Die Freiheit, das Ich und die Liebe - Roland van Vliet - E-Book

Die Freiheit, das Ich und die Liebe E-Book

Roland van Vliet

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Beschreibung

In dieser kulturkritischen Analyse beschreibt Roland van Vliet die Notwendigkeit einer Philosophie des Ich. Die Erkenntnis der eigenen Individualität ist eine notwendige Bedingung für eine Begegnung mit dem Anderen. Um eine solche Philosophie im Leben anwenden zu können, entwickelt van Vliet die Haltung der Ungeteilten Aufmerksamkeit, mit deren Hilfe die Kunst des Handelns möglich wird.

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Roland van Vliet

Die Freiheit, das Ich und die Liebe

Grundlagen einerPhilosophie der Gegenwart

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Prolog:Die Liebe als Präludium einer Philosophie des Ich

Teil IDie Bedeutung der Absonderung

1Der freie Wille und seine Beziehung zur Liebe

2Das Einheitsbewusstsein des göttlichen Urmenschen

3Phänomenologische Beschreibung der im göttlichen Urmenschen wirkenden Liebe

4Das Entstehen des zielgerichteten Selbstbewusstseins

5Die philosophischen Gegensätze als Voraussetzung der menschlichen Freiheit

6Die Notwendigkeit der Absonderung für die Entwicklung der Liebe

7Existenzielle Fragestellung

Teil IIDie Philosophie des Ich

1Das Pneumatische Ich: Einheit mit dem Weltenkosmos

2Die Formung des Selbstbewusstseins:Das wahrnehmbare Ich oder das Philosophische Ich

3Die Formung des Selbstbewusstseins:Das erlebbare Selbstbild oder das Empirische Ich

4Die drei Brennpunkte des Ich und ihre Beziehung zueinander

5Freies oder unfreies und unwahres Ich: Kriterien zur richtigen Einschätzung geistigen Wissens

6Die drei Brennpunkte des Ich und das Subjekt-Objekt-Verhältnis

7Das dreifaltige Ich als Bild der Trinität

8Das dreifaltige Ich und seine Bedeutung für die menschliche Freiheit

9Wahlfreiheit und Notwendigkeit als Phasen der Verwirklichung der Freiheit

10Objektivität als gestorbene Subjektivität und Subjektivität als embryonaler Zustand der Objektivität

11Der Weltenraum als kondensierter Wille: Die Kosmologie der Philosophie des Ich

12Der schöpferische Wille in der strömenden Zeit: Die Chronologie der Philosophie des Ich

13Karma, Zufall und Vorsehung als Ursache, Folge und Unterstützung der Freiheit

14Der verkündete Tod des Subjekts und die Notwendigkeit einer Philosophie des Ich

15Die Zeit als Willensintention des schöpferischen Geistes – Göttlicher Wille ist göttliche Liebe

16Das Denken findet die Gedankenformen abgestorbenen einstigen Willens im Weltenraum

17Die Wahrheit der Vergangenheit steht der Kunst der Zukunft gegenüber

18Gegenseitige Befruchtung von Wahrheit und Kunst als Weg zum Geist

19Wahrheit als Vorbedingung für das Erblühen der Liebe

20Form versus Leben: Apollinisches Denken als Antipathie und dionysisches Wollen als Sympathie

21Die Willenskraft der Liebe und die Ethik in der Kritik

22Liebe als höchste Kunst des Handelns

Teil IIIFreiheit in der Einheit der Liebe

1Noch einmal: Die Subjekt-Objekt-Spaltung durch den Sündenfall

2Die beiden Säulen der Philosophie der Freiheit – Wirkungssphären und Austausch von Subjekt und Objekt

3Ist eine Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung möglich?

4Die Subjekt-Objekt-Spaltung als Voraussetzung des Bewusstseins

5Widersprüche bei der Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung: Ein philosophisches Koan

6Eine mögliche Antwort

7Das wache Selbstbewusstsein im Schlafbewusstsein

8Freiheit in der Einheit

9Das in sich selbst ruhende Ich

10Die ontische Verwurzelung des Philosophischen Ich im Pneumatischen Ich

11Das Ich-Bin als Herz der ungeteilten Aufmerksamkeit

12Handeln aus Geistesgegenwart und wortloser Intelligenz – Eine Metamorphose der unfreien Triebkräfte

13Liebe als Begegnung mit dem Ich-Bin des Anderen – »Ich bin der Ich-Bin« als das Wesen der Liebe

Anhang:Ungeteilte Aufmerksamkeit oder Geistesgegenwart

Anmerkungen

Geleitwort

Roland van Vliet konnte bei der Titelgebung der deutschen Ausgabe seines letzten Buches keine direkte Hilfestellung mehr geben. War er doch, für viele Menschen überraschend und verfrüht, im April 2016 verstorben.I Seinem deutschen Verlag ist es gelungen, dem Buch einen ansprechenden und neugierig machenden Titel zu geben. Van Vliets Anliegen dieser Arbeit ist es, Grundlagen einer Philosophie der Gegenwart, einer Philosophie des Ich zu entwickeln. Im Zentrum dieser Grundlagen muss für ihn notwendigerweise das Ich stehen, eingebunden und untrennbar verbunden mit den Begriffen der Freiheit und der Liebe.

Letztere sind die beiden Säulen, die der Autor im ersten Teil des Buches aufbaut. Die eine Säule stellt das Erwachen des Menschen in einer dualistischen Welt dar. Dies eröffnet die Möglichkeit der Freiheit. Das Gift der Schlange polarisierte das menschliche Bewusstsein, sodass es sich selbst in der Welt der Erscheinungen, in Raum und Zeit, als ein Getrenntes, Alleiniges finden konnte. »Die ganze Inszenierung, das psychologische Drama, das im Garten Eden stattfand, scheint nur auf diese Bewusstwerdung hin ausgerichtet gewesen zu sein« (siehe S. 33). Als zweite Säule bezeichnet van Vliet den Abstand, in dem der eine Mensch sich zum anderen findet – dies ist die Grundlage der Liebe. Der erste Teil mündet in der Urfrage des erwachten Ich nach einer Rückkehr zur Einheit des Geistes.

Im zweiten Teil entwickelt van Vliet eine Ich-Philosophie, die in differenzierter Weise die Dreigestalt von Geistsubjekt, Denksubjekt und Personensubjekt umgreift. Van Vliet bezeichnet diese drei Prinzipien des Ich als Pneumatisches, Empirisches und Philosophisches Ich. Darin ist eine phänomenologische Begrifflichkeit gewonnen, die es dem Autor ermöglicht, verschiedene Missverständnisse zu klären.

An dieser Stelle tritt van Vliet mit seiner ganzen Persönlichkeit ein; es wird spürbar, dass es tiefe Anliegen sind, die ihn bewegen. Ihm gelingt es zunächst, aus einem spirituellen Ansatz heraus eine philosophische und darin phänomenologische Sicht auf die Genese und Situation des modernen Bewusstseins zu entwickeln. Dabei tritt er in diesem dritten seiner Bücher nicht nur als beeindruckender Kenner religiöser Strömungen in Erscheinung, als Christologe und Philosoph – er erscheint als Mensch – als ein moderner Mensch des 21. Jahrhunderts im klärenden Bewusstseinsgang durch das Gestrüpp verschiedener Verkenntnisse und Missdeutungen. Roland van Vliet durchlebt mit diesem Buch Lebensprüfungen und geht sie zu Ende, völlig autonom und authentisch. Er kennzeichnet sich in diesen Prüfungen selbst mit dem bezaubernden Merkmal der Integration; er zeigt sein Bedürfnis und die Suche nach einer Philosophie der Liebe.

Ein Beispiel dieser Integration ist van Vliets Verständnis des Existentialismus Jean Paul Sartres. Van Vliet beschreibt (mit-leidend) das von Sartre tief erlebte Gebildet-Werden durch den Blick des Anderen als ein Ur-Erlebnis der Unfreiheit. Dann zeigt er einen Weg der Wandlung: Letztere kann nicht im Empirischen Ich, im Selbst, beginnen – dies ruft das Erlebnis der Unfreiheit hervor. Allein vom Philosophischen Ich, das ist »die Denkkraft der eigenen Reflexion, die stets neu bestimmt und evaluiert« (siehe S. 57), kann der Schritt zur Freiheit ausgehen. Über das liebende Tun wird auch das Selbst, also das Personensubjekt, das Empirische Ich, verwandelt. Gleichzeitig mit der mitleidenden Geste des Philosophischen Ich ist dieses auch »der ›unbewegte Beweger« oder das Ich des Menschen, das seine eigene Ursache ist« (siehe S. 64). Diese Charakterisierung des Ich eröffnet einen Blick auf den Geist, auf das Pneumatische Ich, dessen Rehabilitierung dem Autor am Herzen liegt.

Van Vliet will zeigen, dass der Mensch in seiner ureigentlichen Wirklichkeit eine berechtigte Mittel-Stellung im Kosmos innehat. Grandios formuliert er beispielsweise die Begriffe von Karma, Zufall und Vorsehung und bringt sie in einen klangvollen Zusammenhang. Ein wundervoller Bogen wird geschlagen von einer zunächst gefassten Philosophie des Ich zu einer integralen und damit kosmologischen Philosophie. Dabei schafft der Autor Brücken, Ideen des Übergangs, wie die der Objektivität der Welt als einer »auskristallisierten Subjektivität« (siehe S. 91).

Der Höhepunkt des Buches und sein immanentes Ziel sind die Darstellungen des dritten Teils, in denen van Vliet, ausgehend von der Bewusstseinsphänomenologie Edmund Husserls, den Weg aus der Subjekt-Objekt-Gefangenschaft aufzeigt. Und damit gelingt ihm der Schritt in eine reale Philosophie der Gegenwart. Dies ist der Weg, den auch Rudolf Steiner einschlug, als er den Schritt von einer Philosophie der Freiheit zur konkreten Schilderung geisteswissenschaftlicher Erkenntnis ging. Van Vliet vollzieht diesen Übergang in ein einheitliches und doch waches Bewusstsein mit der Charakterisierung der ungeteilten Aufmerksamkeit. Es ist der Weg vom Denken zum Wahrnehmen – das wache und geschulte Eintauchen in ein Ich-Wahrnehmen –, der in der gegenwärtigen Philosophie auch von anderen Denkern beschritten wird. »Im Mittelpunkt der Erkenntnislegitimation … steht ein bildendes Vermögen, das der Vorstellungskraft, dem Reflexionsvermögen und der Einbildungskraft zugrunde liegt. Dieses Vermögen macht den Menschen in seiner spezifischen Eigenart aus. […] Der Mensch ist die sich selbst – prä-reflexiv! – bewusste Verleiblichung dieses bildenden Vermögens. Dieses eigentümliche Bewusstsein … ist das ›Phänomen‹ par excellence einer ›anthropologischen Phänomenologie‹«II, heißt es beispielsweise bei Alexander Schnell.

Roland van Vliet stellt sich mit diesem Buch grandios und bescheiden in den Dienst einer Philosophie des Menschen, die nicht sondert, sondern verbindet, in den Dienst einer integralen Philosophie der Gegenwart.

Die besondere Rolle, die die von ihm entwickelte »Ungeteilte Aufmerksamkeit« (ongedeelde aandacht) in Roland van Vliets Werk einnimmt, finden wir in seinem dritten und letzten Buch auf eindrucksvolle Weise gespiegelt (siehe Teil III, Kap. 11 und den Anhang). Die Übersetzung »Aufmerksamkeit« für das niederländische aandacht hat sich nach ausführlichen Gesprächen durchgesetzt. Van Vliet hat in seinen Seminaren und Vorträgen in deutscher Sprache sowohl den Begriff der Andacht, wie auch den der Aufmerksamkeit verwendet.

In einem Vortrag Rudolf Steiners vom 28. Oktober 1909 heißt es:

»Die Andacht soll aus dem Ich herausströmen und zu dem Ding hinströmen, das erkannt werden soll. So hebt sich das Ich aus der Empfindungs- und Verstandesseele heraus durch Überwindung des Zornes und anderer Affekte und durch die Pflege des Wahrheitssinnes, so lässt es sich heranziehen zur Bewusstseinsseele immer mehr und mehr durch die Andacht.«III

Das Verständnis der Andacht als Erkenntnismethode, wie Steiner es hier darstellt, kommt dem sehr nah, was Roland van Vliet beschreibt. Auch wenn van Vliet diesen Vortrag mit dem Titel »Die Mission der Andacht« nicht zitiert, kann der Eindruck entstehen, der niederländische Philosoph habe ihm mehr als nur einige Impulse zu verdanken. An anderer Stelle im gleichen Vortrag beschreibt Steiner:

»Das Ich hat die Notwendigkeit, seine Selbststärke und Selbsttätigkeit immer mehr und mehr zu erhöhen, immer mehr und mehr ein inhaltsvolles Selbst zu werden. Es hat die Aufgabe, ein solches Selbst zu werden, das nicht in Selbstsucht verkommt und in Egoismus verhärtet. Wenn es sich darum handelt, weiter hinaufzuschreiten zu dem Wissen von dem Unbekannten und Übersinnlichen, wenn die Andacht zur Selbsterzieherin gemacht wird, da liegt stark die Gefahr nahe, dass dieses Ich, dieses Selbst des Menschen, sich verlieren könnte.«IV

Und wie begegnet das Ich in Roland van Vliets Ausführungen dieser Gefahr? »Das Philosophische Ich ermöglicht es aber gerade, das wahre Wesen des Menschen anzusprechen: den freien Willen, der zur Liebe führen kann. Denn das Philosophische Ich ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion«, führt er im 8. Kapitel des zweiten Teils dieses Buches aus (siehe S. 75).

In diesem Sinne wünschen wir Roland van Vliets Buch und seiner Philosophie des Ich eine wohlwollende und bereichernde Aufnahme.

Christoph Merholz und Michael Stehle

21. Juli 2017

IDer Titel der Originalausgabe lautet wörtlich übersetzt: Philosophie des Ich. Das dreifaltige Ich als Philosophie der Freiheit – Einleitende Betrachtungen zu einer Philosophie der Liebe.

IIAlexander Schnell, Hinaus – Entwürfe zu einer phänomenologischen Metaphysik und Anthropologie. Würzburg 2011.

IIIRudolf Steiner, Metamorphosen des Seelenlebens (GA 58). Vortrag vom 28. Oktober 1909. Dornach 1984, S. 126.

IVEbenda, S. 59.

Vorwort

In den 1980er-Jahren, also schon vor längerer Zeit, erschien in der Zeitung HP/De Tijd ein Artikel über das Zeitalter des Egos, der davon handelte, dass die Menschen an ihrer Selbstentfaltung arbeiteten, sich freimütig und überall abgrenzten und ein jeder sich als Regisseur des eigenen Lebens ansehe. Über unsere heutige Zeit, das sogenannte Netzwerkzeitalter, müsste man gerade das Gegenteil feststellen: Jeder steht im Mittelpunkt, als wäre er eine Art Machthaber inmitten eines je eigenen Netzes von Verbindungen.

Einst, als in spirituellen Kreisen erstmals über das Ich nachgedacht wurde, unterschied man zwischen einem höheren Ich, mit dem man sich verbinden könne, und einem niederen Ich oder Ego, das man loslassen oder überwinden müsse. Die Erkenntnis, dass wirkliche menschliche Freiheit unter der Voraussetzung dieses Dualismus von einem höheren und einem niederen Ich nicht möglich ist, ist Ausgangspunkt dessen, was ich in diesem Buch als meine Philosophie des Ich beschreibe. Denn das höhere Ich hat keine menschliche Dimension, es bleibt statisch, eine Monade inmitten einer sich bewegenden und verändernden Welt, in der die Beziehungen beständig wechseln.

Wenn man vom heutigen Standpunkt aus über das Ich nachdenkt, sind die Beziehungen wichtiger als die Identität. Schon in Die Ordnung des Diskurses (1970) hat Michel Foucault beschrieben, dass das Subjekt keine Identität an sich berge, sondern nur Knotenpunkt eines Beziehungsgefüges sei. So bin ich zum Beispiel der Mann meiner Frau, der Vater meiner Tochter und so weiter. Ähnlich denkt auch der Philosoph Daniel Dennett, der den Standpunkt vieler Naturwissenschaftler zusammenfasst, wenn er materialistisch behauptet, bislang sei nirgendwo im Menschen ein zentrales Organ gefunden worden, das Ich genannt werden könne. Er leugnet denn auch die menschliche Freiheit: Wir seien allein das Produkt der Gene und der Erfahrungen aus der Vergangenheit. Eine Philosophie des Ich, wie ich sie in diesem Buch darlegen möchte, positioniert sich zwischen diesen Standpunkten, sie will spiritualistischen wie materialistischen Determinismus vermeiden und Identität und Relationalität miteinander in Einklang bringen, indem sie von drei Ursprüngen des Ich ausgeht: dem Philosophischen Ich, dem Pneumatischen Ich und dem Empirischen Ich. Erst durch das dynamische Zusammenspiel dieser drei Bereiche, äußerlich wie innerlich, wird menschliche Freiheit möglich. Und die gute Absicht einer Handlung, die aus wirklicher Freiheit geboren ist, lässt zuletzt Liebe entstehen. Darum ist die Philosophie des Ich die Grundlage einer Philosophie der Liebe.

Um diese Philosophie auch praktisch, im Leben, anwenden zu können, bedarf es der Geistesgegenwart oder der ungeteilten Aufmerksamkeit, die im Anhang dieses Buches als grundlegende innere Haltung beschrieben wird. Mit ihrer Hilfe kann man die Kunst des Handelns erlernen und einüben.

Mein Dank gilt Jacquem Meijers und Marja Pel-Adema.

Roland van Vliet

Maastricht, 8. September 2014

Prolog

Die Liebe als Präludium einer Philosophie des Ich

Was Liebe bedeutet, lässt sich in Anbetracht ihrer majestätischen Präsenz nicht ergründen. Alle Energie, die man aufwendet, ihr in anderer Absicht gegenüberzutreten, verweist doch nur wieder auf sie und steht letztlich in ihrem Dienst. Liebe ist uns durch das schweigsame Sein beschieden und vor allem durch sie selbst. Ihre Schönheit, ihre intensive Glut reißt mit flüsterndem Erschrecken alle Schleier auf, die etwas in uns niederdrücken. Wie ein rauschender Windstoß fühlt sich ihr großzügiger Atem in den klein gewordenen Kammern des heimatlosen Herzens an. Noch vornehmer und größer als dieser heilende Sturm ist sie, doch kann ihre ganze Wirksamkeit als solche nie erfahren werden. Sie flieht die Klugheit, die sie einengen und mit entseelten Worten über sie herrschen will.

Die Liebe, oder besser gesagt: das Wesen der Liebe geht notwendigerweise an ihrer eigenen Absicht vorbei. Die Liebe ist rein und streng und weist alles ab, was keine Liebe in sich enthält. Und doch spielt sie mit demjenigen, der ihr den Ball der Vorschriften zuwirft, und wirft ihm diesen so lange zurück, bis der unschlüssige Werfer müde wird, ihr nur noch träumerisch entgegenlacht und dadurch erst empfänglich wird für ihr wahres Wesen.

Die Philosophie des Ich will und kann keine endgültige Antwort geben auf die Frage, was die Liebe für den Menschen bedeutet. Denn das hieße, etwas noch Höheres zu setzen, dem sie vielleicht untergeordnet oder dienstbar wäre, zum Beispiel dem Glück, der Weisheit oder der Entwicklung. Eher scheint es mir, dass diese edlen Paladine in ihrem Dienst stehen, dass sie bestenfalls im Inneren des Menschenwesens zusammenarbeiten mit ihrer wartenden Braut.

Doch wenn die Liebe so schwierig zu ergründen ist, müsste dann nicht einer anderen Person Zugang verliehen werden, die geschmeidiger durchs Lattenwerk des Denkens schlüpfen kann? Einer Art Herold, der mit lauter Stimme ausruft: Welcher Voraussetzungen bedarf es, um die verschwiegene Liebe im Menschen erblühen zu lassen?

Die Liebe selbst ist erhaben über die Frage nach ihrem Sinn. Und die Frage: »Was habe ich davon, wenn ich die Liebe lebe?«, kann wohl niemand im Innersten seines Wesens ohne eine Brandspur von Selbstverleugnung aufwerfen. Denn sind wir nicht in den ewigen Gongschlägen unserer Seele, in den Fundamenten unseres Geistes, in der Wurzel unserer Taten Liebe?

»Die Rose ziert den Garten allein durch ihr Sein.« – Der Gedanke, im existenziellen wie im potenziellen Sinn Liebe zu sein, scheint heutzutage allerdings in einigen spiritualistischen Kreisen Anlass zu geben, der Versuchung einer für selbstverständlich gehaltenen Erleuchtung zu erliegen. Hier schlägt die saugende Eitelkeit zu, mit der beschämenden Illusion, dass nichts mehr verwirklicht werden müsse. Indem alles bequem und gleichermaßen zur Liebe erklärt wird, wird Frau Justitia in trunkener Anarchie und zu Unrecht verabschiedet. Ist sie doch eigentlich eine sehr freie Frau, die in der lebendigen Rede wohnt und mit gezücktem Schwert feinsinnig scheidet, was das Gute trägt und was – als das noch nicht erlöste Böse – hinter jeder Handlung sich erheben will.

Auch der Steuermann, der im Kampf die Freiheit des eigenen Handelns erworben hat, wird durch einen solchen metaphysischen Determinismus, der alles, was man tut, zur Liebe erklärt, allzu nonchalant von Bord geschickt. Und dies geschieht zu allem Überfluss im Glauben, dass die Ströme des Lebens, zu denen auch die Liebe gehört, sich ihren Weg selbst bahnen müssten.

Um eine realistischere Vorstellung von der Menschwerdung zu bekommen, muss zu der Idee, immer schon wesensmäßig Liebe zu sein, noch der Gedanke der persönlichen Freiheit hinzutreten, sodass die – faktisch nur potenzielle – Liebe im Handeln je neu verwirklicht wird. Das Wesen der Liebe braucht weder eine Erklärung, noch muss es von etwas anderem unterschieden werden, es geht vielmehr um die Sehnsucht nach ihr und um den Weg der Prüfungen zu ihr.

Dabei kann und soll gezeigt werden, dass das menschliche Streben die Voraussetzung ist für die Verwirklichung der Liebe und welche Bedeutung dieses Streben für Offenbarungen und Erlösung aus den verborgenen Tiefen des Menschseins hat.

Dann kann die Frage – noch einmal neu gestellt – zum Ausgangspunkt einer Philosophie der Liebe werden: Was sind die Voraussetzungen für die Entwicklung der Liebe und wie kann eine Philosophie des Ich darauf eine Antwort geben?

Wer das Mysterium des Ich enträtselt, der begegnet dem Wesen der Liebe.

Teil I

Die Bedeutung der Absonderung

1Der freie Wille und seine Beziehung zur Liebe

Die Wesensart des Menschen kann intuitiv und wortlos als das Seinspotenzial der Liebe erkannt werden. In diesem Buch möchte ich zeigen, wie sich Liebe im Menschen allein durch Freiheit entwickeln kann. Freiheit im Denken und im Wollen ist das innerste Wesen des Menschen, und die Liebe ist ihr intrinsisch verbunden. Der freie Wille, der sich dem anderen ganz ohne Selbstsucht zuwendet, ist die Voraussetzung der Liebe. Liebe kann nie eine Pflicht sein, denn in der Pflicht kann ich mich hinter meinem guten Benehmen verstecken. Liebe dagegen verlangt meine uneingeschränkte Anwesenheit, denn durch sie kann ich mich voll und ganz schenken.

Es mag merkwürdig klingen, aber gerade der als sündig angesehene, zu einem solchen erklärte Sündenfall war die Voraussetzung für die Entwicklung der Liebe im Menschen. Dass die Menschheit beinahe zwei Jahrtausende lang von der Kanzel herab mit einem Gefühl der Schuld angesichts der Erbsünde belastet wurde, steht im Widerspruch zu dem Verständnis, dass die Absonderung von der Gottheit für die Erschaffung der Liebe nötig war. Der Sündenfall ist eine notwendige Phase in der Entwicklung der Liebe, denn durch den Sündenfall ist der Wille frei, ist er zum freien Willen geworden, der wiederum Voraussetzung ist für unvoreingenommene Liebe. Darum ist es wichtig, ein erneuertes Verständnis des Sündenfalls zu erlangen.

Wie konnte der freie Wille des Menschen – und damit die Möglichkeit der Liebe – entstehen? Kann man diese Frage allein durch philosophisch-theologisches Denken beantworten, indem man die Perspektive des Schöpfers der Menschheit einnimmt, der mit dieser durch die Wahlfreiheit des Sündenfalls geschaffene Situation die Liebe initiieren will? Wenn wir versuchen, die Schöpfung der Menschheit gedanklich nachzuvollziehen oder neu zu erschaffen, finden wir vielleicht die existenziellen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit und der Liebe.1

Bei der hier vorgenommenen Untersuchung bin ich methodisch so vorgegangen, dass ich eine phänomenologische Betrachtung des freien Willens und Bewusstseins, so wie sie uns heute erscheinen, an den Anfang gestellt habe, um so die möglichen Grundlagen herauszuarbeiten, die »der göttliche Künstler« bei der Erschaffung des Menschen gehabt haben mag. Ausgangspunkt ist also eine allgemein-menschliche Phänomenologie des Bewusstseins: Die Landschaft unseres Bewusstseins wird in ihrer ruhigen Erscheinung, zuweilen aber auch heftigen Dramatik und in ihren verschiedenen archäologischen Schichten so beschrieben, dass die wesentlichen Facetten des Bewusstseins und das Wesen des Bewusstseins selbst erhellt werden. Die Resultate dieser Phänomenologie werden dann in Bezug zu einer anerkannten Interpretation der Genesis gestellt, in der die Erschaffung des Menschen beschrieben ist.

Weil es um eine allgemein-menschliche Phänomenologie des Bewusstseins geht und nicht um eine Dogmatik des Glaubens, hätte ich auch andere Schöpfungsmythen als den in der Genesis beschriebenen wählen können. Doch habe ich mich für die Genesis entschieden, weil diese Schrift für den jüdischen wie auch den christlichen und islamischen Teil der Menschheit wichtig ist. Zudem weist die Genesis insgeheime Bezüge mit der persischen Religion Zarathustras auf. Darüber hinaus ist die Genesis auf eine sehr komplexe Art und Weise monotheistisch, und sie hat eine philosophische Struktur, die Anknüpfungspunkte bietet für eine theologische Ontologie oder einen religiösen Rahmen der Phänomenologie des Bewusstseins, die dann im zweiten Teil des Buches ausgearbeitet wird, wenn es um die anthropologische Verantwortung geht, die im freien Willen des Menschen gründet.

2Das Einheitsbewusstsein des göttlichen Urmenschen

Fangen wir bei der Gottheit an. Oder, gemäß der hebräischen Genesis exakter und geistlicher gesagt: bei den Elohim, die den Menschen nach ihrem Bild erschaffen haben.2 Zu Beginn waren Mann und Weib noch nicht geschieden, es vereinte sie die Gestalt eines undifferenzierten Menschseins.3 Dem Verlauf der Genesis, den wir noch beschreiben werden, ist zu entnehmen, dass dieses Wirklichkeit gewordene göttliche Spiegelbild das unsterblichgeistige Bild des Menschen gewesen sein muss. Aus der Ewigkeit geboren und geborgen in der Ewigkeit.

Der göttliche Urmensch erlebte noch keinen Unterschied zwischen sich selbst und dem anderen, sondern war mit allem wie mit sich selbst verbunden, in einem göttlichen Bewusstsein, das ohne unterscheidendes Denken diffus und traumartig gewesen sein muss. So konnten in einem visionären Gotteswissen die Engelwesen4 aus überfließenden Himmeln geschaut werden. Es gab kaum einen Unterschied zwischen diesen Hierarchien der Intelligenzen, und auch die vorirdischen Menschen unterschieden sich kaum voneinander, sie formten zusammen die göttliche Urmenschheit oder adamitische Menschheitsseele.5

Der göttliche Urmensch hatte ein peripheres Bewusstsein, das wie eine sich zum Stängel zurückbeugende Blüte – um sich herum alles vergessend – zur atmosphärischen Unendlichkeit des heranströmenden Lichts geöffnet war. Ohne über eine eigene schöpferische Tätigkeit zu verfügen, ist das Bewusstsein des Urmenschen tendenziell vergleichbar mit dem, was wir beim Einschlafen erleben. Wir verlieren die Wachheit unseres Selbstbewusstseins, weil wir nicht gelernt haben, im nächtlichen Bewusstsein geistige Aktivität zu entfalten, und weil unsere Seele sich in der geistigen Welt unendlich verdünnt und ekstatisch in unermessliche Fernen erweitert.

3Phänomenologische Beschreibung der im göttlichen Urmenschen wirkenden Liebe

Die Bewusstseinsphase, in der sich der göttliche Urmensch befand, kann definiert werden als eine, in der die allumfassende Liebe des Vaters den Menschen umgab, ihn durchdrang und intrinsisch mit allen anderen Wesen verband. In Erweiterung der Terminologie Martin Bubers6, der die östliche Mystik als eine Ich-Es-Beziehung charakterisiert hat, würde ich dies eine religiöse Beziehung nennen wollen, in der das Ich noch nicht unterschieden werden kann vom Es. Denn diese ergebene Liebe, bei der man nicht von Freiheit reden kann, diese Liebe, die auf eine natürliche und selbstverständliche, aber naive Weise nicht anders kann, als vertrauensvoll zu handeln, war ganz und gar abhängig von der allumfassenden Liebe.

Da der göttliche Urmensch oder paradiesische Mensch kein ansprechbares Selbstbewusstsein hatte, ist die allumfassende Liebe, die ihn durchströmte und in die er eingebettet war, nicht anders zu verstehen als eine unpersönliche Liebe, die (ohne ihn) in ihm wirksam ist.

4Das Entstehen des zielgerichteten Selbstbewusstseins

Der Mensch ist nach dem Bild Gottes erschaffen (1 Mo 1,27). Dies bezieht sich auf die geistige, nicht auf die physische Gestalt des Menschen. Denn aus einer späteren Passage der Genesis (1 Mo 2,7) wird deutlich, dass der Mensch erst in einem bestimmten Moment stofflich geformt und ihm der Atem des Lebens eingeblasen wird. Er lebt fortan nicht mehr ohne Leib in der Welt des Geistes, sondern leibhaftig im Garten Eden, dem Paradies, das zur gleichen Zeit durch die siebentägige Schöpfung in Erscheinung trat. Aufgrund seiner neu erworbenen Leiblichkeit kann der beseelte und lebendige Mensch, in tiefen Schlaf versenkt, in Mann und Frau geschieden werden (1 Mo 2,21–24). Das Bewusstsein, das er durch das Einziehen in den Leib und die Komprimierung der in sphärischen Weiten ausgedehnten Seele erlangt, bietet ihm größere Möglichkeiten der Identitätsgewinnung, sich selbst und sein Verhältnis zum Anderen zu bestimmen. Oder anders gesagt: Durch eine erste Veräußerlichung – aus der unbestimmten Einheit in die geschlechtliche Bestimmtheit – entsteht ein dialektischer Pendelschlag, der eine neuerliche Verinnerlichung und damit das unterscheidende Denken möglich macht. Ungeachtet der Verdichtung in die Leiblichkeit besteht das göttliche (schlafend-träumende) Bewusstsein des Urmenschen fort, sodass auch der heutige Mensch in seiner leiblichen Inkarnation prinzipiell über die Möglichkeit verfügt, das göttliche Bewusstsein wiederzuerlangen.

Nicht die Leiblichkeit als solche war die Ursache des Sündenfalls. Vielmehr gründet dieser, wie wir noch sehen werden, in dem von der Schlange veränderten Bewusstsein des Menschen, der sich in diesem Leib befand. Die eigentliche Ursache und auch der Anlass des Sündenfalls lässt sich aus der Tatsache heraus verstehen, dass der Mensch anfing, leidenschaftlich zu begehren, was er noch nicht besaß, und darum die allumfassende Liebe durchbrechen wollte, die ihn wie eine Gebärmutter umhüllte, ernährte und beschützte. Er selbst forcierte also seine Absonderung. Die Begierde wiederum entflammte aufgrund einer aufkeimenden Unzufriedenheit mit der bestehenden Situation, die angefacht wurde von der Schlange, die an das unterscheidende und vergleichende Denken im Menschen appellierte und ihn verleiten wollte, so zu werden wie Gott, der Kenntnis hat von Gut und Böse (1 Mo 3,5). Insofern der Wunsch, diese Erkenntnis zu erlangen, in die Zukunft gerichtet ist, hat die Schlange das Bewusstsein der einheitlichen Zeit7, die man nicht messen kann, die ewig ist und keine Teilung kennt, modifiziert und ein Bewusstsein geschaffen für eine andere, eine (ein)teilbare Zeit, die chronologisch, messbar und vergänglich ist, und die unterschieden werden kann in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der eingeteilten Zeit, die auf Anstiftung der Schlange ebenso erschaffen wurde wie die einheitliche Zeit8, können sich das unterscheidende und vergleichende Denken ebenso wie auf das Ersehnte fixierte und ausgerichtete Leidenschaft gut entfalten.

Es ist elementar, zu verstehen, was hier geschehen ist: Dadurch, dass die Schlange das Bewusstsein des Menschen auf ein zu begehrendes Objekt gelenkt hat, auf den Baum der Erkenntnis, ist zugleich in diesem Akt des Begehrens der Begehrende in das Bewusstsein getreten. Hierdurch erst ist das Selbstbewusstsein entstanden. In einem lodernden Feuer ist das Selbstbewusstsein vom Amboss gestiegen, und das potenzielle Ich hat sich aus den Sedimenten der Seele befreit. Es ist auferstanden aus der Unwissenheit über sich selbst. Das Ich, das in der Peripherie der göttlichen Wirklichkeit sphärisch ausgebreitet war, wurde mit einem Mal – dadurch, dass es sich ausrichtete auf ein von der Gottheit abgesondertes Objekt des Verlangens – zusammengezogen, sodass es zu sich kommen, sich seiner selbst bewusst werden konnte.

Anders gesagt: Durch das Gift der Schlange kam es im menschlichen Bewusstsein zu einer Wende, in deren Folge die Einheit des göttlichen Urmenschen mit der geistigen Welt, die harmonische Einheit von Subjekt und Objekt aufgebrochen wurde und es zur Trennung von Mensch und Welt, zur Unterscheidung von Subjekt und Objekt kam. Das, was ich das zielgerichtete Bewusstsein nennen möchte, ist also unter den Bedingungen eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses entstanden. Auch die moderne Auffassung von der »Intersubjektivität des Seins«9 sieht eine unüberwindbare Trennung in der Begegnung zwischen Subjekt und Subjekt, die noch immer die Folge des Sündenfalls ist.

Ist es nicht bemerkenswert, dass Adam und Eva durch das Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse »die Augen geöffnet« wurden und sie sich schämten, weil sie sahen, dass sie nackt waren?10 Es fand eine vollständige Umstülpung des Bewusstseins statt: Das innere Auge, das im urmenschlichen Wesen dem Geist zugewandt war, schloss sich langsam. Mit diesem innerlich schauenden Organ nahm der Mensch an der Welt des Geistes teil, deren Ausdruck die Natur ist. Er nahm so in der zum Kreis geschlossenen Einheit von Geist und Natur die allumfassende Liebe wahr. Was sich nun öffnete, waren die beiden äußeren Augen, die das perspektivische Wahrnehmen erlauben. So können in einem dreidimensionalem Raum die Abstände bestimmt werden, und sie lassen ihn die einzelnen Gegenstände und die leiblichen Wesen erkennen.

Der Sündenfall ist eine Absonderung aus der göttlichen Einheit heraus, durch die der Mensch alles als etwas Einzelnes und Abgetrenntes sieht. Der Einfluss der Schlange hat das Bewusstsein des Menschen durch die Sinne hindurch nach außen gedrückt, wodurch das Gegenstandsbewusstsein entstanden ist – auch so ließe sich die Subjekt-Objekt-Trennung ganz neu beschreiben. Die Schlange hat also nicht nur im Verhältnis zur Zeit, sondern auch im Verhältnis zum Raum für eine Veränderung des Bewusstseins gesorgt: Das Bewusstsein des ungeteilten Raumes, eines Raumes, der unermesslich und eine vollkommene Einheit ist, wird modifiziert. So wird ein Bewusstsein geschaffen für einen teilbaren Raum – ein Bewusstsein, das die bereits erschaffene physische Welt abmisst und in einzelnen Objekten erschaut.

Adam und Eva sahen nun auf eine andere Weise, dass sie nackt waren.11 Sie sahen nun, dass sie von der göttlichen Einheit abgesondert waren. Sie schämten sich, weil sie vereinzelt worden waren, getrennt von dem großen – und immer noch größer werdenden – Ganzen, und reduziert auf eine allzu beschränkte Form der Leiblichkeit. Das Einswerden im Fleisch, das im ›Garten Eden‹ noch etwas Selbstverständliches war (1 Mo 2,24), wurde jetzt als Gefahr einer zielgerichteten, sich fixierenden Begierde erlebt, die nur möglich ist durch ein fixierendes Bewusstsein, wie es durch den Einfluss der Schlange geformt wurde. Nicht die Leiblichkeit als solche und auch nicht die erotische Vereinigung der Leiber ist die Ursache des Sündenfalls, sondern das zielgerichtete, festschreibende Bewusstsein, welches das Einzelne vom Ganzen, das Leibliche vom Geistigen, die Sexualität von der Liebe trennt. Das fixierende, festschreibende Bewusstsein ist ein viel entscheidenderer Begriff als die concupiscentia oder die sexuelle Begierde, die Augustinus12 als Ausdruck des Sündenfalls angesehen hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit dem Sündenfall die fundamentale Begierde des fixierenden Bewusstseins nach dem Vereinzelten, Abgesonderten entstanden ist, nach dem, was in seinem abgesonderten Zustand in der geteilten Zeit und dem geteilten Raum der Vergänglichkeit anheim gegeben ist. Es gibt kein Bewusstsein mehr von dem Einzelnen, das eingebettet wäre in der Totalität einer einheitlichen Zeit und eines einheitlichen Raumes, wie es zu Beginn der Schöpfung und der damit einhergehenden Schaffung einer teilbaren Zeit und eines teilbaren Raumes noch möglich war. Dass sich das Bewusstsein in der Sphäre der Vergänglichkeit verlor, ist die Ursache für die Sterblichkeit des Menschen, vor der in der Genesis schon zuvor gewarnt worden war (1 Mo 2,17), und so kann man verstehen, warum diese nun entstand.13

Adam und Eva stehen in diesem Augenblick noch unbehaglich nebeneinander, der Welt pontifikal gegenüber. Sie sind sich in einem dramatischen Akt ihrer selbst bewusst geworden, und das äußert sich in der Scham, die ein Gefühl der Selbstreflexion gegenüber der geistigen Welt ist. Denn gekoppelt an das unterscheidende Denken wird ein psychologisches Vergleichen möglich. Dieses findet seinen Ausdruck in der Scham oder – wie im Falle der Verführung – der Eitelkeit, Gott gleich werden zu wollen. Durch den Sündenfall ist also das analytische Denken entstanden, es ist dadurch freigesetzt worden, dass sich die Begierde auf einen Gegenstand außerhalb der einheitlichen göttlichen Welt gerichtet hat. So kam es zu einem Selbstbewusstsein. Was hat dies nun für die Liebe zu bedeuten?

5Die philosophischen Gegensätze als Voraussetzung der menschlichen Freiheit

Mit der Trennung von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt ist für die Entwicklung der Liebe unglaublich viel gewonnen. Versuchen wir, uns diesem Gedanken in weiteren Überlegungen zu nähern. Die Trennung ist entstanden, da mithilfe der Versuchung das Bewusstsein so in das Leibliche eindringen konnte, dass sich die an die Leiblichkeit gebundenen Sinne öffnen und das Bewusstsein veräußerlicht werden konnte. Aus einem schlafend-träumenden, göttlichen Bewusstsein erwachte der Mensch in ein gerichtetes Bewusstsein, welches das vereinzelte Eine von dem vereinzelten Anderen in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt unterscheiden konnte. Man kann sagen, dass sich der Mensch durch die Versuchung vom vorherigen Bewusstsein des Wesens – sein Wesen ist auch das Wesen der Dinge – angewendet hat. Er ist dadurch auf existenzielle Weise in die Welt der Erscheinungsformen eingedrungen, die aber selbst nur der sinnliche und künstlerische Ausdruck des Wesens sind, welches vor der Versuchung im göttlichen Bewusstsein noch innerlich geschaut und erlebt werden konnte. Die Natur ist die glänzende Haut des Geistes, der durch sie – aufgrund des schöpferischen Willens der Elohim – an die Oberfläche gelangt ist. Und die Schlange ist so eingenommen von dieser Haut, dass sie sich ihrer eigenen entledigt, um immer wieder eine neue Haut zu bekommen und die Welt mehr und mehr mit Anhäufungen ihrer verhornten Trockenheit zu bedecken. Wir leben in einem durch sein einschnürendes Gift polarisierten Bewusstsein notwendigerweise und einseitig auf die Welt der Erscheinungen ausgerichtet. Die vergänglichen Erscheinungsformen manifestieren sich im teilbaren Raum und der teilbaren Zeit, wo alles voneinander geschieden ist.

Angesichts der Trennung von Subjekt und Objekt sind die fundamentalen philosophischen Unterschiede entstanden.14 Dem Dualismus von Subjekt und Objekt entspricht derjenige von Ich und Welt. Die Welt, zu der auch mein eigener Körper gehört, lerne ich durch die Wahrnehmung unmittelbar passiv kennen. Durch den Denkprozess, den ich als eigenständiges Subjekt aktiv vollziehe, kann ich lernen, die Welt zu begreifen. Für die Erkenntnis der Wirklichkeit resultiert daraus ein Dualismus von Denken und Wahrnehmen.

Durch meine Denkaktivität kann ich zu dem übergreifenden Begriff vordringen, etwa dem Begriff Baum, den ich unabhängig davon bilde, was ich in der Welt an einzelnen Bäumen mit all ihrer Vielfalt an Formen und Farben wahrnehme. Das Wissen um diesen Unterschied in der Erkenntnis der Wirklichkeit hat sich kulturgeschichtlich verselbstständigt in dem Dualismus von Rationalismus und Empirismus. Immanuel Kant (1724–1804) hat eine Synthese zwischen beiden gesucht und ist doch im Gegensatz zwischen dem nicht zu erkennenden Ding an sich und den zu erkennenden Erscheinungen gefangen geblieben, dadurch hat er wesentlich unseren wissenschaftlichen Reduktionismus bestimmt. Hier sind die Folgen des Sündenfalls nicht aufgehoben, sondern verstärkt.15