Die Früchte, die man erntet - Michael Hjorth - E-Book + Hörbuch

Die Früchte, die man erntet Hörbuch

Michael Hjorth

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Beschreibung

Der Nummer-1-Bestseller aus Schweden Drei Morde innerhalb weniger Tage: Die beschauliche schwedische Kleinstadt Karlshamn wird vom Terror erfasst. Vanja Lithner und ihre Kollegen von der Reichsmordkommission stehen unter Druck, den Heckenschützen zu stoppen, bevor weitere Menschen ums Leben kommen. Aber es gibt keine Hinweise, keine Zeugen und keine eindeutigen Verbindungen zwischen den Opfern. Sebastian Bergman hat sich für ein ruhigeres Leben entschieden, seit er Großvater geworden ist. Er arbeitet als Psychologe und Therapeut. Doch plötzlich wird seine Welt auf den Kopf gestellt, als ein Australier ihn aufsucht, um seine Erlebnisse während des Tsunamis 2004 zu verarbeiten. Bei dem Sebastian selbst Frau und Tochter verlor. Seit Sebastians ehemaliger Kollege Billy das erste Mal getötet hat, kann er nicht aufhören. Nun wird er Vater und beschließt, nie wieder zu morden. Aber die Umstände wollen nicht zulassen, dass die Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Wie weit wird Billy gehen, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden?

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Zeit:11 Std. 55 min

Sprecher:Douglas Welbat

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PauliPax

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Tolles Buch, spannend, immer wieder überraschend, toller Sprecher! Kleiner Wermutstropfen: Leider gibt es immer wieder Satz-Wiederholungen bei Kapitelwechseln.
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Michael Hjorth • Hans Rosenfeldt

Die Früchte, die man erntet

Kriminalroman

 

 

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

 

Über dieses Buch

Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe

Er ist auf einem guten Weg.

Bis die Vergangenheit ihn einholt.

Drei Morde innerhalb weniger Tage: Ein Heckenschütze hält die schwedische Kleinstadt Karlshamn in Atem. Vanja Lithner und ihr Team von der Reichsmordkommission stehen unter enormem Druck, denn es gibt weder Zeugen noch Verbindungen zwischen den Opfern, nur die Angst, dass weitere Morde geschehen und es jeden treffen könnte.

Kriminalpsychologe Sebastian Bergman, Vanjas Vater, hat das Team verlassen und arbeitet als Therapeut. Dass sie ihn um Rat bittet, ist eine willkommene Abwechslung. Doch als ein Australier ihn aufsucht, um seine Erlebnisse während des Tsunami 2004 zu verarbeiten, reißen alte Wunden auf.

Billy, Sebastians ehemaliger Teamkollege und Vanjas bester Freund, hat ein massives Problem: Seit er im Dienst zwei Menschen erschossen hat, tötet er aus Leidenschaft. Nun wird er Vater und schwört, es nie wieder zu tun. Aber die Umstände wollen nicht zulassen, dass die Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Wie weit wird Billy gehen, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden?

Die Nummer 1 aus Schweden!

Vita

Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.

Hans Rosenfeldt schreibt Drehbücher, zuletzt für die international bislang erfolgreichste skandinavische Serie «Die Brücke – Transit in den Tod», die zahlreiche Preise erhielt, sowie «Marcella». In seinem Heimatland Schweden ist er ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.

 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Kjersti Skomsvold und Christina Hesselholdt. 2011 erhielt sie den Hamburger Förderpreis und 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW, 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Also hängt sie hoch

Also hängt sie langsam

Aber hängt sie hoch

Ich sinne auf Rache

An einem frühen Morgen

Als Loser geboren

 

Kent, «Töntarna»

Wie lange war sie schon weg?

Jahre. Mehrere Jahre. Aber wie viele? Weniger als zehn vermutlich. Egal. Es konnten gern noch mehr werden, dachte sie, als sie durch das Busfenster die Silhouette der Stadt betrachtete.

Was wollte sie hier?

Warum kam sie zurück?

Was war der eigentliche Grund?

Zehn Jahre, und jetzt? Aber kümmerte sie das überhaupt? Es kümmerte sie gar nicht. Sie interessierte sich nicht dafür, wie es irgendeinem der neunundzwanzig Menschen ging, mit denen sie gezwungenermaßen drei Jahre hatte verbringen müssen. Was sie jetzt machten, ob sie eine Familie hatten, welchen Beruf sie ausübten, wo sie wohnten.

Sie pfiff darauf. Pfiff auf sie.

Umgekehrt interessierten die sich wahrscheinlich auch nicht für sie. Sie hatte ihnen nie etwas bedeutet. Ob sie sich überhaupt an sie erinnerten? Manche von ihnen vielleicht. Das sollten sie jedenfalls. Oder vergaß man diejenigen, die man früher schlecht behandelt hatte? Existierten sie nur, solange man sie quälen konnte, und verschwanden dann, wenn sie nicht mehr verwundbar waren? Vielleicht wurden die alten Opfer einfach durch neue ersetzt.

Was wollte sie hier?

Warum kam sie zurück?

Es war keine triumphale Rückkehr. Keine schöne Rache. Weil sie weder berühmt noch erfolgreich geworden war, gab es auch keine Hoffnung, dass sie sich um sie scharen und sie bewundern würden. Sie konnte nicht zurückkehren und es ihnen mal so richtig zeigen. Aus dem hässlichen Entlein war kein schöner Schwan geworden, es war nur älter geworden, abgehärteter, das hässliche Entlein.

Also, was wollte sie hier?

Warum kehrte sie zurück?

Vielleicht wollte sie nur beweisen, dass sie noch lebte, dass sie es wagte und es ihnen nicht gelungen war, sie zu brechen. Doch stimmte das wirklich? Wer weiß, wie ihr Leben aussehen würde, wenn diese Jahre anders verlaufen wären. Besser. Erträglich.

Ohne «das Trio», das bestimmt hatte, dass sie es nicht einmal wert gewesen war, sich über sie aufzuregen. Und sie einfach wie Luft behandelte. Wie ein Nichts.

Ohne die schweigende Anhängerschaft, die so unsicher gewesen war, so angsterfüllt, selbst in ihre Situation zu geraten, weshalb sie es erst möglich gemacht hatte.

Ohne Macke und Philip.

Nein, sie würde nicht dorthin gehen. Nicht jetzt. Noch nicht. Sie verdrängte die Erinnerungen: die Gedanken, die Namen, den Abend. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie da sein würden. Sie würde sie treffen. Heute Abend. Auf der Party oder wie auch immer man das nennen sollte. Eine Wiedervereinigung war es jedenfalls nicht. Um sich wiedervereinigen zu können, musste man irgendwann einmal eine Zusammengehörigkeit empfunden haben.

Sie würden da sein.

Vielleicht war doch dies der Grund, weshalb sie zurückkam.

Der Traum.

Der mehrfach wiederkehrte.

Das erste Mal in der Nacht, als sie die Einladung erhalten hatte. Und dann, nachdem sie zugesagt hatte, immer häufiger. Der Traum, in dem sie Genugtuung erfuhr. In dem sie endlich für sich selbst einstand. Und die anderen das bekamen, was sie verdient hatten. Manchmal war der Traum so real, so lebendig, dass sie mit einem Gefühl des Triumphs erwachte. Ein Gefühl, das natürlich sofort verschwand, sobald sie aufstand und sich wieder in der Wirklichkeit befand.

Der Bus passierte die Schilder, die verkündeten, dass sie jetzt nach Karlshamn hineinfuhren, sie also wieder in jener Stadt war, die sie hinter sich gelassen hatte. Aus der sie geflohen war. Das Gefühl in ihrem Bauch, das sie für Reue und Angst gehalten hatte, war in Wahrheit etwas anderes, versuchte sie sich einzureden. Entschlossenheit. Erwartung. Ein leise wiedererwachter Hass, den sie so lange verdrängt hatte. Jetzt wollte sie ihn wachsen lassen.

Deshalb kam sie zurück.

Genau das würde sie tun.

Zurückschlagen.

Die Kungsgatan.

Angelica Carlsson versuchte gar nicht, sich das zufriedene Grinsen zu verkneifen, als sie in die Straße einbog. Es gab größere und luxuriösere Häuser und noblere Wohnungen in Karlshamn, exklusivere Adressen. Doch nach nur knapp vier Monaten war sie mehr oder weniger in eine geräumige Dreizimmerwohnung in der Kungsgatan eingezogen. Das war wirklich nicht schlecht.

Hundertzwölf Tage nachdem sie Nils zum ersten Mal getroffen hatte.

Hundertdreizehn Tage nachdem sie ihn auf einem der vielen Dating-Portale, auf denen sie registriert war und die sie regelmäßig besuchte, kontaktiert hatte. Er war siebzehn Jahre älter als sie. Sah freundlich aus, war geschieden und hatte eine erwachsene Tochter. Sein Profil war ihr perfekt erschienen, genau die Sorte Mann, die sie suchte, aber sicher konnte man natürlich nie sein. Erst beim fünften oder vielleicht auch sechsten Treffen hatte sie begriffen, dass sie genau den Richtigen gefunden hatte. Mit gesenktem Blick hatte sie ein wenig schüchtern ihre Hand auf die seine gelegt und gesagt, sie hoffe, er wolle sie künftig häufiger treffen, sie würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn … wenn mehr daraus würde. Er hatte ein wenig beschämt gelacht und hätte wahrscheinlich eine wegwerfende Geste gemacht, hätte sie nicht seine Hand festgehalten.

«Was willst du denn mit mir?»

Sie ließ sich die aufsteigende Freude nicht anmerken, betrachtete ihn nur ernst, sagte, er sei dumm, und fragte ihn, warum er sich selbst so kleinmache, obwohl er doch offenbar ein wundervoller Mann sei. Deshalb wolle sie auch mehr Zeit mit ihm verbringen.

An jenem Abend waren sie Hand in Hand zu ihm nach Hause spaziert. Zum ersten Mal war sie oben in seiner Wohnung in der Kungsgatan gewesen.

Einige Wochen später erwähnte sie Dick.

Ihren Exfreund, einen hoffnungslosen Idioten.

Niedergeschlagen und ein wenig zerstreut hatte sie Nils nach der Arbeit besucht. Er hatte natürlich bemerkt, dass sie etwas bedrückte, aber sie gab vor, nicht darüber sprechen zu wollen, um ihn nicht zu belasten. Dabei blieb sie so lange, bis sie das Gefühl hatte, dass er bald nicht noch einmal nachbohren würde. Dann tat sie, worum er sie gebeten hatte, und erzählte widerstrebend alles. Als sie ihre Geschichte beendet hatte, war der Abend zur Nacht geworden.

Nun wusste Nils alles darüber, wie Dick und sie sich kennengelernt hatten, als sie noch jung und naiv gewesen war. Wie sie seine hochfliegenden, unrealistischen Pläne, seine verrückten Ideen und seinen sorglosen Lebensstil aufregend gefunden hatte, während unter seiner unbekümmerten Oberfläche aber auch dunkle, kontrollsüchtige Charakterzüge zum Vorschein gekommen waren.

Tränenüberströmt hatte sie erzählt, wie sie nach einigen Jahren schwanger geworden sei, doch Dick habe das Kind unter keinen Umständen behalten wollen und sie gezwungen, sich zwischen ihm und dem Kind zu entscheiden, um sie dann wenige Monate nach der Abtreibung doch zu verlassen. Daraufhin hatte Nils auf dem Sofa die Arme um sie gelegt, und sie hatte sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt und sich trösten lassen. Dabei hatte sie überlegt, wie sie weiter vorgehen sollte, doch er hatte ihr mit der Frage auf die Sprünge geholfen, warum sie gerade heute, in diesem Moment, an Dick denke.

Ob etwas passiert sei? Ob er sich gemeldet habe?

Ja, so sei es. Das habe er.

Vor einigen Jahren sei Dick in ihr Leben zurückgekommen, sagte sie. Habe angefangen, ihr wieder Avancen zu machen. Behauptet, er vermisse sie, und es tue ihm leid, wie er sie behandelt hatte. Er habe eingesehen, wie mies er sich verhalten hätte. Inzwischen sei er reifer geworden, hatte er beteuert und gefragt, ob sie es nicht noch einmal miteinander versuchen könnten. Sogar gefleht und gebettelt habe er. Sie sei darauf hereingefallen. Habe geglaubt, er hätte sich tatsächlich verändert und würde ihr nun die Geborgenheit geben, nach der sie sich so gesehnt hatte.

Es hätte gut angefangen, erzählte sie, und nach einem halben Jahr hätten sie beschlossen, zusammenzuziehen und in Göteborg eine Wohnung zu kaufen. Doch schon nach wenigen Monaten habe seine eifersüchtige, kontrollierende Seite wieder die Oberhand gewonnen, erklärte sie. Diesmal sei er sogar gewalttätig geworden. Irgendwann, sagte sie, habe sie die Kraft gefunden, sich zu befreien. Nie wieder sollte es ihm gelingen, sie zurückzugewinnen, ganz gleich, was er auch sagte und versprach. Sie hätte mit Dick abgeschlossen, erklärte sie Nils. Er aber nicht mit ihr, noch lange nicht. In regelmäßigen Abständen melde er sich, stelle Forderungen, bedrohe und erpresse sie, tue alles, was er könne, um ihr das Leben schwerzumachen. Jetzt sei irgendetwas mit der Wohnung in Göteborg und dem Kredit, sie wisse es nicht genau. Sie habe aufgelegt, als er wieder getobt hätte, und seine Nummer blockiert, aber dennoch sei ihr das Telefonat unter die Haut gegangen.

Deshalb sei sie bei ihrer Ankunft in Nils’ Büro bedrückt gewesen, obwohl sie doch glücklich sein müsste. Mit ihrem Leben. Mit ihm. Mit Nils.

In dieser Nacht hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Anschließend weinte sie in seinen Armen. Sie erklärte, wie froh und dankbar sie sei, ihm begegnet zu sein. Bei ihm fühle sie sich so geborgen und gut aufgehoben.

«Mir gefällt es, mich um dich zu kümmern», flüsterte er und strich ihr sanft über das Haar. Sie umarmte ihn stumm. Genau das hatte sie hören wollen.

In den darauffolgenden Wochen zog sie mehr oder weniger bei ihm ein. Kam häufiger, blieb länger, nahm Wechselkleidung mit, bekam ein Regalbrett, eine Schublade, Platz im Kleiderschrank. Von der Exfrau hatte sie bislang nichts gehört oder gesehen. Die Tochter wusste von Angelicas Existenz, schien es aber in Ordnung zu finden, dass ihr Vater eine Neue kennengelernt hatte. Nils und seine Tochter hatten keinen besonders engen Kontakt, sie riefen einander höchstens alle vierzehn Tage an. In der Zeit, seit Angelica in der Wohnung war, hatte ihn die Tochter nie besucht, obwohl sie in Helsingborg lebte, nur zwei Stunden entfernt.

Angelica ging die letzten Schritte zur Haustür. Das zufriedene Grinsen musste jetzt endlich aus ihrem Gesicht verschwinden. Einem Ausdruck von Unruhe und Angst weichen. Es war Zeit für den nächsten Schritt: Heute würde sie behaupten, dass es Dick erneut gelungen sei, sie anzurufen, und er mit der Polizei und dem Gerichtsvollzieher und was nicht allem gedroht hätte. Genau verstanden hätte sie seine Forderungen nicht, aber es sei wohl darum gegangen, dass er die Wohnung in Göteborg verkaufen wolle und sie ihm in irgendeiner Weise Geld schulde.

Völlig aufgewühlt und in Tränen aufgelöst wollte sie die Wohnung betreten und den Trost suchen, den nur Nils ihr geben könne. Und den sie auch bekommen würde. Aber sie würde sich dennoch nicht beruhigen. Nicht heute Abend. Dick verlange 235000 Kronen. Eine unvorstellbare Geldsumme. Wo sollte sie die nur hernehmen?

Bis zu diesem Punkt konnte sie ihre Geschichte planen, danach musste sie sich nach Gefühl vorantasten. Im besten Falle würde Nils sofort anbieten, ihr das Geld zu geben, ohne die Geschichte in Frage zu stellen oder zu überprüfen. Wahrscheinlich würde er ihr vorschlagen, juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder Anzeige zu erstatten. Dies müsste sie natürlich verhindern und Nils behutsam auf den Gedanken bringen, dass doch nur er derjenige sein könne, der sie ein für alle Mal befreien würde. Ihr Ritter auf dem weißen Pferd. Der ihr einen Kredit gewährte. Eine Summe, die für ihn entbehrlich war, für sie aber lebensentscheidend.

Bis das nächste Problem auftauchen und sie mehr brauchen würde.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und kniff die Augen zusammen, bis ihr die Tränen kamen. Verdammt, war sie gut!

Übung macht den Meister.

Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie nur noch eine Achtelsekunde zu leben. Wenn überhaupt. Die Kugel bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von annähernd achthundert Metern pro Sekunde, nachdem sie das Gewehr verlassen hatte. Mehr als doppelte Schallgeschwindigkeit, deshalb hörte Angelica den dumpfen Knall nicht, ehe sie in der Stirn getroffen wurde und auf ihrer geliebten Kungsgatan tot zusammensackte.

Kerstin Neuman

Bernt Andersson

Angelica Carlsson

Philip Bergström

Aakif Haddad

Lars Johansson

Ivan Botkin

Annie Linderberg

Peter Zetterberg

Milena Kovacs

Die dritte Leiche, der dritte Mord.

Vanja blickte zu dem Krankenwagen hinüber, der gemächlich durch die Absperrungen auf der Kyrkogatan fuhr, wo sich bereits eine Schar Schaulustiger hinter dem blau-weißen Flatterband versammelt hatte. Das gelbgrüne Fahrzeug wurde von mehreren Handys fotografiert und gefilmt, ehe es ohne Blaulicht und Sirenen zum nächstgelegenen Krankenhaus mit Kühlraum davonrollte. Vanja hatte keine Ahnung, wo es lag, sie hatte sich noch nicht hinreichend mit der Stadt vertraut gemacht. Ursula wusste es, denn sie war dort gewesen, um sich einen Eindruck von den Verletzungen der beiden vorherigen Opfer zu verschaffen. Davon abgesehen wussten sie nichts weiter über die Toten als jene Daten, die sie auf der Polizeistation hatten nachlesen können, nachdem sie offiziell von den hiesigen Kollegen die Ermittlungen übernommen hatten.

Die erste Tote war eine sechzigjährige Frau, Kerstin Neuman, die erschossen worden war, als sie offenbar gerade die Post aus ihrem Briefkasten an der großen Straße hatte holen wollen. Bei diesem Mord gab es nicht viele Hinweise, denen sie nachgehen konnten, der kleine Hof, auf dem die Frau allein gewohnt hatte, lag einige Kilometer vom nächstgelegenen Ort entfernt. Eine Einsamkeit, die Kerstin Neuman bewusst gesucht hatte, wie Vanja klarwurde, als sie sich in den Fall einlas. Sie war nicht direkt bedroht worden, aber alle in Karlshamn – oder jedenfalls sehr viele – wussten, wer Kerstin Neuman war. Was sie getan hatte. Oder besser gesagt, was sie erlebt hatte, denn man hatte sie offiziell nie verantwortlich gemacht. Für den Busunfall.

Das zweite Opfer hieß Bernt Andersson und war dreiundfünfzig Jahre alt. Auf dem Foto, das an dem Clipboard in ihrem provisorischen Büro in der Polizeistation hing, sah er jedoch mindestens zehn Jahre älter aus. Das Ergebnis eines ungesunden Lebenswandels. Über einen langen Zeitraum hinweg hatte er fast alles konsumiert, was man kriegen konnte. Zuletzt aber vor allem Alkohol, wie die Menschen berichteten, die ihn hin und wieder in Asarum, wo er lebte, umherwanken sahen. Für die Polizei vor Ort war er ein alter Bekannter, schließlich hatte er unzählige Nächte in der Ausnüchterungszelle verbracht, war wegen Störung der öffentlichen Ordnung und wegen kleinerer Drogendelikte festgenommen worden, aber immer mit Geldstrafen davongekommen. Außerdem war er mehrmals angezeigt worden, weil er die verschiedenen Frauen, mit denen er immer nur für kurze Zeit zusammenlebte, bestohlen oder körperlich misshandelt hatte.

Zu einer rechtskräftigen Verurteilung war es jedoch nie gekommen.

Sie hatten ihn, auf dem Sportgerät eines Fitnesspfades liegend, am Rande eines Waldgebiets gefunden, drei Tage nachdem Kerstin Neuman erschossen worden war. Ein Schuss in die Stirn, unmittelbar tödlich und mit demselben Gewehr abgefeuert, wie sich herausstellte.

Zu diesem Zeitpunkt gelang es Krista Kyllönen, der Leiterin der lokalen Polizeibehörde, ihren Vorgesetzten von der Region Süd in Malmö davon zu überzeugen, die Unterstützung der Reichsmordkommission anzufordern. Das war ungewöhnlich, bei einer Ermittlungszeit von knapp einer Woche, doch in beiden Fällen handelte es sich um einen Heckenschützen, außerdem gab es keine Zeugen und bis auf die Kugeln auch keine technischen Beweise, keine leeren Patronenhülsen am Tatort, keine Reifenspuren, keinen Verdächtigen auf den wenigen Überwachungskameras, die überall in der Stadt verteilt hingen.

Sie hatten keinerlei Anhaltspunkte und brauchten Hilfe.

Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, dass Vanja und ihre Kollegen in eine Stadt kamen, deren Bewohner in Angst und Schrecken versetzt worden waren, doch ein dritter Todesschuss innerhalb von acht Tagen würde nun zweifellos für Unruhe sorgen, und dann war auch die Wut nie weit entfernt. Vanja seufzte vor sich hin. Dieser Fall konnte sich leicht zu einem Albtraum entwickeln, und das mussten sie verhindern. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Es war ihre erste große Ermittlung, seit Vanja im Dezember die Leitung der Reichsmordkommission übernommen hatte.

Seit sie Torkel nachgefolgt war.

Sie blickte zurück, die Straße hinunter bis zu der Absperrung an der nächsten Kreuzung, bei der Södra Fogdelyckegatan. Vanja wusste nicht, was Fogdelycka bedeutete und ob es überhaupt ein richtiges Wort war. Es klang wie ausgedacht. Auch dort hatten sich Schaulustige versammelt, aber nicht ganz so viele, und sie hatten auch nicht ganz so viele Handys gezückt. Die Leute standen weiter vom Tatort entfernt und hatten es nicht so leicht, Fotos zu machen, auf denen mehr als eine gewöhnliche Kleinstadtstraße zu sehen war. Vielleicht lichteten sie Ursula ab, die gerade hockend die Stelle fotografierte, an der das Opfer gelegen hatte. Laut dem Führerschein, den sie in ihrer Manteltasche gefunden hatten, handelte es sich um Angelica Carlsson, neununddreißig Jahre alt.

«Vanja.»

Sie drehte sich um und sah Carlos auf sich zukommen. Es war Anfang April, und die Sonne ging allmählich unter, aber es war nicht kalt, jedenfalls nicht so kalt, wie man es hätte vermuten können, wenn man Carlos Rojas sah. Er hatte die Mütze tief über beide Ohren gezogen und trug gefütterte Handschuhe und einen Schal zu seiner dicken exklusiven Daunenjacke, unter der sich, wie Vanja wusste, auch noch ein Strickpullover, ein Flanellhemd und ein T-Shirt verbargen. Zudem war sie sich ziemlich sicher, dass er unter seiner Markenjeans auch noch eine lange Unterhose trug.

Carlos war der Neuzugang in ihrer Gruppe. Das erste Mal hatten sie in Uppsala zusammengearbeitet, als sie einen Serienvergewaltiger jagten. Vanja versuchte, nicht mehr an diese Wochen im Oktober vor dreieinhalb Jahren zu denken. Wie sie beinahe ebenfalls zum Opfer geworden war. So viel Grauen, und davon abgesehen einer der seltsamsten Fälle, in denen sie je ermittelt hatten. In dieser Zeit hatten sie und die anderen von der Reichsmordkommission aber auch Carlos kennengelernt.

Als Torkel aufhörte – zum Aufhören gezwungen worden war, korrigierte Vanja sich –, mussten sie ein neues Mitglied ins Team aufnehmen. Die Wahl fiel auf Carlos: unkompliziert in der Zusammenarbeit, kompetent, fleißig, sorgfältig. Eine ganze Reihe von Eigenschaften, die Vanja zu schätzen wusste, vor allem jetzt, wo sie verantwortlich war und alles auf ihrem Tisch landete.

Aber er fror. Immer. Unabhängig von der Außentemperatur.

«Was ist denn?», fragte sie, während er auf sie zukam.

«Da oben wartet eine Zeugin», sagte er und deutete zu dem Glockenturm, der ein Stück den Hügel hinauf hinter einem schwarzen schmiedeeisernen Tor auf der anderen Straßenseite stand. «Sie sagt, sie hätte den Schuss gehört.»

«Gehört?»

«Ja, gehört. Willst du mit ihr sprechen?»

Vanja überlegte kurz. Wollte sie das? Vermutlich würde sie lediglich erfahren, dass die Frau einen Schuss gehört hatte. Aber sie sollte es tun. Sie waren gezwungen, jeden einzelnen Stein umzudrehen …

Also folgte sie Carlos zu dem beigeverputzten kleinen Turm, der aussah, als müsste er eigentlich zu einer Kirche gehören, jedoch einsam auf dem Hügel thronte; das nächste Kirchengebäude lag ein paar Fahrminuten entfernt. Aus dem Gras lugten hin und wieder Grüppchen von Narzissen hervor, die kurz vor der Blüte standen. Hier ist der Frühling schon weiter fortgeschritten als in Stockholm, dachte Vanja und fühlte sich wie eine Rentnerin. So etwas hätte ihr Vater sagen können. Jedenfalls einer ihrer Väter. Valdemar. Von dem sie geglaubt hatte, sie würde immer zu ihm halten, was auch passierte. Doch nach vielen komplizierten Erlebnissen, Lügen und Enthüllungen hatte sie den Kontakt zu ihm verloren.

Es erleichterte ihr Verhältnis auch nicht unbedingt, dass er im Gefängnis saß.

Stattdessen meldete sie sich hin und wieder bei Sebastian Bergman, den sie jahrelang mit allen Mitteln aus ihrem Leben fernzuhalten versucht hatte. Aber in den letzten Jahren hatten sie, so merkwürdig es auch war, eine annähernd normale Beziehung zueinander entwickelt. Seltsam, wie das Leben mitunter spielte. Die neue Situation hatte sich durch ihre Tochter ergeben, Amanda. Sebastians Enkelin, die im Juli drei Jahre alt werden würde. Vanja unterbrach ihre Gedanken und verdrängte die Sehnsucht, die sich jedes Mal meldete, wenn sie an Amanda dachte, und das war oft der Fall.

Sie erreichten die Frau, die mit einem braunkarierten Einkaufsroller neben sich auf sie wartete. Die Zeugin war Mitte fünfzig und trug eine verwuschelte Kurzhaarfrisur, die sie sich vermutlich selbst vor dem Badezimmerspiegel geschnitten hatte. Ihre Kleidung war sauber und tadellos, trotzdem machte sie einen etwas heruntergekommenen Eindruck. In der einen Hand hielt die Frau eine Greifzange, und Vanja konnte erkennen, dass ihr Hackenporsche zur Hälfte mit leeren Pfandflaschen und Dosen gefüllt war. Sie stellte sich ihr mit Namen und Titel vor und bat die Frau zu erzählen.

«Ich habe dem da schon alles gesagt», erklärte die und deutete mit dem Kopf auf Carlos. «Ich bin hier langgegangen, abends treffen sich an diesem Ort immer viele Jugendliche, deshalb kann man hier viele Dosen finden, und dann habe ich plötzlich einen Knall gehört.»

Vanja fluchte innerlich. Sie hätte Carlos die Sache überlassen können. Müssen. Prioritäten setzen. Delegieren. Darin war Torkel gut gewesen.

«Einen Knall?»

«Ja, wie einen Schuss.»

«Wissen Sie, woher er kam?»

«Nein, das Geräusch klang, als würde es zwischen den Häusern widerhallen.»

Vanja blickte sich um. Einen Ort «zwischen den Häusern» gab es hier eigentlich nicht. Lediglich zwei niedrige Holzhäuser am Anfang der Straße und etwa dreißig Meter von ihnen entfernt in dem kleinen Park ein großes rotes Gebäude, auf dem Gemeindehof stand. Davon abgesehen sah sie nur noch ein dreistöckiges Haus, das einsam und majestätisch auf der anderen Straßenseite thronte. Einen Widerhall konnte es hier nicht geben.

«Sie haben niemanden wegrennen sehen?»

«Nein.»

«Auch sonst niemanden? Kein Auto, das wegfuhr?»

«Nein, aber ich habe den Knall gehört.»

«Gut, dann wird mein Kollege jetzt Ihre Daten aufnehmen, falls wir uns noch einmal bei Ihnen melden müssen. Danke für Ihre Hilfe.»

Vanja ging wieder hinab zur Straße. Sie sah sich um. Wo konnte der Schuss hergekommen sein? Von einem der Häuser an der Kreuzung, die jetzt abgesperrt war? Möglich. Eventuell auch aus dem Park, den sie gerade verließ, was ihr jedoch unwahrscheinlicher erschien. Es gab nur wenige Bäume, hinter denen man sich verstecken konnte, kein hohes, dichtes Gebüsch. Das Risiko, dort entdeckt zu werden, schien zu groß. Eigentlich waren solche Spekulationen sinnlos, sie kannten den Schusswinkel nicht und würden ihn vermutlich auch nie herausbekommen, weil sie nicht wussten, wie Angelica Carlsson gestanden hatte, als sie erschossen worden war. Als man sie gefunden hatte, steckte der Schlüssel im Schloss, was darauf hindeutete, dass sie auf dem Weg durch die blaue Haustür gewesen war. Wenn sie direkt davorgestanden hatte, musste der Schuss von rechts gekommen sein. In diesem Fall von der Södra Fogdelyckegatan …

Sollte Vanja ein paar Kollegen schicken, um die Anwohner in den gelben Steinhäusern an der Kreuzung zu befragen, von denen aus man den Tatort sehen konnte? Was hätte Torkel getan?

Ohne sich entschieden zu haben, passierte sie genau in dem Moment die blaue Haustür, als Billy heraustrat und ihr zurief: «Ich weiß, wo sie hinwollte.»

Als Vanja die Wohnung im zweiten Stock betrat, dachte sie sofort, dass Angelica hier nicht dauerhaft gelebt hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie das Zuhause so vieler unterschiedlicher Menschen gesehen – von Opfern, Angehörigen, Tätern –, weshalb sie diesmal sofort den Eindruck hatte, hier wohnte keine Frau. Sie konnte es an nichts Konkretem festmachen, aber die Einrichtung erschien ihr so … abgeschlossen. Als wäre jemand in ein Möbelgeschäft gegangen und hätte einfach alles auf einmal gekauft, was er brauchte, nicht mehr und nicht weniger. Es gab nichts Persönliches, keine Auffälligkeiten. Der Bewohner dieser Räume hatte sich mit allem zufriedengegeben, wie es eine Frau nie tun würde. Vielleicht hatte Vanja lediglich Vorurteile, aber die Wohnung kam ihr vor wie eine schnelle – männliche – Lösung nach einer Scheidung.

Auf dem Sofa saß der Mann, der Billys Angaben zufolge Nils Fridman hieß, schätzungsweise sechzig war und eine beigefarbene Chino-Hose und ein kariertes Hemd trug. Sein Haar war bereits teilweise grau und schütter, über die blassen Wangen liefen Tränen. Er saß mit gesenkten Schultern da, und die Hände hingen schwer herab, als müsste er all seine Kraft dafür aufbringen, aufrecht zu sitzen. Vor ihm auf dem gläsernen Couchtisch stand ein unangetastetes Glas Wasser.

Vanja stellte sich erneut vor und fragte, ob er imstande sei, mit ihr zu sprechen. Nils nickte, räusperte sich und zog ein Stofftaschentuch jener Sorte hervor, von der Vanja gedacht hätte, sie würde nur noch von Menschen über achtzig Jahren benutzt. Hastig trocknete er sich die nassen Wangen, ehe er sich schnäuzte und das Taschentuch wieder einsteckte.

«Die Frau, die wir draußen gefunden haben, hieß Angelica Carlsson?», fragte Vanja, während sie sich auf die äußerste Kante des einzigen Sessels im Raum setzte.

«Ja.» Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, als er ihren Namen hörte, aber diesmal blieb das Taschentuch, wo es war.

«Sie war auf dem Weg zu Ihnen?» Wieder war es eher eine Behauptung als eine Frage, und er bestätigte die Vermutung erneut, diesmal mit einem Nicken.

«Hat sie hier gewohnt, oder wie kannten sie einander?»

Nils schluchzte, schluckte mehrmals, als wollte er sichergehen, dass seine Stimme nicht versagte, bevor er seine rot geweinten Augen auf Vanja richtete.

«Wir waren ein Paar», sagte er mit belegter Stimme. «Sie wohnte ab und zu hier.»

«Und wenn sie nicht hier war, wo wohnte sie dann?», fragte Vanja und registrierte aus dem Augenwinkel, wie Billy Notizen machte. Nils holte tief Luft, um zu antworten, hielt dann kurz inne, dachte nach und runzelte leicht die Stirn.

«Sie … sie hat eine Wohnung in Bräkne-Hoby … Ronneby, irgendwo da …»

«Sie waren noch nie bei ihr zu Hause?»

«Nein, meistens waren wir hier. Oder besser gesagt, wir waren immer hier, wenn wir nicht gerade ausgegangen sind.»

Letzteres sagte er etwas zögerlicher, und Vanja hatte den Eindruck, ihm wurde gerade erst bewusst, wie seltsam es war, dass er nie bei Angelica zu Besuch gewesen war und gar nicht wusste, wo sie gewohnt hatte.

«Wie lange waren Sie denn schon zusammen?»

«Wir haben uns Ende Dezember kennengelernt, auf so einem Dating-Portal.»

«Fast vier Monate also.»

«Ja.»

«Aber Sie waren noch nie bei ihr zu Hause?»

«Nein.»

Vanja warf Billy einen schnellen Blick zu. Dass Nils nie in Angelicas Wohnung gewesen war, bedeutete wohl, sie hatte ihn dort nicht haben wollen, was wiederum vermuten ließ, dass es irgendetwas gab, das Nils nicht erfahren sollte.

«Haben Sie die genaue Adresse?»

«Leider nein.»

«Kein Problem, wir werden sie schon herausfinden.» Vanja verstummte, betrachtete den zutiefst getroffenen Mann und dachte, dass die nächste Frage noch anstrengender für ihn werden würde. Sie beugte sich vor und senkte die Stimme ein wenig. «Wissen Sie irgendetwas über sie, das erklären könnte, warum sie ermordet wurde?»

Nils schüttelte nur den Kopf, und wie befürchtet liefen seine Augen erneut über, als wäre jede Erinnerung an Angelicas Tod zu viel für ihn. Erneut zog er sein Taschentuch hervor und wiederholte die Prozedur: Tränen trocknen, schnäuzen, zurück in die Tasche. Vanja ertappte sich bei der Überlegung, ob er wohl ein System hatte, um sich den alten Rotz nicht in die Augen zu reiben, verdrängte sie jedoch wieder. Sie musste sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren.

«War es nicht derselbe Täter, der auch die anderen beiden erschossen hat?», brachte Nils schließlich hervor.

«Möglicherweise», räumte Vanja ein. «Aber sie hat nie erzählt, sie würde sich bedroht oder beobachtet fühlen oder Ähnliches? Hat sie nichts in diese Richtung gesagt?»

«Es gab da diesen Dick», antwortete Nils nachdenklich.

«Wer ist Dick?»

«Ein Exfreund, mit dem sie in Göteborg zusammengewohnt hatte und der ihr immer noch ab und zu das Leben schwermachte.»

«Inwiefern?»

«Er rief an und sagte, sie würde ihm Geld schulden, drohte mit der Polizei und damit, den Gerichtsvollzieher zu schicken, und solche Sachen.»

Vanja warf Billy erneut einen Blick zu, und ihr war klar, dass sie beide dasselbe dachten, als er sein Handy nahm, um zu prüfen, was über diesen Dick herauszufinden war.

«Wissen Sie, wie er mit Nachnamen hieß?», fragte Billy in der Tür, ehe er das Zimmer verließ.

«Nein, sie hat immer nur von Dick gesprochen.»

«Okay. Danke.»

Eine Weile saß Vanja schweigend da und überlegte. Ein Exfreund. Das verhieß nichts Gutes. Viele Frauen wurden von Männern, mit denen sie eine engere Beziehung gehabt hatten, bedroht, misshandelt, getötet. Viel zu viele. Jedes Jahr.

Ein eifersüchtiger Ex. Ganz und gar nicht unmöglich.

Aber gab es in diesem Fall eine Verbindung zu den anderen Opfern, oder waren die ersten beiden Morde lediglich ein Tarnmanöver, um zu verbergen, dass Angelica von Anfang an das eigentliche Ziel war? Als Vanja den Gedanken in ihrem Kopf formte, klang er ziemlich verrückt und weit hergeholt. Sie wussten zu wenig, vor allem über Angelica, aber im Grunde auch über alle anderen Umstände. Sie wussten nichts.

«Und Sie haben keine Idee, was Angelica sonst noch bedrückt oder beunruhigt haben könnte?»

«Nein, sie war immer so fröhlich … so zärtlich und liebevoll …» Seine Stimme versagte erneut, und diesmal konnte er sich nicht beherrschen und brach in lautes Schluchzen aus. Vanja musterte ihn und dachte, dass ihnen Nils Fridman vorerst nicht weiterhelfen konnte.

«Sollen wir jemanden anrufen, damit er Ihnen Gesellschaft leistet?», fragte sie, während sie von dem Sessel aufstand, bereit, den Besuch zu beenden. Zu ihrer großen Erleichterung schüttelte Nils erneut den Kopf. Sie wollte so schnell wie möglich in ihr Büro im prunkvollen Polizeigebäude im Erik Dahlbergsvägen zurückkehren, denn sie hatte das Bedürfnis, allein zu sein, nachzudenken und eine Strategie zu entwickeln, was sie als Nächstes tun mussten, wie sie die Ermittlung vorantreiben konnten. Die Verantwortung lag jetzt zum ersten Mal bei ihr. Und sie spürte, wie sie auf ihr lastete.

Ein drittes Opfer war schlimm genug.

Ein viertes wollte sie um jeden Preis verhindern.

Sie waren so lächerlich. Alle miteinander. So verdammt lächerlich.

Julia verabscheute es, wie leicht sie wieder in ihre alten Rollen schlüpften. Ganz mühelos, als wäre seither nichts passiert, als hätte die Zeit stillgestanden. Die durchschnittlichen, ehrgeizigen, fleißigen Mädchen, die bestimmt studiert und einen guten Job gefunden, Karriere gemacht, eine Familie gegründet und ihre Schäflein ins Trockene gebracht hatten, saßen an dem einen Tischende. Die Jungs, die ein bisschen nerdig oder einfach nur normal waren, hatten sich zu ihnen gesellt. Die beliebten Mädchen saßen in der Nähe der beliebten Jungs, die sich breitmachten, den ganzen Sauerstoff verbrauchten, zu viel tranken und jeden Satz mit Wisst ihr noch, wie … anfingen, und dann folgte irgendeine Gemeinheit, eine Erinnerung an einen erniedrigenden Augenblick, eine Person am anderen Ende des Tisches betreffend, eine Person, die mit einem verkrampften Lächeln oder einem angestrengten Lachen darauf reagierte, weil sie keine Spaßbremse sein wollte und dafür ruhig ein wenig von sich selbst opfern konnte. Eine Person, die ihren Platz in der alten Hierarchie kannte, welche auf magische Weise für einen Abend wiederhergestellt worden war.

Macke war natürlich am schlimmsten.

Der König der 9B.

Er hatte sich kaum verändert. Ein bisschen fetter war er geworden, das großgemusterte Hemd unter dem schlechtsitzenden Sakko spannte über seinem Bauch. Fortgesetzt ungesunde Ernährung und zu viel Alkohol, vermutete Julia. Das gelockte, rotblonde Haar, die breite, einmal gebrochene Nase über den schmalen Lippen und dem hässlichen Schnauzbart. Dieselben blauen Augen, die in ihrer Erinnerung niemals Wärme oder Freundlichkeit ausgestrahlt hatten.

Genauso laut, genauso dämlich.

Genauso furchteinflößend für seine stumme Anhängerschaft, genauso beliebt beim «Trio», das viel zu laut über seine Witze lachte, mit ihm anstieß und ab und zu auf seinem Schoß sitzen wollte.

Julias Blick wanderte zu Philip hinüber. Er hatte sich während des Abendessens auffällig zurückgehalten. Hatte sich anscheinend ein Stück entfernt von Macke setzen wollen, war dann aber doch gezwungen gewesen umzuziehen, als der König es bemerkte.

«Fille! Meine Fresse, Fille!! Du musst bei der eisernen Gang sitzen!»

Für einen kurzen Moment schien Philip protestieren zu wollen, sagen zu wollen, dass er lieber da blieb, wo er es vorgehabt hatte, aber Macke ließ nicht locker und holte das Trio mit ins Boot, das «Fille! Fille! Fille!» skandierte, bis Philip mit einem resignierten Nicken und einer Entschuldigung an seine ursprünglich vorgesehene Tischdame aufstand und sich unter lautem Jubel zu den anderen setzte. Keiner sagte es, aber sie hätten es genauso gut laut aussprechen können.

Er wollte doch wohl nicht bei den Verlierern sitzen.

Den Losern der Grundviksskolan.

 

Julia war früh in dem Hotel angekommen, als eine der Ersten. War in den großen Raum im ersten Stock gegangen – den «Ballsaal», wie das polierte Messingschild neben den hohen Flügeltüren verriet –, der als Treffpunkt gedacht war, an dem sie etwas trinken und miteinander plaudern sollten, bis alle eingetroffen waren und im Speisesaal das Menü serviert werden würde. Julia war noch nie dort gewesen, aber sie wusste, dass der Raum als Tanzsaal beim Abschlussball der neunten Klasse gedient hatte, bevor sie sich auf verschiedene Schulen verteilt hatten. Auf dem Ball war sie allerdings nicht gewesen. Unter den hohen Decken hingen drei riesige Kristallleuchter, vor den großen Fenstern dicke, schwere Seidengardinen. Glastüren führten auf eine Terrasse, von der aus man vermutlich einmal eine schöne Aussicht gehabt hatte, als das Hotel erbaut worden war. Jetzt blickte man auf ein ebenso hohes, anonymes Bürogebäude, und dazwischen lag eine schmale Straße, die mit ihren Containern und Mülltonnen an die Hintergassen in amerikanischen Filmen erinnerte. Am anderen Ende des Saals befand sich eine Bühne, die erst nachträglich errichtet worden war, ohne dass man überhaupt versucht hatte, den Stilbruch zu verbergen. Und vor der provisorischen Bar, an der man zwischen Bier, Wein oder Gin Tonic wählen konnte, waren Stehtische aufgebaut. Julia bestellte sich einen Gin Tonic und begab sich in eine Ecke, von der aus sie den Blick über den Raum schweifen ließ. Er füllte sich allmählich, als nach und nach die anderen Festgäste eintrafen, die meisten in Vierer- oder Fünfer-Grüppchen. Ein Taxi oder zwei. Sie hatten sich eindeutig schon vorher verabredet und waren zusammen hergefahren. Keiner hatte sich bei Julia gemeldet und gefragt, ob man gemeinsam kommen wolle. Sie ging auf die Toilette, nur damit sie etwas zu tun hatte.

Janet, die zum Trio gehörte, stand vor dem Spiegel und frischte ihr ohnehin schon sehr großzügiges Make-up auf, als Julia hereinkam.

«Julia!», rief sie reflexhaft mit dieser irritierend lauten, hohen Stimme, die anscheinend obligatorisch war, wenn sich angeheiterte Tussis begrüßten.

«Ja», antwortete Julia knapp, und Janet wurde offensichtlich sofort bewusst, dass Julia so eine herzliche, kreischende Begrüßung gar nicht verdient hatte.

«Dein Haar ist lila!», stellte Janet fest, nachdem sie Julia von oben bis unten gemustert hatte.

«Ich weiß.»

Anscheinend war nur das eine Bemerkung wert. Janet steckte ihren Lippenstift in ihre kleine Handtasche und ging wortlos hinaus. Als Julia wieder in den Ballsaal zurückkehrte, war der Rest des Trios angekommen und der Lärmpegel um mehrere Dezibel gestiegen.

Sie waren nicht so viele, wie Julia vermutet hatte. Von ihren neunundzwanzig ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern waren lediglich neunzehn aufgetaucht. Die Beteiligung aus den anderen Klassen und der anderen Schule schien ähnlich gering, sodass insgesamt vielleicht hundertdreißig Personen anwesend waren.

Nur wenige kamen zu ihr, um mit ihr zu reden. Und diejenigen, die es versuchten, gaben schnell auf, weil Julia ihrerseits keine Fragen stellte und nicht das geringste Interesse für deren Leben zeigte. Sie war nicht hier, um den Kontakt wiederaufzufrischen oder neue Freunde kennenzulernen. Sie war gekommen, um die Wahrheit zu erzählen. Die Stimmung zu verderben. Das war fast schon eine ihrer Spezialitäten. Mittlerweile hatte sie mehr getrunken als nötig, da sie dachte, es würde helfen, sie mutiger machen. So wie im Traum. War sie im Traum angetrunken gewesen? Egal. Jetzt war sie es.

«Julia?»

Sie drehte sich zu der Stimme um. Ein Typ, einige Jahre jünger als sie und die anderen im Raum. Blondes Haar, das an den Seiten abrasiert war, freundliche braune Augen und schiefe Vorderzähne, wie sein Lächeln zeigte. Er trug Kellneruniform und ein Namensschild. Trotzdem dauerte es einen Moment, ehe sie ihn wiedererkannte. Da hatte er bereits ihren leeren Blick bemerkt.

«Ich bin es, Rasmus Grönwall.»

«Ja, ich weiß, ich habe dich erst nicht wiedererkannt, aber jetzt …»

«Es ist ja auch lange her.»

«Arbeitest du hier?»

«Nur aushilfsweise. Wenn sie mich brauchen.»

«Was machst du sonst? Studierst du?»

«Nee, ich arbeite im Ica Maxi an der Kasse … Ich weiß noch nicht, was ich danach machen will. Und du?»

«Ich studiere. Jura. In Lund. Bin im fünften Semester.» Das war die Lüge, die sie den ganzen Abend über jedem erzählen würde, der sie fragte, egal wem.

«Ich hätte nicht gedacht, dass du kommen würdest.»

«Ich auch nicht, aber dann … habe ich mich doch dafür entschieden.»

Rasmus fragte nicht weiter nach, er nickte nur und blickte in den Saal, wo die Lautstärke im selben Takt stieg wie die Zahl der Barbesucher.

«Ganz schön viel los», stellte er fest. «Ich muss weiterarbeiten.»

«Es war schön, dich zu sehen», entgegnete Julia und spürte, dass sie es ernst meinte.

«Fand ich auch. Wir sehen uns bestimmt noch.»

Dann ging er. Julia blickte ihm nach, während er die Gläser und Flaschen von den Tischen räumte, an denen er vorbeikam. Rasmus Grönwall. Rebeccas kleiner Bruder. Wann waren sie sich das letzte Mal begegnet? Vor acht, neun Jahren, damals war er … vierzehn. Ja, das konnte hinkommen. Jetzt erinnerte sie sich daran. Sie hatten sich im Bus getroffen. Er hatte sich danach gesehnt, endlich fünfzehn zu werden, damit er legal Moped fahren durfte. Die meisten seiner Kumpels hatten schon im Frühjahr Geburtstag, er erst im Herbst.

Als Julia ihn das letzte Mal länger gesehen hatte, nicht nur kurz im Bus, war er vielleicht elf gewesen. Es war auf Rebeccas Beerdigung gewesen. Vielleicht auch danach noch einige Male. Aber ohne Rebecca hatte es keinen echten Grund mehr für sie gegeben, die Grönwalls zu besuchen.

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als einer der Männer im Anzug auf sie zukam. Philip. Den sie nicht bereit war zu treffen. Noch nicht.

«Hallo», sagte er und stellte sich einen Meter entfernt neben sie. Schweigend. Zur Menschenmenge gewandt, nicht zu ihr. Sie schielte zu ihm hin. Was wollte er? Warum stand er da?

«Wie geht’s?»

«Gut.»

Mehr nicht. Kein und selbst? oder Und dir?. Oder etwas anderes, das man als Interesse auffassen konnte oder als Aufmunterung, das Gespräch fortzusetzen.

«Möchtest du etwas von der Bar?»

«Hab schon.»

«Okay.»

Er entfernte sich einen Schritt, blieb dann aber wieder stehen und drehte sich zu ihr um. Sein Blick war ernst, als würde ihn etwas bedrücken. Es sah aus, als wollte er etwas sagen, es sich dann aber doch verkneifen. Anschließend verschwand er.

Eine Glocke schrillte, und jemand vom Hotelpersonal oder der Veranstalter des Festes begrüßte alle. Dann wurden sie in den Speisesaal geschickt.

Eigentlich herrschte freie Platzwahl, doch davon konnte natürlich keine Rede sein. Macke und das Trio bestimmten. Nicht nur über Philip. Sie nahmen das eine Tischende in Beschlag und sorgten mit kurzen Kommandos wie «Carl!», «Alva komm her!» und «Milos da!» dafür, dass der Tisch in einer absteigenden Beliebtheitsskala belegt wurde, bis zum hinteren Ende, wo sie saßen. Wo Julia saß.

 

Das Essen war in Ordnung. Nicht richtig heiß, nicht richtig gut, doch das spielte keine Rolle. Sie war sowieso zu nervös, um etwas zu essen. Bald. Bald würden sie es erfahren.

Sie hatte nicht vor, weiter mitzuspielen. Erneut ihre alte Rolle einzunehmen.

Das Gespräch an ihrem Tischende verlief zäh. Alle wussten sich zu benehmen, hatten Festessen und Bälle und Ähnliches besucht, kannten die üblichen Höflichkeitsphrasen, aber sie waren Fremde, die nur eines gemeinsam hatten: drei Jahre, in denen sie sich täglich gesehen hatten, ohne die Gesellschaft der anderen freiwillig gesucht zu haben, drei Jahre, an die fast alle seither keinen Gedanken mehr verschwendeten. Aber jetzt waren sie wieder da. Auf die schlimmstmögliche Weise.

So lächerlich. Alle miteinander. So verdammt lächerlich.

Julia schwieg das gesamte Essen über. Sie bereitete sich vor. Wartete auf die passende Gelegenheit. Als der Kaffee serviert wurde, stand sie auf. Überlegte, ob sie mit dem Teelöffel gegen ihr leeres Glas schlagen sollte, verzichtete aber darauf. Stattdessen schob sie ihren Stuhl zurück, stand auf und wartete schweigend. Sie sah, wie die anderen einander Blicke zuwarfen und sie dann fragend anblickten. Julia wollte eine Rede halten? Damit hätte niemand gerechnet. Dann zischte jemand «Pssst!», und die Leute am Tisch brachten nacheinander alle zum Schweigen, bis auf die Gruppe auf der anderen Seite: Macke, das Trio und einige weitere, die für diesen Abend in deren Kreis aufgenommen worden waren. Philip sagte ihnen, dass sie still sein sollten, Macke wandte sich betrunken zu ihm, und Philip deutete mit dem Kopf in ihre Richtung.

«Echt jetzt, du willst ’ne Rede halten?», grölte Macke, hob sein Glas und verschüttete den halben Inhalt auf sich und Janet. «Haltet die Fresse, Leute, Julia will ’ne Rede halten! Fresse halten!»

Richtig still wurde es nicht, Janet konnte sich das Kichern nicht verkneifen, und Emma konnte es nicht lassen, sie laut flüsternd zu ermahnen. Macke forderte die anderen erneut dazu auf, die Fresse zu halten, und richtete seine glasigen Augen auf sie.

Julia schwieg. Es war wie im Traum – und doch anders.

Der Ort, die Gesichter, die Geräusche, die Gerüche, aber das war nicht das Schlimmste. Sie fühlte sich nicht wie in ihrem Traum. Keineswegs. Stattdessen sah sie Macke, erinnerte sich an diesen glasigen Blick, dicht vor ihrem Gesicht, den warmen, fauligen Atem, den Schmerz, die Erniedrigung, und ganz im Gegensatz zu dem Gefühl in ihrem Traum entfachten diese Erinnerungen nicht ihre Wut. Sie machten sie nicht stark.

Sie machten sie klein.

Ängstlich. Unsicher. Unbedeutend.

«Hast du vor, heute noch was zu sagen?», schrie Macke quer über die weiße Leinentischdecke hinweg. «Oder willst du einfach nur dumm dastehen, Gummitroll?»

«Ich werde etwas sagen …», begann sie, nachdem das Gelächter über den Trollwitz wieder abgeebbt war. «Ich werde etwas über dich sagen.»

Dann verstummte sie erneut. All die Gesichter. Janets Gekicher im Hintergrund. Mittlerweile wandten einige die Blicke wieder ab, fanden die Situation unangenehm, und vielleicht ahnten sie, worauf Julia hinauswollte. Vor zehn Jahren mussten Gerüchte kursiert sein.

«Was willst du über mich sagen?», fragte Macke. Bildete Julia es sich nur ein, oder schwang jetzt eine andere Schärfe in seiner Stimme mit? Eine implizite Drohung, eine Warnung, nicht zu weit zu gehen, ihm nicht den Abend zu verderben. Angesichts dieser Drohung fühlte sie sich noch kleiner.

«Dann sag was oder setz dich wieder, dumme Kuh.»

Sie konnte nichts sagen, konnte sich aber auch nicht wieder setzen.

Wortlos verließ sie den Raum. Hörte noch, wie Macke ihr irgendetwas hinterhergrölte, verstand es aber nicht. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Das Trio lachte. Und sicher auch noch ein paar andere. Das Gelächter schien sie den ganzen Weg durch den leeren Ballsaal zu verfolgen, bis sie auf die Terrasse gelangte, die über die gesamte Breite des Hotels verlief, und die große Glastür hinter sich schloss. Sie ging zu dem niedrigen Holzgeländer und atmete schwer. Ihre Hände zitterten, als sie die Zigarettenschachtel herauszog. Sie steckte sich eine Kippe an und blies mit einem tiefen Seufzer den Rauch aus. Wie dumm konnte man sein? Was glaubte sie, wer sie war? Was hatte sie sich nur zugetraut? Ihr kamen die Tränen. Als weiterer Beweis für ihre Schwäche. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken die Wange ab.

«Wie geht es dir?»

Julia fuhr herum. An der Schwelle stand Rasmus, die dunklen Augen voller Mitgefühl.

«Gut, es ist nur … sie sind so verdammt lächerlich.»

«Sie sind besoffen.»

«Das ist es nicht, es geht um das alles hier, was soll das eigentlich darstellen? Wir haben nichts gemeinsam, und alle machen genauso weiter wie vor zehn Jahren. Als wäre nichts passiert. Keiner will zugeben, dass er sich weiterentwickelt hat oder erwachsen geworden ist. Ich hasse das verdammt noch mal!»

Was auch stimmte, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Sie hasste auch sich selbst. Dass sie zu feige war. Dass sie die Chance hatte verstreichen lassen. Dass sie überhaupt geglaubt hatte, eine Chance zu haben.

«Hast du noch eine Kippe?»

Julia reichte ihm die Schachtel, Rasmus schüttelte eine Zigarette heraus, und sie gab ihm Feuer. Er hielt seine Hände über ihre, gegen den Wind. Sie waren warm. Es war seltsam, ihn mit einer Zigarette zu sehen. Plötzlich bemerkte sie, dass er inzwischen richtig gut aussah. Das war ihr früher nie aufgefallen. Aber dafür hatte es auch nie einen Grund gegeben. Er war immer nur Rebeccas kleiner Bruder gewesen, immer im Weg und ehrlich gesagt ziemlich nervig. Ständig hatte er überall dabei sein wollen, sie nie in Ruhe gelassen und sie an die Mutter verpetzt, wenn sie etwas angestellt hatten.

«Warum bist du dann hergekommen?», fragte er und nahm einen tiefen Zug, ehe er den Rauch wieder ausblies. «Es war doch wohl absehbar, dass es so werden würde.»

«Eigentlich hatte ich etwas geplant.»

«Was denn?»

Sie schüttelte den Kopf, all ihre Ideen von Rache, Genugtuung und Widerstand kamen ihr jetzt so kindisch vor, ein naiver Wunschtraum. Sie hätte sich genauso gut ein Einhorn oder einen Nobelpreis wünschen können.

«Nichts, es war dumm von mir.»

Wieder bohrte er nicht weiter nach. Er schien zu spüren, dass sie es nicht erzählen wollte. Eine gute Eigenschaft. Sie standen an das Geländer gelehnt da und rauchten. Julia blickte in den Himmel. Sternenklar.

«Du bist toll.»

«Wie bitte?»

Sie drehte sich zu ihm hin. Hatte sie richtig gehört? Wollte er sich über sie lustig machen? Nichts in seinem Blick deutete darauf hin.

«Du bist toll. Coole Klamotten, und deine Haare gefallen mir. Du siehst aus wie das Mädchen aus Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt.»

«Kenne ich gar nicht.»

«Ein Film, oder ursprünglich eine Serie. Aber jedenfalls siehst du aus wie das Mädchen im Film.»

«Wirklich?»

«Ja.»

Sie rauchten weiter schweigend. Die Stille war angenehm. Rasmus war gewachsen, in jeder Hinsicht, und trotzdem war er jemand, den sie kannte, der sie kannte, der wusste, wer sie war, und es akzeptierte.

«Wie ist es bei euch zu Hause?», fragte sie. Nicht um das Schweigen zu brechen, sondern weil es sie wirklich interessierte.

«Gut.» Rasmus nahm einen neuen Zug und zuckte mit den Schultern. «Meine Eltern haben sich scheiden lassen, wusstest du das?»

«Nein.»

«Vor vier Jahren. Sie sind nicht mit Rebeccas Tod klargekommen.»

Bist du es denn?, dachte Julia. Ich glaube nicht, dass ich es bin.

«Wie traurig», sagte sie laut. «Aber geht es ihnen sonst gut?»

«Mein Vater hat eine Neue, aber ja, ich glaube, es geht ihnen eigentlich beiden ganz gut.»

«Grüß sie bitte.»

«Das werde ich machen. Wie lange bleibst du denn in der Stadt?»

«Ich weiß nicht.»

«Bist du morgen noch hier?»

«Vielleicht. Warum fragst du?»

«Wollen wir uns treffen?»

Sie sah ihn erneut an. Seine freundlichen Augen waren hoffnungsvoll. Wie damals, als er in Rebeccas Zimmer gekommen war und gefragt hatte, was sie vorhatten, und ob er dabei sein dürfe.

«Ja, warum nicht.»

Drei Meter. Mindestens. Nein, mehr.

Vanja lehnte sich auf ihrem Bürostuhl zurück und erlaubte es sich, die beeindruckend hohe Decke für einen Moment auf sich wirken zu lassen. Dieser Raum war mit Abstand der schönste, der ihnen je bei einem Einsatz zugeteilt worden war. Stuck, mattgelbe Barocktapeten an den Wänden, darunter eine etwa einen Meter hohe Kassettenvertäfelung. Breite, geschnitzte Türrahmen, dicke Holztüren mit Spiegeln und ein Parkettboden. Dieses Haus musste einmal für einen anderen Zweck erbaut worden sein, als Schule, Sanatorium, Ordenshaus oder Ähnliches. Völlig übertrieben, niemand würde so viel Zeit, Sorgfalt und Geld in eine Polizeistation investieren. Nicht einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dieses Gebäude vermutlich erbaut worden war, dreißig Jahre hin oder her, Vanja hatte wirklich keine Ahnung von Architektur, aber es war alt und einladend.

Sie fühlte sich willkommen.

Das war unter anderem auch Krista Kyllönens Verdienst. Sie hatte ihre Hilfe haben wollen, was die Zusammenarbeit grundsätzlich erleichterte, und sie hatte dafür gesorgt, dass die Gruppe in dem großzügigen Raum im ersten Stock untergebracht worden war. Krista war knapp vierzig Jahre alt und einen Kopf größer als Vanja. Das dunkle Haar hatte sie im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden, ihre grünen Augen blitzten schelmisch, und sie wirkte durchtrainiert, beinahe athletisch. Sebastian hätte garantiert versucht, sie ins Bett zu kriegen, dachte Vanja. Zu der Zeit, als es ihm noch ständig gelungen war, sich bei der Reichsmordkommission einzunisten. Das war schon einige Jahre her, zuletzt in Uppsala, und jetzt war er mit Ursula zusammen. Inwieweit ihn dies daran hinderte, in andere Betten zu springen, wusste Vanja nicht, aber Ursula schien glücklich zu sein, und Vanja wollte es auch gar nicht genau wissen.

Krista hatte bereitwillig alles zur Verfügung gestellt, worum sie gebeten hatten, ermöglichte ihnen die Nutzung zweier Zivilfahrzeuge, antwortete schnell auf alle Fragen, half ihnen, sich in den Fall einzuarbeiten, und informierte sie zügig über alle Ermittlungsfortschritte.

Wie sich herausstellte, waren es verschwindend wenige.

Das war nicht die Schuld der Polizei in Karlshamn, auch wenn Ursula sich wie immer hinter deren Rücken über die mangelnde Kompetenz der Lokalpolizei ausließ. Hoffentlich würde es helfen, dass sie jetzt vor Ort waren und ihre eigene Untersuchung anstellen konnten. Krista hatte ihnen auch ihre Kolleginnen und Kollegen vorgestellt und eine von ihnen, Sara Gavrilis, zu ihrer Kontaktperson ernannt. Wann immer sie Unterstützung brauchten, sollten sie sich an sie wenden. Wenn Sara ihnen nicht weiterhelfen könne, wisse sie, wer statt ihrer dafür zuständig sei. Vanja hatte kurz an Thomas Haraldsson denken müssen, einen Kollegen, dem bei einer Ermittlung in Västerås vor vielen Jahren einmal dieselbe Aufgabe zugedacht worden war – der unfähigste Beamte, den sie je kennengelernt hatte. Auf irgendwelchen ominösen Wegen war es ihm später gelungen, zum Anstaltsleiter der Haftanstalt Lövhaga befördert zu werden, und sie waren einander erneut in einem Fall begegnet, in dem es um den Serienmörder Edward Hinde gegangen war. Anschließend hatte sie glücklicherweise nie wieder mit ihm zusammenarbeiten müssen. Und im Gegensatz zu ihm wirkte Sara Gavrilis, genau wie ihre Chefin, überaus kompetent.

Vanja richtete ihren Blick erneut auf den Bildschirm. Wenig verwunderlich sorgte der dritte Mord für erhebliches Aufsehen. Die Medien machten den Fall groß auf und verkündeten, dass Karlshamn in Angst und Schrecken versetzt worden sei, und selbst wenn das bislang noch nicht zutraf, würde es nicht lange dauern, bis es so weit war. Dafür würden die Presse, die sozialen Medien und die Tatsache, dass ein Heckenschütze sein Unwesen trieb, schon noch sorgen.

Carlos erhob sich von seinem Platz neben der Tür und ging auf sie zu, und Vanja konnte seinem Gesicht bereits ansehen, dass er keine guten Nachrichten hatte.

«Lass mich raten», sagte sie, als er die Computerausdrucke vor ihr ablegte. «Sie ist schon einmal angezeigt worden, und es gab Ermittlungen, aber keine Verurteilung.»

«Ja», sagte Carlos. «Zweimal in den letzten neun Jahren. Heiratsschwindel.»

Vanja richtete sich auf und fing an, das Material zu sichten, obwohl sie schon ungefähr wusste, was sie erwartete. Eine Frau, die sich einem Mann annäherte, eine Beziehung mit ihm einging, die damit endete, dass dieser Mann, wenn die Frau früher oder später Schluss machte oder spurlos verschwand, um eine große Geldsumme erleichtert worden war.

Ein Mann aus Trelleborg, der als Erster Anzeige erstattet hatte, gab an, dass Angelica ungefähr 600000 Kronen von ihm erschwindelt hatte. Vanja blätterte um. Vier Jahre darauf, bei dem zweiten Betroffenen, der in Växjö zur Polizei gegangen war, waren es 450000. Mehr als eine Million Kronen also. Im Laufe von neun Jahren rund 100000 Euro. Entweder hatte Angelica Carlsson weitere Einkünfte, oder nicht alle Opfer waren zur Polizei gegangen. Vermutlich Letzteres. Die Scham hinderte die meisten daran. Sie kamen sich dumm vor, weil sie so schnell auf den Betrug hereingefallen waren und ihn nicht durchschaut hatten. Viele wurden das Gefühl nicht los, dass sie selbst schuld waren. Und Vanja musste dieser Einschätzung teilweise zustimmen, auch wenn sie wusste, dass sie es nicht durfte. Aber man konnte doch wohl durchaus erwarten, dass irgendeine Alarmglocke schrillte, wenn Menschen, die man erst kurze Zeit kannte, plötzlich große Geldsummen verlangten, indem sie etwa um eine Bürgschaft oder um eine Investition in eine plötzliche Firmengründung baten.

«Ich hasse solche Straftaten», sagte Carlos nachdrücklich. «Bei denen die Gutmütigkeit anderer Leute ausgenutzt wird.»

«Ja, das ist nicht nett», pflichtete Vanja ihm bei und war angesichts seiner engagierten Stimme froh, ihre eigentliche Meinung nicht preisgegeben zu haben.

«Es ist unverzeihlich, wie diese Betrüger ältere Menschen mit Bitcoin-Käufen übers Ohr hauen oder sich in ihre Computer einloggen und ihre Konten leeren. Solche Aasgeier!»

Vanja sah zu ihm auf, seine zornige Stimme erweckte bei ihr den Eindruck, dass er selbst einmal betrogen worden war oder es jemanden in seinem näheren Umfeld getroffen hatte. Aber sie wollte ihn nicht fragen. Wenn er ihr etwas mitteilen wollte, musste er es eben erzählen.

«Okay, danke», sagte sie und legte die Ausdrucke beiseite. «Versuche bitte, eine Verbindung zwischen Angelica und den anderen beiden zu finden.»

«Du meinst, abgesehen davon, dass alle drei schon einmal vor Gericht freigesprochen wurden oder das Verfahren gegen sie eingestellt wurde.»

«Ja, abgesehen davon.»

«Klar, mache ich.»

«Danke.»

Vanja lehnte sich wieder auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatten den Hauch eines Motivs. Schlimmstenfalls suchten sie einen selbsternannten Gerechtigkeitskämpfer, der Verbrecher bestrafte, in deren Fall die Justiz versagt hatte. Sie hoffte sehr, dass es nicht so war, denn dann konnten sie nahezu unmöglich vorhersehen, wo der Täter erneut zuschlagen würde und bei wem. Mehr Menschen, als man glaubte, waren schon einmal angezeigt worden, aber aus unterschiedlichen Gründen davongekommen, meistens aus Mangel an Beweisen.

Karlshamn bildete da sicher keine Ausnahme.

Billy betrat den Raum, und Vanja merkte, wie sich ihre Laune ein wenig besserte.

«Bitte, überbring mir gute Neuigkeiten», sagte sie mit einem Lächeln, als er sich ihrem Platz näherte.

«Was verstehst du unter guten Neuigkeiten?»

«Dass Dick bei der Armee zum Heckenschützen ausgebildet wurde, dass er ein langes Register von Gewaltdelikten hat, dass er letzte Woche eine Fahrkarte nach Karlshamn gekauft hat und wir wissen, in welchem Hotel er wohnt.»

«In diesem Fall muss ich dich leider enttäuschen», antwortete Billy und erwiderte ihr Lächeln. «Ich kann überhaupt keine Verbindung zwischen Angelica und irgendeinem Dick finden.»

«Ach nein?»

Das war keine große Überraschung, nicht nach dem, was sie gerade von Carlos erfahren hatte, aber Vanja spürte dennoch eine leise Enttäuschung.

«Soweit ich feststellen konnte, hat sie nie eine Wohnung in Göteborg besessen», fuhr Billy fort. «Weder mit einem Dick noch mit irgendjemand anderem.»

«Hat sie denn nicht einmal in Göteborg gewohnt?»

«Sie war jedenfalls nie dort gemeldet.»

«Carlos hat zwei Anzeigen gegen sie wegen Heiratsschwindel gefunden», erklärte Vanja und deutete auf die Ausdrucke auf ihrem Schreibtisch. «Also müssen wir annehmen, dass sie Dick nur erfunden hat, um ihrem neuen Freund ein wenig Geld abzuluchsen?»

«Nils hat gesagt, dieser Dick hätte ihr mit dem Gerichtsvollzieher und einer Anzeige gedroht … das klingt wie der klassische Auftakt, um anschließend nach einem Kredit zu fragen.»

«Allerdings.»

«Sie wurde aber nie verurteilt?», fragte Billy und griff nach den Ausdrucken, die Carlos ihr gebracht hatte. Vanja verstand, dass auch er auf der Rächer-Spur war.

«Nein.»

Billy überflog das Material und legte es nachdenklich wieder zurück.

«Was glaubst du?», fragte Vanja.

«Angenommen, der Täter wäre wirklich jemand, der die Rechtsprechung selbst in die Hand nehmen will», sagte Billy und kratzte sich an den Bartstoppeln. Carlos stand von seinem Platz auf und kam näher, um mitzuhören. «Es muss doch Leute in dieser Stadt geben, die Schlimmeres verbrochen haben als diese drei. Natürlich sind bei diesem Busunglück Menschen gestorben, aber die anderen? Kleinere Gewaltdelikte, Diebstahl und Betrug?»

«Du glaubst, dass sie noch eine andere Gemeinsamkeit haben?»

«So muss es sein, oder?»

«Okay, dann werden wir herausfinden, welche», hielt Vanja fest und sah sofort ein, dass dieser Satz in die Kategorie «leichter gesagt als getan» fiel, aber die beiden Kollegen nickten dennoch ernst und gingen wieder zu ihren Schreibtischen. Vanja beschloss, Ursula anzurufen, um sich zu erkundigen, ob die etwas in Angelicas Wohnung gefunden hatte. Sie griff nach ihrem Handy, kam aber nicht mehr dazu, die Nummer zu wählen, weil es im nächsten Moment an der Tür klopfte.

«Entschuldigt die Störung, aber ihr habt Besuch.»

Alle drehten sich zur Tür um, und ein Mann Mitte fünfzig trat hinter Sara Gavrilis in den Raum. Glatze, Brille mit Metallrahmen, ein Jackett über einem karierten Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war, dazu eine Chino-Hose. Vanja erhob sich und warf Sara einen fragenden Blick zu. Sie nahm an, es hatte einen Grund, dass dieser Besucher einfach so in ihr Büro spazieren durfte, anstatt an der Rezeption zu warten.

«Herman Göransson, der Bürgermeister», erklärte Sara mit einer Geste in Richtung des Gastes. «Vanja Lithner von der Reichsmordkommission leitet die Ermittlung.»

Na großartig, das hat uns gerade noch gefehlt, dachte Vanja, während sie lächelnd und mit ausgestreckter Hand auf den Mann zuging. Manchmal musste sie sich eingestehen, dass sie Torkel wirklich vermisste.

Die morgendliche Frühjahrssonne fiel durch die Fenster.

Ich sollte sie putzen, dachte Sebastian, während die Frau vor ihm weiterredete. Schon seit fünfzehn Minuten ging es um das Thema, das ihre Gespräche in den letzten drei Monaten dominiert hatte: ihre schon lange verstorbene Katze Pyttsan.

«Keinen scheint das zu kümmern, keiner nimmt es ernst, es ist fast so, als müsste ich mich schämen, weil ich um sie trauere.»

Anna-Clara Wernersson war Mitte vierzig und hätte in der Therapie eigentlich verarbeiten sollen, dass sie vor einigen Jahren von ihrem Mann verlassen worden war und ihre Tochter fast jeden Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Aber wenn sie lieber über ihre tote Katze sprechen wollte, war ihm das auch recht. Für 1500 Kronen die Woche hätte Sebastian sich alles angehört.

Er war auf das Einkommen angewiesen.

Das Erbe seiner Mutter war aufgebraucht, er hatte keine neuen Aufträge, hielt nur selten Vorlesungen, sein letztes Buch hatte sich nicht so gut verkauft wie erhofft, weshalb er seine alte Psychologenlizenz erneuert hatte und wieder praktizierte. Jetzt schob er die Gedanken an den Fensterputz beiseite und beugte sich zu Anna-Clara vor. Sie brauchte einen kleinen Gegenwert für ihre Therapiekosten. Er sah ihr tief in die Augen und schenkte ihr jene Aufmerksamkeit, die sie anderswo anscheinend nie bekam.

«Anna-Clara, Sie sollen sich nicht darum kümmern, was andere Menschen von Ihnen denken, sondern um sich selbst. Pyttsan war Ihnen wichtig, deshalb sollten Sie auch so um sie trauern, wie es sich für Sie am besten anfühlt. Haben Sie Blumen auf Ihr Grab gelegt? Das hatten wir ja beim letzten Mal so besprochen.»

Anna-Clara nickte eifrig.

«Ich habe es genau so gemacht, wie Sie gesagt haben.»

«Das ist gut. Trauer ist wichtig, sie muss genügend Raum erhalten, aber manche Menschen können eben nicht verstehen, wie es ist, ein geliebtes Haustier zu verlieren. Deshalb ist es wichtig, dass Sie den Mut haben, hier darüber zu sprechen, mit mir», fuhr er fort und lehnte sich zurück, ehe er wieder über die Fenster nachdachte. Sie waren wirklich schmutzig. Anna-Clara fuhr fort. Sie war auf eine zerbrechliche Weise niedlich, und in seinem früheren Leben hätte er erfolgreich versucht, sie zu verführen.

Aber jetzt nicht mehr.

Jetzt war es nicht mehr möglich oder gar erstrebenswert.

Vor knapp drei Jahren hatte er einige quälende Monate lang fürchten müssen, dass seine Rumvögelei Konsequenzen haben würde, über die er kaum nachzudenken wagte. Anschließend, nach Uppsala, hatte er seine Frauengeschichten eingestellt und war seriöser geworden, mit Ursula.

Er hatte das Gleichgewicht wiedergefunden. Ganz ernsthaft.

Seine Beziehungen zu den wenigen Menschen, die ihm nahestanden, pflegte er nun, ohne sie ständig zu zerstören und neu wiederaufbauen zu müssen.