Frau ohne Reue - Max Mohr - E-Book

Frau ohne Reue E-Book

Max Mohr

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Beschreibung

Der schicksalhafte Weg einer Frau aus der Familiengebundenheit in ein Leben frei von allen Beziehungen. Mohrs Menschen leben alle mit einem Urdunklen hinter sich. Sie folgen auf ihren Wegen einem Drang aus dem Unbewußten. Es ist die Angst, das Gefühl des Abgeschnittenseins, das aus der Ebbe, dem Leersein der Welt kommt, was sie auf rastlose Wanderungen treibt. Sie fliehen vor den Falschheiten der Zeit und suchen ihr eigenes Leben, um darin glücklich zu sein. So bewegt, spannend, heutig, taghell und leicht die Vorgänge in diesem Roman sind, so merkwürdig, nächtlich und unfaßbar ist der Untergrund. "Ähnlich wie der frühe Erich Kästner bewahrt Mohr in seiner Erzählweise die Atmosphäre, ja so etwas wie das Aroma der zwanziger Jahre auf. Die Figuren bewegen sich wie der Autor immer an der Grenze des Bürgerlichen." (Martin Lüdke, Die Zeit)

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Frau ohne Reue

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

Zweiter Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

Dritter Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag (Auswahl):

E-Books Edition Loreart:

Max Mohr

Frau ohne Reue

Frau ohne Reue

Erster Teil

1

Ein Mann mit einer Posaune ging durch die menschenleere Straße. Zuweilen warf er einen prüfenden Blick auf die Häuserfronten rechts und links. Es schien aber nicht das Richtige zu sein, was er da sah. Er schüttelte den Kopf und bummelte weiter. An einer Straßenkreuzung kam er um ein Haar unter ein Auto, das ohne Hupen durch die stille Gegend sauste. Er schrie dem Chauffeur ein paar kräftige Worte nach, obwohl keine Hoffnung bestand, daß man’s noch hörte. Als er wieder auf dem Gehsteig stand, lachte er mit breitem Grinsen vor sich hin. O Tod, wie nah, hihi! Allmählich wurde die Straße belebter, man spürte die Nähe des Kurfürstendammes. Es kamen ein paar Läden, ein Friseur, ein Blumenladen, eine Auslage mit Damenhüten. Und man spürte auch schon, daß die Stunde des Geschäftsschlusses anbrach. Einzelne Passanten mit Feierabendgesichtern tauchten auf und schnüffelten froh in die Luft, es war ein milder März. Da riß der Mann mit der Posaune sich zusammen und machte halt vor einem Parterrefenster mit verhängten Gardinen. Es war nur eine plötzliche Eingebung, aber der Platz war gut getroffen, links eine Bäckerei, rechts ein offenes Haustor. Er nahm die Mütze ab und legte sie auf das Fenstersims. Er zog den Bogen aus dem Instrument und schüttete den Speichel aus. Dann straffte er sich vollends, setzte an und blies: »Im tiefen Keller sitz’ ich hier.«

Lina Gade war hinterhergekommen. Sie stellte sich vor die Auslage des Bäckers. Sie ließ die Bettelmusik über sich ergehen.

Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, ein fester Mensch mit gesunder Hautfarbe. Das braune Haar war gut geschnitten, so daß man die schöne Form des Hinterkopfes sah, rund und musikalisch. Trotzdem blies er schlecht. Das Lied war offenbar nur gewählt, weil immer wieder Oktaven kamen, bei denen der Posaunenbügel mächtig hin und her schwang. Das gab eher eine Augenweide als einen Ohrenschmaus. Auch der Anzug, einstmals eine solide Bürgertracht, verriet eher den abgebauten Kaufmann als den Berufsmusiker. Aber so oder so, der Mann war selig. Er strömte eine unverschämte Seligkeit aus, wie er da stand und seine Mitwelt au blies. Die wasserblauen Augen glotzten über die geblähten Backen hinweg in die Ferne. Der Blick mußte den gegenüberliegenden Häuserblock treffen, geschlossene Fensterreihen, kleine Einheitsbalkone, schwarzweiße Firmenschilder, genau das gleiche Bild, wie es die arbeitslosen Männer der ganzen Welt zu sehn bekamen, wenn sie sich nahe bei einer Weltstraße zur Bettelmusik aufstellten, bei den Champs-Elysées, bei der Shanghai-Road, am Michigansee. Aber dieser Blick glitt in verwegener Seligkeit durch die losten Gebilde aus Menschenhand hindurch und drang ui eine andere Landschaft ein. Das Lied wurde wiederholt, dann kam als zweite Nummer: »Du, du, liegst mir im Herzen, du, du, liegst mir im Sinn.«

Lina Gade öffnete ihre Handtasche. Es war der verschabte Wildledersack, der kaum noch zu ihrem neuen grünen Kleid paßte. Obgleich sie Taschen kaufen konnte, so viel sie wollte, schleppte sie immerzu dieses alte Ding mit sich herum.

Zuerst war die Mütze auf dem Sims lange Zeit leer geblieben. Die Leute schritten mit dem starren Blick des Nichts vorüber. Erst bei dem Liebeslied begannen manche Herren in den Hosentaschen zu wühlen, manche Damen nach den Handtaschen zu langen, und der Bläser verbeugte sich zu jeder Gabe, wobei er stets etwas aus dem Takt geriet. Jedoch er schaute seinen Wohltätern nicht ins Gesicht. Er schaute auch nicht nach den Münzen, die in die Mütze fielen. Er verbeugte sich, ohne den Blick in seine wasserblaue Ferne aufzugeben. Nur der Dame vorm Bäckerfenster schielte er in die geöffnete Handtasche. Er blies gerade: »Du, du, du, du, weißt nicht, wie gut ich dir bin«, und nahm während der kurzen Atempause vor dem Refrain den ganzen Zauber einer vollgestopften Frauentasche in sich auf. Er sah das Innenfach mit dem Geld, das Seitenfach mit dem Spiegel, dazwischen das aufregende Dickicht aus Taschentuch, Notizblock, Bleistift, Schlüsseln, Dosen und Zetteln. Er sah auch das kleine Spielzeug für das Kind. Es war der Schlager, der in diesen Tagen an allen Ecken angeboten wurde, ein kleiner, bunter Hahn aus Blech, der verblüffend gut krähte, wenn man die Schnur am Schwanz zog. Schloß man die Augen, so hörte man wirklich einen fernen Hahn krähen, eine hohe Alpenwiese, eine heiße Weizenfarm, ein mongolischer Klosterhof. Und endlich kam die Wiederholung: »Du, du, du, du, weißt nicht, wie gut ich dir bin.«

Lina Gade warf das Almosen in die Mütze und winkte einem Taxi, das auf Kundenfang vorüberschlich. Sie hatte sich verspätet. Ihre Tochter Jane mußte zu Bett gebracht werden.

Als der Wagen anfuhr, dehnte und streckte sie sich und seufzte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Und kurz vor ihrem Haus in Halensee dehnte sie sich noch einmal und sagte: »Die Zeit ist da.«

Was sie damit meinte, mochte der Mond wissen, der gerade über der Villa Gade durch den blanken Abendhimmel zog. Sie selber jedenfalls wußte es nicht.

2

Paul Fenn, bevor er unterm gleichen Mond in die gleiche Villa marschierte, trank einen abendlichen Schnaps mit Alexander Golo. Sie trafen sich im »Ritz«. Das war aber kein echtes »Ritz«, sondern eine unterirdische Kneipe, die nur bei den zwei Freunden »Ritz« hieß. Alexander Golo entdeckte immer wieder neue Kneipen, die billiger waren als die alten. Auf diese Weise wechselten zwar alle paar Wochen die Lokale, aber die guten Namen aus dem früheren Leben blieben.

Es gab ein »Savoy«, wo man für eine halbe Mark einen Suppentopf mit Rindfleisch bekam. Es gab eine kleine Weinstube »Zur betrunkenen Frau«, weil Golo behauptete, er hätte einmal den schönsten Abend seines Lebens in einer Weinstube gleichen Namens erlebt. In welchem Land das gewesen war, wußte er nicht mehr, auch nicht wann und wieso und warum. Paul Fenn zweifelte daher diese Geschichte immer wieder an, doch es blieb bei dem Namen. Und es gab dieses »Ritz«, ein Keller mit sauberen Holztischen und einem preiswerten Korn. Hier traf man sich aber nur zum Start in bessere Räume. Oder, weil das Lokal meistens leer war, zu ernsten Besprechungen, wie heute abend eine stattfand.

»Warum hast du deinen hellen Anzug an?« schrie Golo schon von der Treppe aus, als er endlich erschien, verspätet wie immer. »Du hättest doch den dunklen anziehn sollen!«

Fenn saß schon eine halbe Stunde vor seinem Glas und war froh, daß die Einsamkeit vorüber war. »Ich hab’ den hellen angezogen, wenn du erlaubst«, brummte er.

»Und diese Krawatte, Mensch!« Golo griff über die Tischplatte hinüber und zog Fenns Schleife auf. Als Fenn zu spät abwehrte, lachte er sehr. »Wir nehmen sofort ein Taxi und fahren in meine Bude und suchen dir eine herrliche Krawatte aus.«

»Blödsinn!« sagte Fenn und versuchte, den Schlips wieder zu binden.

Es war wirklich ein blödsinniger Vorschlag. Daß Golo viele herrliche Krawatten besaß, Bestände aus dem früheren Leben, das stimmte. Aber das Taxi in die entlegene Bude hätte doppelt soviel gekostet als eine neue Krawatte. Und ob sie beide zusammen noch das Geld für dieses Taxi in der Tasche hatten, war zweifelhaft genug.

Golo prüfte sein Schnapsglas, ob ehrlich eingeschenkt war, und goß es hinunter. Dann wartete er, bis Fenns Krawatte wieder saß, und zog sie mit einem blitzschnellen Griff wieder auf. Als Fenn ärgerlich wurde, sprach er in ernstem Ton auf ihn ein.

»Hör mal, mein Lieber, das ist kein Witz mit dieser Krawatte. Was kümmert’s mich, ob du diese Stellung bekommst oder nicht? Mir ist’s wahrhaftig lieber, wenn du nicht nach China geschickt wirst! Dann bleiben wir zusammen und tippeln endlich als Handwerksburschen los, nachdem wir schon seit Monaten davon quatschen und keinen Finger dazu rühren. Aber wenn du wirklich heute abend etwas erreichen willst, muß erst mal alles gut sitzen.«

»Es sitzt alles«, sagte Fenn und versuchte, eine neue Schleife zu binden. »Ich bin ohne dich vierzig geworden, also hab keine Angst um mich und sorg für dich selber.«

Golo brach in Gelächter aus. »Vierzig!« Er knöpfte seinen Kragen ab, zog die Krawatte heraus und reichte sie dem Freund. »Meinetwegen! Ich laufe heute abend mit deiner vierzigjährigen Babykrawatte herum, und du ziehst diese fünfzigjährige Gentlemankrawatte an! Und wenn du dann bei Herrn Gade Glück hast, weißt du wenigstens, warum.«

Fenn ließ es geschehn, daß Golo ihm den Kragen abknöpfte und die neue Krawatte einzog. Der Freund hatte recht, es war ein wichtiger Abend für ihn.

Trotz der großen Erfolge am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn saß er seit der Rückkehr von seinen amerikanischen Gastvorlesungen auf der Straße. Er war in den letzten Jahren nichts anderes gewesen als ein Gelegenheitsarbeiter, treppauf und treppab, ein journalistischer Landstreicher. Jetzt bot man ihm endlich wieder eine feste Stellung an, das erste gute Angebot seit Harplands-College.

Golo gab sich selber einen Handkuß, bevor er ihm die neue Schleife band. »Jetzt ist nur noch die Gefahr, Herr Professor«, sagte er, während er sein Meisterwerk vollendete. Fenn besaß wirklich den Professortitel, jedoch Golo machte nur Gebrauch davon, wenn er ihn verulken wollte. »Herrn Gade wird der Schlag treffen, wenn er diese märchenhafte Krawatte sieht, dann kann er den Vertrag nicht mehr unterschreiben.«

Fenn hielt geduldig den Hals hin. Eine große Zeitung wollte ihn für mehrere Jahre als Berichterstatter nach dem fernen Osten schicken. Die Vorverhandlungen mit den verschiedenen Herren des Hauses hatten geklappt. Es fehlte nur noch die Zustimmung von Herrn Gade. Herr Gade war Bankier und hatte nichts mit dem fernen Osten zu tun. Aber es war in eingeweihten Kreisen bekannt, daß er der Geldmensch sowohl dieser Zeitung wie verschiedener anderer öffentlicher Institute war. Und bei wichtigen Verträgen in den von ihm finanzierten Unternehmungen sprach er selber das letzte Wort. Heute abend war’s zwar nur eine »Einladung auf ein Butterbrot«, hatte die Sekretärin telephoniert. Aber Fenn wußte, was dieses »Butterbrot« bedeutete. Nachdem alles andere klar war, sollte der neue junge Mann des fernen Ostens auch noch von dem Geldmann des Hauses berochen werden. Und wenn die Beriechung gut ausfiel, war morgen der Vertrag fertig.

Golo musterte Fenn, nachdem er noch einige Male an der Schleife gezupft hatte, und brach in Bewunderungsgeschrei aus. Danach band er sich selber Fenns Krawatte, beguckte sich in seinem Handspiegel und zog ein Gesicht, als habe er Petroleum getrunken. Er machte: »Brrr!« und schüttelte sich vor Ekel. Dann steckte er den Spiegel weg und wandte sich wieder dem Freund zu. »Wunderbar! Wenn du jetzt den Vertrag nicht kriegst, kann nichts in der Welt mehr dir helfen.«

»Ich kriege ihn«, sagte Fenn.

»Ist eine Frau da?«

»Hoffentlich nicht.«

»Hoffentlich ja! Mit dieser Krawatte, Mensch! Du mußt die Frau bezaubern.«

»Ich bin kein Bezauberer.«

»Nein, du bist ein Mönch, das ist der Jammer. Ich hätte sofort diesen Geldmenschen auf meiner Seite, wenn eine Frau da wäre. In zehn Minuten hätte ich den Vertrag.«

»Sicher«, sagte Fenn.

Golo seufzte, der stellungslose Meister der Pferde und Frauen. »Trotzdem ich keinen guten Satz Deutsch aufs Papier bringen kann!«

»Sicher nicht«, sagte Fenn, der stellungslose Meister der geschliffenen Sätze.

Sie zahlten und brachen auf. Golo begleitete Fenn noch ein Stück Weg. Er verabreichte ihm noch ein paar gute Ratschläge. Er versuchte ihm die schwere Seele etwas zu erleichtern. Aber Fenn wurde immer schweigsamer, je näher das Haus Gade heranrückte.

Schließlich bewies Golo, wie leicht Fenns Aufgabe war. Die Hauptsache war auch bei diesen Berichten aus dem fernen Osten die feste Weltanschauung des Verfassers. Alles andere kam dann von selber. Und diese feste Weltanschauung wollte er dem Freund noch in der letzten Minute beibringen, damit er bei dem Geldmann gut abschnitte.

Er nahm Fenn beim Arm und deutete mit der freien Hand auf die Passanten, die an ihnen vorüberzogen. Er bewies, wie großartig er selber aus dem fernen Osten berichten würde, wenn man ihm diese Chance gäbe, sowohl aus dem fernen Osten wie aus dem fernen Westen, Süden, Norden.

Er deutete auf eine dicke Frau im Pelz und sagte: »Wunderbar!« Und er deutete auf einen Herrn mit einer Mappe und sagte: »Scheußlich!« Eine kleine Schülerin mit blonden Zöpfen: »Wunderbar!« Ein Herr mit einer Zigarre: »Scheußlich!« Zwei Köchinnen im mittleren Alter: »Wunderbar!« Eine lange Dame mit gelbem Gesicht: »Wunderbar!« Eine ganz alte Frau in Trauerkleidung: »Wunderbar!« Ein hochgeschossener Jüngling mit einem Tennisschläger: »Scheußlich!« Ein Bettler mit Streichhölzern: »Scheußlich!« Ein massiver Direktor: »Scheußlich!« und die massive Gattin an seinem Arm: »Wunderbar!« Eine kleine schwarze Schönheit: »Wunderbar!« Ein Mann mit Bart und tiefen Sorgenfalten: »Scheußlich!« Eine abgekämpfte Verkäuferin: »Wunderbar!« Und als der Freund stumm blieb, brüllte er ihn an: »Stimmt’s, Herr Professor, ja oder nein?«

»Genau so werde ich meine Berichte schreiben«, sagte Fenn. »Das wird ein Riesenerfolg.« Er mußte den Autobus nehmen, es war höchste Zeit.

»Dieser Abend ist der Anfang zu einer Million«, sagte Golo an der Haltestelle. »Es handelt sich bei jeder Million nur um den Anfang. Denk daran, wenn du mit dem Kerl sprichst!«

Fenn nickte und bestieg den Autobus.

»Wir warten in der ›Betrunkenen Frau‹ auf dich«, rief Golo vom Gehsteig aus. »Und wenn es zwei Uhr wird, wir warten!«

»Ich komme«, rief Fenn zurück. »Mit der Million.«

»Wenn Sie ohne die Unterschrift von Herrn Gade kommen, Herr Professor«, rief Golo, so daß alle Fahrgäste es hören mußten, »dann sind Sie für ewig verloren und verdammt!«

Fenn winkte zurück, bis die Gestalt des Freundes im Zwielicht der ersten Lichtreklame und des letzten Himmelscheines versunken war. Herrlich stand Golo da und winkte mit dem Seidentuch aus seiner Jackentasche, herrlich verloren und verdammt …

Das Dienstmädchen führte ihn in die Garderobe und wartete unter der Tür, bis er sich nachgekämmt und den Schlips nachgezogen hatte. Er bereute nun doch, daß er nicht den dunklen Anzug genommen hatte. Ein paar geheimnisvolle Damenmäntel hingen in der Garderobe. Offenbar war’s doch nicht nur ein »Butterbrot«?

Aber dieser alte Homespun saß besser als der alte Dunkelblaue und sah auch mehr nach dem fernen Osten aus. War das Dienstmädchen betroffen über den hellen Abendgast, oder begriff es die tiefere Bedeutung? Während er in die Bibliothek geleitet wurde, fragte er im Ton eines Mannes, der soeben aus dem Sibirien-Expreß steigt: »Ich komme zu spät, was?« Das Dienstmädchen lächelte wie eine Sphinx.

Die Bibliothek war leer. Er war allein mit tausend Büchern, einem Rauchtisch mit Ledersesseln, einem riesigen Schreibtisch, einem falschen Kamin. Er merkte allmählich, daß es nicht zu spät war, obwohl er zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit einpassiert war. Er mußte warten und warten.

Er hatte genügend Zeit, die Bücherreihen abzuschreiten, die Weltgeschichte und Kunstgeschichte, die Natur und Wirtschaft, die Klassiker und Abenteurer und Zeitgenossen. Er hatte allein eine Viertelstunde Zeit, um das große Gemälde zu studieren, das über dem Schreibtisch hing. Es war ein Baby zwischen gelben Stauden, gemalt nach der letzten Manier. Im Stil der Frührenaissance glotzte es auf ihn herab und verkündete mit engelhafter Unschuld: »Mein Papa hat Geld, so viel er will, und läßt dich warten, so lang er will.«

Schließlich lagerte er sich, ohne an die frischen Bügelfalten zu denken, tief in einen Sessel und schloß die Augen. Er war natürlich viel zu nervös, um einzuschlafen, aber er versenkte sich wenigstens in eine Art Halbschlaf.

Wenn Herr Gade ins Zimmer kam, würde er auffahren wie aus dem tiefsten Schlaf gerissen. Dann merkte Herr Gade wenigstens, wie unverschämt die Verspätung war. Und dann merkte Herr Gade ferner, wie gut die Nerven eines Journalisten waren, der im Hause eines rücksichtslosen Geldmenschen genauso unbekümmert schlief wie im Wartesaal von Wladiwostok.

3

Herr Gade war kein rücksichtsloser Geldmensch. Im Gegenteil, er war eine sehr rücksichtsvolle Natur. Das Leben in seinem Haus verlief sonst wie in Watte gepackt und auf die Minute. Nur, daß im Kinderzimmer im ersten Stock gerade eine Szene spielte, die seine Verspätung tatsächlich entschuldigte.

»Ich frage zum letztenmal«, sagte Herr Gade zu seiner Frau, während der Gast im Parterre bereits in dem Sessel gelandet war, »ist der Zwischenfall erledigt oder nicht?«

»Zum letztenmal?« erwiderte Frau Gade und lachte ein schlimmes Lachen. »Noch zwanzigmal wirst du fragen, mindestens.«

»Ist der Zwischenfall erledigt?« wiederholte Herr Gade, ohne den Ton zu ändern.

»Es ist kein Zwischenfall«, sagte Frau Gade. »Zwischenfälle gibt’s in der Zeitung, mein Lieber, ich bin keine Zeitung.«

»Du weißt, was ich meine.« Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ist’s erledigt?«

Frau Gade hob drei Finger hoch, lachte und sagte: »Dreimal.«

Herr Gade sprach jetzt in dem ganz sanften Ton, der im umgekehrten Verhältnis zu seinem athletischen Körperbau und seiner wirtschaftlichen Macht stand und daher bei seiner Umgebung besonders gefürchtet war. »Erledigt, meine kleine Lina, ja oder nein?«

»Viermal.«

Herr Gade schwieg. Er winkte, als seine Frau abermals in ihr schlimmes Lachen ausbrach, warnend mit dem Kopf nach dem Vorhang, welcher den Baderaum des Kinderzimmers abschloß.

Hinter diesem Vorhang wurde gerade die kleine Jane für die Nacht hergerichtet. Die Vierjährige konnte natürlich nicht verstehn, daß die Eltern stritten, solange der Ton so sanft war. Aber Fräulein Hansemann verstand jedes Wort. Und Fräulein Hansemann verstand auch, daß es zwischen den Ehegatten um ganz andere Dinge ging, als die Worte besagten.

Den Worten nach ging es um eine Kleinigkeit. Frau Gade wollte nicht erlauben, daß die kleine Jane dem Gast vorgeführt würde, der in der Bibliothek drunten wartete. Es war eine feste Regel im Haus Gade, daß die Gäste vor dem Abendessen ins Kinderzimmer geführt wurden, um Jane zu bewundern. Das war der schönste Augenblick im arbeitsreichen Tag des stolzen Vaters. Und nun streikte Frau Gade plötzlich.

Sie nannte den Gast des heutigen Abends, ohne ihn zu kennen, einen »Quatschkopf wie alle anderen«. Sie weigerte sich, mit ihm und ihrem Mann zu Abend zu essen. Sie wollte überhaupt kein einziges Mal mehr zulassen, daß ihr Kind von den fremden Onkeln und Tanten - in dieser »unzüchtigen Weise« und wie ein »kleines goldenes Kalb« - umtanzt und umschmeichelt würde.

Man konnte es für eine Laune halten. Aber Fräulein Hansemann hatte gute Ohren. Sie hörte, wie gekränkt Herr Gade war. Sie hörte aus dem nebensächlichen mütterlichen Streik den Generalstreik der ganzen Ehe heraus.

Herr Gade hatte gedroht, den Gast nun erst recht heraufzuführen, eine Kraftprobe. Daraufhin hatte Frau Gade versichert, sie würde Herrn Gade bis in die Knochen blamieren, wenn er ihr mit Gewalt zu kommen wagte. Wie sie diese Blamage herbeiführen wollte, hatte sie nicht verkündet. Sie wußte es wohl selber noch nicht. Aber zuzutrauen war dieser eigensinnigen Gebirglerin jeder Krawall.

Ließ Herr Gade sich einschüchtern? Das war die Frage. Fräulein Hansemann hoffte, nein. Sie redete während der bösen Pause, die jetzt zwischen den Eheleuten entstand, mit besonderem Eifer auf Jane ein: »Und da kam ein großer Fluß, und da kam das kleine Mädchen nicht hinüber, und da fing es an zu weinen.«

»Hat’s arg geweint?« fragte Jane, die zu dieser Erzählung die Ohren mit einem glyzeringetränkten Wattestäbchen geputzt bekam.

»Nicht so arg«, sagte Fräulein Hansemann. »Es kam nämlich gleich ein schöner braver Fisch dahergeschwommen. Und der sagte zu dem kleinen Mädchen: Setz dich auf meinen Rücken und halt dich an meinen Flossen fest, ich trag dich hinüber.«

»Ui!« machte Jane freudig.

»Sie können Feierabend machen, Sophie«, rief Frau Gade. »Ich mache Jane fertig, ich bleibe hier.«

Herr Gade zuckte die Achseln.

Fräulein Hansemann gab dem Kind einen knallenden Kuß, bevor sie’s der Mutter übergab. Und Herrn Gade warf sie einen mitleidigen Blick zu, während sie aus dem Zimmer schritt. Er stand noch immer an der Tür und überlegte, welches Geschlecht das stärkere war, der Mann oder die Frau.

»Erzähl weiter von dem Fisch«, sagte Jane zu der Mutter. »Was hat denn das kleine Mädchen mit ihm gemacht?«

»Es hat ihn gebraten und aufgefressen«, sagte Frau Gade und hob sie vom Waschtisch herunter.

»Den Fisch?« schrie Jane entsetzt.

»Natürlich«, sagte Frau Gade und stülpte ihr das Nachthemd über den Kopf. »Es war doch hungrig.« Herr Gade kam hinter den Vorhang. »Gute Nacht, mein Kind«, sagte er zu Jane. Er nahm sie auf den Arm und preßte sie an sich. »Vielleicht komm’ ich noch einmal herauf, wenn du im Bett liegst, und bring’ dir einen netten Onkel mit.«

»O ja!« rief Jane begeistert. Sie begann in ihrem langen Nachtkittel den abendlichen Trab in die Zimmerecken.

»O nein!« sagte Frau Gade. Straff und gefährlich stand sie da, die Hüften hoch und schmal, die Schultern breit und bäuerisch. »Du wirst diesen netten Onkel drunten lassen!« Und ein drohendes Flämmchen züngelte in den grauen Augen.

»Mein liebes Kind«, sagte Herr Gade und schaute auf seine Uhr, »ich erwarte ein längeres Telephonat aus London. Ich kann diesen armen Teufel nicht gleich wieder allein lassen, nachdem ich ihn bereits eine Stunde warten ließ. Ich bitte dich, komm herunter.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Komm, Lina! Der Professor ist ein interessanter Typ, eine Art Gentlemantramp, großer Wissenschaftler, mit dreißig Jahren schon amerikanischer Austauschprofessor, dann wieder mal alles hingeschmissen und seine eigene brotlosen Ideen verfolgt, sehr amüsant.«

Sie schüttelte den Kopf, ohne hinzuhören.

Er gab es auf, mit Diplomatie zu seinem Recht zu gelangen. »Dann führ’ ich ihn eben herauf!« stieß er wütend heraus und schob ab.

Kurz vor der Tür zur Bibliothek machte er halt, um das Jackett über der Boxerbrust zuzuknöpfen und den strohblonden Schopf zu ordnen. Dabei knirschte er vor sich hin: »Diese rote Hexe!« Das bezog sich auf den rötlichen Schimmer in Frau Gades braunem Haar, worauf er sonst besonders stolz war. Und: »Dieses elende Bibabo!« So nannte er ihre sinnlosen Weiberlaunen. Dann besann er sich, wer denn eigentlich auf ihn wartete, riß sich zusammen und trat ein. Er überschüttete Fenn, der den Aufenthalt vor der Tür gehört hatte und bereits in strammer Haltung neben dem Sessel stand, mit tausend Entschuldigungen. Und er konnte sich nicht genug tun in Lobsprüchen über die vielen schönen Dinge, die man ihm schon über Fenns Laufbahn berichtet hätte.

Frau Gade ließ Jane austoben. Am Tag war das Kind oft abgespannt und Verblasen und döste stundenlang vor sich hin, den Daumen im Mund. Am Abend wurde es erst richtig wach und kämpfte um jede Minute vor dem Schlafengehn. Heute war’s besonders lustig. Die Mutter gab sich keine rechte Mühe, Schluß zu machen. Sie ließ sogar zu, daß das gesamte Zubehör, das von Fräulein Hansemann auf den richtigen Platz gestellt war, wieder ausgeräumt wurde. Jane spürte die Macht, die ihr heute zufiel, und streute binnen kurzer Zeit einen ganzen Spielwarenladen im Zimmer herum.

Schließlich wurde sie aber doch eingefangen und ins Bett getragen, da half kein Zappeln mehr. Die Mutter setzte sich noch eine Weile neben die Bettstatt. Jane wollte unter allen Umständen noch einmal die Geschichte von Fräulein Hansemann wiederkäuen, wie das kleine Mädchen von seinen Eltern weggelaufen war und sich verirrt hatte, alle Abenteuer bis zu dem Fluß mit dem Fisch. Die Mutter ließ die Erzählung über sich ergehn, ohne hinzuhören.

Gedankenvoll blickte sie auf ihr Kind. Am schönsten war die Geburt gewesen, und wie man ihr das kleine Wesen aus ihrem Leib zum erstenmal in den Arm gelegt hatte. Das war die vollendete Wallung der Liebe gewesen, für welche die Menschen lebten und starben. Wo war sie jetzt, die mächtige Wallung ihrer Seele?

Sie forschte in dem Gesicht des Kindes. Manchmal schwamm ihr eigenes Antlitz darüber hin, das kleine Mädchen vom Vomper Berg, der geheime Zorn in der Pupille, die geheime Sehnsucht in dem Schwung der Lippen. Und manchmal schwamm Herrn Gades Antlitz darüber hin, Stirn und Nase, Kinn und Ohren, regelmäßig, selbstbewußt, jenes eitle »Ich, ich, ich!«, welches sie nicht mehr ertrug.

Schade, daß er seine Drohung nicht wahr machte! Hätte er doch den Gast heraufgeschleppt! Sie wartete nur auf diesen letzten Stoß.

Ja, sie war feig, sie wartete auf den äußeren Anlaß. Sie war feig und faul, sie schlief. Sie lebte schlafend, sie schleppte sich immer weiter dahin in dieser toten Ehe, nur weil sie nicht wußte, was sonst. »Gott, wie feig!« stöhnte sie in das kindliche Geplapper hinein. »Gott, wie faul!«

Jane horchte auf und unterbrach die Geschichte von dem kleinen Mädchen. »Hast du Bauchweh?« fragte sie die Mutter.

»Ja, furchtbar«, sagte Frau Gade schnell und beugte sich zum Gutenachtkuß über sie. »Schlaf gesund!«

»Wart mal, wart!« krähte Jane und hielt sie fest. »Wo sitzt es denn? Hier?« Mit der einen Hand krallte sie sich am

Kleid der Mutter fest, mit der freien Hand tastete sie ihr an den Rippenbogen. »Sitzt es da?«

Frau Gade nickte.

Jane strich zärtlich über den grünen Stoff des Kleides und deklamierte: »Heile, heile, Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein - «

In diesem Augenblick klopfte es an die Zimmertür.

»Ja?« rief Frau Gade und stieß das Kind zurück. Ganz steif stand sie neben dem Bett, als Herr Gade mit dem fremden Gast hereinspaziert kam, um Jane gute Nacht zu sagen.

Herr Gade war bester Laune. Er stellte Fenn vor. Er nahm das Kind aus dem Bett, um es in seiner ganzen Größe zu zeigen. Er sagte: »Dieser Onkel fährt jetzt nach China, weißt du, zu den gelben Leuten mit den langen Zöpfen, weißt du?« Und Jane lief sofort zu ihrer Puppenkiste und holte den Chinesen, der dort zwischen den Bären, Schafen, Löwen, Sennerinnen, Bajazzos lag.

»Richtig!« sagte Herr Gade. Auch die Bauchwelle am Trapez durfte Jane vorführen, die Brücke und die Kerze auf der Kokosmatte. Dann wurde sie vom Vater selber wieder ins Bett gesteckt und zugedeckt und eingepackt.

Wirklich, Herr Gade war froh, daß er nicht klein beigegeben hatte. Als Fenn in der Bibliothek begonnen hatte, seine Ideen vom fernen Osten auszupacken, hatte er freundlich zugehört und gelächelt und genickt. Aber er hatte kein einziges Wort aufgenommen und immerzu überlegt, ob er sein eheliches Recht mit Gewalt wahren sollte oder nicht. Jetzt freute er sich, daß er den Entschluß gefaßt hatte, nicht unter den Pantoffel zu kriechen. Die trotzige Haltung, mit der seine Frau ihn gewähren ließ, bestärkte ihn nur in seiner männlichen Sicherheit.

Auch Fenn war bester Laune. Die Sache klappte. Im Grund seiner Seele hatte er nicht daran geglaubt, daß er die Stellung bekommen würde. Und der Grund seiner Seele täuschte ihn sonst nicht. Aber diesmal war’s offenbar doch nur seine Nervosität gewesen, die lange Beschäftigungslosigkeit, was ihn an seinem Glücke hatte zweifeln lassen, und nicht die Stimme des eigenen Schicksals. Keine Frage, Herr Gade war gewonnen, der wichtige Geldmann war begeistert von ihm.

Und Frau Gade würde diesem Erfolg keinen Abbruch tun. Im Gegenteil, sie würde ihn nur vergrößern. Er fühlte sofort, sie war ihm eine verwandte Natur, wie sie da stand, groß, stumm, gedankenverloren. Ihrer Figur nach konnte sie seine Schwester sein: das hohe Dreieck der gewickelten ägyptischen Statuen, die Spitze unten, oben die Gerade.

Als Jane endlich verpackt und auf die Schlafseite gelegt war, kam das Dienstmädchen und meldete den Anruf von London.

»Ach ja!« sagte Herr Gade. »Wie gut, daß es schon da ist! Sonst kommt’s meistens beim Essen.« Er klopfte seiner Frau auf die Schulter. »Na, mein liebes Kind?« Sie erschrak und wehrte die Berührung ab.

Er lachte. »Immer noch Bibabo? Hat ja gar keinen Zweck! Ihr fangt schon mit der Suppe an, nicht wahr? Der Professor hat lange genug gewartet, er hat sicher schon einen Riesenhunger.«

»O nein«, sagte Fenn höflich und machte eine kleine Verbeugung, während Herr Gade aus dem Zimmer eilte, um London nicht länger warten zu lassen.

Frau Gade blieb am Fußende des Bettes stehn, abwesend wie zuvor.

Fenn wandte sich ihr zu. »Seltsam, wie man sofort die ganze Riesenstadt London vor sich sieht, nicht wahr, bei dem kleinen Wort London?«

»So?« sagte sie, ohne aufzublicken.

»Geht es Ihnen nicht auch so?« Ihre Haltung machte ihn befangen.

»Bitte?«

»Vielleicht gilt es nur für Menschen, die vom Land in die großen Städte gekommen sind? Bei mir wenigstens tauchen alle Bilder immer genau so auf wie in der Kindheit, auch wenn ich schon tausendmal gesehn habe, daß es anders ist.«

»So?« Endlich schaute sie auf ihn.

»Der Rauch und der Nebel, die Themse und die City, die Paläste und die Lagerhäuser, die stolzen Inselmenschen in den herrlichen Kleiderstoffen, alles bei diesen paar Buchstaben - wieviel sind’s?« Er zählte an den Fingern ab: »Sechs.«

»Bitte?«

»Sechs Buchstaben hat London.«

»Ja?«

Er lachte. »Ja, und Berlin hat auch sechs.«

»Kennen Sie sich gut aus in Berlin?« fragte sie. Plötzlich war sie bei der Sache.

»Ziemlich.«

»Wieviel Geld braucht hier ein einzelner Mensch im Monat?«

»Von vierzig bis viertausend Mark, ungefähr.«

»Sind die Zimmer sehr teuer? Oder bekommt man jederzeit ein Zimmer, das billig und sauber ist?«

Er zählte sofort einige Pensionen auf, die billig und sauber waren. Er wußte gut Bescheid.

Sie unterbrach ihn. »Kommen Sie, das Kind soll schlafen.« Sie strich Jane, die endlich am Einschlafen war und das Gespräch nur noch wie fernes Meeresrauschen hörte, behutsam übers Haar. Sie ging aus dem Zimmer.

Fenn schlich auf den Zehenspitzen hinterher.

Auf dem Treppenabsatz sagte sie: »Eine Sekunde!« und verschwand in einem Zimmer, das dem Kinderzimmer gegenüber lag. Es war aber wirklich nur eine Sekunde, sie kam sofort wieder, eine abgetragene wildlederne Tasche in der Hand.

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« Sie nahm Fenn, der an dem Geländer lehnte, beim Arm.

»Gern.«

Er spürte mit einem Male eine große Verwirrung. Von der Bibliothek herauf hörte man, wie Herr Gade die Stadt London beschwur: »Impossible, nonono - ninety five, ninety six, ninety seven - yes, halloo, halloo, was soll denn das, verflucht nochmal, ich spreche doch mit London, ja - ninety one - nonono - « Und Frau Gade hielt noch immer seinen Ärmel fest, so daß er kaum zu atmen wagte.

»Bitte«, stieß er heraus. »Was Sie wollen!«

»Sind Sie abhängig von ihm?« fragte sie und ließ endlich den Homespun los, um ins Parterre zu deuten. Fenn schüttelte energisch den Kopf, ohne eine Silbe herauszubringen.

»Ich meine«, sagte sie und überlegte offenbar etwas Besonderes, Kühnes, das sah man an ihren Augen, »ob’s schlimm für Sie ist, wenn Herr Gade böse auf Sie wird?«

Fenn starrte perplex auf sie. Er gab die dümmste Antwort, die einem Menschen in seiner Lage einfallen konnte: »Im Gegenteil!«

Sie sagte: »Ich will Sie nicht schädigen, ich finde auch allein in eine von diesen Pensionen, wenn Sie lieber hier bleiben, statt mich hinzuführen?«

Er blickte entsetzt ins Parterre hinunter.

Sie lachte und sagte: »Keine Angst, das dauert noch mindestens zehn Minuten, London ist erst bei ninety one und muß noch bis ninety four hinauf.«

Fenn dachte an Golo. »Scheußlich, wunderbar«, schoß es ihm durch den Kopf. »Scheußlich, wunderbar, wunderbar, wunderbar.«