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Dieser Band von Roland Zoss umfasst unveröffentlichte Kurzgeschichten und Essays aus 50 Jahren. In den vielfältigen Geschichten, von kafkaeske Bildern und feinem Charme durchzogen, spürt man das Engagement für den "kleinen Mann", die Liebe des Autors und Musikers zur Natur. Und die Irritationen, wenn Wahrheit und Fake-News /Fiktion ineinander verschmelzen.
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Seitenzahl: 55
Veröffentlichungsjahr: 2024
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1 Es gibt keine Riesen mehr?
2 Der dumme Mmud oder das Zauberschloss
3 Die Wolfsschuhe
4 Hans da Vinci
5 Die Leichtigkeit des unbedeutend Seins
6 Der Gedankengang
7 Der Fund
8 Die Diagnose
9 Das Märchen von der Stecknadel
10 Der Himmel über Lausanne
11 Die Plexiglas-Odyssee
Erster Gesang
Zweiter Gesang
Dritter Gesang
Abgesang
12 Der Americano
13 Stromboli, eine Nacht auf dem Vulkan
14 Hellas
Nachtrag
15 Das Kind im Mann am Meer
16 Der Tag an dem ich starb
17 Der GG-Klub
Es gibt keine Riesen mehr? Ja, seht ihr sie denn nicht umhertrampeln in ihren schweren Stiefeln, sich verstecken hinter Plakatwänden und Betonpfeilern? Sie benützen unsere Fahrstühle und Rolltreppen? Sie kleiden sich nach der Mode, um nicht aufzufallen. Sie fahren Zug mit dem Generalabonnement.
Unheimlich, wie sie sich wieder vermehren trotz der schlechten Prognosen der Soziologen, die ihnen ab Mitte des letzten Jahrhunderts kaum noch Chancen einräumten.
Zwar sind sie aus dem Riesengebirge ausgezogen, haben das kommunistische Joch abgeschüttelt.
Auch das Kinderschrecken haben sie aufgegeben, seit in jeder Wohnung ein Bildschirm strahlt. Jetzt leben sie mitten unter uns, erschliessen sich neuen Lebensraum, suchen eine Nische in der modernen Zivilisation. Ihr Gedankengut verbreitet sich unterirdisch wie ein Netz giftiger Pilze.
Ein Riese tut alles, um sich Platz zu verschaffen: er dringt in Personalbüros ein. Er manipuliert die Aktienkurse. Er randaliert in Wahlbüros und lässt Computer abstürzen. Ein Riese ist extrem anpassungsfähig. Er fügt sich in jede Gesellschaft ein. Er hat gelernt zu lächeln. Und mit jeder Lüge wird er riesiger. Vom Äquator bis zum Polarkreis hat man seine Spuren entdeckt.
Kein Volk ist mehr sicher vor Riesen, keine Rasse.
Sie lassen sich in Weltraumfähren nieder und in Fernsehshows. Sie geben sich als Bauunternehmer aus, als Herzchirurgen, Zahnärzte, Trolle.
Es gibt keine Riesen mehr? Ja, siehst du sie denn nicht deinen Arbeitsplatz besetzen und in den Alltag eindringen – bis tief in deine Träume? Riechst du nicht ihren Atem? Hörst nicht den Gleichschritt ihrer Stiefel hinter dir beim Fitness-Training? Die Riesen sind überall. Hungrig nach Menschenseele. Hungrig nach Menschenfleisch!
In einem grossen Wäldchen am Stadtrand, so munkelten die Leute laut, liege ein Märchenschloss an einem verzauberten roten See.
Im Wald sei es nachts taghell, erzählt man sich, und die Bäume machten Wurzeln zum Himmel.
Ein flinker Bär bewache den Wald. Drum müsse, wer das Geheimnis ums Zauberschloss lüften wolle, sich am Bär vorbeischleichen. Und dazu müsse man sehr dumm sein.
Vom 10jährigen Mmud sagte man, er habe die Schläue nicht eben mit der Muttermilch eingesogen. Und sicher werde er je älter umso dümmer.
Mmud lebte mit seiner Schwester Anna bei Onkel Otto, weil die Mutter im Krieg gefallen war.
Mmud kannte keine Trübsal. Und er fürchtete sich vor nichts: weder vor dem Tod noch vor dem Leben. Eines Tages beschloss er, das Geheimnis um das sagenhafte Zauberschloss zu lüften. Er sprach halblaut zu sich: «Mmud, erlebe doch mal ein Abenteuer! Reise ans Ende der Welt! Träume etwas, was noch keiner geträumt hat! Finde etwas, was noch niemand gefunden hat: finde das Zauberschloss!»
Es war ein Glück, dass er Mmud hiess und seine Schwester Anna. Denn ohne sie hätte er keine Chance gehabt, einem echten Zauber auf die Schliche zu kommen. Denn AnnA kann man von hinten und von vorne lesen. So ein Name besitzt eine magische Kraft. Und Magie hilft, wenn es um Zauberei geht.
Also brachen Mmud und Anna auf in den grossen weiten Wald hinein. Je tiefer sie kamen, umso heller leuchtete das Dunkel. Je weiter sie wanderten, umso stärker wurden ihre Beine. Und je weiter sie sich von Zuhause entfernten, umso kleiner die Furcht vor der Fremde.
Vor lauter Hören und Gehen verspürten sie weder Durst noch Hunger.
Sie lauschten in den Wald. Da geschahen seltsam verkehrte Dinge: Die Eule auf dem Ast blökte in die Nacht wie ein Schaf! Ein Warzenschwein trank schwarzen Wein aus einem Eichenfass. Und als ein Eichhörnchen begann Vogelmelodien zu zwitschern, blieb Anna stehen und schüttelte den Kopf. Mmud murmelte laut:
«Na, ja, so klingt wohl ein Zauberwald, in dem sich ein Schloss befindet!» Am Bach blieben sie stehen und schauten zu, wie das verzauberte Wasser aufwärts floss. Auch die Sonne schien verkehrt. Wo ihr Nicht-Licht hinfiel verdorrten Efeu und Waldmeister.
Anna begann ein Liedchen zu singen, das sie nie zuvor gehört hatte. Der Text klang vorwärts und rückwärts gleich: «Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie!» Mmud fand das Lied blöd, nicht nur wegen dem
N–Wort. Drum sang er ein anderes Lied. Vor lauter Hinundher vergassen sie fast, wozu sie hierhergekommen waren.
Als sie wohl über sieben Stunden unterwegs waren, bemerkten sie, dass die Abenddämmerung heller und heller wurde. Und auf einmal lag vor ihnen in rötlichen Schimmer getaucht der Zaubersee. Sie streckten die Füsse ins Wasser, bis sie rot wurden.
Da vernahmen sie ein Miauen. Und was die Ohren hörten, konnten die Augen kaum glauben: Da sass doch ein grosser schwarzen Hund unter einem alten Eibenbaum und miaute vor sich hin!
Ein Hund der miaut im hellen Wald an einem tiefroten See!? Mmud und Anna schauten sich verwundert an. So ein krummes Abenteuer hatten sie gerade noch nicht erlebt. Und alles nur wegen diesem Schloss…
Sie tätschelten den Hund und fragten ihn, ob er etwa der Schlosshund sei, der das Zauberschloss bewache. Er wedelte mit dem Schwanz. Doch sie wussten nicht, ob das jetzt Ja oder Nein bedeutete.
Dann erkannten sie es: das Zauberschloss! Und es schüttelte sie vor Lachen, bis sie weinen mussten.
Denn das gesuchte Schloss war nicht etwa ein mittelalterliches Schloss mit so Türmchen, einer Zugbrücke und ringsum einem Wassergraben.
Nein, nein! Es war ein simples Vorhängeschloss aus Messing! Der Hund trug es am Hals: ein hundsgewöhnliches Vorhängeschloss, wie es an jedem zweiten Gartenhäuschen hängt.
Nur Dumme können ein solches Schloss finden.
Und das war das Glück von Mmud, der die Schläue nicht mit der Muttermilch eingesogen hatte. Gescheite sind oft viel zu schlau zum Finden. Sie suchen nämlich immer dort, wo im Märchen die Märchenschlösser stehen und verzauberte Prinzessinnen auf bezaubernde Prinzen warten.
Mmud und Anna lachten und fragen sich, wo wohl der Schlüssel zum Zauberschloss stecke. Sie streichelten längs und quer über den Hund, kitzelten ihn und hofften ihn vom Kater zu erlösen.
Doch der Hund miaute weiter.
Es ging gegen Mitternacht und wurde wärmer.
Sie sammelten Holz, um sich an einem Feuerchen die Hände zu kühlen.
Auf einmal schrie Anna leise auf, eine Träne kullerten über ihre Wangen: