmgard Keun beschreibt, wie in dieser Krise die pedantische Hausfrau dem Angestellten entspricht; durch ihr beständiges Beschäftigtsein soll sie ebenso keinen Raum zur Kontemplation haben oder gar einen kritischen Blick auf ihr Leben und ihre Umwelt werfen können.[2]

In der Straßenbahn sieht Gilgi in müde und verschlossene Gesichter, die ihr alle gleich vorkommen. In ihrer Gefühlswelt kalkuliert sie alles in den Posten Einnahmen und Ausgaben, ihre Lebensfragen will sie sauber wie eine Rechenaufgabe lösen. Alles ist Pragmatismus und Materialismus untergeordnet. Einen neuen Impuls bekommt Gilgis Leben, als sie Martin kennenlernt, der sein Leben nach einem ganz eigenen Rhythmus lebt. Es ist der Rhythmus des kreativen Denkens und Schaffens, der mit den uniformen Zeiten der Arbeitswelt nicht übereinstimmen kann und auch nicht mit dem Geldwert, in dem diese Zeit bemessen wird. Seine Zeit hat nicht die Produktivität zum Maßstab, er schreibt Bücher, die kaum Geld bringen, und er plant sein Leben nicht nach einer Vorstellung von Karriere und Stempeluhr. Gilgi versucht zu verstehen, womit diese Zeit, die sie als Nichtstun empfindet, gefüllt ist. Ist einfaches Nachsinnen und Beobachten Zeitverschwendung im Gegensatz zu ihrer durchgetakteten Fließbandroutine im Büro?

Konzeptuell erinnert Martin an Walter Benjamins Flaneur, der sich Zeit und Raum zum Beobachten nimmt, aber auch an den Rebellen, denn die Metropole lässt ihn nicht zu einer Maschine und einem »trostlosen Uhrwerksmenschen«[3] werden, sondern ist Quelle seiner (und somit auch Gilgis) Inspiration und Kritikfähigkeit. Er benennt, was er sieht: den »verkrampfte[n] Ehrgeiz um so ein kleines Ziel« und »wie dumm und unwichtig das ganze tagefressende Getriebe hier ist«[4]. Anstatt alles zu geben, um für sich und andere Schönheit und Kreativität zu gestalten wie ein Künstler, soll der Mensch, dem Martin auf den Straßen begegnet, alles für den Profit einer Firma tun, mit der er sich immer mehr identifizieren soll. Keun spielt hier mit dem Bild der Muße und stellt es auf den Kopf. Martin wird Gilgis erste große Liebe, sein Leben ist flexibel und experimentell, er erweitert Gilgis Vorstellungswelt und gibt ihr einen Zugang zu ihrer eigenen Fantasie. Früher sah sie nichts, wenn sie die Augen zumachte, doch »jetzt sieht sie viel hinter geschlossenen Lidern«[5]. Fantasie und Kreativität sind hier nicht nur eine Kraft, die Menschen in die Lage versetzt, die Verhältnisse durch Beobachten und Beschreiben zu hinterfragen, sondern die Arbeitsweise der Kreativität selbst fordert in ihrem Mäandern, Experimentieren oder »Nichtstun« und Sinnieren ein anderes Verständnis von Zeit und Schaffen, das nicht mitläuft im Räderwerk der Lohnarbeit. Man kreiert ein neues Leben dadurch, dass man überhaupt Kreativität zulässt, die dann den Alltag neu strukturiert. Nicht Müßiggang ist aller Laster Anfang, sondern Erfolgssucht, Statusdenken und Wettbewerb – die Stützpfeiler der modernen Leistungsgesellschaft.

Doch erst als Gilgi selbst arbeitslos wird, ist sie bereit, wirklich aus ihrer Routine zu treten. Zunächst will sie wieder dazugehören, sie verzweifelt an ihrer ohne Lohnarbeit »nutzlosen« Zeit und versucht, die Leistungsideologie fortzusetzen, indem sie sich nun krampfhaft um ihr Aussehen sorgt, das dem Bild einer begehrenswerten erfolgreichen Frau entsprechen soll. Viele Arbeitslose, denen sie begegnet, fühlen sich ihres Wertes und Gebrauchtseins beraubt, empfinden sich als kraft- und hoffnungslos, weil sie keinen Weg fanden, auch ohne Lohnarbeit ein Selbstwertgefühl und autonome Schaffenskraft zu entwickeln. Auch die Liebe eines Ehepaars in Gilgis Nachbarschaft schlägt in gegenseitige Verachtung um, als der Mann den Status des Arbeitnehmers verliert und finanzielle Sorgen den Alltag vergiften. Doch da sie in der Arbeitslosigkeit, weg von Kolleg:innen, die ein Ideal vorleben, nun Zeit und Raum für sich selbst hat, kann sich Gilgi in ihren Gedanken entfalten. Die größte Veränderung tritt ein, als sie Armut nicht mehr wie früher mit Ekel und Verachtung begegnet, sondern aktiv Menschen, die durch soziale Netze fielen, unterstützt. Damit setzt sie auch eigene Maßstäbe und erreicht eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Martin, der sich weiterhin vor allem seinem künstlerischen Schaffen widmet. Keuns Roman erzählt zugleich davon, wie Zeitnot, Geldprobleme und die Verlockungen von sozialem Status einer möglichen Solidarität im Wege stehen. Die Geschichte schließt mit den Gedanken, dass es zu viel verlangt sei, Arbeiter:in und im selben Augenblick Mensch zu sein. Sie stellt zugleich die Frage, ob Fantasie weniger Flucht »vor der Wirklichkeit«, sondern Flucht »in eine bessere Wirklichkeit« sei.[6]

Dieser Gedanke erinnert an Robert Walsers Utopie Der Arbeiter von 1915, in der die Poeten den Rhythmus vorgeben: »Was sie taten, das taten sie nachdenklich und langsam. Sie taten nicht so unmenschlich viel, fühlten sich auf keine Weise bewogen oder verpflichtet, sich aufzureiben und abzuarbeiten, […] und eben darum war das Leben so freundlich. Wer hart arbeiten muß oder überhaupt in hohem Grad tätig ist, der ist für Freude verdorben. […] Indem sie es sich auf harmloser, zutraulicher Erde wohl sein ließen, genossen sie still ihr Sein in traumhaft schöner Ruhe. […]«[7] Auch in Walsers Text Der Spaziergang bleibt unklar, ob der Protagonist selbst ein Dichter oder ein Vagabund ist, es macht auch keinen Unterschied. Das von Arbeitsethos geprägte Urteil von außen ver- und beurteilt sein Tun als fragwürdig und beschämend. Er schämt sich, einfach nur so zu spazieren.

 

Faulenzer und Müßiggängerinnen erregen den Unmut der arbeitsamen Bevölkerung, nicht nur weil sie angeblich parasitär seien, sondern aus dem Unbehagen heraus, das sie offenlegen, dass man dieses falsche Pflichtbewusstsein hinterfragen und sich ihm tatsächlich entziehen kann. Sie verdeutlichen einem, dass man die Wahl hat, wenn man es wagen würde, seinen Wert an den eigenen Maßstäben auszurichten.

Interessanterweise war Faulheit früher ein Sonderrecht der Oberschicht, während es mittlerweile als Vergehen der Unterschicht gilt. Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte es zum guten Ton, als Aristokrat oder Privatier auf der faulen Haut zu liegen. Es wurde als Privileg gesehen, durch gottgegebenen Besitz genug zu haben, um nicht arbeiten zu müssen. Es war ein Zeichen des höchsten Ranges, Muße zu haben. Aus dem »edlen Müßiggang« wird erst mit dem Niedergang des Feudalismus und dem Aufkommen der bürgerlichen Schichten die »verwerfliche Faulheit«. Das Nichtstun bzw. das Nichteingebundensein in Lohnarbeit wurde je nach Klassenzugehörigkeit anders bewertet: »Faulheit sei die sträfliche Gelassenheit bei einem Menschen niederen Standes«[8], sagte der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce um 1900 voller Ironie. Es hing also von diskriminierenden Klassenzuschreibungen ab, welches Wort man benutzte: Leute, die man der »bildungsfernen« Unterschicht zurechnete, wurden als faul bezeichnet, während man den Menschen der Oberschicht eher die schöngeistige Muße gönnte. So schien es legitim, die Unterschicht mit sozialpolitischen Maßnahmen zu mehr Arbeit zu drängen, während man verschleierte, dass die Besitzenden, wenn es um Umverteilung von Zeit und Geld geht, viel parasitärer dastanden.

 

Gerechterweise müsste die Faulheit, also die Möglichkeit zur Muße und zum Alleinsein, umverteilt werden. Wenn sich alle gleichermaßen an der Arbeit beteiligten, die die Gemeinschaft braucht, könnten alle auch gleichermaßen fauler – im Sinne einer eben nicht alles bestimmenden Erwerbstätigkeit – sein.

In ihrem Buch Vita activa beschrieb Hannah Arendt 1958 die Verwurzelung des Massenmenschen nicht nur in der Konsum-, sondern auch in der Arbeitskultur: »Wir sind eine Gesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und wir kennen kaum noch die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen eine Befreiung sich lohnen würde«, konstatiert Hannah Arendt. Bereits im industriellen Zeitalter wurde der Arbeitsunwille vor allem der unteren Schichten als verabscheuungswürdig dargestellt: Die westliche Gesellschaft wurde nach den Lehren John Lockes, Karl Marx’ und Adam Smith’ gänzlich zu einer »Arbeitsgesellschaft«, die die Lohnarbeit verherrlichte. »Der plötzliche Aufstieg der Arbeit von der untersten und verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten begann theoretisch damit, daß Locke entdeckte, daß sie die Quelle des Eigentums sei. Der nächste entscheidende Schritt war getan, als Adam Smith in ihr die Quelle des Reichtums ermittelte; und auf dem Höhepunkt kam sie in Marx’ ›System der Arbeit‹, wo sie Quelle aller Produktivität und zum Ausdruck der Menschlichkeit selbst wird.«[9] Arendt schrieb, dass die »Rückführungen aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten und Herstellen […] historisch nicht zu rechtfertigen sind und in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben.«[10]

Daran anknüpfend beschrieb der Kulturanthropologe und Anarchist David Graber, wir hätten die Obsession, neue Jobs zu kreieren, egal wie sinnlos, prekär, schlecht bezahlt, beliebig, zeitraubend und unökologisch sie noch mehr Müll produzieren und darüber hinaus im Arbeitsverhältnis unsicher sie sind.[11] Buckminster Fuller sagte bereits in den 1970er-Jahren noch vor dem Beginn der neoliberalen Wirtschaftsideologie, dass wir unsinnige Jobs kreieren, weil wir der Idee hinterher hängen, dass wir unsere Existenz mit einer lohnarbeitenden Beschäftigung rechtfertigen müssen.

 

In dieser Arbeitsgesellschaft habe man das Verlangen nach einem freien, göttergleichen Leben voller Muße verloren und kenne kaum noch die sinnstiftenden Tätigkeiten wie die Kontemplation, um derentwillen die Befreiung von Arbeit sich lohnen würde, ergänzte Arendt. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, proklamierte 1880 in einer Schrift das »Recht auf Faulheit«, auch, weil Sozialistinnen, Anarchisten[12] und Kommunistinnen offenlegten, wie die Art, wie Lohnarbeit organisiert wurde, benutzt wurde, um die Ungleichheit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch zu verstärken: Er thematisierte, wie Arbeitgeber Arbeitnehmer dazu verpflichten, für sie zu arbeiten, den Profit jedoch für sich einstreichen, während sie selbst nicht so hart arbeiteten wie ihre Angestellten – vor allem weil die Arbeit weniger Geld einbrachte als das Finanzwesen, mit dem Arbeitgeber herumspielen konnten, da sie über das Kapital verfügen. Doch Gott selbst, so Lafargue, gebe ein gutes Beispiel für Faulheit: Nachdem er sechs Tage gearbeitet hat, ruht er in alle Ewigkeit aus. Faulheit sei ein Geschenk der Götter.[13]

 

Wie das literarische Gegensatzpaar Gilgi und Martin veranschaulicht, sind Ruhe, Nachsinnen und Beobachten, also das Ausklinken aus dem Rausch des Alltags, notwendig, um sich von den immer gleichen Wiederholungen des genormten Denkens, Sehens und Fühlens zu befreien. Doch das schlechte Gewissen gegenüber dem Leistungsprinzip ist fest internalisiert. So schrieb auch der Philosoph Friedrich Nietzsche, die Menschen würden sich den stupidesten und sinnlosesten Tätigkeiten unterziehen, nur um beschäftigt zu wirken, als würde es jemanden adeln, »wenn man sagen kann, keine Zeit zu haben«[14]. Ähnlich wie Nietzsche meinte Hannah Arendt, dass eine Zivilisation eben kein striktes Arbeitsethos brauche, sondern unbedingt den Freiraum für Müßiggang und Einsamkeit: Raum für aufmerksames Umherschweifen und Beobachten, für zweck- und zielloses Selbstvergessen. Denn gerade durch die Ziellosigkeit gelangt man an neue, ungeahnte Ufer. Doch wie viele unsinnige Verpflichtungen nimmt man gestern wie heute auf sich, um dem Vorwurf der Faulheit zu entkommen und Beschäftigung und Zugehörigkeit zu mimen?

 

Die Effizienzsteigerung menschlicher Arbeitskraft wurde von Henry Ford, der als Automobilfabrikant mit der Erfindung des Fließbandes die Fabrikarbeit prägte und damit Produktivität und Profite mehrte, auf eine neue Stufe gehoben. Ford war nicht nur Automobilfabrikant, sondern auch Autor des 1920 erschienenen, antisemitischen Buches Der internationale Jude.[15] Er unterstützte die deutschen Faschisten beim Aufbau der deutschen Streitkräfte vor dem Zweiten Weltkrieg: »Für mich gibt es nichts Verabscheuungswürdigeres als ein Leben von Ruhe und Bequemlichkeit. Es gibt kein Recht auf Leichtigkeit. Die Zivilisation hat keinen Platz für den Müßiggänger«, schrieb Henry Ford in seiner Biografie Erfolg im Leben.[16] Fords Ideologie wurde 1932 von Aldous Huxley aufgegriffen, dessen utopisches Setting in seinem Roman Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft im Jahre 632 »nach Ford« angesiedelt ist[17]. Sieben Ford-Aufsichtsräte teilen sich in der Handlung des Buches die Weltherrschaft, wo nicht mehr nur Autos, sondern auch die dazu »passenden« Menschen am Fließband produziert werden. Das Fließband illustriert, wie eng der Arbeitsfetisch mit einer Massenkultur und Gleichschaltung verzahnt ist, die keinen Raum mehr lässt, selbst zu denken und für sich allein zu sein und die Menschen als Material betrachtet. So ist das bürgerliche Ressentiment gegenüber dem Poeten und Müßiggänger das kleinere Problem angesichts der Auswüchse, in die dieser Arbeitsfetisch an Gewalt-, Disziplinierungs- und Vernichtungsexzessen in den Kolonien und im deutschen Faschismus gegenüber als »arbeitsscheu« bezeichneten Juden und als »unzivilisiert« und »asozial« herabgestuften Menschen letzten Endes mündete.

 

Unsere Vorstellung von Faulheit mit all ihren ausgrenzenden und gewaltvollen Konnotationen wird zum Mittel zum Zweck, um den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Das reflektiert der zeitgenössische Philosoph André Rauch, der empfiehlt, sich als Erstes zu fragen, was eine Person von einem will, wenn sie einen als faul bezeichne: wahrscheinlich, dass man etwas für sie tut, und zwar möglichst billig oder sogar unbezahlt und viel zu viel obendrein. Und dazu natürlich Arbeit, die weniger im eigenen Interesse liegt bzw. der eigenen unmittelbaren Versorgung dient, sondern die im Interesse jener Person liegt, die mich der Faulheit beschuldigt. Dieser Vorwurf sei vor allem eines: ein Konstrukt zur emotionalen Erpressung und Manipulation. Wenn einem Defizite vorgeworfen werden, dann, weil derjenige, der den Vorwurf ausspricht, ein bestimmtes Verhalten von einem wünscht. Faulheit ist somit auch eine Form der Freiheit und der Selbstbehauptung, weit weg von Selbstoptimierung und Wachstumsglauben. Sie stellt das Leistungsdenken konsequent infrage.

Der Romantiker Friedrich Schlegel beschrieb den Müßiggang in seinem 1799 erschienenen Roman Lucinde als »einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradies blieb«[18]. Doch Faulheit, Untätigkeit und Nichtstun sind seit je gebrandmarkt als Abkömmlinge der Todsünde Trägheit und ließen sich folglich leicht in Dienst nehmen für autoritäre Unterwerfung. Katholizismus und Kapitalismus gehen in dieser Hinsicht Hand in Hand und warfen uns aus dem Paradies. Wir werden dazu angehalten, Produktivität zur Sinnfrage zu machen.

Auch heute verbinden wir die Arbeitstätigkeit mit der Sinnfrage und sind so süchtig nach Bewertung, dass wir nicht hinterfragen, warum Arbeitgeber:innen überhaupt Einfluss darauf haben sollten, wann ich morgens aufstehen muss, wie viel Zeit mir zum Reisen und Entspannen bleibt, wie ich mein Familienleben organisieren kann, wie viel Geld ich habe, um mir Dinge zu kaufen, die ich brauche oder nicht brauche. Dies ist der unheilvolle Kreislauf, in dem vermeintlich alles Lebendige, alles Sinnhafte schwingt: Konsum und Arbeit. Doch in diesem Kreislauf liegt einem nichts mehr an der Welt, es ist die reine Verlassenheit. In der Konsumwelt wird Information allein zu Werbung, Image und Propaganda. So haben auch die Bildung und das Nachdenken an sich oftmals keinen Wert mehr, wenn sie nicht zu Geld gemacht werden können. Die soziale Isolation von Arbeitslosen ist vor allem deshalb ein Thema, weil der Wert von Menschen in ihrer Produktivität durch Lohnarbeit bemessen wird. Dass der arbeitslose Mensch kein richtiger Teilnehmer der Gesellschaft ist, funktioniert als Paradigma auf einer symbolischen und reellen Ebene: Ersteres, weil sein Wert dadurch bemessen wird, und zweitens, weil er ohne Geld in einer an Konsum orientierten Öffentlichkeit keinen Zugang mehr zu ebendieser findet. Deshalb wird Arbeit oft zum Refugio der Menschen, die sich einsam fühlen, statt z.B. eine Tätigkeit, in der man sich sozial engagiert.

Ein kapitalismuskritischer Argumentationsstrang der Philosophiegeschichte, der von Marx über Durkheim, Rosa Luxemburg, Adorno und Horkheimer bis zu heutigen Stimmen der Kritischen Theorie reicht, legt nahe, dass wir unter dem Leistungs- und Verwertungsimperativ der Ökonomie in ein entfremdetes und letztlich einsames Verhältnis zu den Dingen und Menschen geraten, die uns umgeben und mit denen wir arbeiten. In neoliberalen Zeiten, in denen jeder sein eigenes Unternehmen sein soll, spitzt sich die Lage nochmals zu: »Die Selbstausbeutung ist viel effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht.«[19] Schließlich glaubt man, man beute sich für sich selbst aus, nicht für den König, den Fürsten oder den Chef. Man braucht keine Polizei mehr, die wie vor hundert Jahren Gewerkschaftler:innen zusammenprügelt, wenn Menschen das Gefühl haben, sie würden sich selbst verwirklichen und Anerkennung bekommen, auch wenn sie zwölf Stunden am Tag in prekären Verhältnissen arbeiten.

In unserer unumstößlichen Fixierung darauf, dass Arbeit gut sei und Faulheit schlecht, wird die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen bei den meisten europäischen Regierungen in der Regel darauf reduziert, bessere Löhne zu zahlen, anstatt eine Verkürzung der Arbeitszeit, weniger Belastung durch mehr Personal, mehr Freizeit, Kinderbetreuung oder Teilzeitmöglichkeiten zu gewähren, also: weniger Arbeit anzubieten. So wurde Pfleger:innen in der Coronakrise höchstens bessere Löhne versprochen, um ihre schlechten Arbeitsbedingungen zu kompensieren, obwohl in fast jedem Interview der Betroffenen zu hören war, sie bräuchten Entlastung in Arbeitszeit und Arbeitsaufwand durch mehr Kolleg:innen. Denn gerade in der Pflege wird Selbstaufopferung weiterhin selbstverständlich in Anspruch genommen. Respekt (wie das Balkonklatschen in der ersten Coronawelle) hilft den Betroffenen nicht, ihre Mieten zu zahlen und mehr Freizeit zu haben. Rein demonstrativer Respekt kostet nichts und ist ein billiger Kitt für unsere Werte, die wir nach außen darstellen wollen. Zumal es quer durch alle politischen Parteien schon lange jene ideologische Indienstnahme der »kleinen Leute« gibt, die als rhetorische Verschiebemasse immer dann reklamiert wird, wenn man sie für das eigene Anliegen braucht.[20] Diese Verschiebemasse sind neben Menschen, die in der Pflege arbeiten, auch Mütter, denn die Coronakrise zeigte zugleich, dass wir es ebenso selbstverständlich in Anspruch nehmen, auf Frauen als soziales Sicherheitsnetz zurückgreifen zu können, wenn Schulen und Kindergärten schließen. Viele Frauen mussten feststellen, dass sie auf einmal allein mit dieser Mehrbelastung waren und auch die Arbeitsteilung mit ihren männlichen Partnern nicht funktionierte.[21]

Man muss sich dabei immer wieder vor Augen halten, dass die Idee der 40-Stunden-Woche überhaupt nur möglich war, weil sie an das Konzept der Kleinfamilie gekoppelt war, in dem die Ehefrau sich unbezahlt zu Hause um alle Bedürfnisse des Mannes und der Kinder kümmern soll. Sie bewerkstelligt die Arbeit des Alltagslebens, die ein Angestellter mit 40 Arbeitsstunden nicht allein ohne die unbezahlte »Assistenz« der Ehefrau bewältigen kann. Der Journalist Jakob Simmank stellt in seinem Buch Einsamkeit die Frage, was wir gewinnen könnten, wenn wir keine 40-Stunden-Woche hätten, sondern 32 oder gar weniger Stunden pro Woche arbeiten würden. Man käme aus der Klemme heraus, seine Lebenszeit vorrangig als Arbeitszeit zu denken, zu empfinden und zu managen. Es würde viele Kräfte freisetzen, weil Menschen schlichtweg mehr Zeit für sich selbst hätten. Deshalb sind auch die Ideen um ein bedingungsloses Grundeinkommen zu begrüßen. Wir sollten das Vertrauen haben, dass jeder Mensch je nach seinem Talent etwas zu der Gemeinschaft beitragen kann. Man muss ihm aber die Ruhe und den Raum lassen, dieses Talent finden und entfalten zu können. Der Wert, der dadurch geschaffen wird, ist kein berechenbares Profitziel, er ist viel mehr. Er ist das, was uns als Gesellschaft ausmacht, um unsere Vielfältigkeit leben zu können.

Muße und Faulheit – Paradies oder Hölle

In einem chinesischen Sprichwort heißt es: Einen Tag ungestört in Muße zu verleben bedeutet, einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein. Mein Onkel hatte einen ganz anderen Spruch auf den Lippen: »Man darf dem lieben Gott keinen Tag stehlen.« Eine Floskel, die das christliche Arbeitsethos in ein Verbot umdeutet und Faulheit damit noch stärker stigmatisiert. Es ist die Logik der Erbsünde: Wir sind faul, schuldig, unnütz und sinnlos; nur weitestgehend freudlose Selbstüberwindung kann wirklich Werte schaffen. Mit Martin Luther, Erasmus von Rotterdam und der Reformation war selbst die Muße der Kleriker als Faulheit gebrandmarkt. Bis ins 15. und 16. Jahrhundert machte es den guten Christen aus, im Gebet in sich zurückgezogen zu sein wie ein Mönch. Martin Luther war es dann, der diesen zurückgezogenen Lebensstil als parasitär bezeichnete und eine Sicht förderte, der gemäß man sich seinen Fahrschein ins Paradies mit Tüchtigkeit erarbeiten musste. Er kreierte das Bild von einem Menschen, der vor der Erbsünde im Paradies arbeitsam war, statt sich lustvollen Schlaraffenland-Fantasien hinzugeben. Man könne nicht einfach so darauf hoffen, mit dem Himmel belohnt zu werden, nur weil man das irdische Leiden durchgestanden habe, sondern erst nach einem tüchtigen und tugendhaften Leben würde das Paradies winken. So wurde aus dem Nichtstuer nicht nur einfach jemand, der eine eigene Entscheidung für Nachlässigkeit oder mangelnde Sorgfalt für sich trifft, sondern aus ihm wurde ein Parasit der Gesellschaft, ein schlechter Christ, dem die Hölle drohte. Menschen, die sich in Opposition zur Arbeit befanden, waren somit auch oppositionell zu Gottes Regeln und zugleich zu den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Einstellung rechtfertigte auch den Terror, den die europäischen Imperialisten in den Kolonien auf die dortige Bevölkerung ausübten, die Disziplinierung in Straflagern und Erziehungsanstalten, die Vereinnahmung aller Lebensbereiche durch die Arbeit: alles durchtränkt von der Idealisierung der Produktivität und des Fleißes. Paradoxerweise diente der rassistische Blick auf die Kolonien, vor allem auf den Orient, zwei gegenläufigen Idealen: nicht nur als Abwertung von Menschen, die man als »Wilde« bezeichnete und die man mit Gewalt zivilisieren muss und deshalb auch zu erzieherischen Zwecken zur Arbeit zwingen und ausbeuten darf, sondern auch als Ausweg aus der durchdisziplinierten Arbeitsamkeit in Europa, als Sehnsuchtsort, an dem man einen vorzivilisatorischen Zustand romantisieren konnte, wo Menschen eine paradiesische Muße, also doch ein vor-erbsündliches Schlaraffenland, genießen konnten.

Mit dem christlichen Leitsatz, dass man irdisches Leiden akzeptieren und auf Erden fleißig und folgsam sein soll, um in den Himmel zu kommen, haben Feudalherren, Könige und Bischöfe ihre Untertanen zum reibungslosen Funktionieren drängen können. Hier zeigt sich auch, wie unser neoliberales Leistungsdenken vom Katholizismus geprägt ist: Wir lernen früh, unsere Ziele, die uns glücklich machen sollen, so sehr in die Zukunft zu projizieren, dass wir uns eine zufriedene Gegenwart kaum vorstellen können. Der selbstvergessene Genuss im Hier und Jetzt ist sündig, alles muss zweckmäßig auf den planbaren Erfolg ausgerichtet sein. Vielleicht, weil wir keinen gesunden Umgang mit Lust und Sinnlichkeit erlernt haben, der unseren Bedürfnissen entspricht, brechen sich diese dann in Religionen in extremen körperlichen Praktiken und im Kapitalismus mit Suchtmitteln Bahn. Dabei kommen wir dem, was man sich als das Göttliche vorstellen kann, am nächsten, wenn wir bewusst mit unserem irdischen Körper so viel Lust wie möglich erleben und die Antennen der Körpersinne so weit wie möglich ausfahren. Seiner Lust zu folgen, bedeutet, der Klugheit der körperlichen Bedürfnisse und der Erfahrung der Umwelt durch die Sinne zu vertrauen, also viel mehr als nur Sexualität. Doch wahrscheinlich liegt die Krux gerade darin, dass wir Lust vor allem in der Sexualität verortet haben und sie deshalb bewusst oder unbewusst als etwas zu sehen gelernt haben, das wir disziplinieren, verstecken oder beherrschen müssen.

Aber nicht alle Religionen dienen der körperfeindlichen Unterjochung. Religiöse Praktiken wie im Tantra, was im Übrigen keineswegs nur eine sexuelle Praktik ist, geben eine Anleitung, wie man seine körperliche Sinnlichkeit nutzt, um dem Göttlichen nahe zu kommen, statt den Körper als Feind der Transzendenz zu züchtigen. Auch der griechische Philosoph Epikur verband schon um 300 v.Chr. Weisheit und Hedonismus, solange wir die Objekte unseres Begehrens gut dosieren und somit eine Art glücklich genussvolle Genügsamkeit erlangen. Ruhm, Macht und Geld stellen sich so gerade nicht als erstrebenswerter Genuss und Weg zur Zufriedenheit dar, sondern als Begehren, das dem Glück im Weg stehe, denn in der Logik dieser Ziele liege es, dass man nie das Gefühl erreichen kann, davon genug zu haben, was wiederum suchtfördernd wirkt. Glückseligkeit liege also darin, alles, was einem im Hier und Jetzt tatsächlich widerfährt, in vollen Zügen und mit allen Sinnen zu genießen. Wahrscheinlich war Epikurs Schule auch deshalb in einem Garten.

Heute glauben wir, den angestaubten Katholizismus weitgehend aus unserem Wertesystem verdrängt zu haben. Doch zeigen wir das gleiche Schuldbewusstsein, das seinerzeit Gott gegenüber bestand, nicht heute unserem Arbeitgeber gegenüber oder – weniger konkret – dem Wert, den wir der Arbeitsamkeit verliehen haben? Wir müssen etwas leisten, bevor wir uns Freizeit, Müßiggang und Zeit für uns selbst – das Paradies – gönnen dürfen.

Dementsprechend gönnte sich Immanuel Kant 1798 nur mit Ach und Krach den Feierabend: »Der größte Sinnesgenuß, der gar keine Beimischung von Ekel bei sich führt, ist, im gesunden Zustande, Ruhe nach der Arbeit.«[22] Auch der Schweizer Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau schrieb Mitte des 18. Jahrhunderts: »Müßiggang verdirbt den Charakter.« Gerade in der Einsamkeit, wenn keiner ein disziplinierendes Auge auf einen hat, bilde sich laut Rousseau ein Hang zu übermäßigen Leidenschaften, dazu gehörten Schwermut, soziale Isolation, sinnloses Grübeln, Misanthropie und Melancholie. Zum Verfall der Sitten komme es, wenn die Menschen einen Lebensstil entfalteten, der über Arbeit, Familie und Bürgerpflicht hinausdrängt. Darin läge sein Verderbnis.[23]

Dabei hat Müßiggang überhaupt nichts mit Unproduktivität zu tun, sondern steht für die Freiheit zu tun, was man will. »Muße? Das ist das Gegenteil von Nichtstun. Es ist gesteigerte Empfänglichkeit, ein Tun, das nicht aus dem Zwang der Not kommt, nicht aus der Gier nach Gewinn, nicht aus dem Gebot oder der Pflicht, sondern allein aus der Liebe und der Freiheit. Es ist die anspruchsvollste aller Beschäftigungen, weil sie aus dem Kern unseres Wesens hervorgeht und aus der Freude am Schaffen selbst getan wird. Es ist vor allem die unverwelkliche Fähigkeit zum Staunen und zum Ergriffensein«, sagte der 1836 geborene königliche Leibarzt und Vordenker der Naturheilkunde Christoph Wilhelm Hufeland.[24]

Beschäftigung tut Menschen gut, aber wir haben jede Idee von Beschäftigtsein mit Lohnarbeit und dem daraus resultierenden sozialen Status verknüpft. Selbst die Tätigkeiten, die wir in der Freizeit tun, sollen als Selbstoptimierung dem Wert der Lohnarbeit zugeführt werden. Dies hat aber einen weiteren tragischen Effekt: Wir misstrauen unseren Bedürfnissen und verstehen nicht, wie klug unsere Lust ist. Das Arbeitsethos hat unser Belohnungssystem korrumpiert. Wir orientieren uns an der möglichen Belohnung und Anerkennung durch sozialen Status und Geld statt an unserer Lust. Unsere Idee von Arbeitsethos besagt, dass Arbeit nur dann wirklich edel ist, wenn sie mühsam ist, mit Pflichterfüllung und Überwindung zu tun hat. Das ist mit lustvoller Betätigung schwer zu vereinbaren, sodass wir mehr auf Konkurrenz, Druck und Wettbewerb als Motor für unser Handeln bauen, als darauf zu vertrauen, dass die Lust für uns sinnvolle Wege und Tätigkeiten findet. Diese kollektive Grundeinstellung stützt die Ambivalenz des Alleinseins in der Leistungsgesellschaft: Einerseits lässt sie uns nicht allein sein, und zugleich entfremdet die Fixierung auf Wettbewerb uns nicht nur von anderen, sondern auch von uns selbst und unseren Bedürfnissen. Wir empfinden unsere Bedürfnisse als lästig, egal welche vorausschauenden und gesunden Weisheiten sie uns einzuflößen versuchen. Sogar der erholsame Schlaf steht unter dem Verdacht der schnöden Faulheit. Ein Chirurg erzählte mir, er habe sich gerade einen bequemen Sessel für sein Büro gekauft, auf dem er auch mal bei geschlossener Tür eine halbe Stunde schlafen könnte. »Schlaf ist verpönt in der Klinik, selbst wenn es meiner Konzentration vor einer stundenlangen OP guttun würde.«

 

All das stützt die These, die Leistungsgesellschaft würde uns überfordern. Das stimmt. Wir sind aber gleichzeitig auch unterfordert in unserer verspielten lustvollen Sinnlichkeit. In der Schule müssen Sechsjährige lernen, stundenlang still zu sitzen, damit sie dies auch später am Schreibtisch schaffen, wir drillen unsere Körper vor dem Spiegel, den Schlaf müssen wir nach der Stempeluhr des Arbeitgebers ausrichten. Unsere Körper sind zu Tode gelangweilt, sie werden traurig, ängstlich und resigniert, weil sie Tag und Nacht diszipliniert und gleichzeitig in ihrer Sinnlichkeit unterfordert bleiben. Körper wollen mit der Umwelt interagieren, ihre Sinnesantennen ausfahren, auch mal ziellos herumtollen und entdecken. Als Erwachsene oder Erwachsener wagt man vielleicht in einem Gaga-, Butoh- oder Movement-Meditation-Kurs intuitive Bewegung, aber nur unter Anleitung, denn selbst trauen wir uns das nicht zu.

Wenn man allein ist, fällt es leichter, zu Bedingungen des eigenen Körpers lustvoll zu sein. Der Körper, der durch Kontakt und Bewegung lernt, durch Intensität, durch das Austesten von Grenzen, durch Experiment und Spiel, all seine Sinne dafür einzusetzen und auszubauen, soll mit sechs Jahren in der Schule plötzlich still sitzen. Seine Sinnlichkeit wird weggedrückt durch Angst vor Bestrafung und Benotung. Ich kann mir kaum etwas Unnatürlicheres und Kontraproduktiveres für Kinder vorstellen.[25] Vielleicht lernen wir schon dort, systematisch unseren körperlichen Bedürfnissen zu misstrauen und diese zu unterdrücken. Zurück zum Körper finden wir dann wieder in der Leistung: Schönheit, Jugend, Wettkampf, Muskelmasse, Dünnsein, Wachsein und Nichtkranksein. Wir verlernen, ihn zu spüren und seine Bedürfnisse zu verstehen und zu respektieren. Und darum verlernen wir auch, ihn so zu lieben, wie er ist.

Am Schreibtisch lernen wir auch, dass uns ein elementares Bedürfnis wie Bewegung, die außerhalb von akzeptierten (Wettbewerbs-)Sportarten geschieht, peinlich ist. Denn auch die Freizeit steht unter Produktivitätszwang: Die meisten Sportarten drehen sich um Wettbewerb, Konkurrenz und Leistungsdenken, müssen nun getrackt und aufgezeichnet werden (»Sie haben Ihr heutiges Schrittziel erreicht!«). Meine Freundin Christine, mit der ich oft tauchen gehe, erzählte mir, sie habe als Jugendliche viele Vereine ausprobiert, Tischtennis, Kunstturnen, Schützenverein, und bei allen aufgehört, als man anfing, sie zu Wettbewerben zu schicken. Aber ohne den Wettbewerb zu akzeptieren, gab es auch keine Gemeinschaft im Verein.

Die ganze Freizeitgestaltung scheint sich am Erfolgsdenken zu orientieren. Sogar im Urlaub müssen wir unsere Eroberungen posten und als Wellness-Anhänger performen, dass wir die Work-Life-Balance erfolgreich im Griff haben. Denn wir sollen als Leistungsträger:innen unsere Identität suchen. Zwischen Selbstentfaltung und Selbstoptimierung gibt es keine klare Grenze mehr. Jede Zeitlücke wird eine Marktlücke. Wir haben unser Selbstwertgefühl an den Werten der Leistung und Lohnarbeit ausgerichtet, als wäre dies ein Naturgesetz. So sei »Faulheit auch Pazifismus gegen sich selbst«, sagt der Journalist Michael Magercord in seinem Feature Faulheit – Todsünde oder Tugend im Deutschlandfunk.[26]

Faulheit scheint nun höchstens noch als Kür eines arbeitsamen Tages legitim zu sein, die man sich gönnen darf, wenn man, aufrichtig erschöpft von der Arbeit, nur noch fernsehen kann und dabei Alkohol und Chips konsumiert. Betäubung ist aber nicht die Muse der Kreativität und der Lust. Wir fördern Sucht statt Sinnlichkeit. So irritiert es viele Menschen, wenn jemand versucht, sich dem Wettbewerb ums vordefinierte Glück und Erfolg zu entziehen, wenn man gar die Muße als Lebenseinstellung zelebriert: Man ist dann Aussteigerin, Slacker, Verliererin und redet sich seine Untätigkeit als Freiheit schön. In einer Welt, in der wir beigebracht bekommen haben, dass unsere Existenz und Identität von der Karriere abhängen, wirkt es beunruhigend, dass manche es wagen auszusteigen.

Allerdings zeigt die Empirie, dass Erfolgsstreben blind macht für die eigenen Bedürfnisse. Wir akzeptieren Arbeits-, Liebes- und Lebensbedingungen, die uns unglücklich machen, weil sie uns Anerkennung und Prestige verheißen. Soziale und politische Narrative über Erfolg in der Liebe und Familie, im Job und beim Einkommen können unser Leben in gewisser Weise einfacher machen, weil sie Orientierung geben, sie machen es aber nicht besser.[27] Vor allem sind sie nur Schablonen, die mit unseren individuellen Bedürfnissen oft wenig zu tun haben, sondern uns fest in das Getriebe der Gesellschaft einschrauben. Sie locken mit Anerkennung, wenn wir ihren Normen gemäß erfolgreich sind, aber eben auch mit Häme und Ausschluss, wenn uns das nicht gelingt. Der britische Verhaltensforscher Paul Dolan entzauberte in seinem Buch Happy Ever After: Escaping The Myth of the Perfect Life[28] so manchen Mythos über Erfolg. Erfolg mache nicht zufrieden, er sei hinterhältig, weil man das Ziel eigentlich nie erreichen kann. Irgendjemand ist immer besser oder hat mehr, von außen betrachtet jedenfalls. Wir sind angeblich nicht genug, eben nicht komplett, wenn wir auf die Welt kommen. Wir brauchen einen Plan, einen Karriere- und Familienplan, um jemand zu werden. Viele dieser Pläne hängen wie Blei um unseren Hals, weil sie eigentlich nicht die eigenen sind. Und sie täuschen uns vor, dass alles planbar sein müsste, statt die Unvorhersehbarkeit, das Ungewisse und Unübersichtliche zu schätzen. Eine Studie der University of Bath und der York St. John University stellte 2021 fest, dass der Druck zum Perfektionismus bei jungen Menschen zwischen 18 und 25 zugenommen hat, was zu Depressionen, Zwangsneurosen und Angstzuständen führen kann.[29] Den Betroffenen ist demnach nicht bewusst, dass man den hohen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht werden kann. Und es ist ein Teufelskreis, denn Menschen, die selbst Angst vor ihrer Minderwertigkeit haben, haben das Bedürfnis, auch andere als minderwertig zu beschreiben. Da alle Erfolgsmaßstäbe rein symbolisch und austauschbar sind und keine absoluten Faktoren darstellen, können wir ihre Erfüllung am leichtesten feststellen, indem wir diese immer im Verhältnis zu anderen betrachten. Es sind individuelle Strategien zur Profitmaximierung des eigenen Wertes, der auch in den sozialen Medien permanent demonstriert werden muss.[30] Schlimmer noch: Wir brauchen das Scheitern der anderen, um unseren Erfolg zu spüren. So entzweit es im Neid, statt Kräfte zu einen. So wird unser eigenes Bild vom Menschen immer schiefer. Gerechtfertigt durch den Gedanken, dass der Mensch an sich faul und unproduktiv ist – und dies nur dann ablegt, wenn er die entsprechenden wirtschaftlich-finanziellen Anreize respektive ordentlich Druck bekommt. Es gibt mittlerweile etliche Forschungsarbeiten darüber, dass Leute weder per se untätig noch furchtbar egoistisch sind – und es im Zweifel eher schadet, ihnen Druck zu machen, weil die Leistung nachlässt und sich Fehler häufen, wenn Menschen aus Not handeln, sowie dass Menschen unter Marktbedingungen eher unmenschlich reagieren. Sich mit weniger zufriedengeben, wird mit Faulheit oder mangelnder Ambition gleichgesetzt. Es ist nie genug, sie sind sich nie genug. Menschen lassen von Berufen, die sie unglücklich machen, nicht ab, weil sie Angst vor Prestigeverlust haben. Das durchgetaktete Erfolgsstreben hindert einen daran, Zeit für sich zu haben, zu sich zu kommen und eigene Bedürfnisse und Werte zu finden. Fatalerweise behindern sich Menschen also darin, ihrer Lust nachzugehen, wenn sie nicht im konventionellen Sinn erfolgversprechend ist.

An ihrem vierzigsten Geburtstag sagte eine Bekannte mit Bedauern, dass sich mit dem Alter so viele Türen schließen. Ich fragte sie: »Welche denn? Was kannst du nicht mehr machen, nur weil du älter wirst?« Sie überlegte und sagte: »Na, ich kann keine Ballerina mehr werden. Weil mich kein Theater mehr engagieren würde.« Es schien ihr selbstverständlich, ihre Wünsche mit einer Karriereoption abzugleichen. Ihrer Lust nachzugehen, ohne die Aussicht, daraus einen erfolgsorientierten Beruf zu machen, erschien ihr peinlich. Dabei ist es umso wichtiger, sich die Frage zu stellen, was man gerne tun würde, würde man nicht im Schraubstock bestimmter Vorstellungen von Zeit, Alter und Geld stecken. Würde man dann nicht komplett anders mit dem Leben umgehen? Selbsthilfe-Ratgeber spornen einen an, ungebremst im Hamsterrad mitzulaufen, das nur von innen betrachtet wie eine Karriereleiter aussieht, sie zeigen nicht, wie man daraus ausbricht. Das geht so weit, dass viele Menschen gar nicht wissen, wie sie sich beschäftigen sollen, wenn die Beschäftigung nicht an die Struktur der Lohnarbeit gekoppelt ist, als könnten sie ihre Bedürfnisse gar nicht mehr wahrnehmen, wenn diese nicht an Ökonomie geknüpft sind, die ihnen Anerkennung von außen verspricht.

Man hat das Leben verstanden, wenn man ein zufriedenes Leben höher schätzt als ein erfolgreiches. Denn ein erfolgreiches Leben wird an den Maßstäben anderer bemessen, während ein zufriedenes nur von einem selbst bemessen wird, so zumindest die Überzeugung des jetzigen Dalai-Lama. Auf der Suche nach Bestätigung entfremdet man sich immer weiter von sich selbst. Es braucht innere Stabilität, um Ziellosigkeit und Nichtzugehörigkeit als Potenzial sehen zu können. Das hat das Alleinsein mit der Faulheit gemeinsam. Es ist das Nichts, das man selbst füllen kann. Muße und Einsamkeit bedeuten Möglichkeit.

Frauen allein (sein) lassen – Neue Stimmen werden erst hörbar, wenn sie ihr eigenes Zimmer bekommen

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zementiert der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem Artikel den Ausdruck vom »Ende der Geschichte«, der besagt, dass das Antriebsmoment der Geschichte nun wegfalle, da sich das liberaldemokratische Modell durchgesetzt habe; ein Statement, das die globalen Probleme, hervorgerufen durch Klimakrise, antidemokratische Bewegungen und mangelnde Umverteilung von Wohlstand, ignorierte. Den Gegenpol dieser Anschauung brachte angesichts zunehmender apokalyptischer Perspektiven einer Wachstumsgesellschaft, die keinen Ausweg aus ihren Dynamiken der Ausbeutung sieht, als in die eigene Ausrottung hineinzuwachsen, der US-amerikanische Kulturtheoretiker Fredric Jameson auf den Punkt. Er sagte, den Menschen erscheine es offenbar leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.[31] Beide Ansichten waren von einer Krise der Vorstellungskraft geprägt, wie es um uns steht und wie es mit uns als Menschheit weitergehen kann und muss. Eine Krise der Vorstellungskraft, die auch entstand, weil weiße westlich geprägte Männer sich fast ausschließlich an dem Denken weißer westlich geprägter Männer orientierten, um unsere Welt zu gestalten, und andere Stimmen unsichtbar gemacht wurden. Diese Krise braucht dringend neue Perspektiven und neue Selbstverständlichkeiten, die sich mit den bisher verdrängten Erfahrungswelten und dem Wissen von marginalisierten Gruppen wie Frauen, indigenen Bevölkerungen oder non-binären Menschen nun endlich Bahn brechen.

Eine, die die Schlagkraft dieser neuen Perspektiven beschrieb, ist die französische Autorin Hélène Cixous. Auch wenn ihr Fokus auf dem Kampf um Teilhabe und Sichtbarkeit von Frauen lag, kann man ihre Erkenntnisse leicht auf andere marginalisierte Gruppen übertragen: Es seien komische Gebäude, die wir mit unseren Lügen erbaut hätten, schreibt sie in ihrem Buch Le Rire de Medusa [Das Lachen der Medusa] von 1975. Frauen seien in einer von männlicher Erfahrung geprägten Sprache gefangen, die es ihnen verunmögliche, ihre Erfahrungswelt auszudrücken, sie zur Selbstverachtung treibe und zur Entsolidarisierung untereinander. Wir sollten lernen zu schreiben, wie es uns unsere Träume lehren: scham- und angstlos. Wir müssten aufhören, den männlichen Sirenen zu lauschen, um die Bedeutung der Geschichte zu ändern. Bisher hätten sich Männer andere Menschen in ihren Schriften zurechtgeschrieben und damit festgelegt, wie sie in ihrer Welt funktionieren sollten. Diese fingierte Welt sei eine Welt, die Männern diente. Die tatsächlichen Erfahrungen und Perspektiven von anderen, die außerhalb dieser Welt standen, wären jahrhundertelang ignoriert und abgewertet worden und hätten diese Welt somit wenig mitgestalten können.[32]

Wie wirkmächtig dieser blinde Fleck war, habe ich auch in der Recherche zu diesem Buch erfahren: Nietzsche, Meister Eckhart, Sartre, Heidegger, Thoreau, Schopenhauer, Hesse, Bacon … In den meisten Beiträgen, die ich zum Thema Alleinsein fand, zitieren weiße männliche Autoren andere weiße männliche Autoren und bauen weiterhin an einem Literaturkanon, der andere Stimmen unhörbar oder vergessen macht (Kennen Sie den Namen von Albert Einsteins Ehefrau, die maßgeblich an der Entwicklung der Relativitätstheorie mitwirkte? Kennen Sie den Namen der Journalistin, die William S. Burroughs bei einem Wilhelm-Tell-Spiel erschoss?). Und selbst wenn ihre Werke bekannt sind, weiß von der signifikanten Mitwirkung anderer (Frauen) häufig niemand etwas. Die feministische Literaturwissenschaft hat mittlerweile viele Male offengelegt, dass die Frauen, die man erst als »Musen« kleinredete, tatsächlich wichtige Kritikerinnen, Lektorinnen oder gar Co-Autorinnen ihrer berühmten Ehemänner oder Geliebten waren.[33] Vergessen sind auch all die Schriftstellerinnen, die aufhörten zu schreiben, weil sie die Kinder, die sie mit ihren kreativen Ehegatten bekamen, allein aufziehen mussten. Es ist kein Wunder, dass ein Großteil der wenigen bekannten Autorinnen kinderlos und unverheiratet war. Nur so konnten sie den Raum finden, ihrer Kreativität nachzugehen, und hartnäckig Werke publizieren, die ihren Namen im kulturellen Gedächtnis hielten. Eingang in den Kanon fanden sie deswegen noch lange nicht. Sie kennen sicherlich Charles Lindbergh, bekannt für seine Alleinüberquerung des Atlantiks mit dem Flugzeug, doch kennen Sie den Namen der Frau, die als Erste mit einem Auto um die Welt fuhr? Clärenore Stinnes umrundete mit einem Adler Standard 61927 bis 1929 die Welt. Wenn noch nicht einmal die spektakulärsten Dinge, die Frauen taten, in unserem kollektiven Gedächtnis einen Platz bekommen haben, kann man sich vorstellen, wie viele Werke, Forschungen, Abenteuer, Gedanken, Erkenntnisse von Frauen in eine von Männern geschriebene Geschichte nicht eingegangen sind, die die Wahrnehmung unserer eigenen Geschichte und Handlungsoptionen aber massiv ändern würden. Ich fühle mich betrogen um die Vielzahl an weiblichen Vorbildern, und es ist diese Wahrnehmung einer größeren, komplexeren und reicheren Welt, die ich ersehne. So wurde noch nicht mal eines der nächstliegenden Werke von den männlichen Autoren, die ich zum Thema Alleinsein las, hinzugezogen: Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein. Die schmerzhafte Ironie liegt darin, dass gerade dieses Ignorieren Thema des Textes ist, doch die Kritik, die der Text formuliert, kommt bei vielen Männern nicht an (weil sie keine Werke von Autorinnen lesen?). Virginia Woolf beschreibt, was es einen kostet, Neuland zu betreten, wenn man keine Vorbilder hat und in seinem Schaffen permanent entmutigt wird; wie anstrengend es ist, sich gegen das zu ihrer Zeit um 1900 vorherrschende Frauenbild emanzipieren und neu erfinden zu müssen, noch dazu gegen die Definitionsmacht anderer (Männer). Woolf schreibt, die Schwierigkeit für Schriftstellerinnen bestünde darin, dass sie sich nicht auf ihre Schreibkunst konzentrieren konnten, weil ihnen immer schon die Abwertung der Literatur von Frauen im Nacken säße. Selbst wenn ihre Perspektiven durch eine Publikation sichtbar wurden, würden sie entwertet. Sie hätten Schwierigkeiten, ihre eigene Stimme zu finden, weil sie entweder versuchten, sich zu sehr an einen männlichen Stil anzupassen, um überhaupt publiziert zu werden, oder in einer Art feministischer Übererfüllung nur damit beschäftigt wären, sich gegen die Klischees zu wehren, beispielsweise in der Ablehnung von Eigenschaften, die als weiblich romantisiert wurden. Über frühere Autorinnen schrieb Woolf voller Anerkennung: »Welch ein Genie, welch eine Redlichkeit muss angesichts all der Kritik, inmitten dieser rein patriarchalischen Gesellschaft erforderlich gewesen sein, um an der Sache, wie sie sie sahen, unbeirrbar festzuhalten.«[34]

Woolf weist darauf hin, dass die Bilder über Frauen, mit denen wir aufwachsen, so problematisch sind, da Männer Frauen vor allem dann (be)schreiben bzw. in ihre Texte einschreiben, wenn eine männliche Hauptfigur ein sexuelles Interesse an ihnen habe, bzw. im Umkehrschluss Frauen dann eine (negative) Rolle hätten, wenn sie der männlichen Begierde nicht entsprechen (oder Folge leisten). Die Komplexität der Lebensrealität von Frauen unabhängig von ihren Beziehungen zu Männern würde somit nicht abgebildet und dokumentiert werden. Während Männer in der Literatur allen möglichen Beschäftigungen nachgehen und komplexe Charaktere sind, tritt eine Frau nur dann auf den Plan, wenn es um »Liebe« geht. Während Männer in Geschichten untereinander Beziehungen haben, ihren Interessen nachgehen, forschen und kreieren, sucht die weibliche Figur in Romanen oft nur ihre Beziehung zu einem Mann, ihr Interesse an Kunst und Wissenschaft oder ihre Beziehungen zu anderen Frauen bleiben unbeschrieben. So erscheint es, als ob die Welt der Frauen sich nur um Männer drehe. Woolf betrauert in Ein Zimmer für sich allein all diese Leben, von denen wir nichts erfahren, wenn sie durch die Straßen Londons geht und verschiedene Frauen betrachtet, deren Leben von männlichen Autoren als insignifikant betrachtet wurden. Fatalerweise wirkt dies auch als beschränktes Vorbild auf Autorinnen, die einen Markt suchen. Die Suche nach Anerkennung durch einen Mann, der einen begehrt, durchzieht als Motiv auch das, was unter dem Label »Frauenliteratur« vermarktet wird.

Durch den Mangel an Frauenstimmen entsteht ein einseitiges Abbild unserer Welt. Es geht nicht um einen essenziellen, der weiblichen Biologie inhärenten Blick, sondern um die Erfahrungswelt, die sich praktisch aus der Lebensrealität derjenigen speist, die die Frauenrolle erfüllen müssen, denn Gesetze und Normen formen und beschränken ihren Habitus, ihre Ausdrucksweisen und ihr Fühlen und Denken. Auch wie Frauen ihren Körper empfinden, ist vom Patriarchat vorgegeben, da Frauen lernen, sich vornehmlich als Objekt der Begierde von Männern sehen zu sollen. Deshalb betont Cixous, wie wichtig es sei, dass Frauen schamlos ihre Körper als Quelle der Inspiration und Stärke nutzten. Dass sie ihre Körper nicht zensieren, sondern ihnen Gehör verschaffen sollten. Auch sie schwor auf die Kraft des Alleinseins, da es Frauen die Andersartigkeit erlaube, um dies zu erlangen.[35]

Seit der Frauenbewegung hat sich zwar einiges getan, trotzdem halten sich diese Seh- und Lesegewohnheiten in Filmen und in der Literatur hartnäckig: Frauenfiguren sind allzu oft immer noch durch die Liebesbeziehung markiert, unabhängig davon ist das individuelle Leben und Erleben von Frauen wenig sichtbar. In den 1980er-Jahren hat die Comic-Künstlerin Alison Bechdel dieses Missverhältnis mittels eines Comics karikiert: In der damaligen Spielfilmlandschaft müsse man einen Film schon fortschrittlich finden, wenn er diese drei Eigenschaften aufwiese: 1. Spielt mehr als eine Frau mit, 2. werden die Frauen alle mit ihrem Namen genannt und 3. reden die Frauen miteinander über etwas anderes als über Männer. Das erschreckende Ergebnis dieser Bestandsaufnahme war, dass viele Filme diesen seit den 80er-Jahren genannten Bechdel-Test nicht bestehen – was selbst heute noch für einen Großteil der Blockbuster gilt. Erschreckend auch, dass den meisten Zuschauern dieses Ungleichgewicht nicht mal unangenehm auffällt, denn es entspricht der normalen Sehgewohnheit, dass Frauen Dekoration für Männer sind. So lernen schon Mädchen, sich mit Protagonistinnen zu identifizieren, deren Glück oder Unglück von einem Mann abhängig ist, was ihnen als erotisch und spielerisch verkauft wird und nicht als Reflexion einer eklatanten Ungleichheit. Doch wie lernt man unter dieser Prämisse, als Frau in seinem Begehren autonom und frei zu sein?

Gerade weil Frauen sich immer in Bezug auf andere Menschen (Männer) lesen sollen, brauchen sie einen Raum für sich allein, um gegen alle Klischees sich selbst finden zu können, betonte Virginia Woolf. Woolf ist eine große Satirikerin, wenn sie schreibt: »Frauen haben all diese Jahrhunderte als Spiegel gedient, die jene magische und bezaubernde Macht besitzen, die Gestalt von Männern in doppelter Größe wiederzugeben.«[36]