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Der Wandel hin zu mehr Selbstorganisation in der Arbeitswelt, geprägt durch Agilität und New Work, ist nicht nur spürbar, sondern wird von den Beschäftigten aktiv gefordert. Unternehmen müssen Wege finden, ihren Mitarbeitenden Verantwortung zu übertragen und sie zu befähigen, schnelle Entscheidungen im Sinne des Unternehmens zu treffen. Das von Bernhard Eickenberg entwickelte Modell der fünf Säulen der Selbstorganisation bietet ein hilfreiches Framework dafür. Es zeigt, welche grundlegenden Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Führungskräfte und Unternehmen schaffen müssen, damit Mitarbeitende eigenverantwortlich und selbstbestimmt arbeiten können. Mit dem Ziel, ein lebendiges und ermächtigendes Arbeitsumfeld zu gestalten, in dem Mitarbeitende motiviert an einem Strang ziehen. Inhalte: - Wie Unternehmen von Selbstorganisation profitieren - Was benötigt wird, damit Selbstorganisation funktioniert - Die fünf Säulen: Selbstbestimmung, Alignment, Transparenz, Motivation, Kompetenz - Vertrauen als Fundament - Der Weg zum Unternehmen in Selbstorganisation
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bestell-Nr. 12167-0150
Bernhard Eickenberg
Die fünf Säulen der Selbstorganisation
1. Auflage, Mai 2025
© 2025 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG
Munzinger Str. 9, 79111 Freiburg
www.haufe.de | [email protected]
Bildnachweis (Cover): Stoffers Grafik-Design, Leipzig, KI-generiert mit Midjourney
Produktmanagement: Kerstin Erlich
Lektorat: Juliane Sowah
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Abb. 1: ALIGNMENT-SELBSTBESTIMMUNGs-Matrix nach Kniberg (2019)
Abb. 2: Sechs Auftragsbausteine nach Bungay (2011)
Abb. 4: Die vier Quadranten des Radical-Candor-Modells nach Scott 2017 (Übersetzung bewusst abweichend)
Abb. 5: Ergebnisse des Gallup Engagement Index 2023 (Gallup 2023).
Abb. 6: Diagramm zum korrekten Einsatz von Belohnungen (nach Pink 2020, vom Autor gekürzt)
Abb. 7: Auslastungsfalle
Abb. 8: Misstrauensspirale
Abb. 9: Raus aus der Komfortzone, rein in die Lernzone
Abb. 10: Logische Ebenen nach Dilts
Abb. 11: Impact Mapping – Beispiel mit dem Ziel, die Arbeitsqualität in einem Betrieb mit Projektarbeit zu steigern
Abb. 12: ADKAR-Modell
Als ich vor über 16 Jahren begann, mich intensiv mit Organisationsentwicklung und modernen Führungsansätzen in Unternehmen zu beschäftigen, hätte ich nicht gedacht, wie sehr mich dieses Thema begleiten würde. In meinen Rollen als Führungskraft, Berater und Coach habe ich Unternehmen dabei unterstützt, Veränderungsprozesse aktiv zu gestalten. Dabei bin ich immer wieder auf ähnliche Fragen gestoßen: Wie schaffen wir Strukturen, die gute Zusammenarbeit und Innovation ermöglichen, statt sie zu blockieren? Wie fördern wir Verantwortung und Eigeninitiative, ohne ins Chaos abzurutschen? Und vor allem: Wie gelingt es, dass Menschen in Organisationen nicht nur funktionieren, sondern ihr Potenzial wirklich entfalten?
Genau diesen Fragen widmet sich Bernhard Eickenberg in diesem Buch. »Die fünf Säulen der Selbstorganisation« liefert keine theoretischen Wunschvorstellungen, sondern praxisnahe Antworten darauf, wie Unternehmen eine Balance zwischen Autonomie, Klarheit und VERTRAUEN finden können. Es zeigt auf, warum SELBSTORGANISATION kein Selbstzweck ist, sondern ein Schlüssel für Anpassungsfähigkeit und nachhaltigen Erfolg. Häufig vernachlässigt und besonders relevant erscheinen mir die Säulen ALIGNMENT und KOMPETENZ – denn ohne eine gemeinsame Ausrichtung und die kontinuierliche Entwicklung von Fähigkeiten wird SELBSTORGANISATION in Unternehmen nicht die Kraft entwickeln, die man sich davon verspricht.
Ich habe in unterschiedlichen Unternehmen erlebt, wie herausfordernd, aber auch lohnend dieser Weg ist. Auch wenn es so klingt, ist SELBSTORGANISATION kein Selbstläufer. In unserem gewohnten System – von der Schule bis hin zu den üblichen Strukturen in Organisationen und Gesellschaft – sind klare Hierarchien tief verankert. In selbstorganisierten Teams zu arbeiten, bedeutet nicht nur mehr Freiraum, sondern damit einhergehend auch mehr Verantwortung. Die Konsequenzen daraus werden oft unterschätzt. Solange Unternehmen in einer Wachstumsphase sind, lassen sich selbstorganisierte Strukturen einfach umsetzen, weil der Fokus auf Aufbau und Weiterentwicklung liegt und Schwierigkeiten durch Wachstum gelöst werden können. Erst in Krisen und herausfordernden Zeiten zeigt sich, wie verantwortlich SELBSTORGANISATION wirklich gelebt wird.
Genau dann wird deutlich, dass selbstorganisierte Teams eine große Stärke haben: Sie können schnell reagieren und flexibel mit Veränderungen umgehen. Wenn sie gut laufen, bringen sie eine hohe Leistungsbereitschaft und MOTIVATION mit. Gleichzeitig erfordern solche Strukturen von jedem Einzelnen viel mehr KOMPETENZen – in Führung, Kooperation, Kommunikation und Entscheidungsfindung allein und in Gruppen. Selbstorganisiertes Arbeiten ist also ein langer Lernprozess, der nie ganz abgeschlossen sein wird.
Mein Rat: Stellen Sie sich auf eine lange Entwicklung ein. SELBSTORGANISATION ist nichts, das man einmal einführt und was dann für immer passt. Es geht um ein ständiges Justieren und Nachjustieren sowohl auf Team- als auch auf Unternehmensebene. Strukturen müssen so gestaltet sein, dass Organisationen immer handlungsfähig bleiben. Es muss also Mechanismen geben, um passfähige Entscheidungen schnell zu treffen – und das auch, wenn diese in selbstorganisierten Teams nicht (immer direkt) zustande kommen. Dass dies nicht nur etwas für kleine Unternehmen, sondern auch in großen Unternehmen mit mehreren Tausend Mitarbeitenden möglich ist, zeigt meine Arbeitgeberin. Sie hat sich über viele Jahre in eine Netzwerkorganisation mit mehreren hundert Teams transformiert.
Dieses Buch liefert wertvolle Impulse und Werkzeuge, um SELBSTORGANISATION in der eigenen Organisation wirksam zu machen. Es fokussiert wichtige Säulen, auf die es ankommt, und es zeigt, dass es sich lohnt, diesen Weg zu gehen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen – und noch mehr Inspiration für Ihre eigene Transformation!
Daniel Dubbel
Experte für moderne Zusammenarbeit und Transformation
Agility Master einer Einheit der DB Systel GmbH (Die DB Systel ist die Digitalisierungswegbereiterin der Deutschen Bahn)
www.inspectandadapt.de
Stelle dir vor, du kommst an einem Montagmorgen nach einem zweiwöchigen, ungestörten Urlaub zurück an deinen Arbeitsplatz. 14 Tage lang klingelte weder das Diensthandy, noch musstest du auf berufliche E-Mails antworten. Am Arbeitsplatz angekommen entdeckst du zu deiner Überraschung, dass es Probleme gab. Ein Dienstleister1 für das anstehende Event ist abgesprungen, eine Entscheidung für einen Ersatz musste kurzfristig gefällt werden.
Früher wäre das deine Aufgabe gewesen, den entspannten Urlaub hättest du dir abschminken können. Heute ist das anders. Heute haben deine Mitarbeitenden die Initiative ergriffen und das Problem gelöst, bevor du überhaupt davon erfahren hast. Sie sind vielleicht nicht genau so vorgegangen wie du, aber sie haben es gelöst – schnell und entschieden.
Auf deinem Schreibtisch haben sich während deiner Abwesenheit keine unbearbeiteten Aufgaben gestapelt, denn wie vereinbart haben andere deine Aufgaben übernommen. Ohnehin hast du die meisten operativen Aufgaben an dein Team übergeben können. Die langfristigen strategischen Weichenstellungen konnten ohne Probleme auf deine Rückkehr warten.
Klingt utopisch? Nur dann, wenn du deine Mitarbeitenden als Führungskraft von dir abhängig gemacht hast.
Auf den Punkt
SELBSTORGANISATION zielt auf den Zustand ab, in dem deine Mitarbeitenden aufkommende Fragestellungen selbstständig lösen – und dabei genau wissen, wie sie vorgehen müssen. Auf den fünf Säulen SELBSTBESTIMMUNG, ALIGNMENT, TRANSPARENZ, MOTIVATION und KOMPETENZ sowie dem Fundament VERTRAUENbasierend liefert dir mein Framework die Mittel, um SELBSTORGANISATION in deinem Unternehmen zu fördern.
Bitte verstehe SELBSTORGANISATION als Spektrum. Den idealen Grad müssen du und deine Mitarbeitenden gemeinsam finden.
Mir als Autor geht es nicht darum, deinen nächsten Urlaub zu sichern. Mir geht es darum, dich zu unterstützen, dein Unternehmen robuster und erfolgreicher zu gestalten, denn unsere Zeit ist heute deutlich schnelllebiger als früher. Unternehmen entstehen und vergehen schneller als je zuvor, neue Technologie wird in noch nie zuvor gesehener Geschwindigkeit entwickelt, während geopolitische und klimatische Veränderungen einen weltweiten Einfluss auf die Märkte haben.
Um unter diesen Bedingungen erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen flexibler und reaktionsfähiger werden. Es muss ihnen gelingen, ihre Antwortzeiten auf Veränderungen deutlich zu verkürzen. Projekte und Produktentwicklungszyklen müssen deutlich beschleunigt werden.
Letztlich gibt es dazu nur einen Weg: die Entscheidungsgeschwindigkeit innerhalb des Unternehmens zu steigern. Die Zeit, Informationen die Hierarchieleiter hinauf- und Entscheidungen hinabzuschicken, ist zu lang geworden, um mit dem Markt mitzuhalten. Unternehmen müssen funktionierende Wege finden, Mitarbeitenden Verantwortung zu übergeben und sie in die Lage zu versetzen, schnelle Entscheidungen im Sinne des Unternehmens zu treffen.
Genau darum geht es mir mit den fünf Säulen der SELBSTORGANISATION.
Es geht darum, ein System zu bauen, in dem sich Mitarbeitende selbst organisieren und genau verstehen, was das Unternehmen von ihnen braucht – und dieses dann leisten. Es geht darum, Verantwortung abzugeben und diejenigen, die sie übernehmen, in die Lage zu versetzen, die Wertschöpfung des Unternehmens zu steigern. Es geht darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das für die Arbeitenden lebendig und ermächtigend ist, sodass Arbeit Energie gibt, anstatt sie zu rauben.
1 Genderhinweis: Im Buch wird je Hauptkapitel abwechselnd die männliche oder die weibliche Form verwendet. Es sind immer alle Geschlechter gemeint.
Größere Attraktivität als Arbeitgeber? Zufriedenere und gesündere Mitarbeitende? Stressreduktion auf der Ebene der Unternehmensführung? Worum geht es bei SELBSTORGANISATION eigentlich?
Für mich geht es vor allem um eins: Geschwindigkeit.
Unsere Welt wird schneller und schneller. Technologiezyklen werden kürzer und das Tempo, in dem sich eine Technologie im Markt breitmacht, steigt stetig. Der Weg zum Massenprodukt (Abdeckung von 25 % des verfügbaren Marktes) dauerte für das Fernsehen noch 22 Jahre. Das Internet hat sieben gebraucht, das iPhone nur noch knapp zwei Jahre und neun Monate. Pokémon GO schaffte es in 19 Tagen (Tabelle 1).
Technologie/Produkt
Zeit bis 25 % Marktzugang
Flugzeug
68 Jahre
Telefon
50 Jahre
Radio
38 Jahre
Fernsehen
22 Jahre
PC
14 Jahre
Internet
7 Jahre
iPod
3 Jahre
iPhone
2,75 Jahre
2 Jahre
9 Monate
Angry Birds
35 Tage
Pokémon GO
19 Tage
Tab. 1: Zeit, die bestimmte Technologien/Produkte brauchten, bis sie Zugang zu 25 % des verfügbaren Marktes hatten (Anderson 2017).
Diese Geschwindigkeit beschleunigt auch andere Bereiche, zum Beispiel die Gesetzgebung oder die Wünsche und Bedürfnisse der Kundschaft.
Für Unternehmen, die in diesem Umfeld bestehen wollen, bedeutet das, dass sie die Geschwindigkeit, in der sie sich selbst verändern, erhöhen müssen. Sie müssen Schritt halten können. Und in vielen Fällen müssen sie – gerade in Deutschland – erst einmal aufholen. Und das heißt bekanntlich, vorübergehend schneller zu laufen als der Erste.
Für mich ist SELBSTORGANISATION der Schlüssel zu dieser erhöhten Anpassungsfähigkeit. Denn wenn ich versuche, weiterhin jede wichtige Entscheidung durch Führungskräfte treffen zu lassen, erzeuge ich automatisch Verzögerungen. Informationen müssen die Hierarchieleiter hinauf- und wieder hinablaufen, dazwischen werden Entscheidungen in Gremienmeetings getroffen. Ist das effizient?
Das »Simple Sabotage Field Manual« des Office of Strategic Services (Sorene 2016), welches die USA 1944 als Anleitung zur heimlichen Sabotage von Produktionsstätten herausbrachte, empfahl im Grunde bereits vor 60 Jahren, was wir heute – leider – vielerorts leben:
»Wenn möglich, verweisen Sie alle Angelegenheiten an Ausschüsse zur ›weiteren Untersuchung und Prüfung‹. Versuchen Sie, die Ausschüsse so groß wie möglich zu machen – niemals weniger als fünf. […] Bringen Sie irrelevante Themen so häufig wie möglich zur Sprache. […] Seien Sie besorgt über die Angemessenheit jeder Entscheidung – werfen Sie die Frage auf, ob die in Betracht gezogene Maßnahme in die Zuständigkeit der Gruppe fällt oder ob sie mit der Politik einer höheren Ebene in Konflikt geraten könnte. […] Verlangen Sie schriftliche Anweisungen. […] Steigern Sie die Zahl von Verfahren und Genehmigungen, die mit der Erteilung von Anweisungen, Gehaltsschecks usw. verbunden sind. Sorgen Sie dafür, dass drei Personen absegnen müssen, was eine Einzige erledigen könnte. Wenden Sie alle Vorschriften bis auf den letzten Buchstaben an. […] Halten Sie Konferenzen ab, wenn kritischere Arbeit zu erledigen ist.«
Sabotieren wir also unsere eigenen Unternehmen mit der Art, wie wir sie aktuell führen? Meiner Ansicht nach ja.
Im Versuch, perfekte Entscheidungen zu treffen,2 übersehen wir die Notwendigkeit von Flexibilität und Geschwindigkeit im Unternehmen. Wir müssen lernen, Verantwortung nach unten abzugeben. Wir müssen ein System schaffen, das sich selbst organisiert und korrigiert. Wenn wir Entscheidungen nicht mehr in Gremien, sondern als Einzelentscheide fällen lassen, steigt unsere Geschwindigkeit. Wenn marktnahe Teile unseres Unternehmens – die »Peripherie«, wie Niels Pfläging es nennt (Pfläging 2014) – Veränderungen einleiten dürfen, sobald sie einen Wandel im Markt wahrnehmen, steigt unsere Geschwindigkeit. Wenn Unternehmensabteilungen selbstständig Taskforces bilden können, die sich um Probleme an den Schnittstellen kümmern, steigt unsere Geschwindigkeit.
Aber Geschwindigkeit ist nicht der einzige Vorteil, den SELBSTORGANISATION einem Unternehmen und seinen Führungskräften/Unternehmern bietet:
Skalierung: Wer als Führungskraft oder Unternehmer Verantwortung nicht abgibt, sondern auf seine Person konzentriert, wird zur Grenze des eigenen Wachstums. Eine Skalierung des Unternehmens oder Teams ist nur dann möglich, wenn die eigene Arbeitszeit keine Barriere für die von Mitarbeitenden erledigte Arbeit darstellt. SELBSTORGANISATION entkoppelt beides und ermöglicht dadurch weiteres Wachstum.
Mehr Zeit für Führungsthemen: Viele Führungskräfte verbringen einen größeren Teil ihrer Zeit mit operativen Themen. Für die eigentliche Führungsarbeit wie die Erarbeitung langfristiger Strategien oder die Mitarbeiterführung bleibt dann oftmals wenig Zeit. SELBSTORGANISATION entlastet Führungskräfte, da die operativen Aufgaben in die Hände selbstorganisierter Mitarbeitender gegeben werden.
Entscheidungen werden dort getroffen, wo die Informationen sind: Ein Grund für langfristige Mängel in Prozessen, Abläufen, Ausstattung und weiteren zentralen Aspekten eines Unternehmens ist, dass Führungskräfte, die die Arbeit nicht selbst durchführen, wesentliche Entscheidungen für ihre Mitarbeitenden treffen – ohne genau zu verstehen oder zu erleben, welche Auswirkungen diese Entscheidungen haben. In SELBSTORGANISATION werden viele dieser Aufgaben den Mitarbeitenden übergeben, die ihre eigenen Bedürfnisse und die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit deutlich besser kennen. Das verbessert die Qualität der Entscheidungen und damit auch die Wertschöpfung – wenn die Mitarbeitenden die MOTIVATION haben, sich für den Erfolg des Unternehmens einzusetzen.
Weniger Abhängigkeit von der Führungskraft: Auch Führungskräfte werden krank, sind im Urlaub oder verlassen das Unternehmen. Wenn das operative Geschäft im Unternehmen jedoch so aufgesetzt ist, dass die Führungskraft ein wesentliches Glied der Kette ist, kommt es zu Unterbrechungen und Störungen. Selbstorganisierte Mitarbeitende können dagegen auch bei Abwesenheit der Führungskraft wertschöpfend arbeiten. Der große Vorteil für die Führungskraft: Sie kann auch mal verreisen, ohne Laptop und Handy mit in den Koffer zu packen.
Von Leader-Follower zu Leader-Leader
David Marquet, ehemaliger Kapitän des US-Navy-U-Boots »Santa Fe«, sah in der Abhängigkeit einer Organisation von ihrer Führungskraft noch ein weiteres Risiko: Er unterscheidet in seinem Buch »Turn This Ship Around« (Marquet 2012) zwischen Leader-Follower- und Leader-Leader-Strukturen. Erstere bestehen aus der klassischen Zweiteilung in Führungskraft und Mitarbeitende. Zweitere verlagern Leadership-Aufgaben auf die Mitarbeitenden – auch unter dem Begriff »Leadership on All Levels« bekannt. Marquet sah ein hohes Risiko in Leader-Follower-Strukturen, da sie die Fähigkeiten der Organisation stark mit denen des Leaders verknüpfen – was bedeutet, dass die Schwächen des Leaders die Schwächen der Organisation werden. Kurzfristig mag dies im Falle eines kompetenten Leaders großartige Erfolge bringen, diese sind aber nicht nachhaltig. Eine Leader-Follower-Struktur steht und fällt mit der Führungskraft. Läuft die Führungskraft in die falsche Richtung, folgen die Follower ihr wie Lemminge in den Abgrund. Eine Leader-Leader-Struktur dagegen ist sehr viel unabhängiger von ihrer Führungskraft, da jedes Teammitglied einen Teil der Leadership-Aufgaben übernimmt und die Erfolgsfaktoren so in die Kultur des Systems integriert werden. Sie ist auch Jahre nach Weggang des Leaders noch erfolgreich, da eine einmal geprägte Kultur länger erhalten bleibt als die prägenden Personen. Genau das zeigte sich bei Marquets Arbeit auf der Santa Fe, die noch Jahre nach seinem Abtritt überdurchschnittliche Ergebnisse erbrachte.
Die Leader-Follower-Struktur hat einen weiteren Nachteil: Marquet schreibt sie einer Zeit zu, in der es vor allem darum ging, körperliche Arbeit erledigen zu lassen. Die kognitive Arbeit der heutigen Zeit erfordere jedoch eine andere Form der Führung, denn als Follower behandelt, haben Mitarbeitende wenig Anreize, ihren Intellekt, ihre Kreativität und ihre Energie voll einzubringen.
Bessere Unternehmensergebnisse: Eine Studie (Baard et al. 2004) konnte zeigen, dass Kleinbetriebe, die ihre Mitarbeitenden selbstbestimmt arbeiten ließen, viermal höhere Wachstumsraten hatten als kontrolliertere Firmen und ein Drittel mehr Umsatz erwirtschafteten.
Zufriedenere Mitarbeitende: Mitarbeitende, die im selbstständigen Arbeiten unterstützt werden, sind zufriedener und erbringen bessere Leistungen (Baard et al. 2004). Oder mit den Worten Fred Reichhelds: »Du kannst keine loyalen Kunden bekommen, wenn du nicht vorher loyale Angestellte hast.« (Reichheld & Markey 2011)
Reduktion des Management Overhead: Wenn Mitarbeitende mehr Entscheidungen eigenständig treffen und sich selbst organisieren, fallen weniger operative Aufgaben auf (der teuren) Managementebene an. Das heißt nicht, dass ein Unternehmen mit SELBSTORGANISATION keine Führungskräfte mehr braucht. Eher ist es so, dass viele (operative) Aufgaben einer Führungskraft nun von den (kostengünstigeren) unteren Ebenen der Hierarchiepyramide übernommen werden, sodass auf Managementebene Kapazitäten frei werden für wichtigere Führungsaufgaben.
Bessere Prozesse und Abläufe: Mitarbeitende bemerken recht schnell, wo Prozesse und Abläufe, aber auch Strategien ineffizient oder fehlerhaft sind – schließlich arbeiten sie jeden Tag in diesen Prozessen und im Kontakt mit Kunden. Vineet Nayar, Vice Chairman von HCL Technologies Ltd., formuliert es so: »Die meisten Mitarbeiter eines Unternehmens wissen recht gut, was dort falsch läuft, mitunter noch bevor das Management es weiß beziehungsweise bereit ist, es zuzugeben.« (Nayar 2013). Wenn du diesen Menschen die Werkzeuge in die Hand gibst, um die Probleme selbst zu lösen, können Ineffizienzen schnell behoben werden und dein Unternehmen läuft reibungsfreier.
SELBSTORGANISATION bei allsafe
Als geschäftsführender Gesellschafter der allsafe GmbH & Co. KG setzt Detlef Lohmann in seinem Unternehmen stark auf SELBSTORGANISATION und Eigenverantwortung der Mitarbeitenden. Bereits in den 2000er-Jahren hat allsafe begonnen, Abteilungen aufzulösen und sich als Prozessorganisation aufzustellen – unter Abbau von Silogrenzen und Führungsstrukturen (Kapitel 8, »Der Weg zum Unternehmen in SELBSTORGANISATION«). Lohmann wollte erreichen, dass das Unternehmen weniger vom Kopf und mehr von den Mitarbeitenden gelenkt und damit auch schneller und anpassungsfähiger wird (Lohmann 2012).
Er baute dabei stark auf SELBSTORGANISATION und radikale Kundenorientierung und veränderte den Aufbau seines Unternehmens so, dass er diese Aspekte optimal unterstützt. Zum Beispiel gibt es bei allsafe keine getrennten Abteilungen für Logistik, Produktion und Qualitätskontrolle mehr – stattdessen sieben parallele, crossfunktionale Teams, welche die gesamte Wertschöpfungskette vom Materialabladen über die Produktion und Kontrolle bis zum Verladen abbilden. Innerhalb der Teams gibt es zwar weitere Spezialisierungen, aber auch die sind aufgeweicht – wenn in der Logistik Leute fehlen, hilft jemand aus der Produktion aus. Das ermöglicht es Lohmann, den Erfolg der Teams an einfachen und klaren Metriken abzulesen, wie fertiggestellte Stückzahl und Kundenzufriedenheit. Innerhalb der Teams können sich die Mitarbeitenden selbst organisieren.
Das Prinzip macht sich bezahlt: Durch die höhere Effektivität und den geringeren Management Overhead ist allsafe deutlich profitabler als vergleichbare Unternehmen in Deutschland.3
Doch SELBSTORGANISATION funktioniert nicht nur in Produktionsunternehmen mit einigen Hundert Angestellten. Ein niederländisches Pflegeunternehmen zeigte, dass es auch mit über 15.000 Mitarbeitenden funktioniert.
Buurtzorg: SELBSTORGANISATION in der Pflege
2007 gründete Jos de Blok das niederländische Pflegeunternehmen Buurtzorg (sprich: bürtsorch) mit einem radikal anderen Organisationsansatz. Anstatt in einer Pyramidenstruktur organisiert zu sein, besteht Buurtzorg komplett aus selbstorganisierten Teams. Es gibt weder Team- noch Regionalleiter, die die Teams managen. Was es dagegen gibt, sind (regionale) Berater, die den Teams helfen, wenn sie Unterstützung benötigen. Es gibt auch keine zentrale Personalverwaltung – die Teams stellen ihre Mitglieder selbst ein. 2021 bestand Buurtzorg aus rund 900 Teams, unterstützt durch eine Firmenzentrale mit nur 50 Mitarbeitenden (0,4 % der Angestellten). Dazu kommen 20 Coaches und zwei Geschäftsführer (Corporate Rebels 2021).
Das Modell geht auf: Verglichen mit anderen niederländischen Pflegeunternehmen konnte Buurtzorg zu diesem Zeitpunkt stolz auf eine 30 % höhere Kundenzufriedenheit, 33 % geringere Abwesenheitszeiten der Angestellten, eine 50 % geringere Personalfluktuation und 67 % weniger Overhead-Kosten verweisen. Heute hat das gemeinnützige Unternehmen über 15.000 Pflegekräfte in 1000 Teams, bereits fünfmal den »Arbeitgeber-des-Jahres«-Award erhalten und die Pflegebranche revolutioniert: Nicht nur, dass mittlerweile ALLE niederländischen Pflegeunternehmen nach dem Buurtzorg-Modell arbeiten, das Prinzip wurde auch in 23 Länder exportiert (Buurtzorg 2023).
2 Hier ließe sich vortrefflich darüber streiten, ob Entscheidungen von Geschäftsführungen wirklich »perfekter« ausfallen als solche, die von den Mitarbeitenden getroffen werden. Es gibt gute Argumente für beide Seiten. Mein Eindruck ist aber: Es wird seitens der Geschäftsführung häufig nicht ausreichend abgewogen, was es kostet, eine bestimmte Entscheidung in den oberen Ebenen der Hierarchiepyramide treffen zu lassen.
3 In einem Podcast-Interview mit mir sprach Detlef Lohmann von einer zwei- bis dreimal höheren Profitabilität.
Wichtig ist auch, einen Blick auf die Folgen fehlender SELBSTORGANISATION zu werfen. Was passiert mit einem Unternehmen, wenn es Mitarbeitenden diesen Freiraum nicht bietet? Denn eine Transformation hin zu SELBSTORGANISATION ist weder einfach noch billig. Sie erfordert strukturelle Änderungen, wie wir im Laufe der weiteren Kapitel sehen werden. Abgesehen von den erwähnten Vorteilen bietet sie einen weiteren Wert: die Behebung zahlreicher Probleme, die sich in Unternehmen mit geringer SELBSTORGANISATION einstellen.
Wo Freiräume zur SELBSTORGANISATION fehlen, finden wir unter anderem häufig folgende Symptome:
Dienst nach Vorschrift statt Übernahme von Verantwortung: Wo SELBSTORGANISATION nicht gefördert wird, ist es für die Mitarbeitenden selten lohnend, Verantwortung zu übernehmen. In der Regel findet man in entsprechenden Unternehmen eine destruktive Fehlerkultur, die auf ein hohes Maß an Perfektion in allen Abläufen abzielt. Die Folge: Für Mitarbeitende wird Eigeninitiative zum Risiko. Dadurch sinkt die Bereitschaft, eine Extrameile zu gehen. Stattdessen wird nur gemacht, was in der Jobbeschreibung steht.
Führungskräfte müssen viel intervenieren: Wenn Mitarbeitende ein geringes Mitbestimmungsrecht im Unternehmen gewohnt sind, sparen sie sich häufig das Mitdenken. Die Strategie des Hauses wird schulterzuckend akzeptiert, gearbeitet wird aber so, dass es das eigene Umfeld (insbesondere die Führungskraft) zufriedenstellt – egal ob das zur Strategie passt oder nicht. Gerade an Schnittstellen zu anderen Abteilungen entsteht dadurch schnell Reibung, da diese bei lokalen Optimierungen nicht immer berücksichtigt werden. Führungskräfte (eventuell höherer Ebene) müssen eingreifen, um die Probleme zu beheben. Für Prozessverbesserungen fühlen sich die Mitarbeitenden ebenfalls selten verantwortlich, sodass auch hier Führungskräfte in das operative Geschäft eingebunden werden müssen.
Niemand will Entscheidungen treffen: Wo Eigeninitiative und Verantwortung aufgrund einer destruktiven Fehlerkultur zum Risiko werden, finden sich immer wieder Anzeichen einer Nichtentscheidungskultur. Hier wird jede Entscheidungsverantwortung weitergereicht oder die Entscheidung möglichst lang aufgeschoben in der Hoffnung, dass eine andere Person die Wahl trifft. Falls diese sich als falsch erweist, kann auf jemand anderen gezeigt werden. Eine solche Kultur findet sich häufig in Unternehmen, die SELBSTORGANISATION nur scheinbar fördern, zum Beispiel indem sie Problemlösungen von ihren Mitarbeitenden erwarten, sie aber nicht mit den Mitteln ausstatten, die sie dafür brauchen.4
Ständige Rückdelegation an die Führungskraft: Ein sehr ähnliches Symptom ist, dass Mitarbeitende nur so weit arbeiten, bis sie auf ein Problem stoßen. Anstatt sich selbst Gedanken zur Problemlösung zu machen, delegieren sie die aufkommende Frage an ihre Führungskraft zurück.
Eskalation von Problemen: Analog zur Rückdelegation werden auch Probleme mit Nachbarabteilungen nicht zwischen den Mitarbeitenden gelöst, sondern regelmäßig über die Führungskräfte eskaliert.5
Schwierigkeiten, Führungskräfte aus dem eigenen Kader zu gewinnen: In selbstorganisierten Unternehmen müssen Mitarbeitende gelegentlich denken wie eine Führungskraft, weil sie selbst wichtige Entscheidungen treffen müssen. In fremdorganisierten Unternehmen müssen Mitarbeitende, die auf Führungsebene befördert werden, das erst einmal lernen. Das verzögert die Ausbildung von Nachfolge-Führungskräften und macht es schwerer, potenziell geeignete Kandidaten zu erkennen – schließlich hat man sie nie bei der Erledigung von Führungsaufgaben erlebt.
Geringe Lieferqualität: Wo Mitarbeitende fremdorganisiert werden, fühlen sie sich seltener verantwortlich für das Ergebnis. Es ist leicht, die Verantwortung auf jemand anderen zu schieben, wenn man in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt ist. So fühlt sich auch niemand für Fehler verantwortlich, was die Produktqualität mindert.
Langsame Anpassung an Veränderungen (inklusive Fehlentscheidungen): Niels Pfläging (2014) unterscheidet in Unternehmen die marktnahen Rollen (»Peripherie«) und die marktfernen Rollen (»Zentrum«). Er beobachtet, dass die Peripherie Marktveränderungen wesentlich schneller spürt als das Zentrum. Wenn aber in fremdgesteuerten Unternehmen Entscheidungen vor allem im Zentrum getroffen werden, wird die Anpassung an die Veränderungen stark verlangsamt – denn hier muss die Peripherie das Zentrum zunächst überzeugen, das Zentrum muss sich ein Bild der Lage machen und – wenn es dieses Bild jemals wirklich erhält – Entscheidungen treffen. Da das Zentrum oftmals aus Menschen besteht, die ehemals in der Peripherie gearbeitet und noch immer das Bild der alten Welt im Kopf haben, gelingt es nicht immer, Entscheidungen zu treffen, die zur neuen Welt passen.
Hohe Abhängigkeit von Führungskräften: Wo Führungskräfte selbst noch tief im Operativen mitarbeiten und viel für Mitarbeitende entscheiden, sind und bleiben sie wichtige Wissensträger. Sowohl das Team als auch das Unternehmen selbst geraten in eine starke Abhängigkeit von der Kompetenz dieser Personen. Das kann dazu führen, dass Projekte ins Stocken geraten, wenn diese Führungskräfte überlastet sind oder aufgrund von Überlastungserscheinungen ausfallen.
Vom Engpass zu SELBSTORGANISATION: Fallbeispiel einer Marketingagentur
Ein Beitrag von Innovation Facilitator Bianca Prommer
Die Geschäftsführerin und Gründerin einer Marketingagentur mit 15 Mitarbeitenden stand vor einer für sie komplexen Herausforderung. Obwohl das Unternehmen gut lief, war sie der Dreh- und Angelpunkt für alle Vertriebsaktivitäten, die Kundenakquise und die wichtigsten Entscheidungen. Ihre Tage waren von operativen Aufgaben geprägt, für Privates blieb kaum Raum. Der Wunsch war eindeutig: mehr Zeit für die Familie und strategische Aufgaben. Die Organisation sollte eigenständiger und Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt werden. Sie wünschte sich einen Wandel in Richtung SELBSTORGANISATION.
Schritt 1: Status-quo-Analyse
Im Einzelcoaching starteten wir mit dem Meddlers Game aus Management 3.06, um die aktuelle Organisationsstruktur sichtbar zu machen. Die Analyse zeigte eine klassische hierarchische Struktur mit der Geschäftsführerin an der Spitze. Die Aufgaben und Zuständigkeiten wurden metaphorisch als »Hüte« dargestellt. Sie selbst trug die meisten Hüte – ein klarer Hinweis darauf, dass sie der Engpass in der Organisation war.
Schritt 2: Zielbild definieren
Gemeinsam entwickelten wir ein Zielbild: Wie sollte die Organisation in Zukunft aussehen? Verschiedene Szenarien wurden mithilfe des Meddlers Game visualisiert und deren Vor- und Nachteile diskutiert. Im Zentrum stand der Wunsch, Verantwortung innerhalb des Teams klarer zu definieren und die operative Last zu reduzieren.
Schritt 3: Hypothesen ableiten
Aus der Analyse ergab sich die Hypothese, dass unklare Verantwortlichkeiten dazu führten, dass alle wichtigen Entscheidungen bei der Geschäftsführerin landeten. Dies führte nicht nur zu einer hohen Belastung, sondern auch dazu, dass das Team in seiner Eigenverantwortung eingeschränkt war.
Schritt 4: Konkrete Experimente starten
Um diese Hypothese zu testen, setzten wir ein Experiment mit Delegation Poker (Anm.: siehe »SELBSTBESTIMMUNGs-Poker« in Kapitel 2.6).
4 Ein befreundeter Consultant erzählte mir, dass er seinen Kontakt auf Unternehmensseite gefragt habe, was denn passiere, wenn dieser seinen Chef frage: »Wir haben fünf Projekte, schaffen aber nur vier. Wie sollen wir priorisieren?« Die Antwort des Kontakts: »Dann fragt er mich, warum ich mein Problem zu seinem Problem mache. Sieh halt zu, wie du alle fünf schaffst!«
5 Das Wort »Eskalation« ist hier manchmal wörtlich zu nehmen. Ich habe einen Fall erlebt, bei dem Team A eine Zuarbeit von Team B erbeten hat, aber durch ein schlechtes Briefing dafür gesorgt hat, dass Team B diese Arbeit zweimal machen musste. Anstatt dieses Problem direkt mit den Mitarbeitenden aus Team A zu besprechen, entschied Team B sich dazu, dies über die Führungsebene zu eskalieren. Es kam zu einem Treffen, bei dem Teamleiter B den Teamleiter A in der Unternehmens-Cafeteria anschrie – höchst emotional und eindeutig vermeidbar.
6 Das Meddlers Game ist ein spielerisches Modell, das Führungskräfte dabei unterstützt, die Organisationsstruktur des Unternehmens oder ihrer Abteilungen und die verschiedenen Vernetzungen zu visualisieren. Es nutzt kombinierbare Spielfiguren, um Rollen, Verantwortlichkeiten und Interaktionen innerhalb eines Systems zu analysieren und neu zu entwerfen. Siehe https://management30.com/practice/meddlers/ (Abrufdatum: 26.02.2025).
Hast du schon einmal einen dieser alten Holzöfen bedient, in denen du das Feuer am Laufen hältst, indem du langsam Scheit für Scheit nachlegst? Vielleicht auf einer Wandertour oder beim Aufenthalt auf einer Skihütte? Dann wirst du bemerkt haben, dass es nicht einfach ist, die Temperatur zu halten. Schnell legt man zu viele Scheite auf einmal ein und die Temperatur im Raum schießt hoch. Schwitzend öffnet man die Fenster und entlässt die warme Luft aus dem Raum oder legt Pullover und Jacken ab. Oder man wartet zu lang mit dem Nachlegen, bis man friert, um dann festzustellen, dass es eine ganze Weile dauert, die Temperatur durch Einwerfen neuer Scheite nach oben zu treiben. Im Endeffekt pendelt die Temperatur mal mehr, mal weniger stark um die Wunschtemperatur. Manuelles Eingreifen ist regelmäßig erforderlich.
Wie viel angenehmer ist eine Heizung, die nach modernem Standard funktioniert. Hier haben wir einen Temperatursensor im Raum und ein Panel an der Wand, an dem wir die Wunschtemperatur einstellen – die Heizung erledigt den Rest. Wir müssen weder eingreifen noch häufig checken, wie es um die Temperatur steht. Wenn uns doch einmal auffällt, dass zwischen Wunsch- und Realtemperatur eine größere Abweichung besteht, rufen wir den Reparaturdienst.
Gute SELBSTORGANISATION ist wie diese selbstregulierende moderne Heizung. Wir einigen uns mit unseren Mitarbeitenden auf sinnvolle Ziele, anstatt ständig selbst einzugreifen und Arbeitspakete zu delegieren. Unsere Mitarbeitenden wissen, was zu tun ist, und regulieren ihre eigene Arbeit entlang der Arbeitsziele. Ist mal etwas »kaputt«, dann sorgen wir für eine »Reparatur« (zum Beispiel, indem wir jemanden zum Coaching in das Team schicken).
Damit das funktioniert, müssen sowohl für die Heizung als auch für unser Team einige Rahmenbedingungen gestellt werden – die fünf Säulen der SELBSTORGANISATION.
Säule 1 – SELBSTBESTIMMUNG: Die Heizung muss selbstständig entscheiden können, ob sie heizt oder nicht. Wenn sie jedes Mal mit einem Bing-Ton um Erlaubnis fragen müsste, bevor sie einen Heizzyklus fährt, würde die Temperatur aus dem Gleichgewicht geraten, wenn wir für eine Zeit verhindert sind. Genauso ist es mit unserem Team. Darf es keine Entscheidungen fällen, wird es zu Verzögerungen kommen – so verschwenden wir die Arbeitskraft des Teams durch Wartezeiten und gefährden damit die Zielerreichung.
Säule 2 – ALIGNMENT7: Damit die Heizung ihren Dienst erfüllen kann, benötigt sie die Eingabe eines Zielwertes. Nur dann hat sie etwas, auf das sie hinregulieren kann. Genauso ist es mit unserem Team. Wenn du kein gemeinsames Zielverständnis mit deinem Team erreichst, musst du dich nicht wundern, wenn es etwas völlig anderes tut, als du wolltest. Wenn du dann wieder manuell in Entscheidungen eingreifst, hast du selbst den Rückschritt von der thermostatregulierten Heizung zum Holzofen eingeleitet.
Säule 3 – TRANSPARENZ: Ohne einen Temperaturfühler kann eine moderne Heizung nicht funktionieren. Wenn sie nicht zu jedem Zeitpunkt weiß, welche Temperatur im Raum herrscht, kann sie nicht auf den Zielwert hinsteuern. Auch dein Team kann ein Ziel nur erreichen, wenn es weiß, wie es in Bezug auf das Ziel steht. Daher braucht es TRANSPARENZ hinsichtlich wichtiger Kennzahlen, die regelmäßig beim Team eintreffen sollten.
Säule 4 – MOTIVATION: Hier lässt uns unser Heizungsvergleich im Stich, denn Heizungen haben keinen eigenen Willen – Mitarbeitende schon. Dieser Wille ist entscheidend dafür, ob SELBSTORGANISATION funktioniert, denn autonome Mitarbeitende tragen viel Verantwortung und entscheiden selbst darüber, wie hoch ihre Arbeitslast ist. Leider kannst du als Führungskraft nur begrenzt (positiven) Einfluss auf die MOTIVATION deiner Mitarbeitenden nehmen. Dein bestes Werkzeug besteht darin, durch gutes Zuhören und Fragen Frustrationspunkte zu finden und gemeinsam zu eliminieren. Glücklicherweise tragen außerdem die übrigen Säulen viel dazu bei, MOTIVATION zu steigern.
Säule 5 – KOMPETENZ: Eine Heizung muss korrekt programmiert und gebaut sein, um die Zieltemperatur zu halten. Analog müssen Mitarbeitende ausreichend KOMPETENZen besitzen, um ihre Arbeit so zu erledigen, dass die Ziele erreicht werden. Das betrifft sowohl KOMPETENZen in der inhaltlichen Arbeit als auch jene im Bereich der SELBSTORGANISATION. Diese KOMPETENZen mögen zu Beginn nicht im nötigen Maße vorhanden sein und müssen entsprechend geschult werden.
Mit diesen fünf Säulen schaffen wir ein System, das sich selbst regulieren kann – im Rahmen der von uns vorgegebenen Ziele. Doch dieses System wird nur rundlaufen, wenn es ein solides Fundament hat: VERTRAUEN.
Fundament – VERTRAUEN: Die Heizung kann nur funktionieren, wenn die gelieferten Daten zu Soll- und Ist-Temperatur korrekt sind. Der zentrale Rechner braucht diese Daten, um die Heizleistung zu errechnen. Stimmen die Werte nicht, kommt es zu Fehlern. Genauso ist es mit SELBSTORGANISATION: Wir müssen darauf vertrauen, dass wir einander die Wahrheit sagen. Um den Übergang zu und den Betrieb von SELBSTORGANISATION zu schaffen, benötigen wir ein VERTRAUENsverhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden – in beide Richtungen! Dabei geht es mehr um das moralische VERTRAUEN als um das VERTRAUEN in die KOMPETENZ. Als Führungskraft musst du dir sicher sein können, dass deine Mitarbeitenden ihr Bestes geben und du davon erfährst, wenn etwas schiefläuft. Die Mitarbeitenden wiederum müssen sicher sein, dass du Fehler nicht per se sanktionierst, damit sie diese offenlegen. Und sie müssen das Gefühl haben, dich und andere Mitarbeitende konstruktiv kritisieren zu dürfen und ihrerseits bereit für offene Worte sein, damit das System sich beständig weiterentwickeln und verbessern kann. Dieses Fundament gilt es zu Beginn zu legen, denn eine Transformation kann nur gelingen, wenn dieses VERTRAUEN zu einem Mindestmaß vorhanden ist.
Mit diesem Buch über die fünf Säulen der SELBSTORGANISATION und ihr Fundament möchte ich dir ein Werkzeug an die Hand geben, um dein Unternehmen oder Team so selbstregulierend zu bauen, wie es dein Heizungsbauer mit deiner Wand- und Fußbodenheizung gemacht hat. Es geht mir darum, dir und deinen Mitarbeitenden zu ermöglichen, einen individuellen, aber strukturierten Weg in Richtung (gesteigerter) SELBSTORGANISATION zu gehen.
Zunächst einmal ist da das Schema der sechs Bauelemente selbst, welches dir als eine Art Raster dienen wird, mit dem du die aktuelle Situation untersuchen kannst. Die wichtigste Frage: Welches Bauelement müssten wir ein Stück stabiler bauen, um SELBSTORGANISATION stärker zu stützen? Wenn du Problemen in der SELBSTORGANISATION in deinem Unternehmen begegnest, gehe gedanklich durch die Bauelemente und frage dich: Wenn dieses Element stabiler wäre, würde dann SELBSTORGANISATION besser laufen?
Zum Zweiten findest du am Ende jedes Kapitels, das einem der Bauelemente gewidmet ist, eine Übersicht über Methoden, die helfen können, die Säule beziehungsweise das Fundament zu stabilisieren oder ein Stück höher zu bauen. Diese Methoden sind oft nicht in voller Tiefe beschrieben – das kann dieses Buches nicht leisten. Sie sollen dir vielmehr Handlungsoptionen aufzeigen. Mir ist wichtig, dass du auf einer strategisch hohen Flughöhe erkennen kannst, was dein Unternehmen oder Team gerade braucht, und du Optionen kennst, mit denen du das Gebrauchte liefern kannst. Anschließend wirst entweder du oder jemand, den du damit beauftragst (möglicherweise unternehmensinterne Agile Coaches oder Unternehmensentwickler) sich mit den Details der entsprechenden Methoden beschäftigen müssen, um diese nachhaltig erfolgreich einzusetzen.
7 Der englische Begriff »alignment« bezeichnet die gezielte Ausrichtung von Teams, Abteilungen oder gesamten Unternehmen auf gemeinsame Ziele, Strategien und Vorgehensweisen. Es stellt sicher, dass alle Beteiligten in dieselbe Richtung arbeiten, Prioritäten klar sind und Entscheidungen auf einer abgestimmten Basis getroffen werden.
Vielleicht enttäusche ich jetzt deine Hoffnungen in dieses Buch, aber SELBSTORGANISATION ist kein Allheilmittel für alle Probleme in einem Unternehmen oder Team. Die in Kapitel 1.1 genannten Vorteile sind vielfältig, gehen aber auch mit erheblichen Kosten einher, nämlich dem Aufwand, die in Kapitel 1.3 genannten Säulen zu bauen und aufrechtzuerhalten – was in den meisten Fällen einen nachhaltigen Kulturwandel voraussetzt.
In der Praxis bedeutet dies, dass völlige SELBSTORGANISATION nicht für jedes Unternehmen das richtige Ziel sein muss. Aber SELBSTORGANISATION ist ein Spektrum, auf dem es für jedes Unternehmen eine optimale Position gibt. Mit dem Bild des Säulenmodells will ich genau das vermitteln: Wie hoch das Dach der SELBSTORGANISATION über dem Boden schweben soll, ist eine individuelle Wahl. Damit es aber gerade und stabil aufliegt, braucht es eine Gemeinsamkeit aus den fünf Säulen, die gleich hoch und stabil gebaut sind, sowie ein stabiles Fundament. Je höher das Dach, desto mehr Höhe und Stabilität sind gefragt.
Ich will dir mit diesem Buch nicht vermitteln, dass völlige SELBSTORGANISATION das erstrebenswerteste Ziel für dein Unternehmen oder Team ist. Das musst du auch nicht jetzt entscheiden. Gebäude werden Stein für Stein gebaut. Ebenso sieht es mit dem Konstrukt der SELBSTORGANISATION aus. Der Bauprozess wird sich über mehrere Jahre ziehen – und auf diesem Weg ist Reflexion entscheidend: Wo stehen wir? Wo sind Spannungen entstanden? Wo müssen wir innehalten? Solange du sicherstellst, dass du stets an dem Bauteil arbeitest, das gerade am instabilsten ist, wird das Dach immer stabil sein. Solange du das Gefühl hast, dass eine weitere Steigerung von SELBSTORGANISATION deinem Unternehmen oder Team guttut, baust du weiter. Diese Reise braucht kein Ziel. Ihr könnt aufhören, wenn sich der Zustand gut und richtig anfühlt. An der einen oder anderen Stelle werdet ihr vielleicht auch einmal zurückbauen, wenn ihr merkt, dass ihr die Steine zu hoch oder auf die falsche Säule gelegt habt. Findet dabei eine Baugeschwindigkeit, die für euch funktioniert.
In der Praxis wird oft unterschätzt, wie tiefgreifend ein Wandel hin zu mehr SELBSTORGANISATION sein muss und welche Spannungen dabei entstehen können. Unternehmen führen flächendeckend Methoden wie Scrum oder SAFe ein und denken, nach einem Jahr Eingewöhnungsphase würden die Mitarbeitenden selbstorganisiert arbeiten können. Dabei wird oft übersehen, dass nicht alle Säulen gleichzeitig hochgezogen werden, sondern einige über die anderen hinausschießen (meist die Säule SELBSTBESTIMMUNG), was eben keine stabile Auflagefläche für das Dach liefert. Achte auf eine gleichmäßige Bauhöhe aller Säulen und evaluiere stetig – gemeinsam mit deinen Mitarbeitenden –, welche Säule aktuell die Dachhöhe beschränkt.
In vielen Seminaren rund um SELBSTORGANISATION, New Work8 und Agilität9 begegnet mir immer wieder die Einstellung, dass diese »Utopie« gut und schön, aber mit den eigenen Mitarbeitenden nicht umsetzbar sei. Meistens damit begründet, dass die Mitarbeitenden keine Verantwortung übernehmen und keine Initiative leben möchten. Oder dass die KOMPETENZ fehle, sich selbst zu organisieren und selbst zu entscheiden.
Ja, das ist möglicherweise in deinem Umfeld so, zumindest aktuell. Es ist ein Symptom eines fremdgesteuerten Systems. Aber dieselben Mitarbeitenden können in einem selbstorganisierten System aufblühen und zeigen, dass sie sehr wohl MOTIVATION und Initiative mitbringen – wenn sie selbstbestimmt entscheiden dürfen und die Zeit bekommen, sich in das neue System einzugewöhnen.
Das bedeutet aber auch, dass ein Wandel nicht von heute auf morgen geschehen wird. Als Führungskraft kannst du keinen Schalter umlegen, der von Zustand F(remdorganisiert) in Zustand S(elbstorganisiert) schaltet. Es ist, wie in Kapitel 1.4 beschrieben, ein Prozess, der mehrere Jahre dauern wird, denn deine Mitarbeitenden müssen sich langsam mitverändern. Nicht jeder mag diese Reise mitgehen, aber letztlich wird es immer jene geben, die sich der neuen Idee anschließen – und die ziehen weitere Kollegen an. Meiner Erfahrung nach sind es letztlich immer mehr Personen, als die Führungskräfte ursprünglich erwartet haben.
Wann also ist SELBSTORGANISATION das falsche Mittel für dich?