Die fünf Wunden - Kirstin Valdez Quade - E-Book

Die fünf Wunden E-Book

Kirstin Valdez Quade

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Beschreibung

Ausgerechnet dem arbeitslosen Amadeo Padilla wird die Ehre zuteil, die Karfreitags­-Prozession im kleinen Ort Las Peñas, New Mexico, als Jesus anzuführen. Doch plötzlich taucht seine fünfzehnjährige Tochter Angel auf und droht seine Pläne mit ihren weltlichen Problemen zu durchkreuzen: Die taffe Angel ist im neunten Monat schwanger und nach einem Streit Hals über Kopf aus dem Haus ihrer Mutter ausgezogen. Die fünf Wunden erzählt mit liebevollem Blick davon, wie die verschiedenen Generationen der Familie Padilla das erste Lebensjahr des Babys erleben: Amadeos Mutter Yolanda, die noch mit einer neuerlichen Entdeckung zu kämpfen hat, Angels Mutter Marissa, mit der Angel nichts mehr zu tun haben will, und Yolandas Onkel Tíve, das griesgrämige Oberhaupt der Familie. Dieses wunderbare Debüt von Kirstin Valdez Quade, deren Erzählungen in der New York Times als Meisterwerke ge­feiert wurden, erscheint nun endlich auf Deutsch.

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Seitenzahl: 686

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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

TEIL I

TEIL II

TEIL III

DANKSAGUNG

Autor:innenporträt

Übersetzer:innenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Widmung

Für meine Familie

TEIL I

SEMANA SANTA – KARWOCHE

Dieses Jahr ist Amadeo Padilla Jesus. Die Hermanos, die Mitglieder der Bruderschaft, haben im Hof hinter der Morada alles vorbereitet.

Er ist kein Jesus wie aus der Kinderbibel, mit glänzendem Haar, rosigen Wangen und sanftem Blick. Amadeo ist muskulös, hat einen kahl rasierten, von Teenager-Prügeleien vernarbten Schädel und einen Stiernacken.

Amadeo zimmert das Kreuz aus schwerer grober Eiche, nicht aus Kiefer. Er ist barfuß wie die anderen Hermanos, die ihre Ärmel hochgekrempelt haben und die alabados, die Lobpreisungen, singen. Sie haben ihre weißen Hosen gewaschen, ihre Geißeln, wie es die Tradition verlangt, aus dicken Palmwedel-Strängen geflochten; sie haben Risse in den schwarzen Kapuzen geflickt, die sie bei der Prozession tragen werden, um ihre Demut zu demonstrieren. Der Hermano-Älteste – Amadeos spindeldürrer Großonkel, grand-tío Tíve, der sie alle überraschte, indem er den nichtsnutzigen Sohn seiner Nichte auswählte – spielt auf der pito, entlockt ihr hohe klare Flötentöne.

Heute Morgen beim Aufwachen hatte Amadeo die Idee, das Kreuz mit Nägeln zu beschlagen, um es noch etwas schwerer zu machen. Er hält den Hammer mit beiden Händen hoch über den Kopf und lässt ihn krachend niedersausen. Die Bretter federn, das Geräusch prallt von den Mauern der Morada ab, trifft auf die Idle Hour Cantina auf der anderen Seite der Gasse.

Amadeo bricht der Schweiß aus, was ungewohnt für ihn ist. Normalerweise schwitzt er beim Essen oder wenn er zu viel trinkt, aber nicht bei körperlicher Arbeit. Amadeo ist dreiunddreißig Jahre alt, genau wie Jesus damals. Leider hat er nicht den geringsten Ehrgeiz. Seine Mutter kann das bestätigen, auch wenn es ihr fast das Herz bricht. Yolanda kocht noch ­immer für ihn, stellt ihm jeden Tag sein Essen hin.

Heute Nachmittag allerdings legt er sich so ins Zeug, dass sogar seine Tattoos ins Schwitzen kommen. Plötzlich hat er das Gefühl, seinen Körper zu verlassen und sich von außen zu ­sehen. Ein flammendes Herz Jesu pocht auf seiner linken Brust, Schweiß tropft von der Spitze des blutverschmierten Dolchs auf seinem Bizeps und die Rosen, die sich an seiner linken Seite hochranken, erblühen unter der körperlichen Anstrengung. Auf seinem Rücken glänzt die Jungfrau von Guadalupe, drei vertikale Narben durchschneiden ihr Kleid – die sellos, die ­geheimen Zeichen der Hermandad. Die wulstigen und noch frischen rosa Schnitte, jeder so lang wie eine Männerhand, sind der Beweis für seine Aufnahme in die Bruderschaft.

Obwohl Amadeo sein ganzes Leben in Las Penas verbracht hat, sieht er das Dorf heute mit ganz neuen Augen: Die Konturen sind schärfer, die Farben reiner. Das Unkraut entlang des Zauns, die Latten des Zauns selbst, die wogenden Wipfel der Pappeln sind überdeutlich und strahlen etwas Unwirkliches aus. Die Sonne, die hinter Amadeo untergeht, taucht die Morada in orangerotes Licht, ihre Umrisse zeichnen sich scharf gegen den Himmel ab. Er schlägt mit dem Hammer zu, trifft jeden Nagel exakt auf den Kopf, genießt die fließenden Be­wegungen, die allmähliche Ermattung seiner Muskeln. Er ist mit sich im Reinen, jeder Handgriff sitzt. Diese Rolle ist seine Bestimmung.

Dann schlägt er den letzten Nagel ein und er ist wieder zurück in seinem Körper. Die Hermanos packen zusammen und machen sich auf den Heimweg.

––

Als Amadeo in die Kieseinfahrt einbiegt, sieht er seine Tochter Angel auf der Treppe sitzen. Sie wohnt bei ihrer Mutter in ­Española und er hat sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Dass sie im achten Monat schwanger ist, weiß er von seiner Mutter, und die weiß es von Angel.

Weißes Tanktop, schwarzer BH, ein goldenes Kreuz, das auf ihre Brüste zeigt, für den Fall, dass man sie nicht bemerkt hat. Ihr Bauch ist prall und rund wie ein horno, ein Backofen. Die obersten Knöpfe ihrer Jeans stehen offen, scheinen zu signa­lisieren: Schaut her, so leicht kann’s passieren. Sie hat diese Woche Geburtstag. Am Karfreitag wird sie sechzehn.

»Mist«, flucht Amadeo, zieht die Handbremse an. Die letzte Woche war die wichtigste Woche im Leben Jesu. Da ist alles Entscheidende passiert. Deshalb sollte er sich mit dem Kreuzestod und der Auferstehung beschäftigen und nicht mit seiner minderjährigen schwangeren Tochter. Er wirft einen nachdenklichen Blick auf den am Rückspiegel baumelnden Rosenkranz.

Offenbar hat Angel seinen Gesichtsausdruck nicht gesehen, denn sie steht lächelnd auf und winkt ihm mit beiden Händen. Mit vorgestrecktem Bauch kommt sie auf seinen Pick-up zu. Dann bleibt sie stehen, dreht sich halb zur Seite, um ihm ihre Kugel vorzuführen.

Sie hat eine große goldene Umhängetasche dabei und eine Reisetasche – Marlboro lässt grüßen. Er steigt aus und Angel umarmt ihn ungestüm, drückt dabei ihren Bauch gegen seinen.

»Ganz schön dick, was? Hab mir gerade erst ’ne neue Hose gekauft und jetzt ist die schon wieder zu eng.«

»Hey.« Er klopft seiner Tochter zögerlich auf den Rücken, zwischen die BH-Träger, dann tritt er einen Schritt zurück. »Was gibt’s?«, fragt er. Das klingt nicht gerade begeistert, aber er will nicht, dass sie denkt, sie wäre willkommen, nicht mitten in der Karwoche und schon gar nicht, wenn seine Mutter verreist ist.

»Hatte Zoff mit Mom, also hab ich ihr gesagt, sie soll mich zu dir fahren.« Sie sagt es ganz unbekümmert. »Ich hatte keine Ahnung, wo ihr seid, du und Gramma. Ich sitz seit mindestens zwei Stunden hier und bin schon halb verhungert. Schwangere müssen ordentlich was essen. Ich wär beinah bei euch eingebrochen, bloß um mir ein Sandwich zu machen. Habt ihr nicht eure Handys gecheckt?«

Amadeo hakt die Daumen in seine Hosentaschen, schaut zum Haus, dann wieder auf die Straße. Die Sonne ist verschwunden, der Abendhimmel ist stahlblau.

»Zoff?« Es bereitet ihm eine leise Genugtuung, dass Angel sauer auf ihre Mutter ist. Marissa hat ihm immer das Gefühl gegeben, unzulänglich zu sein.

»Ich will nicht drüber reden«, sagt Angel entschieden. »Was mein Kind und ich jetzt brauchen, ist familiäre Unterstützung. Und das hab ich ihr auch gesagt.«

»Ich bin grad ziemlich beschäftigt«, sagt er mit gespieltem Bedauern und schüttelt den Kopf. »Es passt jetzt wirklich schlecht.«

Angel wirkt nicht gekränkt, nur neugierig. »Wieso denn? Hast du einen Job oder so was?«

Sie nimmt ihre Reisetasche und geht auf die Haustür zu, schwankt unter dem Gewicht ihres Gepäcks. »Meine Mom ist nicht da«, ruft er ihr nach. Es ist ihm peinlich, ihr den wahren Grund zu sagen, weshalb er sie nicht hier haben will, nämlich, dass er sich voll und ganz seinen Pflichten als penitente, als Büßer, widmen muss.

»Wo ist denn Gramma?«, fragt sie besorgt. Sie hält die Fliegengittertür mit der Hüfte auf und wartet darauf, dass er die Tür aufschließt.

»Hör mal, ich hab diese Woche ’ne Menge um die Ohren.« Atemlos spricht er weiter: »Ich trag nämlich dieses Jahr das Kreuz. Ich bin Jesus.«

»Ach so, okay. Aber sie ist doch bald wieder zurück, oder?«

Yolanda ist gleich zu Beginn der Parlamentsferien in Urlaub gefahren, kurz vor der Karwoche, als Amadeo sie am meisten gebraucht hätte. »Wer weiß, vielleicht bleib ich ja auch ganz dort«, hatte sie leichthin gesagt, während sie ihre Sachen packte. »Vegas ist toll. Die Shows, die vielen Lichter, der ganze Trubel.«

»Sie hat nicht gesagt, wann sie zurückkommt. Wahrscheinlich Ende nächster Woche.«

Mit einem theatralischen Seufzer lässt Angel ihre Reise­tasche und ihre Umhängetasche auf den Küchenboden fallen. Erst da wird Amadeo klar, dass er beim Tragen hätte helfen sollen. Aber ihr scheint es gar nicht aufgefallen zu sein. Sie ­redet immer noch ohne Punkt und Komma.

»Und dann hab ich zu Mom gesagt: ›Egal, dann geh ich halt zu Gramma. Der bin ich wenigstens wichtig.‹«

––

Während Angel ihnen abends etwas zu essen kocht – eine Dose Chili über einen halb garen Kürbis kippt und dazu Käsebrötchen aufbackt –, erzählt sie ihm von Lebensmittelgruppen und gesunder Ernährung und übernimmt dann das Kommando über den Fernseher. »Siehst du, mein Schatz?«, sagt sie zu ­ihrem Bauch. »Das Kälbchen geht wieder in den Stall zurück. Und da gehört’s ja auch hin.«

Amadeo hat sich in eine Ecke der Couch verzogen und fühlt sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er überlegt, wann er das letzte Mal mit seiner Tochter allein war, kann sich aber nicht mehr erinnern. Vielleicht an Weihnachten vor zwei oder drei Jahren; er weiß noch, wie er ziemlich verlegen hier gesessen und Angel nach ihren Lieblingsfächern gefragt hat, während Yolanda im Supermarkt oder bei irgendwelchen Nachbarn war.

Er reibt sich nervös die Oberschenkel, fährt sich mit der Zunge durch den Mund. Die Porzellanpuppen in ihren Rüschenkleidchen, die zwischen Schnapsgläsern und anderen Souvenirs in Yolandas Vitrine sitzen, starren ihn mit gläsernen Augen an. Mit einem mulmigen Gefühl denkt er an Tío Tíve. Was würde er davon halten, dass Angel hier ist? Ein Kind der Sünde, das selbst gesündigt hat.

»Tja«, sagt Amadeo. »Deine Mom will dich doch bestimmt bald wieder zurückhaben, oder?«

»Sie muss kapieren, dass sie nicht der einzige Mensch in meinem Leben ist. Sie muss lernen, mich zu respektieren.«

Amadeo knetet seinen Oberschenkel. Er kann sie unmöglich wegschicken. Yolanda würde ihm die Hölle heiß machen. Er wünschte, seine Mom wäre hier. Yolanda und Angel stehen sich ziemlich nah. Sie schickt ihrer Enkelin Schecks, fünfundzwanzig Dollar hier, fünfzig Dollar da, lädt sie in Española oder Santa Fe zum Essen ein, und ein paarmal im Jahr gehen die beiden in Outlet Stores shoppen.

»Komm doch lieber wieder, wenn deine Grandma zurück ist.« Sein schlechtes Gewissen sticht ihm ins Herz wie ein Dolch.

Angel scheint ihn nicht gehört zu haben. »Ich mein, die Frau erzählt mir die ganze Zeit, dass ich mein Leben versaut hätte und dass ich nichts aus ihren Fehlern gelernt hätte, aber das ist ja wohl nicht mehr zu ändern, oder? Ich mein, okay, hab schon kapiert: Ich hab ihr bescheuertes Leben ruiniert. Okay. Aber wenn sie einen auf oberschlau macht, dann soll sie sich gefälligst auch so verhalten.«

Amadeo sollte seine Schwester anrufen und sie bitten, Angel zu sich und ihren Cousinen nach Albuquerque zu holen. Und ihm mal wieder aus der Patsche helfen. Das wäre genau ihr Ding. Aber zurzeit redet er nicht mit Valerie, schon seit Weihnachten nicht.

Angel sieht ihrer Mutter ziemlich ähnlich, das gleiche glänzende, dichte Haar, der gleiche frische Teint, aber sie hat nicht so feine Gesichtszüge wie Marissa. Da haben sich wohl seine Gene durchgesetzt. Er fragt sich, ob Marissa damals auch so kindlich war wie Angel jetzt. Marissa war sechzehn, er achtzehn, aber sie hatten sich erwachsen gefühlt. Ihre Eltern waren wütend gewesen und beschämt, hatten aber trotzdem für das junge Paar eine Babyparty gegeben. Amadeo hatte es genossen, im Mittelpunkt zu stehen und die Glückwünsche ihrer und seiner Verwandten entgegenzunehmen, sich von den mit Tamales und biscochitos, Anis-Zimt-Keksen, beladenen Papptellern zu bedienen, die ihnen die alten Frauen reichten. Sie waren bereit, ihnen alles verzeihen, wenn sie sich nur kirchlich trauen ließen. Er hatte sich hingestellt und Marissa zugenickt: »Dieses Lied ist für meinen Schatz.« Bendito, bendito, bendito. Los ángeles cantan y daban a Dios. Alle klatschten, die alten Frauen betupften sich die Augen. Yolanda warf ihm vom anderen Ende des Zimmers Kusshände zu. Amadeo war stolz auf sich, weil er jetzt Verantwortung für seine Freundin und sein ungeborenes Kind trug.

Später hatte es natürlich keine Hochzeit gegeben und keine gemeinsame Wohnung. Angel kam auf die Welt, lernte laufen und sprechen, ohne jede Unterstützung von Amadeo. Die alten Frauen schüttelten resigniert die Köpfe; sie hätten eigentlich wissen müssen, dass auf Amadeo kein Verlass war, genauso ­wenig wie auf alle anderen Männer. »Selbst die vernünftigsten von ihnen sind keinen Pfifferling wert«, pflegte seine Großmutter zu sagen. »Außer dir natürlich, hijito«, fügte sie liebevoll hinzu, immer wenn Amadeo in der Nähe war. »Du bist einen Pfifferling wert.«

Als Angel fünf war, stellte Amadeo erleichtert fest, dass es ganz einfach war, seine Vaterpflichten loszuwerden. Er musste nur Marissas Anrufe – viele waren es sowieso nicht – ignorieren, und schon war er ein freier Mann.

»Ich hab die Schule nicht endgültig geschmissen«, sagt ­Angel, als hätte er sie danach gefragt. »Ich bin jetzt in so einem Programm, wo man seinen Abschluss nachholen kann. Es heißt Smart Starts!. Du brauchst dir also keine Sorgen zu ­machen.« Sie sieht Amadeo erwartungsvoll an.

Amadeo wird klar, dass er überhaupt nicht auf die Idee ­gekommen ist, sich Sorgen um sie zu machen, er hat sich nicht mal gefragt, ob sie noch zur Schule geht. »Gut. Sehr gut.« Er steht auf, reibt sich mit beiden Händen den kahl rasierten Schädel. »Schule ist wichtig.«

Sie sieht ihn immer noch an, als erwarte sie eine Ermutigung oder Anerkennung. »Ernsthaft. Ich mach die Schule fertig.« Dann legt sie richtig los, redet von Studieren, Karriere machen, von Träumen, die man verwirklichen müsse, plappert nach, was sie im Programm für Teenager-Mütter gehört hat. »Brianna, also, meine Lehrerin, sagt, dass ich mich richtig reinknien muss, wenn ich meinem Sohn ein gutes Leben bieten will. Ich werd nicht wie Mom zehn Jahre lang denselben blöden Tippjob machen und hoffen, dass ich mir irgendwann ’nen Architekten angeln kann. Ich such mir ’nen richtig guten Job.« Sie beugt sich zu ihrem Bauch hinunter. »Stimmt’s, hijito?«

Amadeo findet das alles nur noch deprimierend. Er reißt eine Dose Bier auf und nimmt ein paar gierige Züge, ehe ihm einfällt, dass er diese Woche Jesus ist. »Fuck«, sagt er ange­widert und kippt den Rest in die Spüle.

Angel wirft ihm einen strafenden Blick zu. »Hör auf zu fluchen. Er kriegt jedes Wort mit.«

»Fuck«, wiederholt Amadeo, denn schließlich ist er der Herr im Haus, aber er sagt es leise. Er stellt sich vor, wie das Wort durch den Bauch seiner Tochter bis in die Ohren des Kleinen dringt. Dann steht er auf. »Ich muss los.«

––

Während der Fastenzeit haben sich die Hermanos jeden Abend in der Morada versammelt, um unter Tío Tíves wachsamen Augen den Rosenkranz zu beten. Und jeden Freitag halten sie eine Kreuzwegandacht ab. Sie knien nieder und senken die Köpfe. Es sind neun Hermanos und bis auf Amadeo sind alle über siebzig. Tío Tíve ist mit seinen siebenundachtzig der Älteste, aber immer noch sehr rüstig.

»Und Jesus betete«, beginnt Al Martinez. »Abba, mein Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir!« Amadeo mag Al. Er ist ein kräftiger, redseliger Mann, der feuchte Augen bekommt, wenn er von seinen Enkelkindern erzählt. Er war lange Fernfahrer und ist vor Kurzem in Rente gegangen. Von den vielen Jahren, die er über das Lenkrad gebeugt verbracht hat – den Blick starr auf den Horizont gerichtet –, hat er einen ganz runden Rücken bekommen.

Die Betonwände sind weiß gestrichen. In der Mitte stehen ein paar Bänke. Das einzig Bemerkenswerte ist das Kruzifix. Dieser Jesus hat wenig Ähnlichkeit mit den Christusfiguren in einer normalen Kirche. Dort haben sie immer eine glatte, glänzende Haut, ein paar harmlose Tropfen Blut an den Schläfen, direkt unter der Dornenkrone, einen sanften, edlen Gesichtsausdruck, eine perfekte Mischung aus Barmherzigkeit und Martyrium – und ja, tatsächlich auch – Selbstmitleid. Dagegen ist der Christus an der Morada-Wand archaisch und blutig. Allein die Schnitzarbeit hat etwas Brachiales: grobe, mit dem Stechbeitel gehauene Kerben ziehen sich über Bauch und Schenkel, Finger und Zehen sind nicht mehr als Stummel. Seine Züge sind derb, die Rippen treten spitz hervor. Er hat echtes Haar, das in langen Strähnen herunterhängt.

Jeden Abend spricht ein anderer Hermano die Rosenkranzgeheimnisse und die Brüder intonieren gemeinsam die Erwiderungen. Dieser Teil gefällt Amadeo am besten. Wenn sich alle Stimmen zu einem sonoren Chor vereinen, in stetem, rhythmischem Wechsel. Heute aber ist er wegen Angels Auftauchen nicht ganz bei der Sache. Er überlegt, ob er ihre Mom anrufen soll, damit sie Angel abholt, aber dann müsste er Marissa von der Prozession erzählen, und er verwirft die Idee wieder. »Und warum genau kannst du dich nicht um deine Tochter kümmern?« Er kann den Spott in ihrer Stimme förmlich hören.

Er mustert die betenden Männer: Tío Tíve mit seinen Diabetikerschuhen, die ihm die Veteranen-Krankenkasse bezahlt hat, wie er mit zitternden Lippen murmelt, Frankie Zocal, auf dessen Augenlidern blaue Adern pochen, Shelby Morales mit seinem grauen Pferdeschwanz, den er sich über die Schulter gelegt hat.

»Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an«, deklamiert Al mit klarer, aber leiser Stimme, als ringe er mit einer mächtigen Gefühlswallung.

Neun Männer sind lächerlich wenig im Vergleich zu früher, hat Al vor einigen Wochen zu Amadeo gesagt, als sie in die schwüle Abendluft hinaustraten. Noch vor wenigen Generationen hatte selbst eine so abgelegene Hermandad einige Hundert Mitglieder. Damals, als ein Priester viele weit verstreute, isolierte Gemeinden betreute, waren die Hermandades nicht nur religiöse, sondern auch gemeinnützige, politische und kulturelle Vereinigungen. Und sie bestatteten ihre Toten selbst.

»Wir sind deinem tío wirklich dankbar für die Hermandad. Er hat sie wieder zum Leben erweckt«, sagte Al Martinez. »Selbst als mein Dad ein Kind war, war die Tradition fast ausgestorben. Da war von der alten Morada schon nichts mehr übrig. Aber Tíve hat die alte Tankstelle gekauft und wieder ­instand gesetzt. Er hat uns zurückgegeben, was wir verloren hatten. Das war das einzig Gute am Tod seines Sohnes.«

Die Morada macht nicht viel her. Vor dem Gebäude stehen zwei kaputte Zapfsäulen und ein Pfosten mit einem rostigen Metallrahmen, an dem einmal ein buntes Plastikschild befestigt war. Das große Fenster wurde mit matter beiger Fassadenfarbe übermalt, die einer der Brüder noch übrig hatte. Manchmal halten Fremde an, um zu tanken, schauen verwirrt auf die geparkten Pick-ups und ziehen unverrichteter Dinge wieder ab.

»Vielleicht ist unsere Morada nicht so schön wie die in Truchas, Abiquiu oder Trampas«, sagte Al Martinez. »Bestimmt kein Motiv für ’ne Ansichtskarte. Unser Las Penas hat nicht das kleinste bisschen Charme, und das ist auch gut so. Sollen die Touristen doch nach Taos fahren, da gibt’s jede Menge Künstlerateliers und Bioläden.«

Erst der Rosenkranz, dann das stille Einzelgebet. Das Ganze dauert eigentlich nur eine Stunde, aber es kommt einem viel länger vor; Bittgebet, Bußgebet und Fürbitten ziehen sich schier endlos in die Länge. Schon nach wenigen Minuten zittern einem die Knie, knirschen die Gelenke, und wenn das ­Rosenkranzgebet vorbei ist, sind einem die Beine eingeschlafen. Und die Zehennägel, die sich in den Betonboden bohren, tun auch weh.

Amadeo denkt an Angel, die jetzt allein zu Hause ist. Wer weiß, was sie alles anstellt; womöglich schnüffelt sie in seinen Sachen herum, lädt Freundinnen ein. Oder gar irgendwelche Jungs.

Beim apostolischen Glaubensbekenntnis gerät Amadeo ins Stocken. Er öffnet die Augen und sieht zu Tíve hinüber, der ihm einen strafenden Blick zuwirft. Schnell schließt Amadeo sie wieder.

»Amen«, sagen die Hermanos, und der Rosenkranz ist zu Ende, ehe Amadeo richtig reingefunden hat.

Das stille Gebet ist am schwierigsten. Bitte, lieber Gott, denkt Amadeo, und dann verliert er den Faden. Seine Knie sind ganz wund und er fragt sich, ob das je wieder heilt. Von draußen sind Abendgeräusche zu hören: ein vorbeifahrendes Auto, der heisere Schrei eines Nachtvogels, das leise Plopp der Motten, die gegen die Scheibe fliegen.

––

Amadeos entrada – seine Aufnahme in die Bruderschaft – fand vor fünf Wochen statt, am Aschermittwoch.

»Bei Sonnenuntergang klopfst du an«, hatte Tíve ihm eingeschärft, als sie sich zum Mittagessen im Dandy’s Burgers in Española trafen. Er sprach betont leise. Amadeo warf der Familie am Nebentisch einen prüfenden Blick zu. Aber die beachtete sie gar nicht. Ein sechs- oder siebenjähriger Junge mit Ketchup-Flecken auf der Hose versuchte wacker einen Hamburger zu essen, während seine Mutter ihm mit einer Serviette im Gesicht herumwischte. Draußen saß Tíves Hündin Honey, ein rotbrauner Dobermann, und beobachtete sie mit hochgezogener Augenbraue durch die Glasscheibe. Ihre unkupierten Ohren verliehen ihr etwas Fledermaushaftes.

»Du klopfst dreimal.« Tíve demonstrierte es ihm auf der Tischplatte. Seine Augen schauten grimmig unter dem Rand seiner Trucker-Kappe hervor.

Amadeos Mutter vergöttert ihren Onkel. Sie malt sich ein ideales Familienleben aus, und Tíve spielt darin die Rolle des einsamen, liebenswerten Griesgrams. Amadeo vermutet, dass Tíve einfach nur seine Ruhe haben will, aber nicht so wie die alten Leute im Fernsehen, die insgeheim hoffen, dass irgendein gescheiterter junger Mensch auftaucht, den sie retten können – und sich selbst auch. Tíve mag zwar alt sein, aber er hat nicht die geringste Lust, Geschichten von früher zu erzählen, in Erinnerungen zu schwelgen oder Lebensweisheiten zum Besten zu geben.

»Ist gut.« Amadeo nickte pflichtschuldig. Er hatte Hunger, wollte aber nicht als Erster seinen Hamburger auspacken. Möglichst unauffällig schob er sich eine Pommes in den Mund.

Sein Großonkel funkelte ihn an. Obwohl er ein verhutzelter alter Mann war, konnte er ziemlich angsteinflößend sein. »Und vorher musst du fasten und zur Messe gehen, verstanden? Ab jetzt gehst du regelmäßig zur Messe. Und zur Beichte auch.« Tíve reichte ihm eine Anleitung zum Rosenkranzgebet. »Du kennst doch den Text, oder?«

»Wär’s nicht besser, wenn ich mir was Eigenes überlege?« Amadeo wedelte mit der Broschüre. »Statt was Auswendig­gelerntes runterzuleiern?« Der empörte Blick seines Groß­onkels ließ ihn rot werden.

Tíve griff in die Brusttasche seines Flanellhemds und gab Amadeo ein zusammengefaltetes Papier. »Präg dir das gut ein«, sagte er. »Und erzähl niemand davon. Das ist streng geheim.«

Amadeo starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die mit einem stumpfen Bleistift geschriebenen wackligen Druckbuchstaben. Es sah aus wie ein Gedicht mit vielen Strophen. Und da fiel ihm plötzlich sein Lesebuch aus der fünften Klasse ein – das lange gereimte Gedicht über einen Schmetterling, das er nach der Schule zu Hause in seinem Zimmer immer wieder flüsternd gelesen hatte. Ihn hatte der Rhythmus fasziniert, der Gleichklang der Laute. Luft … Duft … Wonne … Sonne. Ganz schön bescheuert.

Weiter unten auf der Seite war ein Fettfleck. Amadeo sah seinen Großonkel vor sich, wie er im trüben Licht der Küchenlampe mit zittriger Hand den Text abschrieb, die kalten Überreste eines einsamen Abendessens aus Rühreiern neben sich.

»Hey, Moment mal. Das ist ja auf Spanisch«, sagte Amadeo.

»Meine Güte«, brummte Tíve und wickelte seinen Hamburger aus. Anscheinend hielt er Amadeo für einen hoffnungslosen Fall.

Selbst Yolanda kann kaum Spanisch, aber es reicht für die Telenovelas, die sie sich abends in ihrem Zimmer im Fernsehen anschaut. »Auf Englisch würde ich’s viel besser hinkriegen«, wagte Amadeo sich vor, aber als er die ungläubige Miene seines Großonkels sah, ruderte er zurück: »War nur Spaß. Ich kann das natürlich auswendig lernen. Ich hab in der Highschool Spanisch gehabt.«

Der erste Teil des Rituals bestand in einem Wechselgebet.

Novicio: Dios toca en esta misión, las puertas de cu clemencia. Gott klopft an diese Mission, an die Pforten seiner Barmherzigkeit.

Hermanos: Penitencia, penitencia, si quieres tu salvación. Büße, büße, wenn du errettet werden willst.

»Los. Du musst das üben«, sagte Tíve und Amadeo, plötzlich gehemmt, sprach seinen Text. Zu seiner Überraschung sang sein Großonkel die Erwiderung – mit rauer, klangvoller Stimme. Am Nebentisch hörte der kleine Junge zu kauen auf und sah mit vollen Backen zu ihnen herüber.

Betritt die Morada mit dem rechten Fuß und preise die lieblichen Namen von Jesus, Maria und Josef.

Sobald Amadeo über die Schwelle getreten wäre, würde er vor den alten Männern, die seine Brüder werden sollten, niederknien und um Vergebung bitten.

»Und dann schneidet ihr mich?«

»Erst legst du den Eid ab.«

»Aber danach, oder?«

Tíve nickte unmerklich.

»Tief?« flüsterte Amadeo und unterdrückte das Zittern in seiner Stimme.

Sein Großonkel zuckte mit den Schultern. »Nicht zu sehr. Mach weiter.«

Vergebt mir, meine Brüder, falls ich euch irgendwie erzürnt oder euren Ruf beschmutzt habe.

Und wieder sang Tíve die Erwiderung. Möge Gott dir vergeben, so wie ich dir vergeben habe.

Amadeo schossen die Tränen in die Augen, so ergriffen war er. Verlegen wandte er den Blick ab.

Tío Tíve räusperte sich. »Sieh zu, dass du das hinkriegst.«

Es gab auch ganz praktische Gründe für die sellos – die drei senkrechten Kerben, die man ihm in den Rücken ritzen würde: Wenn er sich später selbst geißelte, würde das Blut aus diesen Wunden laufen und die Striemen würden sich nicht entzünden.

Anfangs hatte sich Amadeo auf den Moment gefreut, in dem er sich vor den sangrador, den Bluter, knien würde, um von ihm die Male zu empfangen. Aber am Morgen des Aschermittwoch verließ ihn allmählich der Mut. Den ganzen Tag über musste er an die sellos denken und er bekam weiche Knie.

Bevor er zur Morada aufbrach, rasierte er sich (duschte aber nicht noch einmal, weil er das Aschekreuz auf seiner Stirn behalten wollte, damit er seinem Großonkel beweisen konnte, dass er zur Messe gegangen war), zog ein neues kariertes Hemd an, das noch ganz steif war, und seine besten Schuhe. Dann spritzte er sich etwas Kölnischwasser auf den Hals. Aber er konnte immer noch einen Hauch von Schweiß an sich riechen.

Kurz bevor er sich auf den Weg zur Morada machte, gewann die Angst schließlich doch die Oberhand: Obwohl er den ganzen Tag gefastet hatte, holte er die Wodka-Flasche aus der Kommodenschublade, schraubte den Deckel ab und nahm ein paar kräftige Schlucke.

An die entrada selbst hat er nur noch nebelhafte Erinnerungen: Der Gesang der Hermanos, an- und abschwellend wie Meeresbrandung. Der geheime Eid, der ihn ein Leben lang an die Bruderschaft band. Und der pedernal, ein Obsidian mit ­einer messerscharfen Kante, sichelförmig und bedrohlich. Al Martinez’ große, warme Hand, die schwer auf seiner Schulter lag. Dann seine leisen, beruhigenden Worte: »Gleich vorbei, mein Junge. Tief einatmen.« Sein pochendes Herz, ein ohrenbetäubendes Trommeln, kalter Schweiß, der an seinem Körper herabrann. Und dann, als die Klinge die Haut auf seinem Rücken aufritzte, das übermächtige Gefühl der eigenen Un­zulänglichkeit.

––

Jetzt endlich bekreuzigt sich Tíve. »Okay«, sagt er unwirsch. »Amen.« Amadeo steht auf, seine Beine kribbeln. Die Hermanos gehen langsam hinaus. Einige werden sich eine Weile auf dem Parkplatz unterhalten, ihre Stimmen noch etwas eingerostet; andere werden sich gleich auf den Heimweg machen, ihre Frauen mit einem Kuss begrüßen und es sich auf der Couch vor dem Fernseher bequem machen.

Amadeo lässt sich Zeit, denn zu Hause wartet nur Angel auf ihn. Tíves Hündin Honey ist ganz aus dem Häuschen, als sie die Männer aus der Morada kommen sieht. Sie jagt über den Parkplatz, kläfft sich die Seele aus dem Leib, die lange, schmale Schnauze in den Himmel gereckt. Wenn man Honey erlebt, ist es kaum zu glauben, dass Dobermänner eigentlich eine ziemlich aggressive Rasse sind; Honey bettelt ständig um Aufmerksamkeit, ist übermütig und ungezogen, hat einen ­etwas treudoofen Gesichtsausdruck. Ihr rötliches Fell wirkt ausgeblichen, als hätte sie zu lange in der Sonne gelegen. Sie schiebt ihren Kopf unter Tíves Hand und wedelt heftig mit ihrem Stummelschwanz.

»Wart mal kurz«, sagt Al Martinez und klopft Tío Tíve auf die magere Schulter. Tíve zuckt zusammen. »Ich möcht dir gern Elenas Jüngste zeigen. Meine zweite Enkelin!« Schon zieht er sein Handy aus der Tasche und wischt gekonnt über das Display. »Guck mal!«

Tíve betrachtet das Foto und auch Amadeo reckt den Hals, um einen Blick auf das Baby zu werfen: Ein unansehnlicher Säugling mit dunkelrotem Gesicht und einem gerüschten Haarband um den kleinen Kopf. »Ah ja«, sagt Tíve.

»Eine kleine Schönheit. Hat den gleichen hübschen Mund wie ihre Grandma.« Al hält sich das Handy dicht vor die Nase, betrachtet verzückt das Foto und steckt es dann wieder in die Tasche. Er räuspert sich. »Hör mal, Tíve, Isaiah, mein Jüngster, würde gern bei uns mitmachen. Er will auch ein Hermano werden. Und weil wir ja gerade novicios aufnehmen …« Er dreht den Kopf in Amadeos Richtung. »Wäre er der ideale Kandidat. Er will zurück zu seinen Wurzeln.«

»Nein«, sagt Tíve. »Keine Novizen mehr.«

»Aber Tío Tíve. Er ist ein guter Junge, leitet eine Abteilung bei Lowe’s. Ist gerade vierzig geworden. Wir brauchen doch junge Leute. Hast du selbst gesagt.«

»Nein. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«

Zorn flackert in Als Miene auf, weicht schnell bitterer Enttäuschung. Er schaut wieder zu Amadeo hinüber, sagt dann leise zu Tío: »Bitte, Bruder. Das ist ungeheuer wichtig für Isaiah. Um Elena muss ich mir zum Glück keine Sorgen ­machen, aber Isaiah kommt vom Heroin nicht los, macht eine Entziehungskur nach der andern, hat sogar mal seiner eigenen Schwester die Bude ausgeräumt, hat den Computer, den Fernseher und so weiter mitgehen lassen. Wir wissen nicht, was wir noch machen sollen. Es geht ihm jetzt zwar wieder besser, aber es würde ihm wirklich helfen, wenn er etwas hätte, woran er sich festhalten kann. Das wäre seine Rettung, glaubt er, und das glaub ich auch.«

»Dieses verfluchte Zeug kommt mir nicht in unsere Morada. Niemals.« Leicht gebeugt trottet Tíve zu seinem Pick-up.

»Ganz schön hart«, sagt Amadeo, obwohl es ihn insgeheim freut, dass man ihn ausgewählt hat, nicht nur für die Hermandad, sondern auch für die wichtigste Rolle, die es überhaupt gibt. »Sein Sohn Elwin ist an ’ner Überdosis gestorben.«

»Ich weiß.« Mit bekümmertem Gesicht sieht Al Tíve nach. Dann sagt er: »Als mein Grandpa noch gelebt hat, gab’s einen Jesus, der hat auf Nägeln bestanden. Das war der beste Jesus, den’s je gegeben hat.«

Amadeo schluckt. »Echt? Die haben ihn ans Kreuz genagelt? Mit richtigen Nägeln?«

Al Martinez nickt. »Das nenn ich wahren Opfermut. Stell dir das mal vor.« Er tippt mit dem Zeigefinger auf die Innenfläche seiner Hand.

»Wer war der Typ?« Amadeo hat das Gefühl, einem großen Mysterium auf der Spur zu sein. Noch tappt er im Dunkeln.

Al zuckt die Achseln. »Ich weiß nur, was mein Dad mir ­erzählt hat, und der hat’s von seinem Dad. Ich weiß nur, dass er’s getan hat.« Er wirft seinen Schlüsselbund hoch, fängt ihn wieder auf und geht zu seinem Auto.

Amadeo bleibt allein auf dem verlassenen Parkplatz zurück. Nach so einer Erfahrung wäre man sicher nicht mehr derselbe. Er malt sich die Szene aus, in schwarz-weiß, so wie er sich ­immer vergangene Ereignisse ausmalt: das unbewegte Gesicht des Mannes, als die Nägel in sein Fleisch eindringen, das grelle Licht, das ihn durchzuckt. Ringsum fallen die Menschen auf die Knie.

––

Am Karmittwoch wird Amadeo morgens um halb sieben vom Gurgeln und Zischen der Wasserrohre in der Wand hinter seinem Kopf geweckt. Er wirft sich im Bett herum und versucht, nicht an Angel zu denken. Das Leiden Christi, ermahnt er sich. Denk dran. Jeden Abend nach dem Duschen übt Amadeo vor dem Badezimmerspiegel die passende Mimik, während das Wasser an seiner Stirn herunterläuft. Er breitet die Arme aus, spannt seine Gesichtsmuskeln an, entspannt sie wieder, probiert verschiedene Arten von Leidensmienen aus. Jetzt, im Bett, versucht er es wieder, aber seine Muskeln sind steif wie alte Autoreifen. Er versucht sich in den Mann hineinzuversetzen, der vor langer Zeit mit ein paar Nägeln Großes vollbracht hat.

Wenn er an Angel denkt, wird ihm ganz flau im Magen, und wenn er sich fragt, wer sie wohl geschwängert hat, wird ihm noch flauer. Seine Mutter hat nichts darüber gesagt, aber er kann sich den Typen auch so vorstellen: Wahrscheinlich irgend so ein Latino-Gangster, der aus dem Fenster seiner Prolo-Karre Drogen vertickt.

Als er wieder wach wird, starrt ihm Angel ins Gesicht und stupst ihn an. »Dad? Fährst du mich zur Schule? Du musst jetzt aufstehn.«

Amadeo brummelt etwas in sein Kissen und sie geht wieder hinaus und schließt die Tür. Später hört er undeutlich, wie sie seinen Namen ruft, aber der Laut dringt nicht durch die Nebelschichten seines Schlafs.

Als er aufwacht, ist es nach zehn. Das Haus ist sonnig und leer. Es sind noch zwei Stunden bis zur Messe. Angel hat ihm einen Zettel hingelegt: Tío Tíve fährt mich. Sonst nichts. Kein Name, kein Smiley. Schuldgefühle schnüren ihm die Brust zusammen. Er isst die kalten Spiegeleier mit Bacon, die Angel ihm hingestellt hat. Und dann, weil das beklemmende Gefühl einfach nicht weggehen will, macht er sich ein Bier auf.

Angel hat noch nie Sport gemacht, auch in keiner Mannschaft, sie bringt nicht mal einen ordentlichen Liegestütz zustande. In ihrem letzten Grundschuljahr hat sie Menstrua­tionsbeschwerden vorgetäuscht, um vom Turnen befreit zu werden. Und in der Mittelstufe war ihr dank der Einsparungen im Schulwesen der Sport ganz erspart geblieben. Aber weil wissenschaftliche Studien gezeigt haben, dass Kleinkinder ­weniger krankheitsanfällig oder übergewichtig sind, wenn sich ihre Mütter während der Schwangerschaft regelmäßig bewegen, geht Angel jetzt jeden Nachmittag spazieren. Brianna, Angels Lehrerin bei Smart Starts!, hat jeder von ihnen einen Tagesplaner und ein Blatt mit Sternen aus Silberfolie gegeben, damit sie ihre sportlichen Aktivitäten festhalten können. Angel liebt diesen Planer mit seinem weinroten geprägten Plastikeinband, der wie echtes Leder aussieht. Und sie liebt es, den Stern ordentlich neben jedes Datum zu kleben.

Bei dem Programm geht es hauptsächlich darum, den eigenen Tagesablauf zu dokumentieren. Neben ihren körperlichen Aktivitäten halten die jungen Mädchen in ihren Tagebüchern und Planern auch ihre tägliche Vitamineinnahme sowie ihre Stimmungen fest. Sie notieren ihre Hochs und Tiefs, worüber sie sich gefreut haben und was sie geärgert oder traurig gemacht hat. Die Mütter unter ihnen protokollieren Stillzeiten, Stuhlgang und Schlafenszeiten ihres Säuglings und die anderen ihre eigene Ernährung, ihren Stuhlgang und ihren Schlaf.

»Es geht um Achtsamkeit«, erklärt Brianna der Klasse. »Es geht darum, dass ihr euch bewusst macht, wie euer Alltag ­eigentlich aussieht, damit ihr euer Leben selbst gestalten könnt.« Sie sitzt auf ihrem Pult und schlenkert mit den Beinen. Ihre klobigen Trekkingsandalen gehören zu den vielen Dingen, die Angel an Brianna gefallen. Brianna wirkt in ihnen zierlich, tough und irgendwie sehr weiblich.

Brianna. Einer der schönsten Namen, den Angel je gehört hat. Sie hatte noch nie eine Lehrerin, die von ihren Schülern mit dem Vornamen angesprochen werden wollte. Das macht Brianna so sympathisch, so aufgeschlossen und modern. Sie erzählte ihnen, dass sie in Oregon aufgewachsen sei, das Angel sich als saftiges grünes Paradies vorstellt, mit plätschernden Bächen und ehrlichen, freundlichen Menschen. Im Unterricht zeigt sich Angel von ihrer besten Seite: Sie ist fleißig, brav, fast schon ein Unschuldslamm.

Zu Hause bei ihrer Mom hat Angel versucht, ihren täg­lichen Spaziergang möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Man kriegt eine Menge mit, wenn man durch Española läuft, sieht nicht nur den braunen Rio Grande, der sich träge durch die Stadt windet. Einmal beobachtete sie eine weiß gekleidete Sikh mit blonden Augenbrauen, die ihr Telefongespräch unterbrach, um sich in den Rinnstein zu übergeben. »Da bin ich wieder«, sagte sie anschließend und richtete ihren Turban. Ein anderes Mal torkelte ein Mann über den Parkplatz des Jade Star-Restaurants und brüllte den verblüfften Passanten zu: »Ich will meinen Schnee!« Manchmal kam sie an Junkies vorbei, die zugedröhnt und schicksalsergeben in Hauseingängen hockten, und Angel machte immer einen großen Bogen um sie. Einmal sah einer sie flehentlich an. »Hallo«, sagte er matt. Vor der Stadtbücherei stieß sie eines Nachmittags auf einen Hundezirkus, den eine Tierschutzorganisation auf die Beine gestellt hatte, und sah zu, wie Terrier in Tutus durch Ringe sprangen, Spielzeugautos fuhren und auf dem Rücken ihrer Kameraden balancierten. Sie staunte über ihre Geschicklichkeit, vor allem, weil sie vorher ihr Dasein in einem Zwinger gefristet hatten, nur um irgendwann eingeschläfert zu werden.

Hier draußen gibt es jedoch nichts als trockene Pinyon-­Kiefern, Grasbüschel und kleine verdorrte Kakteen. Hin und wieder auch Kaninchen oder Wachteln. Eine einzige Straße schlängelt sich durch die Berge. Schon seltsam, dass trotz der weiten Landschaft ihre Bewegungsfreiheit viel eingeschränkter ist als in Española. Wenn man am Ende der Einfahrt nach rechts abbiegt, geht der rissige Asphalt schon bald in Erde über und hört kurz danach ganz auf. Wenn man nach links geht, landet man nach einer Meile oder so in dem trostlosen kleinen Dorf Las Penas.

Die meisten Familien hier draußen leben schon seit Jahrhunderten auf demselben Stück Land. Zwischen zerfallene Adobe-Häuser wurden Trailer oder Häuser aus Beton gequetscht. Manche Familien wie die Romeros bauen immer noch Mais, Kürbis und Chili auf ihren kleinen Äckern an, die sie mit Hilfe von acequias, Kanälen, bewässern – schnurgerade grüne Reihen mit frischem Gemüse, das dem Junkfood der Supermärkte trotzt. Die Familiennamen sind immer dieselben: Padilla, Martinez, Trujillo, Garcia. Man heiratet untereinander, als würde man ständig dieselben Spielkarten mischen.

Manchmal kann Angel nachvollziehen, was weiße Künstler an dieser Landschaft fasziniert. Im Vordergrund winken junge Maispflanzen mit ihren frischen grünen Blättern. Ein Erdhörnchen sitzt aufrecht da, senkt den Kopf und kratzt sich mit seinen Pfötchen an der Brust. Im Hintergrund erheben sich die Berge, wie gemalt – blau und golden.

So viel Schönheit! Aber auch unterfinanzierte öffentliche Schulen, trockene Winter, ein sinkender Grundwasserspiegel, beschissene Jobaussichten. Was es allerdings im Überfluss gibt, ist billiges Heroin. »Das ist der reinste Völkermord und wir tun uns das auch noch selbst an«, sagte Mrs. Lujan, Angels Englischlehrerin letztes Jahr, mit Tränen in den Augen, nachdem noch eine ihrer Schülerinnen – ein Mädchen aus der Elften, das Angel allerdings nur vom Sehen kannte – an einer Überdosis gestorben war. »Ich bitte euch«, flehte sie die Klasse an. »Lasst die Finger davon!«

Angel ist ziemlich sauer auf ihren Dad. Obwohl sie nicht viel von ihm erwartet, schafft er es trotzdem noch, sie zu enttäuschen. Er steht nicht mal auf, um sie zur Schule zu fahren. Was hat ein Arbeitsloser eigentlich groß zu tun? Hat sie wirklich geglaubt, dass er sich für was anderes als sich selbst inte­ressiert? Es ist verrückt, wie wichtig er diesen Büßerkram nimmt. Jeden Abend muss er in der Morada den Rosenkranz beten, hat er ihr gestern gesagt.

»Hast du denn überhaupt einen Rosenkranz? Seit wann gehst du in die Kirche?«

»Man fragt einen Mann nicht nach seinen Gebeten«, sagte er.

Sie hob die Hände. »Okay, okay.« Also verbrachte sie den Abend damit, durch ihr Handy zu scrollen und fernzusehen. Sie versuchte noch einmal, ihre Großmutter zu erreichen, aber umsonst. Schließlich ging sie ins Zimmer ihrer Großmutter und legte sich auf das Himmelbett, drückte das Gesicht ins Kissen, um den samtigen Parfümduft einzuatmen.

Heute ist es ungewöhnlich warm für April und Angel bricht der Schweiß aus. Sie denkt an ihren Sternensticker und läuft schneller. Die Wolken am Himmel sind flauschig und harmlos – wie in einem Bilderbuch.

Die Straße steigt sanft an und fällt wieder ab. Wenn man mit dem Auto hier entlangrast, spürt man ein Kribbeln im Magen. Angel weiß noch, dass sie als kleines Mädchen ihren Dad ­immer angefeuert hat, schneller zu fahren. Und er hat ihr den Gefallen getan und sich über ihr Jauchzen amüsiert. Zu Fuß ist der Weg nur anstrengend.

Sie schaut wieder auf ihr Handy: Keine verpassten Anrufe. Sie hat es in den letzten Tagen mindestens tausendmal bei ihrer Großmutter versucht, aber immer ist die Mailbox angegangen.

Sie scrollt zur Nummer ihrer Mutter, tippt aber nicht drauf. Seit einem Jahr oder so herrscht zwischen ihnen Funkstille. Das Schweigen ging von Angel aus. Sie wollte ihre Mutter bestrafen und hoffte gleichzeitig, dass sie sich irgendwann versöhnen würden. Aber das scheint nicht zu funktionieren. Angel ist ­entschlossen, durchzuhalten, incommunicado zu sein, bis ihre Mutter weich wird und als Erste anruft. Aber ihre Mutter sitzt am längeren Hebel, weil Angel noch ein Kind ist und ihre Mom dringender braucht als die sie.

Marissa hat kein Recht, sauer auf Angel zu sein – nicht, nachdem ihr Freund, der blöde Wichser, Angel beinah umgebracht hätte. Man hört ja immer wieder, dass Mädchen, die missbraucht wurden, ihren Müttern, Lehrerinnen oder Großmüttern nichts davon erzählen. Angel hat das nie verstanden. Ihre Mutter, da war sie sich sicher, würde jeden, der ihre Tochter auch nur anrührt, umbringen. Natürlich erzählte Angel es ihrer Mutter. Genüsslich malte sie sich aus, was dann passieren würde: Marissa würde Mikes Sachen zum Fenster hinauswerfen – seine in Plastik eingeschlagenen und alphabetisch geordneten Bücher über amerikanische Geschichte, seinen Zeichentisch, der das halbe Wohnzimmer einnimmt, seine teuren Druckbleistifte. Ihre Mutter würde auf ihn losgehen – vielleicht mit einem Messer –, ihr ganzer Körper würde beben vor Wut.

Aber als Angel ihr sagte, dass Mike versucht hatte, sie zu erwürgen, schüttelte Marissa bloß den Kopf. »Er hat nur Spaß gemacht, Mike albert doch gern mal rum.«

»Nie im Leben«, sagte Angel und hielt die Hand an ihren Hals, um es ihrer Mutter zu demonstrieren. »Er hat versucht, mich umzubringen.« Inzwischen fragt sich Angel selbst, ob es vielleicht doch nur Spaß war.

»Das würde Mike niemals tun.« Marissa nahm Angels Gesicht in beide Hände – nicht besonders zärtlich – und drehte ihren Kopf hin und her, um ihren Hals zu begutachten. »Ich seh keine blauen Flecken.«

»Dann hat er sich dumm angestellt. Außerdem krieg ich nicht so schnell blaue Flecken.« Angels Augen brannten. Sie hasste sich, weil sie nicht wusste, was sie glauben sollte. Es hatte nicht wehgetan, als Mike ihren Hals umfasste, und er hatte nicht mal zugedrückt, aber trotzdem hatte ihr Herz wie wild geschlagen.

Marissa drehte sich um und begann, das saubere Geschirr wegzuräumen. Ihre Schläfe pochte. »Er hat einfach rumgealbert und du verstehst eben keinen Spaß.«

Aber selbst wenn das stimmte – und es könnte stimmen –, war der Verrat ihrer Mutter so schockierend, dass Angel zuerst nicht glauben konnte, dass die Diskussion damit beendet war. Sie wartete darauf, dass sich ihre Mutter wieder zu ihr umdrehte, sich entschuldigte und zugab, dass sie sich geirrt hatte. Und dafür sorgen würde, dass Mike ihrer Tochter nie wieder zu nahe kam, aber Marissa öffnete nur den Gefrierschrank und nahm die Riesengarnelen für Mikes geliebtes ­Kokos-Curry heraus.

Danach hielt es Angel noch eine Woche zu Hause aus, weigerte sich aber, mit ihrer Mutter oder Mike auch nur ein Wort zu wechseln, und hatte immer mehr das Gefühl, dass sie tatsächlich aus einer Mücke einen Elefant gemacht hatte.

Aber gestern wachte sie von einem Albtraum auf, in dem er versucht hatte, sie zu erwürgen, sein Gesicht war ganz dicht vor ihr, und sie war so panisch vor Wut, dass sie bis morgens in ihrem Zimmer auf- und ablief und dann erklärte, dass sie zu ihrem Dad und ihrer Großmutter ziehen würde. Ihre Mutter fuhr sie schweigend hin, ihr Unterkiefer zitterte, während ­Angels Herz wie wild schlug.

»Keiner da«, stellte Angel enttäuscht fest, als ihre Mutter in die leere Einfahrt einbog.

»Und was jetzt? Willst du hierbleiben oder heimfahren? Ich habe nicht vor, hier zu warten, bis dein Dad auftaucht. Wer weiß, wo der sich wieder rumtreibt.« Marissa umfasste das Lenkrad fester. »Hast du nicht vorher angerufen? Du warst ewig nicht hier und hast nicht mal angerufen?«

Angel hievte sich aus dem Wagen und klopfte an die Haustür. Die Autotür ließ sie weit offen, damit ihre Mutter nicht einfach wegfuhr. Sie textete ihrem Dad und ihrer Großmutter, aber keiner von beiden antwortete. Warum konnte in ihrem Leben nicht mal irgendwas funktionieren?

»Ich bleib hier.« Angel holte ihre Reisetasche von der Rückbank, beugte sich dann über den Beifahrersitz, aber ihre Mutter starrte stur geradeaus. »Tschüs, Mom«, verabschiedete sie sich resigniert und ärgerte sich über ihre zittrige Stimme.

»Tschüs.« Marissa legte den Rückwärtsgang ein und wartete darauf, dass Angel die Tür zuschlug. Sie rief später nicht mal an, um sich zu erkundigen, ob irgendjemand nach Hause gekommen war und Angel reingelassen hatte. Marissa würde es nicht mal wissen, wenn Angel entführt worden wäre. Oder ermordet. Ihr Bauch aufgeschlitzt und ihre Gebärmutter raus­gerissen.

Als Angel in der Mittelstufe war, hatten sie und ihre Mutter öfters tränenreiche Auseinandersetzungen darüber, wer staubsaugen musste oder wer für das Chaos auf dem Küchentisch verantwortlich war. Manchmal saßen sie anschließend erschöpft auf der Couch und ihre Mutter kratzte liebevoll ­Angels Kopf. Meistens jedoch fühlte sich Angel unverstanden und war jedes Mal bestürzt, dass diese Streitigkeiten ihrer Mutter genauso zusetzten wie ihr.

Aber dieses Schweigen ist schlimmer. Sie fragt sich, ob ihre Mutter ihr eine Lektion erteilen will oder ob sie sie wirklich so sehr hasst und sie bereits aus ihrem Leben gestrichen hat.

Jetzt ist Angel hier in Las Penas mit nichts als ihrer Reise­tasche. Bis vor Kurzem war sie noch eine leidenschaftliche Sammlerin: Beanie Babies, Plastikschweinchen, kleine Pompoms mit Hüten und Glotzaugen. Es machte ihr Spaß, ihre Sammlungen auf Regalen anzuordnen und in den Prospekten die Artikel abzuhaken, die sie schon besaß, und die anderen zu umkringeln. Sie freute sich immer, wenn eine Serie vollständig war. Aber kurz bevor sie ging, packte sie alles in eine Tüte und stopfte sie in die grüne Mülltonne. Es war besser, keinen unnötigen Ballast mitzuschleppen. Dann war sie frei und unbelastet.

Mit dieser Aktion wollte sie aber auch ihrer Mutter eins auswischen, die ihre Sammelleidenschaft unterstützt hatte. Marissa sammelt Disney-Plüschtiere. Angel stellte sich vor, wie ihre Mutter an Angels Zimmertür stehen blieb und entsetzt auf die nackten Wände und leeren Regale starrte. Angel wusste von Plakaten in der Schule, dass jemand, der seine Schätze verschenkte, möglicherweise ein Selbstmordkandidat war. Und ihr gefiel die Vorstellung, dass ihre Mutter litt. Wahrscheinlich, so denkt sie jetzt grimmig, hat ihre Mutter gar keine Ahnung von solchen Warnhinweisen. Wahrscheinlich konnte ihre Mutter es kaum erwarten, ihre Disney-Figuren in Angels Zimmer zu räumen, die sich mit ihrem gruseligen Grinsen, den Plastikaugen und übergroßen Köpfen auf ihrem Bett und den Regalen breitmachen würden. Oder schlimmer noch, ihre Mutter würde Mike Angels Zimmer als Büro überlassen, wo er seine Analfixierung voll ausleben könnte. Da könnte er sich mit seinen akribischen Bauplänen vergnügen, den hypergenauen Winkelmessern und teuren japanischen Stiften, die man auf keinen Fall anrühren durfte, nicht mal, um eine kurze Telefonnachricht zu schreiben.

Die Straße beschreibt eine sanfte Kurve und dann kommt das Dorf in Sicht. Las Penas besteht hauptsächlich aus verlassenen Häusern, mit schwarzen Löchern, wo früher mal Fenster waren. Vor der Kirche liegen noch ein paar intakte Gehwegplatten aus dem New Deal, was man an dem eingeprägten WPA erkennen kann. Zweifellos hat das Dorf schon bessere Zeiten gesehen. Überall gibt es Hinweise auf gescheiterte Existenzen: vernagelte Fenster, verblasste Buchstaben, kaum lesbar auf dem bröckelnden Putz. Lebensmittel. Pfandleihe. Hamburger.

Las Penas könne sie mal, sagt ihre Mutter, aber eigentlich meint sie Amadeo und nicht den Ort. Sogar auf der großen Straßenkarte von New Mexico, die ihre Großmutter vom amerikanischen Automobilklub bekommen hat, kann man Las Penas kaum erkennen. Die meisten hier arbeiten in Española oder Los Alamos oder, wie ihre Großmutter, in Santa Fe. Alles, was zum Leben dazugehört, kann man woanders leichter haben. Es spricht rein gar nichts für dieses Kaff.

Angel war nicht oft hier – wenn sie ihre Großmutter besuchte, gingen sie normalerweise in Española ins Restaurant – und die Ferien verbrachte sie meistens bei den Eltern ihrer Mutter, Ramon und Lola, die absolut kein Verständnis für Angels Situation haben und denen offenbar entfallen ist, dass ihre eigene Tochter mal im selben Boot saß. Eigentlich ist Großpapa Ramon derjenige, der kein Verständnis hat, denn Großmama Lola ist so daneben, dass sie Angel nicht mal mehr erkennt. Angel geht ihnen aus dem Weg, weil sie ehrlich gesagt auf diesen Stress keinen Bock hat.

An der Idle Hour Cantina kehrt sie um. Es ist halb sechs und die Sonne verschwindet bald hinterm Horizont. Angel läuft zügig durchs Dorf zurück. Sie wird was zum Abendessen kochen – sie muss ihrem Dad noch sagen, dass sie kaum noch Gemüse haben – und dann wird sie ihre Hausaufgaben machen. Sie wird einen Stern in ihren Planer kleben.

In diesem Moment vibriert ihr Handy. Sie spürt ein erwartungsvolles Prickeln, wie immer, wenn jemand sie zu erreichen versucht. Das muss ihre Großmutter sein. Aber nein, viel besser: Es ist Lizette aus der Schule.

Was geht ab?

Sie lächelt. Lizette Maes ist ein Jahr älter als sie und viel cooler als ihre ehemaligen Freundinnen von der Española Valley High School, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund interessiert sie sich für Angel. Soweit Angel weiß, ist Lizette Waise und wohnt seit dem Drogentod ihrer Mutter vor drei Jahren bei ihrem Bruder und dessen Freundin. Aber sie beklagt sich nicht, es scheint ihr nicht mal was auszu­machen. Angel kommt sich richtig kindisch vor, denn wenn sie an Lizettes Stelle wäre, würde sie wahrscheinlich nur rumjammern. Sie fühlt sich ja schon vernachlässigt und ungeliebt, obwohl ihre Eltern noch leben.

Begierig antwortet Angel auf die Textnachricht, wie eine Verbannte, die sich verzweifelt nach menschlichem Kontakt sehnt. Geht so.Bei dir? Letzte Woche hatte Brianna einen Mini-Zusammenbruch, als sie Angels Textanalyse korrigieren musste. Seitdem achtet Angel penibel auf korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung. Allerdings gilt man dann schnell als streberhaft. Und Angel will auf keinen Fall, dass Lizette sie für eine Streberin hält. Langweilig lol, fügt sie hinzu.

Angel hält das Handy in der Hand und wartet auf Lizettes Antwort, aber es kommt keine. Sie sollte das nicht persönlich nehmen – Lizette ist nicht gerade zuverlässig. Aber warum hat sie sich dann überhaupt gemeldet? Vielleicht war die Nachricht ja gar nicht für sie bestimmt. Nur weil sie selbst außer bei Smart Starts! keine Freundinnen mehr hat, heißt das ja noch lange nicht, dass es Lizette genauso geht. Wahrscheinlich hat sie Unmengen von Freundinnen. Vielleicht geht sie heute Abend weg. Bei diesem Gedanken fühlt sich Angel noch einsamer.

Im letzten Monat hat sich niemand aus ihrer ehemaligen Clique bei ihr gemeldet, weder angerufen noch geschrieben. Warum auch? Sie hat Pickel und ist aufgebläht. Und die anderen haben immer noch ihren Spaß.

»Sex verkompliziert alles, sowohl in praktischer als auch in emotionaler Hinsicht«, erklärte Brianna gestern der Klasse, und vor allem, was die Praxis betraf, hatte sie so was von recht. Allerdings war Angels Sexleben in den ersten Monaten, zumindest emotional gesehen, überhaupt kein Problem. Ihre Gefühle flammten auf und waren kurz darauf wieder erloschen.

Sogar als Ryan Johnson aus ihrem Geometriekurs sie im letzten Frühjahr und dann noch mal im Herbst fragte, ob sie seine Freundin sein wolle – genauso hat er es formuliert –, und richtig traurig schien, als sie ihm einen Korb gab, fand sie das überhaupt nicht kompliziert.

Angel ist nicht wie die schwangeren Teenies im Film, mit denen das Publikum sympathisiert, die gleich beim ersten Mal schwanger werden und dann auch noch von ihrem besten Freund oder irgendeinem Typen, der die Situation ausgenutzt hat. Angel hat es Spaß gemacht, überall in der Schule herumzuerzählen, dass sie Sex hatte – dass sie sexuell aktiv war, wie Brianna sagen würde. Sie hatte sich stark und überlegen gefühlt, sinnlich und geheimnisvoll.

Angel war eigentlich noch nie verrückt nach Jungs. Nicht wie Priscilla, ihre beste Freundin seit der vierten Klasse – frühere beste Freundin –, die sich nichts sehnlicher wünschte als einen festen Freund und letztes Jahr sogar einen Teil ihres ­Geburtstagsgelds in ein Abonnement für ein Brautmagazin ­investiert hat.

»Ein Brautmagazin? Machst du Witze?«, fragte Angel, während sie sich auf Priscillas Bett fläzte und die Hochglanzzeitschrift durchblätterte. »Kriegst du nicht noch die Highlights?« Nein, und das wusste Angel auch, denn Priscilla hatte ihr früher immer die ausgelesenen Hefte gegeben, weil Angel süchtig nach den Wimmelbildern war. Ihre Mutter verschwendete nie Geld für irgendwelche Zeitschriften, außer für People, das praktisch ein Muss für jeden informierten Bürger ist. »Du redest ja nicht mal mit Kevin Gabaldon, Cilla. Meinst du nicht, du solltest wenigstens mal Hallo sagen, bevor du die Hochzeitstorte bestellst?«

Priscilla kniff ihre ohnehin schon schmalen Lippen zusammen. »Das sagst du nur, weil deine Mutter nichts von der Ehe hält. Schon mal was davon gehört, dass man an die Zukunft denken muss, Angel? ’Ne perfekte Hochzeit zu planen, kann vier Jahre dauern, und wenn ich jetzt schon anfang, die ganzen Kleider und die Deko auszusuchen, geht’s bestimmt schneller.« Sie beugte sich über Angel und tippte auf eine Seite, auf der eine blonde Braut abgebildet war, die mit gerafftem Rock durch einen üppigen Garten lief und dabei einfältig lächelnd über die nackte Schulter blickte, verfolgt von einer ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft. »Außerdem gefallen mir die Fotos.«

Angel wollte schon anmerken, dass sich die Mode wahrscheinlich längst geändert hätte, wenn Priscilla irgendwann heiraten würde, aber als sie umblätterte und feststellte, dass die Kleider alle ziemlich ähnlich aussagen, verkniff sie es sich.

Obwohl Angel keinerlei Wert auf eine feste Beziehung legt, macht – oder machte – ihr Sex Spaß. Er stellte eine unsichtbare Verbindung zwischen ihr und dem jeweiligen Jungen her und verriet ihr bestimmte intime Details über ihn. Sie weiß noch, dass sie nach ihrem ersten Mal letzten Sommer, als sie mit einem Jungen geschlafen hatte, um es endlich hinter sich zu bringen, nicht glauben konnte, wie unspektakulär das Ganze war. So viel Trara um Nichts. Und sie war sich überhaupt nicht wie eine Sünderin vorgekommen. Aber als sie den Jungen danach in der Schule sah, erinnerte sie sich daran, welche Laute er beim Sex von sich gab, dass er nachher verlegen lachte. Sie fühlte sich überlegen, wenn sie diese Typen – die vorher so rumgeprotzt hatten – nackt erlebte, mit ihren pickeligen Rücken, ihren bedürftigen, drängenden Penissen. Sie waren so erbärmlich, wenn sie sich grunzend und schnaufend abmühten und anschließend schlapp und wehrlos dalagen.

»Du hast Glück«, beschwerte sich Priscilla, während sie durch die nach Schweiß riechenden Gänge der Highschool ­liefen, die sie seit August besuchten. »Alle wissen jetzt, wer du bist.«

»Sie wissen auch, wer du bist«, sagte Angel freundlich, aber Priscilla hatte recht: Sobald man bewiesen hatte, dass man ­begehrenswert war, wurde man automatisch noch begehrenswerter. Ältere Schüler begrüßten Angel auf dem Parkplatz. Sie luden sie zu Partys ein. Für Priscilla und ihre gemeinsamen Freundinnen wurde Angel zur Expertin in Sachen Sex und bot gleichzeitig jede Menge Gesprächsstoff. Angel bemitleidete die anderen Mädchen wegen ihrer hoffnungslosen Naivität.

Schließlich wurde zumindest die Beziehung zu ihrer besten Freundin »emotional gesehen« kompliziert. Priscilla ist dünn und tough und manchmal nicht sehr nett. Und im Verlauf des Herbstsemesters wurde sie immer fieser.

»Echt krass, dass du so ’ne Schlampe geworden bist«, sagte Priscilla zu ihr, während sie ihr Make-up auf der Toilette auffrischten. »Ich mein das nicht unbedingt negativ, aber du bist nun mal nicht so hübsch wie Kylie oder Sabrina.« Die Toiletten der Española High School hätten gut in ein Gefängnis gepasst. Es gab keine Türen. Die Waschbecken sahen wie Tröge aus und statt Spiegeln, die sich bei einem Aufstand als nützlich erwiesen hätten, waren Metallplatten an die Wand geschraubt. Die ganze Architektur ließ einen an Meuterei und Flucht denken.

Angel blickte prüfend in ihr verschwommenes, verzerrtes Spiegelbild. »Na und? Ich seh doch ganz okay aus.«

»Ich hätt das nie von dir gedacht. Weißt du noch, was für eine Streberin du in der Mittelstufe warst? Außerdem sind ­dicke Schlampen ziemlich selten.«

»Ich bin nicht dick«, sagte Angel, und das stimmte, sie war eben nur kein dürres Klappergestell.

Nachdem Priscilla sie zum hunderttausendsten Mal als dick bezeichnet hatte, war es Angel eine Genugtuung, betrunken auf einer Party mit dem mürrischen, milchbärtigen Kevin ­Gabaldon zu flirten, für den Priscilla seit der siebten Klasse schwärmte, ohne irgendwas zu unternehmen. Dabei war es so einfach gewesen, ihm ein Lächeln zu entlocken, dann einen Schritt auf ihn zuzumachen, vom Reden zum Küssen überzugehen und sich schließlich in der dunklen Wäschekammer an ihn zu pressen. Angel liebte dieses Drängen, diese Eile, wenn ein Kleidungsstück nach dem anderen auf den Boden fiel, als wäre es schon immer überflüssig gewesen.

Priscilla war so sauer, als sie das mit Kevin erfuhr, dass sie ein kopfloses Nacktbild in der Schule herumschickte und behauptete, es wäre Angel. Angel wusste dank Ryan Johnson davon, der es ihr nach dem Unterricht in der Bibliothek gezeigt hatte.

»Hey«, sagte Ryan Johnson und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Angel sah von ihrem Matheheft auf und verdrehte die ­Augen. »Was willst du?« Er hatte sie dieses Jahr schon zweimal um ein Date gebeten und sie hatte jedes Mal höflich ab­gelehnt, aber ihre Geduld war langsam zu Ende. Dieser Typ kriegte es nicht in seinen Schädel, dass Sex absolut nichts bedeutet. Er folgte ihr wie ein verlorenes Rehkitz.

Ryan befingerte seine dünnen blonden Haare und biss sich auf seine aufgesprungene Unterlippe. Hatte er noch nie was von einem Fettstift gehört? Dann hielt er ihr sein Handy unter die Nase.

Das Ganze war lächerlich. Guck mal, was mir jemand geschickt hat, die arme Angel!!! Die tut mir so leid!!! Die Person auf dem Foto hatte einen Körper, der zwanzigmal besser aussah als Angels und mindestens einer Halbprofessionellen gehörte, wenn man sich die kugelförmigen Brüste und den blonden Lande­streifen zwischen den gespreizten Beinen ansah.

»Das bin ich nicht«, murmelte Angel. Sie fröstelte und bei der Vorstellung, dass sie am Abgrund stand und ihr Leben wahrscheinlich ruiniert war, wurde ihr ganz übel. Die Bibliothek war fast leer, bis auf drei Mädchen, die in einer entfernten Ecke zusammensaßen und über das Jahrbuch diskutierten, aber trotzdem hielt sie die Hand übers Display. »Das bin ich nicht«, wiederholte sie mit heiserer Stimme.

»Weiß ich doch.« Ryan wurde rot.

»Nein, tust du nicht. Lösch es.«

»Natürlich. Ich dachte nur, du solltest es wissen. Siehst du? Ich lösch es.« Und das tat er, direkt vor ihren Augen, was nett von ihm war, nur dass es eigentlich selbstverständlich gewesen wäre.

Falls Priscilla gehofft hatte, dass das Bild im Internet landen würde, wurde sie enttäuscht, denn alle, denen sie eingeschärft hatte, es niemandem zu zeigen, hielten sich daran. Anscheinend war die heutige Jugend besser als ihr Ruf.

Angel schämte sich trotzdem. Jeder von den vielleicht zwanzig Empfängern – Angels Klassenkameraden und Freundinnen – hatten sie sich wahrscheinlich nackt vorgestellt und das Bild in ihrem Kopf mit dem Foto auf ihrem Handy ver­glichen. Jeder Einzelne hatte sich wahrscheinlich gefragt, ob sich Angel so zur Schau stellen würde. Es wurde ihr ganz ­anders, wenn sie daran dachte, wie leicht sie sich auf Typen, die sie kaum kannte, eingelassen hatte, dass sie womöglich heimlich fotografiert oder gefilmt worden war. Oder zu be­nebelt gewesen war, um es mitzukriegen. Sie kannte Mädchen, deren Leben zerstört wurde. Im Bruchteil einer Sekunde.

Wenn sie daran denkt, was alles hätte passieren können, wird sie auch jetzt noch rot vor Scham. Priscilla stritt ab, das Foto verschickt zu haben – »So was würde ich nie machen. Wir sind doch Freundinnen!« –, und Angel tat so, als würde sie ihren Beteuerungen glauben. Wer hätte es denn sonst sein sollen? Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, fiel ihr jedenfalls die Entscheidung leicht, die Schule abzubrechen, ihre Kontakte in den sozialen Medien zu deaktivieren und abzutauchen. Sie war sogar dankbar, denn eine Schwangerschaft war auf jeden Fall besser, als im Internet zur Nutte abgestempelt zu werden.

»Übrigens, Cilla«, bemerkte Angel spitz an ihrem letzten Schultag, als sich ihr Bauch unter dem Sweatshirt schon leicht wölbte. »Vielleicht interessiert’s dich, dass Kevin der Vater ist.«

Kevin war nicht der Vater – sie hatten nicht mal richtig Sex gehabt, nur ein bisschen rumgefummelt –, aber Angel wollte Priscilla eins auswischen. Nein, der Vater ist Ryan Johnson, der nichts ahnende Ryan Johnson, und nur Angel weiß es.

Noch vor der Episode mit Kevin, sogar noch, bevor sie herausfand, dass sie schwanger war, hatte sich Angel manchmal schmutzig und benutzt gefühlt. Natürlich war es nicht immer leicht zu entscheiden, wer wen benutzte. Möglicherweise ließ sich Angel so sehr von ihrem eigenen Überlegenheitsgefühl mitreißen, dass sie tatsächlich etwas aufgab – nicht ihre Jungfräulichkeit oder ihre Unabhängigkeit (sie berührt ihren Bauch), weil sie beides längst verloren hat –, sondern etwas, was sich schwer ausdrücken lässt, irgendwas zwischen Begierde und Würde und Entscheidungsfreiheit.

Bei einer Party im letzten Sommer nahm ein älteres Mädchen, das wohl über ihren Ruf Bescheid wusste, Angel beiseite und ging mit ihr in das rosa gekachelte Bad, wo sie drei Kondome aus der Handtasche zog. »Du musst es nicht tun, weißt du. Nur wenn du’s willst«, sagte sie zu ihr und ihre Anteilnahme rührte Angel so, dass sie rot wurde. Dann wedelte die Ältere mit einem kleinen Päckchen und bot ihr Heroin an. Als Angel ablehnte, zuckte sie lächelnd mit den Schultern und wies mit dem Kinn zur Tür.

Jetzt begreift Angel erst, wie naiv sie war. Sie hatte sich als etwas Besonderes gefühlt, sexy und begehrt, hatte geglaubt, ­einem exklusiven Klub anzugehören. Und dabei waren ihr der Schulalltag, ihre Freundinnen und die normalen Teenager-Sorgen fremd geworden. Schrittweise und unwiderruflich hatte sie sich von ihrem alten Leben entfernt.

Und jetzt ist sie hier in Las Penas, von Bergen eingeschlossen und ihrem früheren Leben abgeschnitten. Um sie herum gibt es nichts als Kiefern, Wacholder und bröckelige rote Erde. Sie ist hier so weit draußen, dass keine Zukunft sie je finden wird, nicht mal mit Navi. Sie scrollt wieder durch ihre Textnachrichten, vielleicht hat sie ja eine von ihrer Mom über­sehen. Keine Menschenseele weiß, wo sie im Moment ist. Sie ist doch noch minderjährig. Sollte nicht irgendjemand ein Auge auf sie haben?

Die Wolken hinter dem Haus ihrer Großmutter sind rötlich-rosa, spiegeln den Sonnenuntergang. Der Wacholder wirft dunkelblaue Schatten. Im Dämmerlicht wirkt alles scharf umrissen, aber auch irgendwie traurig. Durch das vergitterte Fenster sieht Angel ihren Vater in der Küche hin- und her­gehen. Wenn sie noch eine Sekunde länger allein ist, fängt sie an zu weinen, und so läuft sie rasch zum Haus.

A