Die Gaben der Schönheit - Edmund White - E-Book

Die Gaben der Schönheit E-Book

Edmund White

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Beschreibung

Guy hat es geschafft: Aus der Armut der französischen Provinz hat er den Olymp der Modewelt im New York der Achtziger erklommen. Reihenweise erliegen die Männer seiner Schönheit, die ihn im Sommer zur größten Attraktion Fire Islands macht. Wie ein moderner Dorian Grey scheint er niemals zu altern und wird von älteren Verehrern mit Geschenken überhäuft - bis ihn die Zeit schließlich einholt und sein Leben für immer verändert. In seinem eleganten wie geistreichen Roman schwelgt Edmund White in der Magie der Schönheit, um im nächsten Moment ihre Oberfläche zu durchdringen und ihre Macht zu ergründen - die Macht, zu faszinieren, zu täuschen, zu beherrschen.

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Edmund White

DIE GABEN DER SCHÖNHEIT

EDMUND WHITE

DIE GABENDER SCHÖNHEIT

ROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHENVON PETER PESCHKE

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

Our Young Man bei Bloomsbury USA, New York.

1. Auflage

© 2017 Albino Verlag, Berlin

in der Bruno Gmünder GmbH

Kleiststraße 23-26, D-10787 Berlin

© 2016 by Edmund White

Umschlaggestaltung: Matthias Panitz

Satz: Robert Schulze

Abbildung Umschlag: © CockyBoys.com

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-95985-232-6

eISBN 978-3-95985-256-2

Mehr über unsere Bücher und Autoren:

www.albino-verlag.de

Für Christopher Bollen

»Dann dachte sie wieder an ihn,dass er jetzt hier sei, mit seinem ganzen Wesen,mit seinen Händen, seinen Augen.«– Leo Tolstoi, Anna Karenina

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

DANKSAGUNG

1.

Obwohl er fünfunddreißig Jahre alt war, arbeitete Guy noch immer als Model, und diejenigen seiner Freunde, die einen Sinn für Ironie und Kultur hatten, nannten ihn ›unseren jungen Mann‹, so wie Colette den sterbenden Proust genannt hatte. So viele Jahre war er tatsächlich jung gewesen; in den späten Siebzigern war er von Paris nach New York gekommen, ein Mann Ende zwanzig, der als Neunzehnjähriger durchging. 1980 und ’81 war er den Sommer über der Liebling der Saison von Fire Island Pines; alle Bewohner des Octagon House waren verliebt in ihn, und auch wenn man ihm alles hätte durchgehen lassen, nahm er sich keinen Deut wichtiger als die anderen und beteiligte sich genau wie sie an den Hausarbeiten und Ausgaben; er zahlte seinen Anteil an allen Rechnungen bis auf den letzten Cent genau, selbst wenn er gemeinsame Mahlzeiten ausfallen ließ oder ganze Wochenenden gar nicht auf der Insel verbrachte.

Jeder betete ihn an, sodass er sich vor diesen Dingen hätte drücken können. Als Model für zahlreiche Pflege- und Kosmetikprodukte machte er hundertfünfundsiebzig Dollar die Stunde, was damals eine Menge Geld war. Er verdiente in zwei Stunden mehr als Howard – ein junger Journalist und einer seiner Ferienhaus-Mitbewohner – in einer Woche; Howards Liebhaber Martin, ein schnauzbärtiger kubanischer Barkeeper, kassierte für zwei oder drei Schichten im Uncle Charlie’s nicht so viel Trinkgeld. Sogar sein starker französischer Akzent machte Guy nur noch begehrenswerter; Tom, ein weiterer Mitbewohner, der besonders vernarrt in ihn war, fing an, Französischunterricht zu nehmen, brachte aber niemals auch nur einen geraden Satz zustande.

Er geizte auch nicht mit Gefälligkeiten. Nach dem Abendessen schluckte er das von Ted zusammengestellte Gemisch aus LSD, Tranquilizern, Quaaludes und Nembutal, diesem sonderbaren Schlafmittel in gelben Kapseln. Nach einer energisch durchtanzten Nacht im Sandpiper fand man ihn dann im Morgengrauen nackt, ausgestreckt in der Brandung liegend, mit drei anderen liebestollen Schönheiten, oder er war gerade dabei, einen Kroaten – ebenfalls ein Model – zu massieren, auf der Sonnenterrasse beim Pool, wo sie große, krumme Joints mit Acapulco Gold rauchten.

Er mochte die Pines, weil die muskulösen Männer dort Bänker oder Anwälte oder Chirurgen waren, keine Gigolos (wie die vergleichbaren Kerle in Saint-Tropez), die sich auf den Decks der im Hafen liegenden Yachten fläzten (»laying out in the sun«, wie die Jungs in Amerika zu sagen pflegten, auch wenn Guy seit dem Englischunterricht der Oberstufe damals in Frankreich wusste, dass es »lying« heißen musste; die Franzosen hätten in ihrer eigenen Sprache niemals einen vergleichbaren Fehler gemacht, dachte er ganz pedantisch).

Er kam aus Clermont-Ferrand, einer großen, toten, trostlosen Industriestadt mitten im Herzen Frankreichs, und jeden Monat überwies er von New York aus eintausend Dollar an seine fromme Mutter, die die Blumen vor dem Altar arrangierte, und seinen Vater, einen Fabrikarbeiter, der vor zwanzig Jahren seinen Job in den Michelin-Werken verloren hatte und seitdem von Sozialhilfe lebte und zu viel Rotwein trank (seinen ersten coup de rouge kippte er jeden Vormittag um elf, eine alte Angewohnheit aus der Zeit, als er noch gearbeitet hatte).

Dass Guy außergewöhnlich gutaussehend war, wusste er, seit seine Großmutter es ihm gesagt hatte: seine abstehenden Ohren, die üppig-einladende Oberlippe und seine dunklen, eindringlichen Augen, die die Farbe von karamellisiertem Honig hatten; nur das strahlendste Sonnenlicht brachte die bernsteinfarbenen Sprenkel in seiner Iris zum Vorschein. Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er Straßenfußball gespielt, und sein runder Hintern, selbst so prall und fest wie ein Fußball, lieferte den Beweis. Er war eins neunzig groß und überragte seine Freunde deutlich, aber früher war er schrecklich dünn und seine Freunde nannten ihn ›Sec‹ (›trocken‹, aber auch ›hager‹), denn so nannten die Franzosen alle, die nicht ein Gramm Fett am Körper hatten. Mit siebzehn Jahren begann er, in seinen Körper hineinzuwachsen, doch etwa zu jener Zeit wurde er auch launisch (boudeur) und fing zu rauchen an, er schwänzte den Unterricht und ließ sich von seinen Aufgaben als Messdiener entbinden – genau genommen blieb er sonntags einfach im Bett und ging gar nicht erst zur Messe. Ein Versäumnis, das seine Mutter zum Weinen und seinen Vater zum Lächeln brachte. Seine Eltern lagen sich einmal wöchentlich in den Haaren; sein Vater zerstörte im betrunkenen Zustand das Mobiliar, und seine Mutter verkündete ihre bittere Missbilligung mit leiser Stimme – scharfe, hasserfüllte Schuldsprüche, die Wunden reißen sollten und von ihr ausdruckslos vorgetragen wurden.

Es gab zwei jüngere Geschwister, einen Jungen und ein Mädchen; Robert, das mittlere Kind, war fünf Jahre jünger, das Mädchen, Tiphaine, war zwölf Jahre nach Guy zur Welt gekommen – beide waren vermutlich das Resultat von Samstagabend-Vergewaltigungen, mit denen der Vater die sich empörende Mutter heimgesucht hatte. Die jüngeren Kinder waren unscheinbar und reizlos, auch wenn Tiphaine eine besondere Begabung für die Mathematik zu haben schien und Robert seinen Vater liebte und von ihm ebenfalls geliebt wurde. Durch diese Kameradschaft fühlte Guy sich nur umso isolierter: Jedes Jahr im Herbst machten Guys Vater und Robert einen einwöchigen Jagdausflug in die Sologne, ohne Guy jemals dazu einzuladen.

Guy begleitete eine Freundin aus der Oberstufe zu einem Shooting bei einem professionellen Fotografen; sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Topmodel zu werden, obwohl sie übergewichtig war und schlechte Haut hatte. In Frankreich sprachen alle den Begriff ›Topmodel‹ so aus, als könnte man die beiden Teile des Wortes einzig und allein in dieser Kombination verwenden. Der gelangweilte Fotograf, dem sie fünfhundert Francs für ihr ›Portfolio‹ zahlte, schoss am Ende von Guy ebenso viele Bilder wie von Lazarette, ohne dass der dafür zahlen musste. Er sagte Guy, dass er sich als Model versuchen sollte. Guy speicherte diesen Hinweis in seinem Hinterkopf ab; vielleicht wäre das sein Ticket, um raus aus Clermont-Ferrand zu kommen. Wenn er auch ein wenig rebellisch war, so war er trotzdem ein guter Junge; viele sahen in ihm gar die Verkörperung alles Guten – was nicht wenigen von ihnen zum Verhängnis werden sollte.

Mit einigen Wallfahrern aus seiner Gemeinde fuhr Guy übers Wochenende nach Paris; er bezeichnete sich zwar selbst als Atheisten, aber er wollte Paris sehen und erklärte sich bereit, an der großen Jugendmesse teilzunehmen, die im Parc des Princes abgehalten wurde. Aber am Tag der Messe verdrückte er sich und nahm die Métro nach Saint-Germain-de-Prés, weil er in einer Zeitschrift gelesen hatte, das sei die Künstlerhochburg der Hauptstadt. Zwei Stunden lang nippte er im sehr angesagten Café de Flore an einer Tasse Kaffee und studierte eine Ausgabe von Le Soir, und als er aufstand, um zu gehen, winkte ihn ein freundlich aussehender Herr mittleren Alters zu sich heran. »Hallo, hallo«, sagte er in lautem Singsang, in dem Guy eine Spur von Ironie zu erkennen glaubte – oder sprach da nur die Paranoia des Provinzlers aus ihm?

Guy trug seine engsten schwarzen Hosen und einen wirklich wunderschönen babyblauen Pullover, auch wenn es eigentlich zu warm dafür war. Vor dem Spiegel im Hotelzimmer hatte er eine Stunde damit zugebracht, sein Haar zu kleinen Locken zu formen; zweimal hatte er alle drei Outfits anprobiert, die er mitgebracht hatte. Tiphaine zog ihn immer wieder damit auf, dass er eitler als ein Mädchen sei, aber als ihre Großmutter das einmal hörte, hatte sie gesagt: »Er macht sich eben ständig einen Kopf um sein Aussehen und seine Kleidung, wie jeder normale Teenager.« Wenngleich sie sich in Clermont-Ferrand zur Ruhe gesetzt hatte, hatte sie vierzig Jahre lang als ›Madame Caisse‹ an der Kasse eines beliebten Pariser Cafés gearbeitet. Noch immer zupfte sie regelmäßig ihre Augenbrauen und malte ihre Lippen magentafarben an. Von der Taille aufwärts sah sie stets makellos aus, auch wenn ihr Rock fleckig und faltig war und sie verschlissene Schuhe trug; als sie noch gearbeitet hatte, war für die Kunden immer nur ihre obere Körperhälfte sichtbar gewesen, und auch jetzt war das alles, was für sie zählte. Sie rauchte Gauloises in Kette und trank jeden Abend nach dem Essen einen Cognac. Sie hatte diese gewisse Pariser Keckheit, die dem Rest der Familie abging, und eine deftige Art, sich auszudrücken – eine echte titi parisienne, wie die Schauspielerin Arletty.

Der Mann im Café de Flore lud Guy auf einen Drink ein. Er sagte: »Es kostet dich nur einen Augenblick deiner Zeit, und es könnte dein Leben komplett verändern.« Guy schlug das Herz bis zum Hals, aber er dachte sich, dass ihm an einem öffentlichen Ort wie diesem schon nichts passieren würde. Hier war er doch ganz bestimmt in Sicherheit, oder etwa nicht?

Der Mann hatte eine Glatze, aber sehr buschige Augenbrauen; er war ausgesprochen gut angezogen, trug ein wolkengraues Sportsakko mit einem flamboyanten Einstecktuch aus roter und goldener Seide. Er stellte sich als Pierre-Georges vor. Kaum dass Guy sich gesetzt und einen Suze bestellt hatte – ein Drink, der hinreichend elegant war und dessen gelbe Farbe seine braunen Augen betonen würde –, setzte Pierre-Georges an: »Du bist heute der bestaussehende Mann in Paris. Dessen bist du dir doch sicherlich bewusst.« Er überreichte Guy seine Karte, auf der unter seinem Namen und über der Adresse in gestanzten Buchstaben ›Model-Agent‹ stand. »Es gehört zu meinen Aufgaben, solche Dinge zu wissen.«

Guy war überrascht. Nicht weil er das Urteil des Mannes angezweifelt hätte, sondern weil er gar nicht bemerkt hatte, dass ihn jemand beobachtete. Seine weltgewandte Großmutter hatte ihm erst vor zwei Monaten gesagt, dass er auf eine Art und Weise gutaussehend war, die den Betrachter nicht unvermittelt packte, sondern sich ihm erst nach und nach erschloss.

»Du könntest ein Model sein!«, sagte der Mann. »Oder bist du sogar schon eines?«

Möglicherweise hatte seine Großmutter sich geirrt; vielleicht hatte sie nur einen besonders eindrücklichen Gesprächsfetzen zitiert, den sie irgendwo in Paris aufgeschnappt hatte.

»Nein«, sagte er, und er beschloss, dass es das Beste sei, wie ein naiver Bursche vom Lande zu klingen, um die Latte nicht zu hoch zu hängen. »Ich bin nur ein einfacher Junge aus Clermont-Ferrand, und das ist das erste Mal überhaupt, dass ich in Paris bin.«

Mit den Fingerspitzen strich sich Pierre-Georges ein Lächeln aus dem Gesicht. »Wie alt?«

»Siebzehn.«

»Oberstufe?«

»Ich mache gerade meinen Abschluss.«

»Also könntest du in ein paar Wochen anfangen zu arbeiten?«

»Jawohl.«

»Hättest du etwas dagegen« – wieder strichen die Fingerspitzen ein Lächeln von den Lippen –, »in Paris zu leben und nach New York und Mailand zu reisen?«

Guy hielt es für das Beste, weiterhin die reine Unschuld zu mimen (die er genau genommen auch war), und sagte: »Sie machen wohl Witze? Für mich würde ein Traum in Erfüllung gehen!« Er wusste, dass man ihm einen kühlen, blasierten Tonfall nicht abnehmen würde; er nahm an, dass Pierre-Georges lieber ein unbeschriebenes Blatt entdecken wollte. (Guy war ein geborener Schauspieler und konnte sogar ganz bewusst sich selbst spielen.)

Eine Woche nach der Jugendmesse nahm er einen Bus nach Paris, und Pierre-Georges sorgte dafür, dass sein Haar geschnitten, geglättet und aufgehellt wurde. Anschließend kleidete er ihn in ein schreiendes Karomuster und ein eng anliegendes Paisley-Hemd mit langem, spitzem Kragen, dazu enge Wickelgamaschen und spitze Lackschuhe – von oben bis unten die entsetzliche Mode der frühen Siebziger. Guy lernte gleich am Anfang, immer wieder eine neue Pose einzunehmen. (Nur ein einziges Mal hatte der drahtige kleine Fotograf ihm bedrohlich sagen müssen: »Du wiederholst dich.«) Guy drehte sich, er lächelte oder schmollte, berührte sein Gesicht oder sprang in die Luft, er fixierte schamlos einen Punkt an der Wand – all die Posen, die er sich in der L’Uomo Vogue abgeschaut hatte. Der Fotograf und Pierre-Georges sprachen über ihn, als sei er eine mehr oder weniger begehrenswerte Rinderhälfte an einem Fleischerhaken, die sie nicht hören konnte.

»Wunderbarer Knochenbau«, sagte der Fotograf.

»Aber seine Nase glänzt auf der linken Seite ein wenig «, stellte Pierre-Georges fest. »Und er hat überhaupt kein Grübchen zwischen dem Nasenrücken und der Stirn.«

»Aber das ist ganz klassisch, wie im alten Griechenland«, hielt der Fotograf dagegen. »Zurzeit absolut gefragt.«

»Er muss trainieren«, verkündete Pierre-Georges. »Ein bisschen nur, nicht zu viel, bloß ein paar Liegestütze, etwas Hanteltraining und Bankdrücken, wenig Gewicht, viele Wiederholungen, nur um die Brustmuskeln und den Bizeps etwas mehr zu definieren.«

»Hetero oder homo?«, fragte der Fotograf.

»Er wirkt hetero«, sagte Pierre-Georges. »Nur darauf kommt es an. Die ganzen neuen Männer-Models sind hetero und verheiratet.«

»Hübsche Hände«, stellte der Fotograf fest. »Aber er braucht eine Maniküre. Kein Nagellack.«

»Guy, zieh die Schultern nach hinten; der hohle Brustkorb ist ein Look für Frauen. Und hör mit dem Rauchen auf! Nichts lässt deine Haut schneller altern. Wenn du in die deutschen Kataloge für Badehosen und Unterwäsche willst, mit nacktem Oberkörper, dann müsste ich diese beiden Muttermale auf deiner Brust entfernen.« Instinktiv legte Guy seine Hand schützend auf seinen Brustkorb.

In Clermont-Ferrand schien niemand schwul zu sein, oder zumindest waren alle, denen er begegnete, tunlichst darauf bedacht, es sich nicht anmerken zu lassen. Bis auf den Priester war jeder, den er kannte, verheiratet. Wie so viele Teenager hatte Guy noch nicht wirklich zu sich selbst gefunden. Er wusste nicht, was er wollte – außer in der Welt herumzukommen. Er wusste nicht, welche Wirkung er auf andere hatte, aber alle bemühten sich darum, ihm zu gefallen, sogar Fremde, sogar Leute aus der bessergestellten Mittelschicht überwanden ihre Berührungsängste, lächelten ihn an oder sprachen mit ihm. Er musste nie viel sagen, um Leute dazu zu bringen, sich ihm zu öffnen. Er stand auf der Sonnenseite des Lebens, wie er selbst gerne sagte.

Guy bemerkte durchaus, dass Pierre-Georges ihn mochte, aber er wusste nicht, auf welche Weise. Er schien Guys Look perfektionieren zu wollen, und manchmal hatte Guy das Gefühl, dass er für ihn nichts weiter als eine Plastikpuppe war, mit winzigen Outfits zum Wechseln und einer winzigen Kleiderbürste. Aber von Zeit zu Zeit schenkte Pierre-Georges ihm ein komplizenhaftes Lächeln, so als wisse er, was dem jungen Mann durch den Kopf ging. Einmal, als der drahtige kleine Fotograf hin und her hechtete, während er Fotos von Guy schoss, der in die Luft sprang, das Haar von einem Ventilator verweht, zwinkerte Pierre-Georges dem Jungen zu. Es war absurd! Alle drei zwängten sich zusammen in die behelfsmäßige Dunkelkammer, in die das Badezimmer umfunktioniert worden war: In der klaren Flüssigkeit unter dem roten Licht betrachteten sie Guys Konturen, die auf dem Fotopapier erschienen. Ehrfürchtig flüsterte der Fotograf: »Magnifique! Ein Gott.« Und selbst Pierre-Georges brummte das größte seiner Komplimente: »Nicht übel.«

In ihrem klassischsten, schwarzen Kleid – und ohne das Schultertuch aus Spitze (Guy hatte sie angefleht, darauf zu verzichten) – begleitete Guys Mutter ihren Sohn zu dessen erster Fashion Show für Pierre Cardin. Sie war nervöser als Guy selbst und ermahnte ihn sicherlich zehnmal, dass er nicht von der Bühne fallen soll. Er machte seine Sache tadellos, ohne sich zu blamieren; er machte immer an der richtigen Stelle halt, um sich eine Sekunde lang zu präsentieren, und die Fotografen liebten ihn – zumindest leuchteten mehr Blitzlichter auf als bei den anderen Männern, wenn er auf den Laufsteg kam. Auf das rasante Wechseln der Outfits im Backstage-Bereich war er nicht vorbereitet; die abrupten, gezischten Anweisungen, während die maquilleuse, deren Atem nach Zimt-Kaugummi roch, auf einem Bein um ihn herumtanzte und mit ihrer Puderquaste sein Gesicht bearbeitete. Pierre-Georges sagte ihm, er solle finster dreinblicken, bedrohlich sogar, so als würde er jemanden schlagen wollen. »Das gibt dir den richtigen Look.«

Auch wenn er gänzlich unerfahren war, konnte selbst Guy sehen, dass Cardins grelle Plaids und Westen für Männer ebenso geschmacklos waren wie die Krawatten aus Polyester; das Orange, das in der Kollektion vorherrschte, war eine regelrechte Beleidigung. Die Show fand im riesigen neuen Espace-Cardin-Gebäude statt, gleich neben der amerikanischen Botschaft. Der Meister höchstselbst rauschte herum, gab genuschelte Anweisungen und brachte Hemdkragen in Form. Guy fiel auf, dass sich einige der männlichen Models nicht rasiert hatten; in ihren Gesichtern waren dunkle Bartstoppeln zu erkennen. So etwas hatte er noch nie gesehen, und er nahm an, dass es sicherlich wehtun musste, von einem solchen Mann geküsst zu werden. Sekunden bevor er auf die Bühne musste, bekam Guy von Cardin persönlich eine Hornbrille auf die Nase gesetzt. Glücklicherweise war in das Gestell nur schlichtes Fensterglas eingesetzt worden, sodass Guy trotz Brille ganz normal sehen konnte. Auf dem Laufsteg, vor den Augen so vieler Fremder, fühlte Guy eine Mischung aus Angst und Befriedigung. Er spürte die Macht, die sein gutes Aussehen ihm verlieh, aber es schien eine sehr begrenzte Macht zu sein, deren Dimensionen er noch nicht abschätzen konnte.

Am nächsten Tag konnte man Guys Gesicht überall in Paris sehen, und er war (gewissermaßen) ein Star (wenn auch namenlos). In das Left Bank Hotel, ein Bau aus der frühen Romantik mit Blick auf Notre-Dame, brachte Pierre-Georges einen ganzen Stapel Tageszeitungen. Guy wollte sich möglichst locker und unbeeindruckt geben, aber er konnte nicht anders, als alle Zeitungen zu durchblättern, insbesondere die Regionalzeitungen, die er regelmäßig las. Seine Wangenknochen waren auf den Bildern so hoch, dass sie Schatten auf sein Gesicht warfen. Er fand, dass er zu viel lächelte – er wollte auf keinen Fall wie ein Einfaltspinsel wirken. Pierre-Georges erklärte Guy und seiner Mutter, dass Cardin ihm einen Exklusivvertrag angeboten hatte, aber er hielt es für besser, abzulehnen. »Ich kann deutlich mehr Geld rausholen, wenn wir uns alle Möglichkeiten offenhalten«, sagte er.

In dem Moment, in dem Guy sagte: »Du bist der Experte«, sagte seine Mutter: »Ist es eine gute Idee, so ein sicheres Angebot auszuschlagen?« Alle drei lachten über diese spontane Offenbarung ihrer unterschiedlichen Charaktere.

Guy fand es aufregend, dass sein Gesicht auf allen Titelblättern war und von Millionen von Lesern gesehen wurde. Ob sie sich fragen würden, wer er war und was er wollte, oder war das alles so sehr auf Hochglanz getrimmt, dass Namen nicht zählten? Würden die Leute sich danach sehnen, ihn kennenzulernen? Hatte er schon die Leidenschaft im Herzen irgendeines Fremden entfacht?

Pierre-Georges nahm Guy und drei Mädchen mit zum Tanzen in den Rock’n’Roll Circus, eine Disco, in der die Männer Smoking trugen. Die großen, dünnen Mädchen waren mit fürchterlichen ›Weltraum-Kleidern‹ ausstaffiert: geometrisch geschnittene Stoffbahnen, die weich über Bodystockings fielen. (Cardin, so ließ sich Guy erklären, hatte den Mädchen diese Kleider aus seiner neuesten Prêt-à-porter-Kollektion geliehen, da er wollte, dass seine Mode in den angesagten Locations in Paris gesehen wurde.) Guy genierte sich, weil er sich für keinen guten Tänzer hielt, und er fragte sich, ob sein frisch aufgehelltes Haar im Schwarzlicht albern aussah. Pierre-Georges versicherte ihm aber, dass er in seiner Abendgarderobe eine hervorragende Figur machte. Von dort zogen sie weiter ins Élysée Matignon. Als sie gegen Mitternacht alle hungrig wurden, gingen sie in den Club Sept, wo man oben in lockerer Atmosphäre etwas essen oder die Bar besuchen konnte, während sich im Untergeschoss eine Schwulendisco mit verspiegelten Wänden befand. Die Musik war wunderbar; der kubanische disquaire (Pierre-Georges nannte ihn Guy Cuevas) saß in einer Kabine aus Acrylglas und spielte immerzu Songs von Marvin Gaye und Dalida.

Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber Guy war begeistert davon, wie gemischt das Publikum hier war: Schwul und Hetero, Schwarz und Weiß, Europäer und Amerikaner, Alt und Jung waren im Club Sept anzutreffen; die Teller hatten eine seltsame, asymmetrische Form, auf allen Tischen standen Blumenbouquets, und die hohen Weingläser hatten grüne, gewundene Stiele. All das wirkte sehr zeitgemäß auf ihn. Die ganze Angst, die ihm die Frage bereitet hatte, ob er nun Jungs oder Mädchen mochte, löste sich mit einem Mal in Wohlgefallen auf, wurde nichtig im berauschenden, pansexuellen Durcheinander des Sept.

In Clermont-Ferrand hatte er ein paar erbärmliche schwule Erfahrungen gemacht. Mit vierzehn Jahren hatte er sich mit einem beleibten Nachbarsjungen im Ringkampf versucht, und im vergangenen Jahr hatte sich ihm auf der Bahnhofstoilette ein obszöner alter Mann genähert, der sein Gebiss herausnahm, um dann auf seinen offenen, zuckenden Mund zu deuten, aus dem seine Zunge wedelnd hervorschoss. Lieber Gott, bitte mach, dass ich nicht auch zu diesem Kreis der Verdammten gehöre, so wie er. Hier im Sept jedoch sah er gutaussehende Männer in Mantel und mit Schlips, die sich an der Bar küssten, umgeben von stylischen, desinteressierten Freundinnen.

Immer wieder blickte Guy auf seine lange, unruhige, frisch manikürte Hand. Unter dem schwarzen Ärmel des Smokings ragte die Manschette aus schwerem, weißem Leinen hervor, zusammengehalten von den silbernen Manschettenknöpfen, die Pierre-Georges ihm geliehen hatte. (»Silber im Sommer, Gold im Winter«, hatte Pierre-Georges erklärt.) Guy bemerkte, dass die Mädchen nur grünen Feldsalat aßen, mâche, kein Brot. Ihre Kalbsmedaillons schoben sie nur ein wenig auf dem Teller hin und her, und keine von ihnen trank mehr als ein Glas Weißwein. Er selbst aber konnte nicht widerstehen und biss in das köstliche Brötchen, das direkt vor ihm auf dem Tischtuch lag, auch wenn die drei Mädchen und Pierre-Georges ihn wegen seines Mangels an Disziplin tadelnd anblickten. Dann empfahl sich eine nach der anderen für einen kurzen Moment, und Guy fragte sich, ob sie nun ihr Abendessen erbrechen würden. (Von solchen Dingen hatte er schon gehört.)

Es war ein aufregender Abend. Ein paar junge Männer an der Bar starrten in Richtung ihres Tisches; ihre Münder bewegten sich schnell, als sie einander Bemerkungen zuraunten. Hatten sie ihn erkannt? Ein aufgedunsener, lauter Amerikaner, der betrunken torkelnd etwas auf Englisch rief, wurde eilig nach draußen geführt. Noch einige Minuten später hämmerte er vergeblich von außen gegen die Tür. »Jeem Morrison«, flüsterte Pierre-Georges. »So traurig. Sein gutes Aussehen ist dahin … bouffi.« Aufgedunsen.

Einen Monat später war Morrison tot, begraben auf dem Cimetière du Père-Lachaise; Guy hatte sich seine beiden Muttermale ohne Schmerzen von der Brust kautern lassen, und er hatte sich erfolgreich das Rauchen abgewöhnt, auch wenn es ihm wirklich schwergefallen war (und er fünf Kilo zugenommen hatte). Pierre-Georges hatte ihm dabei geholfen, die zusätzlichen Pfunde wieder loszuwerden, indem er ihm Amphetamine verabreichte; außerdem hatte er ihm – nicht ganz ohne Trickserei – ein paar sehr lukrative Verträge ausgehandelt. Guy hatte schnell begriffen, dass Pierre-Georges sich in der Öffentlichkeit gerne mit sehr jungen Models und schönen Epheben sehen ließ; im Bett bevorzugte er derbe Kerle mittleren Alters, die er in einer Bar in der Rue Keller aufgabelte und mit nach Hause schleppte. Pierre-Georges gefiel es, wenn die Leute aus der Modebranche annahmen, dass Guy sein Liebhaber sei; gleichzeitig versicherte er immer wieder vehement, dass Guy ›hoffnungslos hetero‹ sei und zu Hause in Clermont-Ferrand eine Verlobte habe, ein junges dummes Mädchen. Bald sickerte aber durch, dass Guy in etwa so heterosexuell war wie die amerikanischen Jungs, die Bruce Weber einfliegen ließ, um sie dabei zu fotografieren, wie sie im Bois de Boulogne herumalberten. Zizi Jeanmaire – das kurze Haar frisch geschwärzt – starrte während eines Dinners immer wieder bedeutungsschwer zu Guy hinüber. »Der ist nicht hetero«, sagte sie abfällig, als sie sich anschickte, zu gehen – so als könne kein normaler Mann ihr widerstehen.

Ein junger Fotograf aus Amerika, der an einem Straßenende der Rive Gauche wohnte, nicht weit vom Hauptsitz der Le Monde, bot ihm ein Shooting für einen Hersteller von Skiausrüstung an – er hatte sogar schon einen künstlichen, schneebedeckten Abhang errichten lassen. Hal, der Fotograf, war ein joli laid, nicht wirklich gutaussehend, mit schmutzig-blondem Haar, großen, wehmütigen, blassblauen Augen und großen, fleischigen Ohren. Aber er tat alles dafür, möglichst glatt, modern und erfolgreich auszusehen; sein Haar war mit Pomade gezähmt – zumindest sah es so aus –, und er stemmte Gewichte, was er zur Schau stellte, indem er ein enges T-Shirt trug. Er hatte eine Sammlung von Tellern, die aus farbenprächtigen Keramikscherben zusammengesetzt waren – er nannte sie pique assiette –, und die hohen Wände seines Studios waren grün gestrichen, aber so, dass es verwischt wirkte und man an vielen Stellen die Pinselstriche noch ausmachen konnte.

Sie mussten schnell arbeiten, um fertig zu sein, bevor der Schnee schmolz, und es galt, eine Menge Klamotten abzulichten. Es gab niemanden, der für Haare und Make-up zuständig war, und keiner half ihm beim Umkleiden, aber Guy nahm die Sache sportlich und hüpfte die Hälfte der Zeit nur mit Unterwäsche bekleidet herum.

Hal gab sich sehr ernst (glaubte er, dass ihn das seriöser wirken ließ, oder war er tatsächlich vom Leben gelangweilt?), doch er war einigermaßen freundlich, auch wenn er zu viel stierte und ewig brauchte, um Fragen mit tiefer Stimme zu beantworten. Es konnte nicht an mangelndem Verständnis liegen – er lebte schon seit fünf Jahren hier, wie er erzählte, und sein Französisch war gut. Er hatte nicht mal einen allzu auffälligen Akzent.

Dann, als Guy sich gerade anzog, um zu gehen, sagte Hal: »Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn wir ein paar Nacktaufnahmen machen? Eines Tages wirst du froh sein, eine Erinnerung an deine Schönheit und Jugend zu haben.« Als er Guys zögernden Gesichtsausdruck sah, fügte er an: »Sie werden nur für uns sein. Ich gebe dir die Abzüge. Und wir machen keine pornografischen Bilder.«

Mit der Post kam ein großer, brauner, pappverstärkter Umschlag, auf dem stand: NE PAS PLIER (›nicht knicken‹). Darin, eingeschlagen in Pergamentpapier, waren mehrere Farbfotografien von Guy, wie er nackt neben der Schneewehe posierte. Er trug nichts außer einer Mütze und einem Paar Ski, das er in den Händen hielt. Guy schaute sich die Bilder mit einer Lupe an. Sein unbeschnittener Penis war groß genug. Seine Brust war behaart, und von seinem Bauchnabel aus verlief eine feine Linie heller Haare bis zu seinem Schritt. Er mochte sich auf den Bildern, auch wenn er sich sorgte, dass seine Unterarme zu dünn wirkten.

Drei Monate später stürmte Pierre-Georges ohne anzuklopfen in Guys Einzimmerwohnung und schmiss eine Ausgabe des amerikanischen Schwulenmagazins Blueboy auf den Küchentisch. Guys Aktfoto nahm eine ganze Seite ein. »Schlampe! Du hast soeben deine Karriere ruiniert«, geiferte er. »Und er sieht noch nicht einmal groß aus.« Es brauchte ein ausgiebiges Dinner und vier Gläser Bordeaux, um den schäumenden Pierre-Georges etwas zu beruhigen.

»Du hast all unsere gute Arbeit zunichte gemacht«, sagte er mit erschöpfter, tragischer Stimme. »Die wichtigste Regel für euch Models ist es, die Öffentlichkeit niemals alles sehen zu lassen. Lass die Leute träumen, lass sie sich ihre eigenen Bilder malen. Zeige ihnen Lenden, keinen komischen kleinen Penis.« Genau genommen nutzte er für das letzte Wort einen harschen französischen Kraftausdruck – bitte.

Guy erzählte ihm, wie er von Hal hereingelegt worden war, und Pierre-Georges zischte: »Idiot!« Dann ließ das Mitleid ihn weich werden. »Na ja, es ist ein amerikanisches Magazin. Niemand wird es mitbekommen, und er hat dir den Namen Ralph verpasst. Ausgerechnet.« Er dachte nach. »Aber dort wollen wir dich groß rausbringen: in Amerika. Da kann man das große Geld machen.«

Guy kam ein neuer Gedanke: »Jeder, der dieses Heft kauft, hat dasselbe Laster wie wir. Und wer würde das schon zugeben?«

»Ich rede hier nicht von Geständnissen, sondern von Gerüchten, die die Runde machen.«

Guy sehnte sich nach einem echten Freund, jemandem, dem er vertrauen konnte. Trotz der plötzlich einsetzenden Hitze legte er gerne alle Wege in Paris zu Fuß zurück, aber er wollte jemanden haben, mit dem er über die Dinge sprechen konnte, die ihn beschäftigten, egal ob Mann oder Frau. Seine Einsamkeit stimmte ihn melancholisch. Er schaute sich die Schaufenster der Rive Gauche und in der Rue Saint-Honoré (auf der anderen Seite des Flusses) an, und er versuchte zu entscheiden, ob ihm die Sachen von Hugo Boss, Kenzo oder Lanvin am besten gefielen. Er liebäugelte mit einem Bademantel aus blassgrauer Seide von Lanvin, aber das Preisschild – umgerechnet eintausend Dollar – schreckte ihn ab. Er lachte, als der geringschätzige Verkäufer bei Hermès ihm sagte, dass die kleine Reisetasche aus Schweinsleder mit dem schönen Kupferbeschlag sechstausend Dollar kosten sollte. Das mit dem Geld war für ihn so eine Sache: Er wusste nicht, wie lange die Leute ihm Aufträge geben würden. Er war ein erfolgreiches Laufsteg-Model, aber er würde warten müssen, bis im September die neuen Frühjahrskollektionen kamen, um wieder arbeiten zu können. Der Agent der Vogue mochte ihn, aber die Jobs für die Magazine brachten ihm nicht viel ein, und davon abgesehen wollte man dort nicht, dass den Lesern das Gesicht eines Models zu vertraut wurde. Er hatte einen großen, gut bezahlten Auftrag für die Printwerbung eines Joghurtherstellers, und dann hatte er noch einen Werbespot für Brie gedreht, in dem er sich – als hungernder Mönch verkleidet – auf den Käse stürzte, kaum dass ein älterer, beleibter Mönch ihn aus den Augen gelassen hatte. Dieser Werbespot lief einen ganzen Monat lang täglich zehnmal im Fernsehen, was ihm jede Menge Tantiemen in die Kasse spülte.

Er war in Armut aufgewachsen. Seine Familie besaß einen kleinen, muffigen Wohnwagen, mit dem sie in den Ferien durch Frankreich fuhr; in der Wohnwagensiedlung draußen vor Montoire-surle-Loir blieben sie fünf Tage lang. Sein Vater baute eine Markise und einen Grill auf und trank noch mehr Rotwein als gewöhnlich. Das war auch der Ort, an dem Guy seine Unschuld an Violette, ein schüchternes, reizendes Mädchen aus Vichy, verloren hatte. Sie waren beide fünfzehn Jahre alt gewesen. Seine Familie aß nie in Restaurants, wenn sie reiste. Nicht mal in Cafés. Guy liebte schöne Kleidung, aber er hatte nie das Geld, sie sich zu kaufen. Jetzt, in Paris, hatte er Geld, aber er war sehr darauf bedacht zu sparen. Die meisten seiner Kleidungsstücke wurden ihm von den Designern mit großem Preisnachlass gegeben.

Beinahe ein Jahrzehnt lag war er der Liebling von Paris. Er kaufte sich ein Art-Nouveau-Apartment, um 1910 entworfen von Guimard – dem Mann, der auch für die Métro-Eingänge verantwortlich zeichnete. Die Wohnung war klein, aber Pierre-Georges bezeichnete sie als ›distinguiert‹, und er war erfreut, dass sie im sechzehnten Arrondissement lag, wo es sicher und ruhig war. Für die Augen der Öffentlichkeit datete Guy Starlets und weibliche Models, die es meist begrüßten, dass er nichts von ihnen erwartete. Sein Privatvergnügen fand er am Ende von langen, trinkfreudigen Abenden mit anderen gutaussehenden, jungen und ›heterosexuellen‹ Männern, die er in den Abschleppschuppen auf dem Boulevard Montparnasse traf; das waren Kerle, die wie er am Ende des Abends noch kein Mädchen kennengelernt hatten. Aber er sah keinen dieser Männer ein zweites Mal, und er stellte sich ihnen immer mit einem falschen Namen vor.

Pierre-Georges sagte zu ihm: »Du wirst von allen gemocht, weil du wie ein Schwarzes Loch im Raum bist. Du hast keinen greifbaren Charakter. Du bist sympa, soweit man das als Narzisst eben sein kann, aber das bedeutet nichts. Du bist wunderschön, und jeder sieht genau das in dir, was er sehen will. Und du machst es ihnen einfach, weil du für nichts Konkretes stehst. Du bist ein Schwarzes Loch im Raum.«

Dann schickte Pierre-Georges ihn für einen Pepsi-Werbespot nach New York, wo die Tatsache, dass er Franzose war, keine Relevanz hatte. Er musste sich in Jeans und einem Sport-Shirt beim Grillen und Picknicken filmen lassen, auf einem eigens angemieteten Anwesen in Far Hills, New Jersey, umgeben von jungen Leuten aus Amerika. Es war das Jahr 1980, und plötzlich, zwei Jahre nach den Frauen, wurden nun auch die männlichen Models zu ›Supermodels‹. Man kannte ihre Namen, es wurde Klatsch und Tratsch über sie verbreitet. Ihre Stundensätze gingen nach oben. Man lachte über sie, weil man sie für völlig überbezahlt hielt, aber Pierre-Georges wies immer wieder darauf hin, dass die Karriere eines Models nur von kurzer Dauer war.

Guy machte sich immerzu Sorgen über irgendetwas. Die Währung in Amerika erschloss sich ihm nie; ein Nickel war größer als ein Dime, der aber mehr wert war. Nach all den Filmen mit Fred Astaire, die er gesehen hatte, war er davon ausgegangen, dass in Amerika jeder in Abendgarderobe herumlief, aber in Wirklichkeit waren die meisten schlecht angezogen und frisiert. Schick angezogene Frauen liefen in Turnschuhen herum (man hatte ihm erzählt, dass sie ihre Absatzschuhe im Büro anzogen). Viele Männer wirkten ungewaschen. Guy war entsetzt darüber, wie fettleibig einige schwarze Frauen waren; unbefangen, regelrecht schlampig, wälzten sie sich den Gehweg entlang. Die Portionen in den Restaurants waren lächerlich groß, und dass es mehrere Lokale gab, die ein ›All you can eat‹-Buffet anboten, ließ ihn staunen. Auch Doggy Bags – Tüten, in denen man nicht verzehrte Reste gut verpackt mit nach Hause nahm – waren ihm neu. Guy fand, dass New York schäbig und provinziell war, aber auf seltsame Art auch voller Spannung. Alles war schnell und achtlos, sogar die Art, wie die Ladenmädchen gekaufte Ware einpackten. Merkwürdigerweise war der Service in der Gastronomie hier außergewöhnlich freundlich; in einem Lokal im Greenwich Village setzte sich die Kellnerin zu ihnen an den Tisch und sagte: »Ich hoffe, ihr habt keine komplizierte Bestellung, Leute. Ich bin völlig high.« Auch wenn Guy sein Englisch für gut hielt, musste er die Assistentin des Fotografen fragen, was die Worte ›Leute‹ und ›high‹ in diesem Zusammenhang bedeuteten. Von da an nutzte er das Wort ›Leute‹ ständig, wenn er zum Beispiel sagte: »Das sind komische Leute«, wobei er damit sagen wollte, dass er sie unterhaltsam fand. Jemanden als ›unterhaltsam‹ zu bezeichnen, schien New Yorker eher zu irritieren.

Trotz solcher Kleinigkeiten hatte er großen Erfolg in Amerika. Es schien, als sei selbst eine Stadt von der Größe New Yorks nicht groß genug für mehrere französische Models, aber Guy avancierte schnell zu dem hippen Typen aus Frankreich. Er traf sämtliche Top-Fotografen, darunter auch Hiro, ein stiller, japanischer Künstler mit einer sehr klaren Bildsprache, der nur wenig brauchte, um Werke mit hinreißenden Formen und Farben zu schaffen, und Richard Avedon, der ein sehr herrisches, arbeitswütiges Genie war – und viel kleiner und jünger, als Guy erwartet hatte. Einmal sagte er zu Guy: »Ich fotografiere ohne Unterlass, das macht meine Arbeiten in etwa so aufregend wie Konfetti.« Avedon war so schlank und stylisch, dass er gar nicht amerikanisch, ja noch nicht einmal heterosexuell wirkte, aber seine Freundschaften zu berühmten Frauen waren überall Gesprächsstoff. Eine davon war das Model Dovima, die er mit einem Elefanten fotografiert hatte.

Pierre-Georges hatte ihm gesagt, dass New York ein sehr gefährliches Pflaster sei, und wenn er ein Taxi nahm, sollte er den Fahrer bitten, zu warten, bis er das Haus sicher betreten hatte. Ansonsten könnte es passieren, dass er auf der fünf Meter langen Strecke zwischen Taxi und Haustür überfallen würde. Er wohnte im Greenwich Village (›Greenwich‹ auszusprechen bereitete ihm Schwierigkeiten), im Loft eines Backsteingebäudes an der Ecke West Fourth und West Eleventh (eine Straßenkreuzung, die unlogisch war). Pierre-Georges hatte die Wohnung für ihn gefunden und sogar eingerichtet, aber es war Guy gestattet, Fotos von seiner Familie auf den kleinen silbernen Staffeleien aufzustellen, die Pierre-Georges gekauft hatte. Guy drapierte auch einen extravaganten Seidenschal auf dem schlichten beigen Sofa, doch Pierre-Georges zog ihn deswegen auf, und nur einen Tag später faltete Guy den Schal zusammen und legte ihn wieder weg.

Auf dem nahe gelegenen Sheridan Square fand er ein Fitnessstudio. Die Leute, die dort trainierten, rissen oft lautstark Witze; ein paar von ihnen waren absurd muskulös, und ein Kerl musste sich von seinem Bruder die Treppe raufhelfen lassen. Dieser Typ aß jeden Tag ein ganzes Grillhähnchen und trank einen halben Liter Ochsenblut. Guy verstand die meisten Witze nicht, aber wie es schien, war die Hälfte der Typen schwul und die andere normal, und offenbar drehten sich die Sprüche darum, welche sexuelle Orientierung nun die vergnüglichere war: »Stell dir einfach vor, ein Schwanz ist wie ’ne Möse am Stiel«, grölte eines der Großmäuler. Die Fitnessstudiogänger wandelten auf dem schmalen Grat zwischen homo- und heterosexuell.

In der mit Zedernholz ausgeschlagenen Sauna begann ein höflicher, schwabbeliger Mann mit einem buschig-grauen Schnauzbart, edlen, saphirblauen Augen und den Ruinen eines guten Aussehens eine Unterhaltung mit ihm. Seine Brustwarzen hatten die Größe von Radiergummis. In Paris hätte Guy sich schmallippig gegeben, aber hier in Amerika waren die Leute auf fast schon obszöne Weise freundlich. Als der Mann, un vieux beau, Guys Akzent hörte, sprach er prompt in einem sehr guten Französisch weiter. Er sagte, er hieße Walt und käme aus San Francisco, aber er ginge nicht wirklich einer Arbeit nach, da er Zeit brauche, um mit seinem älteren Freund zu reisen, einem belgischen Baron und Bänker, der immer zwischen Gstaad und Phuket und Venedig und Mykonos hin und her pendelte; du solltest ihn unbedingt mal kennenlernen, und was arbeitest du, oh, das hatte ich mir schon gedacht, und ich weiß, man soll Franzosen nicht fragen, was sie arbeiten, aber hey, wir sind ja auch in New York; und Walt lachte über diesen witzigen Zufall.

Zufälligerweise verließen sie auch gemeinsam die Sauna und gingen zu den Duschen. Walt griff nach einer von Guys heißen Pobacken; Guy funkelte ihn wütend an, aber Walt blickte unschuldig drein, so als habe er nur eine Melone drücken wollen, um zu schauen, ob sie schon reif ist – oder als habe jemand anderes zugelangt. Auch unter der Dusche lächelte und plauderte Walt noch, aber er übertrieb es mit dem ausgiebigen Waschen seiner Genitalien etwas. Es war seltsam, aber obwohl er fett war, konnte Guy sich vorstellen, dass es schön wäre, in seinen Armen zu liegen. Walt hatte einen Körper, der umfasst werden wollte.

Als sie angezogen und auf dem Weg nach draußen waren, schrieb sich Walt Guys Telefonnummer auf. Unter seinen straffen Unterhosen aus Seide fühlte Guy noch die schockierende Vertrautheit von Walts Handabdruck, was ihn verwirrte. Er hatte sich noch nie von jemandem angezogen gefühlt, der über dreißig war (zumindest nicht, soweit er sich erinnerte). Doch insgeheim erregte ihn die Übergriffigkeit dieser schamlosen Berührung. Vielleicht lag das daran, dass so ein offensichtlich zivilisierter Mann es getan hatte, jemand, der Französisch sprach und in Gstaad Ski fuhr – so als hätte sich jemand in Abendgarderobe in den Dreck gekniet, um ihm den Schwanz zu lutschen. Immerhin verbrachte Walt seinen Urlaub in Thailand, er garnierte seine Erzählungen mit kurzen Abschnitten über Yachten und Bars rund um die Welt – und außerdem hatte er Guy an den Arsch gefasst.

Guy begriff, wie einsam er war. Wie ausgehungert nach Zuneigung. In Paris hatte er eine ältere Frau namens Elaine kennengelernt, in einem Englischkurs, für den sie sich beide eingeschrieben hatten. Sie war eine Anästhesistin, die in Versailles lebte und arbeitete; sie hatte etwas Keckes an sich, aber war im Grunde genommen langweilig, auch wenn sie immer Zeit hatte und Guy wie ihren kleinen Bruder behandelte. Trotzdem legten sie nie das formale vous ab. In New York hatte er nicht mal eine Elaine, mit der er essen oder ins Kino gehen konnte.

Weil beinahe jeder Mann im Village ihn anstarrte, gewöhnte er sich an, sie allesamt zu ignorieren. Der eine hatte einen schönen Oberkörper, aber Frauenbeine, ein anderer hatte seinen Bizeps trainiert, aber nicht seinen Trizeps. Ein Dritter war gut gebaut, hatte aber lächerliche Koteletten. Ein Vierter trug eine Herrenhandtasche mit sich rum, weil seine helle Gabardinenhose keine Taschen hatte: In Frankreich hatten nur noch ältere Busfahrer so ein Teil bei sich, wenn sie abends in der Stadt unterwegs waren. Guy registrierte all diese ›Mängel‹, weil er seine eigenen Defizite genauso kritisch betrachtete – oder sich tunlichst darum bemühte, sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber er war sich sicher, dass er nicht nach Fehlern suchen würde, wenn es ihm gelänge, zu jemandem eine Beziehung aufzubauen. Selbst wenn es eine völlig gewöhnliche Person wäre.

Wenn er durch den Washington Square Park lief, an einem jungen Mann vorbei, der allein auf einer Bank saß, dann fiel ihm das Atmen schwerer mit jedem Schritt, den er ihm näher kam. Fast so, als würde er ein gefährliches Kraftfeld durchqueren. Und doch konnte er die Augen nicht von dem Fremden lassen. An seinem ersten Wochenende auf Fire Island mit Pierre-Georges (der überraschend viel Körperbehaarung hatte) lief Guy langsam die hölzernen Stufen von den Dünen zum Strand hinunter. Er trug nichts außer einer engen weißen Badehose und seiner Sonnenbrille, und ein Dutzend Männer, auf Handtüchern im Sand liegend, blickte zu ihm auf. Guy fühlte sich der Ohnmacht nahe. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Nie wieder werde ich so vollkommen sein. Und diese Vorstellung stimmte ihn traurig. Er war sich darüber im Klaren, wie flüchtig seine Vollkommenheit war – und dann verscheuchte er diesen narzisstischen Gedanken mit einem höhnischen Lächeln. Schönheit war einfach nur eine Art, sein Geld zu verdienen.

Ihm kam der Gedanke, dass er wie ein teures Rennpferd war, das untersucht und auf Trab gehalten wurde von den Menschen, die ihn umgaben – aber sie sorgten sich nicht um sein Wohlergehen, sondern um ihr Investment. Fühl mal seinen Widerrist … Frisst er denn genug? … Die Zuschauertribünen machen ihm Angst, er braucht Scheuklappen … Seine Nase ist ganz warm. Wenn er das Haus ohne Sonnenbrille verließ, kam Pierre-Georges ihm hinterhergelaufen, um ihn zu warnen, dass er vom Zusammenkneifen der Augen Falten bekommen würde. Wenn er auch nur ein paar Gramm zunahm, kniff Pierre-Georges ihm in die Taille und raunte: »Miss Piggy.« Wenn er enge Jeans trug, zischte Pierre-Georges »Du siehst aus wie eine Nutte« und wies ihn an, eine weitere Hose anzuziehen. Einmal, als er einen dünnen, durchscheinenden Hausmantel trug, flüsterte Pierre-Georges den abfälligsten Kommentar, den die französische Sprache kennt: »Très original.« Wenn er sich auf ein Kreuzworträtsel konzentrierte, warnte Pierre-Georges ihn, dass er Sorgenfalten bekommen würde – jene vertikalen Linien über seiner Nase.

Um Mitternacht nahmen die beiden mit einem kleinen Haufen überdrehter Jungs ein öffentliches Schnellboot, um vom Cherry Grove zu den Pines zu kommen, wo sie alle in die Sandpiper-Diskothek stürmten. Guy war bekifft und größer als die meisten anderen Männer, und als er so über sie hinwegblickte, verspürte er ein klares buddhistisches Gefühl von Vergänglichkeit. Er blickte über die Masse der muskulösen, braun gebrannten Männer mit nackten Oberkörpern, und er begriff, dass genau hier, auf dieser Tanzfläche, eine solche Konzentration von Mode, Schlankheitswahn, Geld, Bleaching, Schönheitschirurgie und Psychotherapie herrschte – und all das für Nichts. In ein paar Jahren würden sie alle alte Walrosse sein. Und noch ein paar Jahre später: tot.

Guy traf ein paar muskelbepackte Kerle, die vor ihrem Haus am Tuna Walk ein improvisiertes Freiluft-Fitnessstudio mit Hantelbänken im Sand errichtet hatten. Sie boten ihm an, mit ihnen zu trainieren. Eines Tages zog ein kleiner, schlanker, aber perfekt gebauter Blondschopf ihn zur Seite und sagte: »Du solltest Gymnastik machen – du bist doch Model, oder? Soll ich es dir beibringen?« Der Kerl trug blaue Baggy Shorts, und er schwang sich auf den Barren und lief ihn auf Händen ab, dann machte er einen Salto, und schließlich spreizte er die Beine weit auseinander, mit nach vorn gestreckten Füßen. Guy übte eine ganze Stunde lang mit ihm; allem Anschein nach erwartete der Mann keine Gegenleistung dafür – diese Amerikaner waren unglaublich!

Er las einen Artikel über isometrisches Gesichtstraining, und von da an hakte er jeden Morgen seine Finger in die Mundwinkel, um so gleichzeitig ein breites Grinsen und das Schließen des Mundes zu versuchen. Oder er legte den Kopf nach hinten, wie eine Gans, das Kinn nach oben gestreckt und seine Zunge gegen den Gaumen gepresst, um das Kinn zu stützen.

Als er das Sandpiper verließ, um frische Luft zu schnappen, stolperte er über Walt, der sehr eifrig damit beschäftigt war, seinen Baron zu umsorgen. Sie wurden einander vorgestellt, und der Baron – ein ziemlich hässlicher Kauz – hielt Guys Hand so lange gedrückt, dass es unangenehm wurde. Natürlich unterhielten sie sich auf Französisch, ziemlich lautstark, und Guy sorgte sich, dass die fremde Sprache die Umstehenden verärgern könnte, so wie es ihn selbst empörte, wenn sich in einem Pariser Café eine Gruppe ungestümer Deutscher laut in ihrer Muttersprache unterhielt. Das war möglicherweise etwas bourgeois, aber er wollte nicht als Fremder auffallen, auch wenn die meisten Amerikaner sagten, dass sie seinen Akzent liebten – er sei so sexy.

Der Baron – sein Name war Édouard – lud ihn für den nächsten Tag zum Lunch auf seiner Yacht ein. Dabei zeigte er auf ein massiges Boot, das direkt neben ihnen am Ufer festgemacht war. Guy hatte gerade erst an diesem Nachmittag attraktive Männer und Frauen auf dem Deck der Yacht bemerkt. Er fragte: »Um wie viel Uhr?«, und dann fragte er, ob er einen Französisch sprechenden Freund mitbringen könne.

Der kleine Turner schlich sich an Guy heran und sagte: »Wie ich sehe, hast du Spare Parts bereits kennengelernt.«

»Wen? Baron Édouard?«

»Wir nennen ihn Spare Parts, weil er so viel hat machen lassen an sich und immer noch wie eine Kröte aussieht.«

»Eine was?« Guy kannte das Wort nicht. Schließlich dämmerte ihm, das vermutlich un crapaud gemeint war. Vermutlich sprachen Neid und Eifersucht aus diesen Worten.

»Bei dem solltest du vorsichtig sein«, fügte der Turner hinzu. »Er mag brutalen Sex; du willst doch nicht, dass er dir deine schönen Nippel ausleiert. Außerdem steht er auf Fisten. Genau genommen ist er der Sklave, glaube ich.«

Ausnahmsweise lächelte Pierre-Georges einmal, auch wenn er sonst fast instinktiv das Gesicht verzog, wenn Guy einen Vorschlag machte: »Ein Baron? Eine Yacht?«, fragte er, bestätigt in seiner Ahnung, dass sie letztlich doch nicht so weit weg waren von Saint-Tropez.

Guy hatte sich auf einen intimen Lunch eingestellt, eine Situation, die er etwas angsteinflößend fand, aber die Yacht war gefüllt mit jungen Hofschranzen, und der Baron ließ sich immer nur zwischendurch mal wieder blicken, ganz in Weiß gekleidet, wie ein richtiger Kapitän. Guy dachte bei sich, dass er ein cleverer Verführer war, und er war fest entschlossen, im Alter so zu sein wie er – den Haken mit vielen glänzenden Ködern bestückt. Walt war ganz aufgescheucht; er stellte sicher, dass die Bong die Runde machte, dass die eiskalten Daiquiris wieder aufgefüllt wurden und dass jeder etwas von den heißen Blauschimmel-Pastetchen und den Crudités mit den köstlichen Krabbenscheren abbekam.

Flüsternd fragte Walt ihn: »Welcher dieser jungen Herren gefällt dir am besten?«

Guy zuckte mit den Schultern, aber Walt beharrte: »Nein, wirklich«, sagte er.

Guy war es so sehr gewohnt, selbst die bestaussehenden Amerikaner abzuweisen, dass es ihm jetzt schwerfiel, eine Wahl zu treffen. Er war es, auf den jeder Jagd machte; er war die Ware, nicht der Kunde. Aber als Walt ihn ein drittes Mal fragte, murmelte Guy mit heiserer Stimme: »Der kleine Blonde da, in der neonblauen Badehose.«

»Jacky? Das ist die größte Schlampe auf der ganzen Insel; ein richtiger Masochist. Er ist ständig an einen ausrangierten Kühlschrank gekettet, drüben im Meat Rack, und im Morgengrauen müssen wir jemanden hinschicken, um ihn loszumachen. Versteh mich nicht falsch, er ist ein reiner Sonnenschein. Immerzu am Pfeifen. Ein kleiner Möchtegern-DJ.«

Guy dachte bei sich: Also steht der Baron auf brutalen Sex und umgibt sich gerne mit fröhlichen Sklaven – und er betrachtete Jacky genauer, um zu sehen, ob seine Nippel noch in Form waren, und tatsächlich sahen sie irgendwie zu groß und ein wenig abgekaut aus, wie kalter Knorpel. Aber nicht so schnell, sagte sich Guy. Wenn der Baron selbst ein Masochist ist, warum lädt er sich dann einen anderen Masochisten ein? Vermutlich möchte er ein paar hübsche Jungs hier haben, um Sadisten anzulocken.

Es waren auch viele Frauen anwesend – na ja, drei. Sie waren ein wenig grobschlächtig, aber die schwulen Männer hofierten sie, als seien sie so lange von weiblicher Gesellschaft abgeschnitten gewesen, dass sie gleich wieder in die gezierte Galanterie zurückfielen, die sie zu Highschool-Zeiten gepflegt hatten.

Nachdem Guy seinen zweiten Daiquiri getrunken hatte, tauchte der Baron aus seiner Kabine auf. Guy hatte seine Augen einen Moment lang geschlossen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und als er sie wieder öffnete, saß Édouard in dem Kapitänsstuhl direkt neben seinem Liegestuhl. »Du musst achtgeben, dass du dir deine makellose Haut nicht von der Sonne verbrennen lässt«, sagte er. »Ich kann dir den Rücken mit Sonnencreme einreiben, wenn du magst.« Er hielt eine kleine Tube Kiehl’s in der Hand.

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank, aber mein Freund Pierre-Georges hat mich bereits eingecremt wie ein Brathähnchen in Butterschmelze.«

Der Baron lachte nicht, was Guy unangenehm berührte. Er nippte an seinem dritten Cocktail, den er eigentlich gar nicht hatte anrühren wollen.

Irgendwie schien sich Édouard durch Guys Freundschaft so geehrt zu fühlen, dass er damit begann, Dinnerpartys zu seinen Ehren auszurichten, zu denen nur männliche Gäste geladen waren. Eine davon fand auf einer dreistöckigen Fähre statt, die bei Sonnenuntergang den Hudson River entlangfuhr: einhundert Gäste, bedient von gutaussehenden Kellnern in knappen, kurzen Hosen, orangefarbenen Arbeitsstiefeln und schwarzen T-Shirts, auf denen silbern das Wappen des Barons prangte. Édouard versäumte nicht, einen Toast auf Guy, den Ehrengast, auszubringen. Ansonsten behelligte er ihn nicht weiter. Erst um Mitternacht wendete das Boot, um wieder Richtung Battery Park zu fahren; bis dahin hatten sich viele der Jungs jemanden geangelt und sich aufs verdunkelte Oberdeck zurückgezogen. Guy war unten geblieben, wo er mit zwei seiner neuen Freunde plauderte. In Amerika nannte man jeden noch so beiläufigen Bekannten einen ›Freund‹ – Guy hatte sich das ebenso angewöhnt. Es tröstete ihn über den Umstand hinweg, dass er keine echten Freunde hatte.

Bei einer weiteren Dinnerparty, nicht weniger groß und verschwenderisch, wurden sie wieder von den Jungs in kurzen Höschen und orangefarbenen Stiefeln bedient, aber diesmal endeten die Shirts über dem Bauchnabel. Guys Mutter war in New York, und sie war die einzige Frau unter einhundert stadtbekannten Homosexuellen, die sie allesamt hofierten, auch wenn Guy es rasch leid war, ihr dummes Geschwafel zu übersetzen: »Meine Güte, oh, wow, es ist wirklich eine feine Sache, Guys Mutter kennenzulernen«, woraufhin seine Mutter besorgt nachhakte: »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt? Oh, sage ihm bitte, dass es mir eine Ehre ist, einen Kollegen meines Sohnes kennenzulernen.«

»Was hat sie gesagt? Komm schon, was hat sie gesagt?«

Wenigstens der Baron gab sich als vollendeter Gentlemen und sprach in seinem altmodischen Französisch zu ihr; Guys Mutter flirtete nachdrücklich mit Édouard, auf ihre eigene Art, ernsthaft und kokettierend, auch wenn das niemand wahrnehmen konnte, der nicht zum Kreise ihrer engsten Angehörigen gehörte. Sie trank zu viele schaumige Grasshoppers, und sie schien gar nicht mitzubekommen, dass sie die einzige anwesende Frau war; zumindest äußerte sie sich nicht dazu, als Guy sie zu ihrem Hotel in Midtown, dem Warwick, führte.

Während eines Dinners im La Côte Basque, zu dem er Pierre-Georges eingeladen hatte, erzählte Édouard, dass er alles geben würde, jeden Preis zahlen würde, um nur eine Nacht mit Guy zu verbringen. Natürlich war er sich der Tatsache bewusst, dass sein entkleideter Körper Guy entsetzen könnte; Édouard wusste sehr wohl, wie wenig präsentabel er noch war. Die wenigsten Männer seines Alters konnten sich noch schicklich enthüllen, und er wusste, dass er nicht zu jenen gehörte. Da Guy ein Auge auf Jacky geworfen zu haben schien, könnte man den Jungen als einen Gang des Mahles präsentieren, um die ganze Sache schmackhafter zu machen.

Der ganze Inhalt dieses Gespräches – das Pierre-Georges als aufregend und anstößig gleichermaßen empfand, auch weil es der erste höfliche Austausch dieser Art war, den er führte – wurde beflissen an Guy weitergetragen. »Ich habe angedeutet, dass du dein Auge auf ein himmelblaues Mercedes-Cabrio geworfen hast, aber dass die Kosten für einen Stellplatz zu hoch seien, als dass du ernsthaft über den Erwerb eines Autos nachdenken würdest. Schließlich ist ein Parkplatz in Manhattan nicht leichter zu finden, als eine Wohnung in Paris.«

»Du hast meine unsterbliche Seele einfach so für ein Auto und einen Parkplatz verscherbelt, ohne mich zu fragen?«, jammerte Guy. Alles rauschte nur noch an ihm vorbei. Sein Leben dümpelte einfach vor sich hin, nur um plötzlich einen unerwarteten Spurt hinzulegen.

»Ich frage dich doch jetzt. Habe ich etwas falsch gemacht? Ein Mercedes ist eine ziemlich kostspielige Anschaffung.«

Guy nippte an seiner Cola light. Schließlich sagte er verdrießlich: »Nein.«

»Wie?«

»Ich sagte nein, du hast nichts falsch gemacht. Was hat er geantwortet?«

»Édouard hat nur gezwinkert und gelächelt. Ich habe erwähnt, dass dein Namenstag bald ansteht. Dann haben wir uns über andere Sachen unterhalten. Über deine Karriere. Er hat gesagt, dass Zoli ein guter Freund von ihm sei, und dass er euch gerne bekannt machen würde.«

»Aber du bist mein Agent«, wiegelte Guy ab. Er betrachtete den Ginkgobaum draußen vor dem Fenster. Es war Juli, aber die Sommerabende waren hier nicht so lang wie in Paris.

»Er könnte dein Agent sein, und ich kann als dein Manager arbeiten. Zoli ist der Top-Agent für Männermodels.«

Guy bekümmerte der Gedanke, Zoli seine Maße geben zu müssen, damit der sie neben ein neues Porträtfoto drucken konnte. Und würde er sein wahres Alter verraten? Er war jetzt dreißig. Alle sagten, er sähe aus wie zwanzig – vielleicht würde er sich als zweiundzwanzig ausgeben. Aber Zoli war nicht dumm, und er könnte ihn leicht der Lüge überführen. Ein bisschen Recherche würde ausreichen, um all die französischen Werbeanzeigen aufzustöbern, die schon zehn Jahre alt waren; natürlich könnte Guy immer noch behaupten, dass auf diesen Bildern ein älterer Bruder zu sehen war, dem er zum Verwechseln ähnlich sah und der mittlerweile in einem Sporthandel in Épinal arbeitete.

Guy kam auf den Friseurstuhl von Didier Malige, den Pierre-Georges als den exklusivsten Coiffeur der Welt angepriesen hatte. Eine neue Frisur, eine neue Routine für die Gesichtspflege von Mario Badeau und eine neue Mappe mit Bildern von Bruce Weber – das würde ihm womöglich höhere Einnahmen bescheren und sein Gesicht am Firmament neu erstrahlen lassen, auch wenn absehbar war, dass seine Jahre als Model bald gezählt sein würden.

Der Baron indes war liebenswürdig und respektvoll, er hatte meist Interessantes zu erzählen und steckte voller witziger Ideen. Für seine Feste annektierte er gerne einfach Guys Gästeliste. Er präsentierte sich immer in voller Garderobe und konfrontierte die Leute nie mit seinem schrecklich alten Körper. Stets war er von niedlichen Jungs umgeben, die auf dem Boden zu seinen Füßen saßen, während er seine geschwollenen, mit schweren Ringen bestückten Hände auf ihren Schultern drapierte – aber auf eine gänzlich unschuldige Weise, so wie es auch ein Großvater getan hätte. Wie teure Barsois schmiegten sich die jungen Dinger an ihn. Walt war allgegenwärtig, füllte leere Gläser auf, reichte Joints herum und legte eine neue Kassette mit Partymusik ein. Er hatte immer die neuesten Mode-Ikonen im Schlepptau – er hatte Christie Brinkley und Gia Carangi mitgebracht, und Way Bandy, dessen Make-up-Künste wahre Zauberei waren. Gia beschwerte sich darüber, dass keine Mädels anwesend waren – sie war bi und bevorzugte Frauen. Aber sie erzählte auch von ihrem neuesten Freund: »Er liebt mich nicht. Nicht wirklich. Er hat mich in der Business-Klasse nach Mailand fliegen lassen. Könnt ihr euch das vorstellen?« Als sie in die ausdruckslosen Gesichter blickte, fügte sie hinzu: »Und nicht erster Klasse.«

Walt sorgte dafür, dass alles reibungslos lief. Er heuerte die Caterer an, sorgte dafür, dass alle mit Stretchlimousinen zum Tanzen ins Doubles gebracht wurden, und er merkte sich, wer Vegetarier und wer Pescetarier war. (Wie die meisten Franzosen hatte Guy wenig Verständnis für wählerische Esser.)

Auch wenn sie miteinander lachten und spielerisch herumbalgten: Die meisten anderen Männermodels hatten wenig gemeinsam und waren schnell gelangweilt. Fast alle lebten mit einer Frau zusammen, für gewöhnlich mit einem anderen Model. Viele von ihnen waren Leichtathleten oder Tennisprofis, manche boxten oder fuhren Motocross, einige nahmen vordere Plätze in den Weltranglisten der International Ski Federation, im Slalom oder im Skisprung ein. Nicht wenige waren Schwimmstars. Selbst wenn blaues Blut durch ihre Adern floss und sie Le Rosey (ein exklusives Schweizer Internat) besucht hatten, kannten sie doch alle den Text zu Donna Summers Hit Once Upon a Time