Die Freundschaft von Ladiz - Max Mohr - E-Book

Die Freundschaft von Ladiz E-Book

Max Mohr

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

In "Die Freundschaft von Ladiz" sieht Max Mohr eine entartete Welt, von Girls und Bubis bevölkert, von ,mondänen Krüppeln' um ihr Bestes geprellt - und erkennt als das Heilmittel: die Erringung der neuen Männlichkeit. Die Entstehung und Bewährung einer hartgeschmiedeten Freundschaft zwischen zwei Männern sind Gegenstand eines starken, meisterlich erzählten Romans, der zuerst 1931 bei Georg Müller in München erschienen ist. Mohr gibt sich darin als grimmigen Zeitkritiker, als satirischen Kulturpolitiker, als derben Parodisten; und bleibt doch, vor und über allem, Dichter, dem es gelingt, Knut Hamsuns prallste Sonne auf seine gepriesene bajuvarische Erde Segen glühen zu lassen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

Die Freundschaft von Ladiz

 

MAX MOHR

 

 

 

 

 

 

Die Freundschaft von Ladiz, M. Mohr

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN:9783988682741

 

Quelle: http://digital.bib-bvb.de/view/bvb_mets/viewer.0.6.5.jsp?folder_id=0&dvs=1749828663227~992&pid=18427872&locale=de&usePid1=true&usePid2=true

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT

Erstes Buch. Die Apokalypse. 1

Erstes Kapitel1

Zweites Kapitel11

Drittes Kapitel22

Viertes Kapitel31

Fünftes Kapitel43

Sechstes Kapitel51

Siebentes Kapitel58

Achtes Kapitel68

Zweites Buch. Das Missing-Link. 83

Neuntes Kapitel83

Zehntes Kapitel95

Elftes Kapitel105

Zwölftes Kapitel117

Dreizehntes Kapitel130

Vierzehntes Kapitel140

Fünfzehntes Kapitel147

Drittes Buch. Die Nordwand. 153

Sechzehntes Kapitel153

Siebzehntes Kapitel163

Achtzehntes Kapitel173

Neunzehntes Kapitel183

Zwanzigstes Kapitel193

Einundzwanzigstes Kapitel206

Zweiundzwanzigstes Kapitel214

Erstes Buch. Die Apokalypse

Erstes Kapitel

"Da steh ich im hellen Mittag und bin müde. Ausgetrunken ist das heilige Euter, leer. Und die lichten Bilder rings? Meine Augen streiken, blicken hin und nehmen's nicht mehr auf."

Das wäre vielleicht die Formel gewesen, die Formel für den kleinen Seufzer, den unser Mann seufzte, als er neben dem hölzernen Ruhbrunnen haltmachte. Er selbst dachte nicht daran, aus einem kleinen Seufzer große Worte zu machen. Er dachte überhaupt nichts, als er jetzt den Rucksack vom Buckel wälzte, um sich niederzusetzen, auf die Steinplatte neben dem rauschenden Trog.

Zwar dämmerte es unter seiner gedankenlosen Verschwitztheit als etwas Seltsames, dass sein Schritt langsamer und langsamer geworden war, so kurz vorm Ziel. Und warum hatte er den Rucksack, der mit den Apparaten und mit den Seilen einen guten halben Zentner wog, noch einmal abgelegt, drei Minuten vor dem Haus, das da unten lag? Das ging gegen die alpine Ökonomie eines Meisters im Fels und im Eis. Das ging auch gegen die Sitte eines Ehegatten und Vaters, welcher siegreich heimkehrte. Jedoch das dämmerte nur so in ihm. Kein Grund, gleich die ganze Lebensfahrt mit dem Kompass der Worte festzulegen.

Ein gewöhnlicher kleiner Seufzer, den er selbst ganz überhört hatte, nichts weiter. Es war Juli, Juli im Ladiz, Ladiz im Karwendelgebirge. Ferner war es zu der Zeit, da unser Jahrhundert sich anschickte, aus seinem ersten Drittel in sein zweites Drittel hinüberzuwallen, zu einer Zeit also, von der wie noch nicht wissen, wie eine spätere Legende sie verkünden wird, ob als trüben Abend oder tiefe Nacht der Menschenkinder, ob als fahles neues Morgengrauen. Da hockte unser Mann, Xaver Ragaz war sein Name.

Er hatte eine schwere Tour hinter sich. Heute war's nur der Weg vom Gipfelbiwak bis hierher, aber gestern und vorgestern, das lag in den Knochen. Die Ladizer Nordwand war schon in der Moderoute, in der Durchkletterung seitlich von der Gipfellinie, ein Prunkstück der Karwendelkletterei; aber diese neue Route, der Aufstieg im reinen Fall des Gipfels, war schon fast nicht mehr von dieser Welt.

Ein paar Erinnerungsbilder schwirrten durch seinen Kopf und schoben sich in schwerem Kontrast über die Bilder, die vor seinen Augen lagen, das sanft gebuckelte Tal, die waldig und moosig gesprenkelten Gründe, weiter draußen die frommen Sommerwiesen. Ganz anders in der vorweltlichen Mauer. Eine freche Menschenkatze traversierte über ein griffloses Band; ein gehetzter Menschengorilla stemmte sich an einem überhängenden Block empor; und dieser, ein Säulenheiliger, einsam, auf dem engen Standplatz mit der zierlichen Steinbrechblüte, erreicht in der letzten Sekunde, mit der letzten Muskelkraft.

Er fluchte einen lauten Fluch vor sich hin, während diese Bilder in seinem Schädel durcheinanderrutschten wie in dem Schädel eines Betrunkenen. Einen schweren, gemeinen Fluch, wenn Männer sich selber bewundern, fangen sie ja meistens zu fluchen an. Darin mag neben der Selbstbewunderung ein kleiner Ersatz für den verlorengegangenen Verkehr mit den Göttern liegen, Opfer und Dankgebet. Jedoch dieser Fluch klang nicht nach männlicher Eitelkeit und nicht nach Dankgebet-Ersatz, darin lag ein andrer Ton. Wie in jenem Seufzer klang es auch hier: ausgetrunken ist das große heilige Euter, leer.

Aber das ist ja scheußlich, was wir hier treiben, meine lieben Leute, scheußlich und lächerlich. Kaum dass unser Mann von einer dunklen Tat zurückkommt und in unseren Blickpunkt gerät, beobachten wir seine Seufzer und Flüche, um ihn mit unseren literarischen Kniffen festzunageln, weiß der Teufel auf was für ein morsches Brett unsrer morschen Gedankenwelt. Es fehlt nur noch, dass wir ihn auf der Stelle psychoanalysieren und seine außerordentliche alpine Tour auf einen außerordentlichen sexuellen Knacks zurückführen oder auf sonst was Ordinäres. So lauern die Kobolde im Gebüsch, die Zwerge und Pygmäen dieser sonnenbestrahlten Erdkugel, so lauern sie geduckt im Zwielicht abseits der Straße, wenn der letzte Reiter auf dem letzten Pferd vorüberreitet. "Ach, der arme Tropf, der letzte Reiter", flüstern sie, "er seufzt schon, er flucht schon, irgendetwas stinkt in dieser stolzen Seele. Bald wird er stürzen, der holde Kerl", kichern sie, "und sich das Genick brechen, wir aber werden unser Leben noch leben und unsre Geschäftchen noch machen, wenn seine arroganten Knochen längst vermodert sein werden." Nein, Leute, lasst uns keine literarischen Kobolde mehr sein, keine Psychologen mehr im Zwielicht abseits der Straße, keine Fotographen und Reporter mehr im dürren Gebüsch! Singe uns, Göttin, das Lied von Xaver Ragaz, dem Manne, welcher vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat, viele Mauern durchklettert und Gletscher durchquert hat, und von dem Haus, dem lärchenen, das er gebaut hat, hier im Ladiz, dem sanft gebuckelten Hochtal, er und sein Weib Terese, geborene Hornbogen, und von dem anderen Manne auch Philipp Glenn war sein Name, und von dem Zorn, dem verderblichen, der diese zwei befiel, sage davon auch uns ein weniges, Tochter Kronions – allen Ernstes, Freunde, so lasst uns tun! Wir sind müde unsres ganz und gar aufgehellten Gehirns, müde seiner sämtlichen Machenschaften, müde seiner Tyrannei. Müde auch des ewigen Protestes gegen diesen Wasserkopf, den wir nun einmal auf unseren Schultern tragen. Wir riechen auf tausend Schritt, wir alle miteinander, jeden neuen Bluff der alten Worte, jede neue Chemie in der alten Retorte, wir wollen nichts tun, als ein Lied singen, wenn es Abend wird. Und wir wollen auf unseren Mann blicken, wie jener Adler auf ihn blickt, der alte Steinadler von Ladiz, der weithin kreisende. Der hatte die Gestalt am Luhbrunnen längst gesichtet: den Menschen, das gefährliche Wundertier, purpurn halb, halb grau.

In dem Gehöft hatte man ihn noch nicht gesichtet. Man erwartete ihn erst zum Abend. Jetzt war Mittagessenzeit, alle Welt im Haus. Nur der Kater war draußen, auf dem Holzstoß, und wärmte sich den Pelz. Und die Hühner gackerten in die Stille des Ladizer Pan ihr Gegacker hinein, dem lautlosen Adler zum Trotz, die fleißigen Idioten.

Xaver Ragaz war ein Mann von zweiundvierzig Jahren. Acht Jahre wohnte er nun schon im Ladiz, seit seiner Verheiratung. Vorher war er in der großen Welt gewesen, als Geologe und Geograph, als Spezialist im Eis und im Fels. Ein Mensch der Expeditionen, kurz, ehe die letzten Winkel des Planeten abgegrast waren. Die Berufung zu einer Tian-Schan-Expedition, die Berufung zu einer Labrador-Expedition, das waren die Höhepunkte seiner Laufbahn gewesen.

Geboren war er nicht weit von hier, im Tal der Riss, als der Sohn eines altbayrischen Karwendelführers. Studiert hatte er aus der Trinkgelderkasse des Vaters. Dreißig Saisons Trinkgelder des alten Matthias Ragaz, das hatte gerade bis zum Doktor des Sohnes und bis zur Begründung seines alpinen und wissenschaftlichen Rufs gereicht.

Die Tian-Schan-Expedition hatten die Eltern noch erlebt, die war noch vor die Kriegszeit gefallen, während seiner Infanteristenzeit im Feld waren dann die beiden Eltern gestorben, rasch hintereinander, wie's sich für selige Bergleute ziemte. Seinen letzten Erfolg hatten sie nicht mehr erlebt, die Ernennung zum doctor of science an der Michigan-Universität. Das war nach der Labrador-Expedition gewesen, für die man ihn während der ersten Friedensjahre gekauft hatte.

Schade, dass sie das nicht mehr erlebt hatten. Das hätte sie noch gefreut. Aber dass er sich danach wieder ins Karwendel zurückgezogen hatte, das hätte sie nicht mehr gefreut. Natürlich, die gute Verheiratung, das stabile Gehöft, der weite Grund, das hätte noch ein paar von den kleinen Prahlereien abgegeben, aus denen nun einmal die Abendfreuden der Eltern bestanden. Nicht aber dieses Zurück auf den alten Stand der Ragazer Männer, wie er's seit einigen Jahren betrieb.

Denn das war ein Zurück, sein Leben hier, kein Zweifel. Noch acht solche Jahre, und er war wieder, was sein Vater gewesen war, ein altbayrischer Karwendelführer, ein Knecht Gottes und der Saisongäste. Wenn auch in modernen Maßen, selbstverständlich. Seine Frau war kein lederhäutiges Bauernweib, sondern ein zartes und kostbares Ding von friesischem Adel. Seine Touren waren anders als die väterlichen Touren, reine Hexereien im Vergleich zu jenen Sonntagnachmittagspromenaden. Seine Fotos und Berichte waren gesucht, gut zu platzieren in den inländischen und ausländischen Zeitschriften und Tageszeitungen, gut honoriert und voller Schwung. Engagieren ließ er sich nur noch zu ganz besonderen Klettereien, von ein paar befreundeten Snobs mit großem Geldsack. Und für den Notfall war er durch die Erbschaft seiner Frau sichergestellt. Aber was hieß das viel? In den Augen der Eltern wäre er ein Karwendelführer gewesen, so wie er hier lebte, also ein Nichts, da sie selber das gleiche Leben geführt hatten. Ein Glück, wenn die Eltern rechtzeitig starben, in einer Zeit, da die Kinder anfingen, allen Fortschritt zu verfluchen, und kein besseres Ziel und keinen größeren Luxus mehr kannten als das Zurück auf den armen alten Stand.

Doch umsonst, es gab kein Zurück. Er war kein Karwendelmann vom alten Schlag mehr, Unsinn, Gerede, Schwindel. Anders war der Steinadler dort droben über Matthias Ragaz gekreist, wenn er an diesem Brunnen Rast gehalten hatte, anders kreiste er über Xaver Ragaz. Damals war zwischen dem Mann am Brunnen hier und jenen Dingen von da draußen kein Bannkreis gelegen, der diese Welt von jener Welt getrennt hätte. Eins war gewesen – ein unzerspaltenes einziges Leben – jene helle Talwelt und diese dunkle Männerwelt. Heute lag da ein magischer Ring, ein Zauberkreis, eine schwere Grenze vor dem einsamen Wundertier, und trennte schmerzlich sein eigenes Leben von jenem allgemeinen Leben, einem Bann gleich. Und schon als der Kater auf dem Holzstoß jetzt erwachte, blinzelnd zuerst, dann träge witternd, dann gespannt glotzend, um schließlich den Mann zu erkennen und zu ihm heraufpromeniert zu kommen, der erste Gesandte aus jenem anderen Reich: für den Kunden in den Lüften war es da bereits geschehen. Der Bann war gebrochen, welcher um die Gestalt, purpurn halb, halb grau, gelegen war. Das Geheimnis war dahin. Einer von der großen Blase war's, irgendeiner aus dem wohlbekannten Geschlecht der zusammengedrängten Wichtigtuer und Quatschköpfe. Die Grenze des Mannes war überschritten, das kreisende Tier schwenkte ab und zog weiter, verschwand und wurde nicht mehr gesehen.

Erst kam der Kater, dann bellte ein Hund, dann probierte ein kleines Kind einen Juchzerschrei, dann rief eine helle Frauenstimme. Und dann war plötzlich die ganze Familie Ragaz da, freudig versammelt um den lieben Papa am Kuhbrunnen.

Die Frau überließ den ersten Ansturm dem Kleinzeug. Während der Kater sich an der verdreckten Manchesterhose herumrieb, versuchte der Hund, ein kindischer Wolf, das Gesicht seines Herrn zu lecken, um dann, liebevoll zurückgeboxt, ein Gebelle loszulassen wie vor einem gestellten Rehkitz. Und die Kinder kugelten mit Geküsse und Gefrage über den Mann her, der siebenjährige Aloys, genannt Lois, und die vierjährige Barbara, genannt Barbi.

"Bist du schon da? Was hast du uns mitgebracht? Hast du den kleinen Mann von Ladiz gesehen? Was hat er gesagt? Warum bist du voll Blut an der Stirn? Hat's weh getan?"

Nein, er war noch nicht da, er kam erst in zehn Minuten. Mitgebracht hatte er einen winzigen seltenen Steinbrech. Und den kleinen Mann selber, da im Rucksack steckte er drin, der kleine Mann von Ladiz. Der Riss in der Stirn kam vom Steinschlag. Der kleine Mann hatte einen Stein auf ihn geschmissen, aber weh getan hatte es gar nicht. Er steckte nicht mehr im Rucksack? Ja, dann war er ihm doch wieder entwischt, der Lump.

Die Frau stand still daneben. Sie war eine Scheue, eine Hellblonde und Scheue. Er war ein untersetzter dunkler bayrischer Typ, und sie war eine schlanke helle Nordländische. Das kam erst zusammen, wenn Nacht war, der Triumph des Tages gehörte den Kindern.

Sie hatte nicht gewusst, wo er in den letzten drei Tagen gesteckt war. Er verriet ihr niemals sein Ziel, wenn er loszog. Im Gegenteil, er log ihr meistens etwas vor, so dass sie niemals wusste, ob er auf irgendeiner Hütte saß und faulenzte, ob er in irgendeiner mörderischen Wand steckte. Das war seine Methode, um ihr die Angst der Bergfrau zu ersparen. Aber das war eine zweischneidige Methode. Hinterher erfuhr sie doch, was los gewesen war. Und die Folge war, dass sie dauernd unter einem gewissen Druck stand und oft von den dümmsten Gespenstern beschlichen wurde, wenn gar kein Anlass da war.

Dass er heute aus einem schlimmen Bereich kam, hatte sie auf den ersten Blick gesehen. Aber davon war die Rede erst, nachdem er mit Juhu ins Haus transportiert war, nachdem das aufgewärmte Suppenfleisch auf dem Tisch stand, die Karotten, der Rotwein, der Käse, und nachdem Lois und Barbi abmarschiert waren. Vorher hatte Lois natürlich erst noch seine letzte Glanznummer vorführen müssen, den Handstand an der Tür mit freiem Überschlag in die Brücke, während Barbi ihr letztes Gedicht rezitiert hatte, das Sonett auf einen in der Schlacht gefallenen Helden, auch zum Abzählen gut zu gebrauchen:

Ene Bene Suplatene

Diwi Dawi Domine

Engelsbrot

Sonder Not

Emse Bremse puffi tot …

"Wo war's?" fragte Terese, während sie am Esstisch den Meerrettich durch die Reibe schabte.

"Ladizer Nordwand, direkt in der Gipfellinie." Er lachte ein trockenes anarchistisches Lachen, als sie ihn erschrocken anstarrte. "Die neue Xaver-Ragaz-Route! Mal sehen, wer der zweite sein wird?"

"Ach du!"

Sie hatte zwar auf etwas Schlimmes geraten, auf eine neue Route in der Drei-Zinken-Wand oder etwas Ähnliches, aber nicht auf diese Wahnsinnstour. Eine Sekunde lang hasste sie ihn, mit dem jäh auftauchenden Geschlechterhass, welcher auch in der Seele der Penelope schlummert. Dort drunten, tief im Grund, da ist das Weib ein nüchternes Menschentier, der Mann ein trunkenes.

Ganz geht das nie zusammen. Wenn ihn die Ehe nüchtern macht, hasst sie ihn, weil er sein Manntum verloren hat. Und wenn er sich behauptet, sich und seinen männlichen Blödsinn, hasst sie ihn auch, da drunten, tief im Grund, den Trunkenbold, den ewigen Bedroher ihrer Ordnung. Aber davon wollen weder die Männer noch die Frauen etwas wissen.

"Ich gratuliere", sagte sie sanft. "Schwer?"

"O nein, ganz leicht", sagte er hochmütig, "drei Mark fünfundsiebzig, im Inventurausverkauf."

Die Zeit zum Erzählen kam erst später. Jetzt war das Suppenfleisch an der Reihe, der Rotwein, der Käse. Dann kam die Post dran, lauter Humbug natürlich, Rechnungen, Redaktionsfragen, irgendwelche Zudringlichkeiten von Staat und Gemeinde, wie die menschliche Post eben war. Dann kam das Rasieren und das Bad, wobei schon wieder Lois und Barbi erschienen. Die pumperten so lange an die Badezimmertür, bis sie eingelassen wurden. Aus der Einseiferei und Abkratzerei und Duscherei und Frottiererei musste eine Art Clownnummer gemacht werden, da half kein Widerstand.

Der große Familientee in der Kinderstube. Die letzten Berichte vom kleinen Mann. Der gemeinsame Bummel durch das Königreich, Stall und Tenne, Ententeich und Garten. Ein kleines Geschwätz in der Dämmerung, mit der Magd, mit dem Jungknecht, mit den drei befreundeten Holzknechten, welche in der Blockhütte, fünf Minuten talwärts vom Ragazer Hof, hausten. Das Abendessen, gemeinschaftlich, da heute nun schon einmal Feiertag ausgerufen war. Und die große Schlussrolzerei beim Zubettgehen der Kinder, ein paar letzte väterliche Clownnummern an den Kinderbettstätten. Jetzt erst war Tereses Zeit.

Sie hatte sich umgezogen. Am Nachmittag war sie in hellblauen Leinenhosen gewesen, ein Enzian, nun war sie eine rotseidene städtische Rose. Xaver fühlte sich in dem schneeweißen Hemd und den weichen schottischen Hosen nach den drei Schmutztagen wie ein gepflegter Bubi in einer Hotelhalle: Fred Weißbein, der Liebling der Götter und Frauen. Ohne Hochmut und ohne anarchistisches Lachen erzählte er von der unerbittlichen Wand, dem harten Feind aus der Eiszeit, dem bezwungenen Schuft aus Kalk.

Sie gingen zu Bett. Er kam in ihr Zimmer, leise, und lag bei ihr. Arme Weiber, arme Soldatenfrauen! Fred Weißbein, der Liebling der Götter und Frauen, der gehört euch ganz, der gibt sich euch ganz hin, aber auf dessen Liebe pfeift ihr, ihr alle miteinander. Und ist es ein Soldat, wenn auch ein Soldat ohne Gott und König und Vaterland, ohne Kompanie und Kameradschaft, ohne irgendeinen Feind sogar, aber doch in seiner Seele ein Soldat, dann ist er und bleibt er weit weg von euch, weit weg, wie leidenschaftlich nah ihr ihn auch zu haben scheint.

"Was ich ganz vergaß, dir zu sagen", plapperte die Frau in frommer Faulheit vor sich hin, als man bei einer flackerigen Kerze noch eine kleine Weile nebeneinander lag. Das freche elektrische Licht war ausgedreht, die Fenster waren weit geöffnet, die Grashüpfer von Ladiz zirpten herein. Der Mann war aufgestanden und hatte eine Unmasse Wasser getrunken, mit dem Mund unterm Leitungshahn, obwohl ein Glas daneben stand. Es kam erst allmählich heraus, wie ausgedörrt er war. "In den Gruben am Pürschhaus fangen sie jetzt wirklich zu graben an", plapperte sie, nachdem er mit nassen Lefzen zurückgekommen war und wieder bei ihr lag. "Die graben jetzt tatsächlich unsre alten Gruben um. Sechs oder sieben Taglöhner haben sie eingestellt."

"Was?" sagte er gähnend. "Diese blöden Hunde! Meinetwegen! Wenn sie Geld genug haben und nichts Besseres damit anfangen können, mir kann's recht sein."

Es handelte sich um die Gruben in dem Waldstück, das er vor einigen Wochen an Herrn Fergus verkauft hatte. Herr Fergus war seit dem Krieg der Besitzer der Ladizer Jagd, ein reicher Industriemensch aus Norddeutschland. Ihm gehörte das Pürschhaus, eine Viertelstunde talwärts von hier. Dort hockte er mit seinen Gästen in den Sommermonaten und hielt Hof. Das kleine Waldstück mit den drei, vier verwachsenen Gruben hatte er von Xaver Ragaz bekommen, weil es ein schlechtes unterholziges Stück Mischwald war, ohne viel Wert für den Ragazer Hof, der Lage nach eher zu Herrn Fergus' Bereich passend als zum Ragazer Hof. Und außer dem guten Preis in Bargeld war noch ein anderes Stück Grund eingetauscht worden, eine Mooswiese mit einer Kiesgrube, auf welche die Ragazer Leute schon lange Jahre scharf gewesen waren.

Das Hochtal von Ladiz gehörte drei Herren: dem Staat, vertreten durch das Forstamt und die Holzknechte, dem Herrn Fergus aus Norddeutschland, dem Doktor der Geologie Xaver Ragaz. Aber Xaver fühlte sich als der wahre Herr des Tales. Und er hatte das auch nicht vergessen, als er den Kaufvertrag mit Herrn Fergus aufgesetzt hatte. Man musste bei jedem Handel in diesem Tal, dessen Macht und Schönheit in seiner Abgeschlossenheit beruhte, auf der Hut vor einem Hotel oder sonstigen Spekulationen sein. Auch in dem Verkaufs- und Tauschvertrag mit dem Herrn Fergus stand die Klausel, dass der Waldgrund mit den Gruben nicht weiterverkauft und nicht bebaut werden dürfte. Und Herr Fergus war ohne Besinnen auf diese Klausel eingegangen.

Jetzt ging auf einmal bei den Holzknechten das Gerücht, seit einigen Wochen schon, dass Herr Fergus die Gruben für ein Bergwerk aus uralten Zeiten hielte und hier irgendetwas entdecken wollte. Diese Idioten! Seit Menschengedenken hatte kein Floh diese alten Gruben beachtet. Jetzt sollten sie auf einmal Dinge vom "Alten Mann" in sich bergen? Irgendwelche geschichtlichen oder vorgeschichtlichen Funde?

"Meinetwegen", sagte er mit riesigem Gähnen. Er war nah am Einschlafen, es war eine warme, wohlige Nacht.

"Diese verrückten Affen! Kaum haben sie gehört, dass es überhaupt so etwas wie einen ›Alten Mann‹ auf der Welt gibt, gleich muss er in ihren dreckigen Gruben drinstecken." Die Augendeckel fielen ihm zu. "Lass sie nur graben! Messieurs, mesdames, tut's nur grab'n! Vielleicht finden sie ein versteinertes Scheckbuch aus der Steinzeit?"

Er wäre eingeschlafen, wenn Terese nicht angefangen hätte zu albern. Herr Fergus und seine Gäste waren das kleine Witzblatt des Ladizer Tals. Nach jeder Begegnung gab's ein riesiges Amüsement über ihre Toiletten, Ansichten, Unternehmungen. Man konnte in den alten Gruben natürlich noch eine Menge Versteinerungen finden, die zu den Fergusleuten passten, versteinerte Armbänder für die Herren, versteinerte Hosenträger für die Damen. Sie kälberte sämtliche Versteinerungsmöglichkeiten durch, bis Xaver wieder wach wurde, ihr einen Klaps gab und einen Kuss und ging. Dann schlief sie auf der Stelle ein.

Sie träumte, dass einer gelaufen kam, ein Kerl in schmutzigen schwarzen Samthosen. Der rief ihr zu, dass ihr Mann verunglückt sei, da lag er und blutete und musste Hilfe haben. Sofort lief sie los. Aber sie kam keinen Schritt vorwärts. Ihre Beine waren aus zähem zentnerschwerem Gummi. Eine wahnsinnige Schande, dass sie nicht zu Hilfe kam! Aber die zähen, bleichen, vorweltlichen Gummibeine versagten in dieser neuen Welt. Er schlief in seinem Zimmer überm Flur, ohne Traum. Jedoch mitten in der Nacht, als Tereses Traum schon längst vorbei war, als sie schon wieder mit schmollendem Kinderlächeln in etwas Sanftes, Warmes, Blaues hinübergeglitten war, fuhr er auf und war in einer Sekunde wach.

Nein, es war nichts passiert, er war nicht gestürzt, der Griff war nicht ausgebrochen. Wunderbar war das weiche Bett der Wiederkunft. Der Körper dehnte sich in restloser Befriedigung. Neue Säfte bildeten sich unter der frottierten und gekosten Haut. Drüben schliefen die Kinder, die Träger des neuen Sinns dieser Welt. Im Zimmer daneben die letzte Penelope dieser Welt, die mit den klaren Augensternen und den verschwiegenen weichen Säulen der Beine. Weiterschlafen!

Morgen mussten die Fotos entwickelt und die Telegramme abgelassen werden. Für den Zeitungstrust, an dessen Sportsteil er engagiert war. Vielleicht fing er auch gleich mit dem Bericht an? In möglichst bescheidenem Stil natürlich, dazwischen die berühmten kleinen Schlaglichter, welche die große Wirkung ausmachten.

Die Einleitung musste geistig sein, damit die Momente der körperlichen Gefahr umso stärkere Akzente bekamen. Bekanntlich leben wir in einer alexandrinischen Zeit, meine Herren, alexandrinisch im Sinne Alexandrias und seiner unübersichtlichen Bibliotheken. Auch der Alpinismus ist alexandrinisch geworden, ein aufgeblähtes Monstrum ohne Sinn, wie alles heutzutage, von der Wissenschaft bis zum Sport. Gestatten Sie aber, meine Damen und Herren, dass ich hier das Wort vom Alexandrinismus anders auffasse, anlässlich dieser neuen Nordwandroute, nämlich alexandrinisch im Sinne jenes Alexander des Großen, der den Gordischen Knoten durchschlug. Ich bin für einen neuen Gordismus, wenn ich so sagen darf, meine Damen und Herren, für das Durchschlagen des unentwirrbaren Knotens dieser Welt.

Mensch, schlaf ein. Nach dieser Tour und diesen zwei Biwaks hast du wohl das Recht, müde zu sein und zu schlafen? Jetzt stand die Ladizer Wand da hinten leer. Wie die graue Wand eines Mondbergs rollte sie dahin. Bei dem Ausstieg aus dem schiefen Riss war's auf der Kippe gestanden. Hinunter wäre er nicht mehr gekommen. Das Hinübergleiten zu dem winzigen gelben Griff war Bluff gewesen. Manchmal musste das Leben eben jenseits der Physik gelebt werden, jenseits der blöden Lehre von der Schwerkraft, hihihi.

Mensch, schlaf ein. Bist du zu müde, um einzuschlafen? Eine Müdigkeit jenseits der körperlichen Müdigkeit? "Wenn du müde bist, such einen Freund!" Wer hatte das gesagt? Christus? Alexander in Gordium? Der kleine Mann von Ladiz?

Wenn du müde bist, tief drinnen müde, so dass du selbst nach der Ladizer Nordwand nicht Schlaf finden kannst, dann ist's die tiefe Männermüdigkeit; wenn die Sintflut steigt, dann such einen Freund. Kein Weib mit den schönen verschwiegenen Schenkeln und den sanften Augensternen, sondern einen Mann, einen Freund. Aber keinen halben und keinen dreiviertel Mann, sondern einen Mann. Wo? Wo?

Schlaf ein, Mensch, alles Unsinn. Es gibt weder Freunde noch Männer mehr, sondern nur noch jenen Alexandrinismus im Sinne der alexandrinischen Bibliotheken, meine Damen und Herren, keine gordischen Knoten mehr, bitte sehr. Und morgen war man matt, wenn man nicht mindestens zehn Stunden Schlaf auf diese Affentour setzte.

Morgen musste einmal nach den Gruben geschaut werden. Diese Gesellschaft! Man konnte ihnen rechtlich nichts anhaben. Sie durften nach dem Gesetz graben, soviel sie wollten. Nur der Weiterverkauf und der Hausbau war nach der Vertragsklausel untersagt, nicht diese kindische Buddelei nach den Spuren vom Alten Mann. Aber es war nicht fair, dass Herr Fergus seine großartigen prähistorischen Ideen verschwiegen hatte, als sie nach der Verbriefung am Notariat ein Glas Wein zusammen getrunken hatten.

Und wenn wirklich Funde vom Alten Mann zutage kamen? War er dann nicht auch in seiner wissenschaftlichen Ehre als Geologe gekränkt? Er hatte – ebenso wie die bäuerischen Ansassen von Ladiz – diese Gruben für natürliche Gruben gehalten. Aber dazu waren sie tatsächlich zu rund, zu regelmäßig, zu dicht hintereinander gelegen. Wie?

Passt mal auf, ihr Hunde, wenn es wirklich Pingen sind, alte Stolleneingänge! Rechtlich ist nichts mehr zu machen, aber Xaver-Ragazerisch ist dann der Teufel los! Dann geht die Physik von Ladiz los, die Physik ohne die blöde Schwerkraft, auf die ihr euer Laffenleben aufgebaut habt! Wir pfeifen auf alles Recht. Hier wird nicht weitergegraben. Wenn wirklich der Alte Mann dort drunten verschüttet liegt, dann soll er drunten bleiben. Es muss nicht alles in euer freches Tageslicht heraufbefördert und befingert werden. Wir brauchen die verborgenen Kräfte dort drunten, basta. Und wenn es keinen Freund gab auf der Welt, dann gab's hier vielleicht einen Feind? Das wäre immerhin schon besser als dieses schamlose Nichts, das einen nicht schlafen ließ?

Ach, der kleine dumme Fergus war kein Feind, der alte Hosenkackermillionär. Kein Feind, kein Freund, so weit man sah. Es war eine graue Welt.

Erst gegen Morgen kam der Schlaf, ein grauer Schlaf. Die Ladizer Wand war auf dem Mond, Frau und Kinder waren tot und begraben, der Adler hatte nie gelebt, nie über etwas Purpurnem gekreist.

Zweites Kapitel

Aber die sichere Wetterlage hielt an. Der Hochdruck, welcher bei der neuen Nordwandroute Pate gestanden hatte, lag auch noch am anderen Tag über dem Karwendel. Wer weiß, wie sich die dahinrollende Kugel an diesem Morgen einem himmlischen Auge darbot – über dem Äquator lag vielleicht ein Regengürtel und begoss die hitzige Taille des großen Ungeheuers – über Grönland eine zähe Wolkenkappe, verhüllend das Schädeldach, mit seinem weiten Weiß und seinem raren sommerlichen Grün – die Alpen inmitten lagen bloß und blau da, ohne Dunst kam der neue Tag über sie herauf.

Die Menschen aus der Stadt sehen selten den neuen Tag heraufkommen, auch wenn sie aus der Stadt geflohen sind. Sie tragen die Stadt mit sich, zu Wasser und zu Land. Das Pürschhaus von Ladiz lag noch in der verschlafenen Trauer der Nacht da, als das Licht schon längst über alle Gründe gekommen war.

Im alten Bau, wo Herr Fergus residierte, schlürften gähnend die Dienstboten herum. Unter leisen Verwünschungen stießen sie die Fenster des Parterre auf, um den Dunst aus der getäfelten Diele und dem kleinen Mahagonisalon hinauszulassen. Es war der Dunst von Zigaretten, Wein, chemischem Parfüm, welkender Frauenhaut. Auf der anderen Seite der kleinen Ladizer Karrenstraße, im Neubau, wo die Gäste wohnten, war nur Philipp Glenn wach.

Er trat aus der Hinterpforte, nachdem er ohne Erfolg an dem Patentschloss des Haupteingangs herumgedreht hatte. Er sah auf den hellen Tag und sagte: "Ach du meine Güte!" Dann marschierte er los, bergwärts. Auf dem ersten Viehtrieb bog er gegen Osten ab, blieb mit einem Ruck stehen, als die ersten Felszacken in Sicht kamen, ein erhabener Schimmer hoch überm Wald. Es war der Weg zu den Gruben. Die Taglöhner waren schon an der Arbeit. Man hörte bis hierher den Aufschlag der Pickel. Philipp Glenn blieb eine kleine Weile stehen und horchte auf das taktmäßige Klirren im Gestein, dann setzte er sich verdrossen wieder in Gang.

Bald war er am Rand der untersten Grube angelangt. Vier Gruben waren es, dies war die unterste, die kleinste, kaum zehn Meter tief. Hier lag das Geheimnis des Alten Mannes noch unberührt unter dem wuchernden Gesträuch, die Buddelei war an der obersten Grube angesetzt worden.

Die Arbeiter hatten ihn nicht kommen hören. Sie konnten ihn durch das Unterholz hindurch auch nicht sehen, obwohl es nur zweihundert Meter waren. Er setzte sich an den Rand der Grube ins Moos und rauchte eine Zigarette. Nach ein paar Sekunden war der Tau durch die lichtblaue Flanellhose hindurchgedrungen, aber er blieb mit nassem Gesäß sitzen, wo er saß.

Er hatte bei Josephine Quendel geschlafen. Bei der schönen Quendel, bei der scharmanten Quendel, bei der amüsanten, vornehmen, klugen, jungen Dame Quendel, was für ein Wahnsinn! Bevor er sich aus ihrem Zimmer geschlichen hatte, über den bequemen Balkon in sein eigenes jungfräuliches Zimmer zurück, hatte er sie natürlich noch wie ein Baby in ihre Decken eingehüllt, schlaf süß, du süßes Kind, du einzig Süße. Ganz verrutscht und ganz vergilbt waren ihre geistreichen Gesichtszüge beim Einschlafen gewesen. Ach, sie war ein bezauberndes armes Luder, wie alle anderen Weiber auch auf dieser dahinrollenden Kugel, aber das war nicht gut, dass ihre kleinen Schreie und Liebesworte ihm jetzt ganz tief drinnen im Ohr lagen, als wollten sie ihn durchs ganze Leben begleiten. Er war ein Narr, ein ewiger Narr. Ein Gymnasiast, ein ewiger Gymnasiast. Jawohl, mitsamt seinen siebenunddreißig Jahren, mitsamt seinem Genie, eisblau wie seine Hosen, ein sitzengebliebener muffiger Gymnasiast.

Aber der größte Narr dieser dahinrollenden Kugel war doch sein väterlicher Freund und Gönner Joseph Fergus, wahrhaftig der dümmste Hund, den man sich vorstellen konnte. Zu einem Sommersitz, wo die Zimmer des Gästehauses durch einen Balkon ums ganze Stockwerk herum kupplerisch miteinander verbunden waren, gehörte doch zum mindesten ein kleiner Teich, ein kleines Gewässer, irgendeine künstliche Badeanstalt, wenn's nicht anders ging. Einen Gast an einem solchen Morgen ohne ein Bad zu lassen, das war wieder einmal eine von den berühmten Barbareien, mit denen auch die liebenswürdigsten Kapitalistenschweine behaftet waren. Ein kleines Bassin, abgefangen aus dem herrlichen Wasser des Ladizer Baches, spielte das vielleicht für Joseph Fergus eine Rolle? Eine Kleinigkeit, eine selbstverständliche Kleinigkeit, und tausendmal wichtiger als diese großartige Buddelei nach dem Alten Mann.

"Dieser Verbrecher", sagte er voller Zorn und beging damit eine scheußliche Ungerechtigkeit gegen Herrn Fergus, denn Herr Fergus war ein reizender alter Herr, der ihm nur Gutes tat. Außerdem war die Graberei in den Gruben seine eigene Idee, Herr Fergus wäre in seinem ganzen Leben nicht auf diesen prähistorischen Spleen verfallen. Und von einem künstlichen See war noch niemals die Rede gewesen.

Wasser! Wasser zum Schwimmen! Ein kleiner Schauder beim Abstoß vom Land, und du bist drinnen, aufgenommen von dem zweiten Element des Lebens, dem reineren, dem keuschen Widerpart der brünstigen Sonne. Ihr kannst du nicht ins blendende Antlitz sehen, der großen Hure und Lebensgebärerin am Firmament: hier tauchst du unter, öffnest deine Augen, und die andere Hälfte dieses Alls ist dein – du bist der Fisch des Gottes ohne Brunst, durchspült von seiner Gunst bis in dein Herz und dein Gedärm hinein.

Aber was half das alles, es war kein Wasser zum Schwimmen da. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Arbeiter an der Pinge droben riefen sich hie und da ein paar Worte zu, das klang wie das zahme Bellen von Halbmenschen, die an der Kette lagen. Sonst war nichts los auf der Welt.

Dieser Mann war ganz anders gewachsen wie Xaver Ragaz. Bei einer Musterung der zwei zum Kampf wäre er ohne Zweifel Kavallerist geworden, während Xaver Ragaz zu nichts anderem tauglich sein konnte wie zum Infanteristen oder Pionier. Aber das war ein sinnloser Vergleich, die Männer wurden in jener Zeit nicht mehr ausgemustert. Weder zum Kampf gegeneinander, dafür war das Gas und das Geld da, noch zum Kampf mit den Göttern, die waren von diesem Planeten abgereist. Trotzdem: Philipp Glenn, wie er am Rand der alten Grube saß, kaum mittelgroß, hager und zäh, den Katzenjammer über die Weibernacht in den Fuchsaugen, und die blaue Jacke war viel zu weit geschnitten für die schmale Brust, dadurch hing sie in besonders elegantem Wurf um die Schultern, der kurz geschnittene kastanienbraune Bart lag wie ein Helmriemen um das Kinn: das war ein Kavallerist, verspätet oder verfrüht. Er war abgesessen, und der Gaul war ihm davongelaufen. Wer weiß wohin, vielleicht den Göttern nach, auf einen anderen Planeten.

In Wirklichkeit war er noch nie auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Nicht einmal als Kind auf einem Schaukelpferd. Er stammte aus einer ganz armen Familie.

Sein Vater war Küfer gewesen, Küfer in einer Weinkellerei in Bamberg. Ein langschlachtiger knochenharter Franke, der auch in den Sonntagskleidern den Fuselgeruch seines Berufs mit sich herumschleppte. Weiß der Himmel, was für Träume er geträumt hatte, wenn er abends am Küchentisch gesessen war, bei seiner kleinen unzufriedenen Familie, an dem Hering und an den Kartoffeln herumstochernd. Seine Frau war gerade abgewirtschaftet und verschlampt gewesen, seine Tochter hatte sich gerade als Ladenmädchen aus der Familie hinausgeschlichen, aber sein Sohn war noch in der Volksschule gesteckt und hatte ihn noch nicht anders gesehen wie mit den blinden Augen eines Kälbchens, als er in irgendeine Transmission geraten und gestorben war.

Viel später, nach dem Tod der Mutter, als die zwei Glennschen Geschwister sich eines Tages in selbstverdienten bürgerlichen Kleidern wieder in Bamberg getroffen hatten, da war der Versuch unternommen worden, aus diesem Vater einen geheimen keltischen Königssohn und Helden zu machen, aus der Mutter aber eine Madonna mit rätselvollen jenseitigen Augen. Doch das war nur der fromme verlogene Kult, den alle Proletenkinder mit ihren Eltern betrieben, wenn sie rechtzeitig Waisen geworden waren und freie Bahn vor sich sahn. Es war eine nichtige Kindheit gewesen, vernebelt, verschlampt, voller Fuseldunst.

Sein Schulweg hatte ihn jahrelang am Bamberger Dom vorbeigeführt. Da hingen die Heiligen und Märtyrer und litten ihr Leid. Unten spazierten die Fremden herum und machten große Augen. Aber auch dies war keine Erinnerung, die einen Halt in der Vergangenheit bot. Auf die Figuren der alten Meister hatten sie in der Schule lauter dumme Spottverse gemacht. Wenn die Lehrer bei einer Führung der höheren Klassen von dem schmerzverzerrten oder überirdischen Ausdruck irgendeiner berühmten Plastik gepredigt hatten, hatten die Kinder sich zugeflüstert: "Heiliger Sebastian, friss nicht zu viel Marzipan, sonst geht es wie bei Mose, alles in die Hose." Und die reichen Fremden, mit ihrer wichtigtuerischen Ergriffenheit? Die genossen auch nicht mehr Respekt als die armen Heiligen da droben.

Er kam als Lehrling in eine Druckerei und wurde Lithograph. Zwischen dem Bleigeruch der Druckmaschinen und dem Biergeruch der Gesellen begann es in ihm zu dämmern. Es war eine Masse Gesindel auf der Welt, armes Gesindel, reiches Gesindel, aber es war noch etwas anderes da, etwas Hellgrünes, Ewiges. Er begann zu zeichnen, was ihm vor die Augen kam: die fränkischen Obstbäume an den Sonntagen, das Gesicht und die Brust und den Rücken seines Mädchens an den Feierabenden. Er las von der ersten bis zur letzten Zeile, was er an Gedrucktem erwischen konnte: Zeitungen, alte Schwarten vom Trödler, die Geschichte der französischen Malerei, die Geschichte der Walfischfängerei. Nach dem Bruch mit seiner zweiten Bamberger Braut ging er als freier Zeichner und Maler nach Paris und machte sich nach ein paar Betteljahren einen kleinen Namen.

Da war das hellgrüne Ewige bunt und lustig geworden. Die Götter waren zwar von dem Planeten abgereist, aber ihre Spuren waren noch da. Die Reste des großen Gelages, das sie zwischen den Menschenkindern abgehalten hatten, waren noch überall zu finden, Stoff genug für ein herrliches Dasein; in Paris, in Rom, in Tahiti, in Berlin; Farben, Formen, Musik. Und auch die Bettelzeiten, immer wieder zwischendurch, waren schön. Die Misserfolge waren ein Zeichen des Himmels, dass man wieder eine Stufe über das große Gesindel hinaufgerückt war. Und die Frauen, auch wenn man in einem kahlen Atelier einen ordinären Käse mit ihnen aß, waren damals noch von jener anderen Welt gewesen, liebliche Zeichen und Wunder von dort drüben, ihr geheimnisvoller Mund, ihre übermenschlich schönen Hinterbacken.

Es kam der Krieg und die Revolution. Es kamen ein paar Ausstellungen in den Metropolen, ein paar Erfolge. Es kam eine kurze Ehe mit einer Dame aus der großen Welt, ein paar tote Jahre im Betrieb, viel schale Feste und viel schaler Zank, bis zur Scheidung. Die Göttermahlzeit war schneller aufgezehrt gewesen, als man auf dem Montparnasse geahnt hatte. Und das hellgrüne Ewige aus der Bamberger Druckerei? Wo war es geblieben, wo steckte es jetzt?

In den letzten Jahren hatte er sich mit frecher Hand ein Vermögen zusammengeschmiert. Nachdem er seine Erfahrungen mit der Menschheit gemacht hatte, mit dem armen verwaisten Pack, war er mit Zynismus ein Modemaler geworden. Das große Schwarze, das er jetzt herannahen fühlte, sollte ihn wenigstens nicht ohne die kleine Waffe des Alltags finden, ohne den miserablen Trost, den das Gesindel sich als Ersatz fürs Leben ausgedacht hatte, das Geld.

Was für eine Masse an gelber Farbe hatte er in diesen Jahren aufgebraucht! Mit lauter Kadmium und Ockergelb hatte er seine Aufträge durchgeführt! Die Porträts der Industriepapas, der Dichterfürsten, der Boxer, und je gespenstiger er die Wüste ihrer Gesichter gebannt hatte, umso größer war ihr Entzücken gewesen, umso besser der Preis, den er bekam.

Es war kein großes Vermögen, was er jetzt auf der Seite hatte. Aber es genügte, um das Kadmium und das Ockergelb auf den Mist zu schmeißen und wieder nach dem Hellgrünen zu sehen. Den Auftrag dieses alten Reeders Joseph Fergus hatte er noch erledigen müssen, die Malerei im Speisesaal eines großen Luxus- und Gesindeldampfers, aber das war sein letzter Kompromiss gewesen, das stand fest. Die Einladung auf das Ladizer Pürschhaus hatte er nur als endgültigen Abschluss dieser ganzen Epoche angenommen.

Es war aus mit der Schufterei, Schluss. Er war jetzt mit der kleinen Münze des Alltags genügend versehen, wahrhaftig. In Herrn Fergus' Augen war's natürlich kein Geld, dieses Lumpengeld. Ihm aber reichte es, das kleine Kapital, der kleine Zins, der Blutzins der verlorenen Jahre.

Er brauchte nicht viel: Brot und Linsen, eine Handvoll Datteln in der Wüste und ein wenig Wein, ein paar Zigaretten, ein paar irische Homespunjacken. Er war frei. Frei von allerlei, doch frei wozu?

Als einige Stunden später Josephine Quendel den kleinen Viehtrieb entlang spaziert kam, saß er noch immer an dem Rand der Grube und stierte vor sich hin, ein abgesessener Kavallerist nach einem langen Ritt. Sie sah sehr hübsch und frisch aus in ihrem weißen Kleid, rohes Bauernleinen mit einer vergilbten französischen Spitze. Mit kühlem Hallo setzte sie sich zu ihm ins Moos, das bereits von der Sonne getrocknet war.

Natürlich tat sie so, als wäre nichts gewesen. Aber es war klar, was geschehen musste. Er strich ihr mit beiden Händen das Haar bis zum Ansatz zurück, so dass sie plötzlich wie ein glatt gebürsteter Chorknabe aussah, und gab ihr einen schnellen festen Kuss.

"Was ist los?" fragte sie naiv. "Ist schon irgendetwas herausgebuddelt worden? Drunten sitzen sie beim Frühstück und schließen Wetten ab. Onkel Fergus hält jede Wette, dass heute etwas ganz Tolles ans Tageslicht kommt. Ein Skelett von einem vorsintflutlichen Bergknappen vielleicht? Er hat heute Nacht davon geträumt." Sie hatte eine reizende Altstimme, der das leise verlegene Vibrieren sehr gut anstand.

"Ich finde es unerhört", sagte Philipp Glenn, "dass Herr Fergus Träume zu träumen wagt. Das ist bei seinem Alter und seiner Stellung eine Frechheit, ganz egal, von was er träumt. Unsereiner hat schon längst aufgehört zu träumen, also hat auch der gute alte Papa nichts mehr zu träumen."

"Ich träume noch hie und da", erwiderte sie mit einem kleinen armseligen Lächeln. "Zum Beispiel heute Nacht, da hatte ich einen wunderschönen Traum."

"Tatsächlich?"

"O ja."

Er ging nicht darauf ein. Er stand auf, um nach den Arbeitern zu sehen.

Es waren fünf Arbeiter. Ein alter Kleinbauer aus der Riss, dessen zwei halbwüchsige Söhne, dazu zwei Handwerksburschen, die auf der Suche nach Arbeit von der Ruhr bis ins Ladiz gekommen waren. Man musste ihnen, da jetzt jeden Augenblick die alten Stollen angegraben werden konnten, auf die Finger sehen. Philipp Glenn fühlte sich für die ganze Unternehmung verantwortlich, er hatte seinem Wirt diesen Floh ins Ohr gesetzt.

Es war noch nichts zu sehen. Die Arbeiter machten gerade Vesperpause. Sie saßen in einer Reihe an dem ausgehobenen Haufen und redeten in großen Tönen von dem Alten Mann. Der alte Irgel sprang auf und erstattete als Vorarbeiter den Bericht. Seine zwei Jungen stellten sich neben ihn und glotzten unverwandt auf die schöne Quendel. Die zwei Handwerksburschen blieben lümmelhaft sitzen und begannen über ihre Wanderschaftserfahrungen in Bayern und in Tirol zu sprechen, ohne den Herrn und die Dame zu beachten.

Die Arbeit ging langsam vorwärts. Keine zwei Meter tief war der Aushub. Aber schon sah es im sommerlichen Grün wie eine schwere Wunde aus, das gelbe Erdreich, das zerbröckelte Gestein.

Sie bummelten schweigend den Weg zum Pürschhaus zurück. "Seit wann waren Sie denn hier gesessen?" fragte die Quendel, als sie wieder an der unteren Grube waren.

"Eine Ewigkeit", sagte er gedankenlos. "Seit Sonnenaufgang."

"Katzenjammer?"

"Wieso? Ganz im Gegenteil."

Diese Umkehrung der Geschlechter war schrecklich dumm. Sie sprach mit ihm wie ein Verführer, der ein kleines Mädchen zu trösten versuchte.

"Das ist der schönste Platz im ganzen Wald", sagte er mürrisch. "Haben Sie das noch nicht bemerkt?"

"Also bleiben wir noch ein wenig hier?"

"Bitte. Gern. Es fragt sich nur, ob man uns im Pürschhaus nicht vermissen wird?"

"Haben Sie Angst, dass es einen Tratsch gibt?" sagte sie und ließ sich mit einem energischen Bums wieder ins Moos fallen.

Er setzte sich neben sie.

"Tratsch gibt es so und so." Sie nahm ihn vorsichtig am Ohr. Wie ein altes Porzellan auf einer Großmutteretagere fasste sie ihn an, drehte seinen Kopf zu sich hin und sah ihm groß in die Augen. "Das ist nicht nett, dass Sie so böser Laune sind, Monsieur."

"Wieso denn?" knurrte er. "Ich bin riesig guter Laune."

"Wirklich? Warum haben Sie denn dann die Arbeiter so grimmig angefahren?"

"Hab ich? Kann mich gar nicht erinnern!"

"Die zwei langen Kerle sind ja aufgefahren wie Rekruten, solche Angst bekamen sie bei Ihrem Anpfiff."

Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern. Es musste ganz unbewusst geschehen sein. Aber wenn es so war, war's gut so. Es waren zwei widerliche Gesellen, keinen Pfennig wert. Und es war immer gut, wenn Menschen Angst bekamen.

"Erzählen Sie mir Ihr Leben", bettelte sie und ließ endlich das Porzellanohr los. "Bitte, bitte."

"Ich hab kein Leben, also kann ich auch nichts davon erzählen." Er war wütend. Der richtige alte Quatsch war das. Hatte er den Pinsel und die gelben Tuben weggeworfen, um sein neues Privatleben sofort wieder mit diesem alten Gesellschaftsquatsch zu beginnen? Wenn er sich nicht für die Arbeit an den Gruben eingesetzt hätte, wäre jetzt eine schnelle Abreise das beste gewesen, nachdem dieser gedankenlose Flirt schon einmal passiert war. Das arme dumme Ding da! Er gab ihr einen Kuss. "Erzählen Sie mir lieber Ihr eigenes Leben, Madame", sagte er und schaukelte ihr Bein mit seinem Bein über dem Rand der Grube hin und her. "Das ist bestimmt interessanter als mein Leben."

Sie legte los, ohne es sich zweimal sagen zu lassen. "Ach, ich! Ich bin ganz genau das, was alle Frauen sind: die Isolde ohne den Tristan. Glaub mir's, Glennimännchen, das sind wir alle, vom kleinsten Tippmädchen mit den Fünfzig-Pfennig-Seidenstrümpfchen bis zur Round-the-world-Fliegerin oder Wolkenkratzerarchitektin oder bolschewistischen Agitationsrednerin. Lauter verwitwete Isolden! Von unserer ersten Puppe an – meine hieß Biffi, ich hab sie noch – bis zum letzten Zeitungsblatt, das wir in den zitterigen Händen halten – eine schiefe Brille auf der Nase und drei wollene Bauchwärmer um den Bauch – nie geschieht etwas anderes in uns als dieses dumme Warten auf den Tristan, unseren einzigen Tristan. Alles andere ist Schwindel und Ersatz … Der beste Ersatz scheint ein Baby zu sein. Oder drei? Oder zehn? Aber ich glaube, das bleibt auch nur Ersatz … Was glaubst du, Philipp Glenn, werde ich noch meinen Tristan finden? Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und besitze ein kleines Landhaus bei Bremen, außerdem stehe ich mit einer ganz netten Rente im Testament von Onkel Fergus, weil ich von seinen zwölf Nichten die nächste in seinem Herzen bin – kann ich noch meinen Tristan finden?"

"Nein", sagte er brutal. "Ausgeschlossen. Weder du noch sonst eine Frau. Euer Tristan ist eine historische Figur, genau wie eure Mutter Gottes mit dem Baby, das die Welt erlösen wird. Und mit diesem ganzen historischen Zeug ist es aus und vorbei. Wenn ihr das nur endlich einmal kapieren wolltet, ihr armen Seidenstrümpfchen mit dem Isolde-Sparren im Gehirn."

"Du bist ein Nihilist", sagte sie eingeschüchtert. "Was heißt denn das: historisch, mit dem historischen Zeug ist es aus? Wenn die Liebe historisch ist, dann ist alles historisch. Historisch! Das ist irgend so ein nihilistisches Schimpfwort ohne den geringsten Sinn."

"Durchaus nicht, mein Kind." Er streckte und dehnte sich, um die Öde aus den Knochen zu vertreiben, ohne sich der Unverschämtheit dieser Geste bewusst zu werden. "Ich glaub nicht mehr an das Wort. Weder an das Wort Gottes noch an das Wort irgendeines Menschen. Ich kann nicht mehr dran glauben. Und ihr auch nicht, meine Damen. ›Historisch‹ ist natürlich auch nur ein Wort, aber alles, was uns mit Worten überliefert ist, nennt man nun einmal historisch."

"Das versteh ich nicht", sagte sie leise und sah angestrengt vor sich hin. "Wenn Tristan und Isolde und ihre Liebe, wenn die Madonna mit dem Kind nichts weiter wie leere Worte sind, dann kann man alles Menschliche mit ›Wort‹ und mit ›historisch‹ abmurksen. Was bleibt denn dann übrig, wenn ich fragen darf?"

"Alles andere."

"Was denn?"

"Was stärker ist als das Wort."

Sie wusste nichts zu antworten.

"Einmal", sagte er, "waren auch die Isolde und die Maria etwas anderes als leere Worte, ganz gewiss. Aber für uns sind jetzt eben allerlei Dinge zu leeren Worten geworden, die es früher nicht waren. Und zwar mehr Dinge, als wir uns zuzugeben wagen. Manche bleiben noch dran hängen wie die Fliegen am Fliegenpapier, das stimmt. Ich glaub gern, dass fast alle Weiber noch an dem Wort Liebe herumzappeln, ebenso wie die Männer an dem Wort Jesus oder Napoleon oder Lenin oder Rockefeller oder weiß der Teufel was. Aber was geht das mich an? Ich hab Zeit genug verloren, diesen Worten nachzulaufen. Auch meine Malerei ist zu lauter schlimmen Worten geworden. Außer ein paar Bildern von Rembrandt vielleicht, dem Selbstbildnis im Louvre und der Saskia, geht mich das alles nichts mehr an."

"Und das andere?" fragte sie eigensinnig, mit einem kleinen gehässigen Zucken um den Mund.

Er sah ihr wie einem Modell ins Gesicht, forschend. Dann sagte er in leichtfertigem Ton: "Ich dachte, Sie wollten mir Ihr Leben erzählen? Wie hieß Ihr Vater mit dem Vornamen?"

Sie lachte. "Anton."

"Die Mutter?"

"Susanne."

"Wieviel Geschwister?"

"Vier. Zwei Buben und zwei Mädel."

"Sehr reich?"

"Zu Befehl, Herr Unteroffizier. Meine Mutter war als eine Fergus von Haus aus reich, mein Vater hatte eine Riesenpraxis als Frauenarzt."

"Wie alt war er, als er starb?"

"Erst fünfundfünfzig. Er hat sich sein Leben lang überarbeitet. Meine Mutter lebt noch. Aber ich stehe nicht besonders gut mit ihr. Sie hat es mir nie verziehen, dass ich Schauspielerin geworden bin."

"Spielen Sie noch?"

"Nein. Seit zwei Jahren ist es aus damit. Ich mag nicht mehr. Ich hätte gute Chancen gehabt. Aber ich konnte eines Tages die Schminke nicht mehr riechen. Wenn ein Mensch vom Theater in meine Nähe kommt, wird mir speiübel. Ich rieche jede Schminke auf zwei Kilometer Entfernung, Ehrenwort."

"Warum sind Sie dann erst hingegangen?"

"Isolde, mein Herr. Ich wollte mit Tristan wenigstens spielen, nachdem er in Wirklichkeit abhandengekommen war."

"Wie oft?"

"Was? Wie oft ich die Isolde gespielt habe?"

"Nein, wie oft Sie sie wirklich gewesen sind?"

Sie lachte ein sprödes Lachen und sah auf einmal ganz alt aus. "Ich verweigere die Aussage, Herr Staatsanwalt."

Er nahm ihre Hand und drückte einen freundschaftlichen Kuss auf die Innenfläche. "Armes kleines Kind."

Sie zog schroff die Hand zurück. "Drei Tristans waren es, drei Tristans und ein Nihilist."

"Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, dass ich genau das Gegenteil von einem Nihilisten bin. Aber zum Tristan tauge ich leider Gottes auch nicht."

"Ach, es ist zu dumm, Glennimännchen! Das Leben ist einfach dumm! Von Ihnen will ich nicht reden, aber die drei Tristans waren Dummköpfe."

"Das ist klar, das liegt schon im Wort drin. Schreckliche Dummköpfe, was?"

"Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Einer war vielleicht kein Dummkopf, aber der war hoffnungslos verheiratet."

"Eine Tragödie?"

Ja, es war irgendeine Tragödie. Und das schlimme war, dass sie noch nicht aus war. Sie schüttete ihm ihr Herz aus, er aber schaute auf den Grund der Grube, ohne hinzuhören. Diese Suche nach den Spuren des Alten Mannes war auch nichts weiter wie ein Trick, um sich aus dem Bereich der abgenutzten Worte heraus zu schwindeln. Wenn dort drunten wirklich vorgeschichtliche Dinge ruhten, sollte man sie ruhen lassen. Wenn man sie ans Licht zog, wurden doch nur wieder Worte daraus. Damals waren die Götter vielleicht noch nicht von dem Planeten abgereist gewesen? Aber was nutzte es, sich in jene Zeit zurückzutasten? Die alten Götter kamen ebenso wenig wieder wie die Worte der letzten Jahrtausende. Es mussten neue Götter kommen, Kamerad Alter Mann, nach dieser langen Zwischenzeit!

Er sah auf dem Grund der Grube einen prähistorischen Bergknappen stehen, einen behaarten Riesenkerl. Der grinste ihm mit seinem tierischen Maul bösartig zu, während die Liebestragödie der Josephine Quendel an sein Ohr plätscherte. Wie der Springbrunn eines faden Dachgartenrestaurants über einer Weltstadtstraße, so plätscherte es an sein Ohr. "Vielleicht hat er recht", hörte er sie sagen, "vielleicht haben die Kinder wirklich diesen Anspruch auf Familie? Er bleibt nur wegen der Kinder bei seiner Frau. Aber diese halbe Geschichte mache ich nicht mehr mit. Er quält mich zu Tod mit seinen Briefen. Nein, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will ihn nicht mehr sehen, es ist eine scheußliche Quälerei – ach, Sie hören ja gar nicht zu?"

"Ich hab jedes Wort gehört", log er und warf seine Zigarette wütend in den Grubengrund, wo der behaarte Knappe mit dem bösen Tiermaul stand und grinste.

"Ich hab's bis heute noch keinem Menschen erzählt, Philipp Glenn – was soll ich tun?"

"Weiter an ihn glauben", sagte er – ohne die geringste Ahnung, ob das ein guter Rat oder purer Blödsinn war.

"Wirklich?" fragte sie. "Das ist Ihr Ernst?" Sie schien entzückt zu sein.

"Mein heiliger Ernst", sagte er und verbeugte sich, da ein Herr mit einem Schäferhund vorüberkam und vor der Quendel die Mütze zog. "Wer war das?"

"Ein Bekannter von Onkel Fergus, ein Doktor Ragaz, der Besitzer von dem Bauernhof da droben, wo die Straße aufhört … Ich hab mir geschworen, Schluss zu machen, und jetzt kommen Sie und raten mir wieder ab! Erst vorgestern hab ich ihm einen furchtbaren Brief nach London geschrieben."

"Telegraphieren Sie ihm irgendein nettes Wort! Ganz gewiss, tun Sie das! Es ist eine große geheimnisvolle Seltenheit heutzutage –"

Was heutzutage eine große geheimnisvolle Seltenheit war, führte er nicht weiter aus, da er nicht wusste, wovon die Rede war. Droben an den Gruben ging ein Hundegekläff los, und eine Stimme rief: "Hierher, Brolly! Hierher! Zu mir!" Dann wurde es wieder still. Es war eine helle Männerstimme gewesen, auffallend hell für den großen Klotz mit dem Schäferhund.

Philipp Glenn stand auf, zog die Quendel mit sich hoch und drückte sie tröstend an sich. Sie lehnte sich eine Minute lang an ihn, wie an einen alten Priester in der Not. Und während des Bummels zum Pürschhaus war sie in tiefes Nachsinnen versunken über seinen Rat in der tragischen Dachgartengeschichte.