Die Gegenwart durchlöchern - Helmut Böttiger - E-Book

Die Gegenwart durchlöchern E-Book

Helmut Böttiger

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Beschreibung

Essays über ausgewählte Autorinnen und Autoren und ihr unverkennbares Werk Die Gegenwart ist alle paar Jahre wieder eine andere. Gerade in der Literatur betritt man hier schwankenden Boden. Was wirklich zählt, erkennt man oft erst im Rückblick. Die Mechanismen des Buch- und Lesungsgeschäfts sind dem aber entgegengesetzt. Es gibt eine ausgesprochene Literaturbetriebsliteratur, die den Erwartungen entgegenkommt und die jeweils aktuellen Debatten-Parameter zuverlässig abruft. In jeder Saison wird ein neues Debütantenkarussell installiert, das ein halbes Jahr später wieder vergessen ist, und das Wort "niedrigschwellig" ist das Mantra der Literaturvermittler. Helmut Böttigers Buch hat keineswegs den Anspruch, einen Kanon zu erstellen. Es versteht sich eher als eine Beispielsammlung, die erweitert werden kann. Die Grundannahme ist, Literatur als eine Kunstform mit ganz eigenen Dynamiken zu begreifen. Im Mittelpunkt stehen nicht einzelne Bücher, sondern Autorinnen und Autoren mit einem unverkennbaren Werk: von Wolfgang Hilbig über Marcel Beyer, Emine Sevgi Özdamar bis zu Sibylle Lewitscharoff oder Lutz Seiler.

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Helmut Böttiger

Die Gegenwart durchlöchern

Beiträge zur neueren deutschen Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Günter Karl Bose / lmn-berlin.com

ISBN (Print) 978-3-8353-5582-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8632-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8633-4

Inhalt

Giftige Buchstaben, brütendes MoorDie Ästhetik Wolfgang Hilbigs

Gestrüpp, Geröll, GeraschelWilhelm Genazinos Lust, durch Gudrun hindurchzuküssen

Identitätspartikel, Wahrnehmungssplitter, Film-StillsDie Intensität in den Romanen von Ulrich Peltzer

Ukrainische RegentropfenpréludeNatascha Wodins deutsch-slawische Grenzverschiebungen

SchwarztorflektüreMarcel Beyers Expeditionen in Popkultur und Zeitgeschichte

Schattenklumpen und MeereskastanienEmine Sevgi Özdamar verbindet das Türkische und das Deutsche zu etwas Neuem

Brache StättenReinhard Jirgls Tabula rasa

Mit Abstand entstehen härtere ZeichenLutz Seilers Mechanik der Bild- und Wörterwelten

Ein wenig MondgeröllDie Sehnsuchtsfiguren bei Judith Hermann

ZeitschmetterlingeThomas Lehrs Romanhelden verpuppen sich stets neu

Im ostdeutschen Ich-VersteckDer Verwandlungskünstler Ingo Schulze

Der JenseitsüberschussDie Akrobatschwäbin Sibylle Lewitscharoff zwischen Erdenschwere und Leichtigkeit

Kieselgrau, herbsthagelkorngrün, staatssicherheitslilaZur Problematik der »Muschebubu-Beleuchtung« in Adolf Endlers Prosa-Rasereien

Das magische Wort KalmusSarmatien und das Silbenmaß: die himmlischen Dissonanzen bei Johannes Bobrowski

Auf der Suche nach einer graueren SpracheMisstrauen gegenüber dem Schönen: Worte, Bilder und Klänge bei Paul Celan

Rausch und EwigkeitEine Rede zur Literaturkritik

Nachweise

Giftige Buchstaben, brütendes Moor

Die Ästhetik Wolfgang Hilbigs

Mit Wolfgang Hilbig war kein Staat zu machen. Und auch die Medien fanden ihn nicht ganz geheuer. Mit dem Habitus, der seit den achtziger Jahren für einen Gegenwartsautor als notwendig angesehen wurde, hatte er nichts zu tun. Sich zu inszenieren lag diesem Autor so fern wie kaum einem anderen. Hilbig fühlte sich schnell unwohl, wenn ein Mikrofon oder gar eine Kamera auf ihn gerichtet war, er lebte vor allem im Schreiben und nicht im Reden darüber.

Gespräche mit ihm stellten die Kulturjournalisten vor ungeahnte Anforderungen. Obwohl er keinesfalls böswillig war, konnten sie ihm nicht die gewünschten verwertbaren Aussagen entlocken. Oft sagte er gar nichts, und manchmal kam es zu wenigen kurzen Sätzen, die das genaue Gegenteil zu seinen höchst elaborierten und magisch wirkenden schriftlichen Texten darstellten. Man konnte den scheinbar bodenständigen, ein freundliches Sächsisch intonierenden und zurückhaltenden Mann kaum mit der wortgewaltigen, rauschhaften Prosa zusammenbringen, die er geschrieben hatte.

Es gibt nur wenige ausführliche Interviews mit Hilbig, und auch sie haben ihre Tücken. Manchmal stellt sich der Eindruck ein, dass bei etlichen der Antworten Hilbigs die Journalisten im Nachhinein ein bisschen nachgeholfen und in ihrer Verzweiflung sogar eigene Formulierungen hineingeschmuggelt haben. Es entsprang keiner Strategie, dass Hilbig nicht gern über seine Texte sprach. Wenn er Nein gesagt hätte, wäre ihm das wahrscheinlich undankbar und unbescheiden vorgekommen. Ein Meilenstein ist das Gespräch, das Günter Gaus in seiner »Porträt«-Reihe im Fernsehen mit ihm führte. Sosehr Gaus auch versuchte, Hilbig auf seine rhetorische Ebene herüberzuziehen – er agierte im Leeren. Meistens schwieg Hilbig. Und wenn er sprach, sprach er als Kumpel aus dem sächsisch-thüringischen Grenzgebiet.

In der Literaturlandschaft, die ihn umgab, war ein Schriftsteller schon längst eine Medienfigur. Da wirkte Wolfgang Hilbig wie aus einer fernen Welt. Der Dichter Thomas Rosenlöcher bewunderte ihn sehr. Als er ihm dann einmal begegnet war, schrieb er: »Allerdings war es mehr eine Begegnung der dritten Art, indem ich mich weigerte, Hilbig zuzubilligen, dass er Hilbig sei. Denn der, von dem behauptet wurde, dass er Hilbig wäre, saß ziemlich grob in der Küche und sagte kein einziges Wort.« Diese Erfahrung hat früher oder später jeder gemacht, der bei literarischen Anlässen auf Hilbig stieß oder diesen gar für den Literaturbetrieb nutzbar machen wollte.

Hilbig hat oft beschrieben, wie er von früh an nur durch die Literatur, durch das Lesen und das Schreiben existierte. Schon als Kind las er in seinem Heimatort Meuselwitz alles, was er kriegen konnte. Das ging von Abenteuergeschichten langsam in romantische Erzählungen über, und er nahm als wesentlich wahr, dass dabei oft Gedichte eingestreut waren. Als er Ende der 1950er Jahre den Beruf des Bohrwerksdrehers erlernte, kaufte er sich von seinem ersten Lehrlingsgehalt gleich eine Gesamtausgabe des romantisch-fantastischen Dichters E. T. A. Hoffmann, der gern mit grotesken Verzerrungen arbeitete. Das scheint dem Lebens- und Weltgefühl des jungen Wolfgang Hilbig am ehesten entsprochen zu haben.

Hilbig war in Meuselwitz zwangsläufig zu einem Arbeiter geboren worden, der industrielle Braunkohle-Tagebau beherrschte den Alltag. Die Spannung zwischen der proletarischen Existenz, die durch die sozialistische Überhöhung des Arbeiters noch besonders gefärbt wurde, und der Lektüre von Schriftstellern aus einer zeitlos anmutenden Vergangenheit definierte seine Person von Anfang an. Dazu kam die Atmosphäre in seiner Familie. Hilbigs aus Ostpolen stammender Großvater Kasimir Startek sprach nur schlecht Deutsch und hatte seine Frau Paula geheiratet, nachdem er zunächst als Untermieter bei ihr gewohnt hatte, sie war bereits verwitwet. Der Großvater bildete bis zu seinem Tod 1972 mit 84 Jahren das Zentrum der Wohnung. Auch seine Tochter, Hilbigs Mutter Marianne, wohnte hier. Sein Vater Max galt seit dem Krieg als vermisst. Dem analphabetischen Großvater gegenüber stand der Dichter ständig unter Rechtfertigungsdruck, denn jener hielt Lesen und Schreiben für unnütz. In seinem späten, seine Biografie radikal sezierenden Roman »Das Provisorium« schrieb Hilbig: »Die Hölle dieser Kindheit war wortlos, stumm, ihre Eigenschaft war das Schweigen. Und ich begann diese schweigende Hölle mit Wörtern zu füllen … mit einem winzigen Teelöffel, dem Löffelchen eines Kindergeschirrs, halb so groß wie normal, begann ich Wörter in eine ungeheure leere Halle des Schweigens zu schaufeln …«

»Schaufeln«, dieses Verb kommt nicht von ungefähr. Es hat für Wolfgang Hilbig eine existenzielle Dimension, es ist die Tätigkeit des Braunkohlearbeiters und Heizers. Und er verbindet mit diesem Schaufeln das untergründige Schuld- und Schamgefühl gegenüber dem Großvater mit der Literatur, die ihm das Überleben zu garantieren scheint. Hilbig beschreibt an vielen Stellen seines Werks, wie er seinen oft mühsam ergatterten Lesestoff aus meist vergilbten Exemplaren traumhaft auf dieselbe Weise in sich hineinschaufelt wie während seiner Tätigkeit als Heizer im Industriekombinat die Kohlen in die Öfen.

Im Roman »Das Provisorium« erinnert sich Hilbig, und es ist der Höhepunkt des Buches, an das Szenario eines geglückten Schreibens. Da übernimmt seine Hauptfigur, die durch das Kürzel »C.« markiert ist, monatelang freiwillig die Nachtschicht bei den Heizern. Am frühen Morgen bleiben ihm gewöhnlich einige Stunden Zeit, an einem langen Tisch, auf einem seegrünen Wachstuch, seine Hefte zu füllen. Im Roman heißt es: Er »hielt in einem die Kessel und die Eingangstür im Auge«, und es war »sonderbar, was für unendliche Vorbereitungen er gebraucht hatte für dieses fast schwerelose Schreiben«. C. schreibt manisch und besessen, »die Blätter waren bedeckt, dicht und randvoll, mit hastigen, vorwärtsfließenden Schriftwellen«, und dazwischen lädt er neue Kohle auf und löscht die Asche und die Schlacke ab. Das Kesselhaus samt seinem Tisch mit den Schulheften ist von »aufschießenden Dampfwolken, von den Fontänen noch glühender Asche erfüllt«, und wenn C. vom Duschen zurückkommt, steht »eine milchige Wolkenbank unter der Kellerdecke«; im Kesselhaus herrscht eine »feuchte Wärme, eine lastende, subtropisch wirkende Wärme, die nach einem brütenden Moor« riecht. Dies ist der Geruch seiner Literatur. Etwas Schweißtreibendes, Unbewusstes, Exotisches.

»Das Provisorium« ist der Versuch einer Lebensbilanz. Hilbigs Figur C. evoziert die Vergangenheit mit dem Bewusstsein, dass etwas verlorengegangen ist. In seinen frühen Prosatexten allerdings wird die Situation vor dem Heizkessel, der Braunkohledunst noch anders beschrieben. Hier stellt sich der Zeitpunkt, an dem Hilbigs sozialer Abstieg in der DDR beginnt, in seiner Tätigkeit als Heizer dar. Und er wusste sehr wohl, in welchem literarischen Resonanzraum er sich damit befand. Es gibt einen frühen Text von ihm aus dem Jahr 1975 mit dem Titel »Die Arbeiter. Ein Essai«. In diesem für Hilbig grundlegenden Prosastück geht es um den Gegensatz zwischen den normalen Arbeitern und dem Heizer. Der »richtige« Arbeiter im Betrieb zählt den Heizer nämlich nicht zu seinesgleichen. Der Heizer ist ein Untergeordneter, einer, der bestimmte Hilfsdienste zu leisten hat. Er ist von vornherein ein Außenseiter, und er ist getrieben von der »Schuld an der Verdammnis, kein Arbeiter sein zu können«. Der Heizer ist etwas anderes. Er ist der, den auch Hilbigs Großvater argwöhnisch betrachtete, der verhindern wollte, dass sein Enkel sich zur Literatur hin orientierte.

In der DDR waren die Arbeiter die »herrschende Klasse«, und Hilbig kennzeichnet sie dadurch, dass sie für den Heizer unerreichbar sind. Im Modell des Heizers entwirft er seine Vorstellung des Schriftstellers. Er hat als isolierter Einzelner an der gegebenen Wirklichkeit nicht teil. Es muss Hilbig elektrisiert haben, dass das Anfangskapitel von Kafkas »Amerika«-Roman zunächst eine Erzählung mit dem Titel »Der Heizer« war. Er hat sich nicht sehr ausgiebig mit Kafka beschäftigt, aber auf den »Amerika«-Roman mit dem »Heizer«-Kapitel kommt er in einem Aufsatz einmal explizit zu sprechen. Hier gibt es eine Verbindung zwischen seiner eigenen konkreten Biografie und einer Inkarnation der literarischen Moderne. Sie lädt die jahrelange nächtliche Tätigkeit Hilbigs, Kesselhäuser von Industrieanlagen mit stinkender, energiearmer Braunkohle anzufeuern, weiter auf.

1977, zwei Jahre später, schreibt Wolfgang Hilbig wieder einen Prosatext, der von demselben Gegensatz handelt, mit dem Titel »Über den Tonfall«. Es gibt aber eine Zuspitzung. Dieses Mal wird der »Heizer« direkt durch den »Schriftsteller« ersetzt. Im Vordergrund steht dabei die Lyrik. Das bedeutet aber nicht, dass die Ich-Figur an Selbstbewusstsein gewonnen hätte. Das Gefühl der Minderwertigkeit wird eher noch gesteigert. Vorübergehend arbeitete Hilbig nicht mehr als Heizer, sondern in der Pförtnerloge, und seine Erzählfigur reflektiert diese Veränderung auf schmerzhafte Weise. Im neuen Umfeld scheint es zunächst viel leichter zu sein, zu schreiben, aber der Riss durch das Ich wird bald umso deutlicher bewusst. Der Auslöser für den Text besteht darin, dass das Schriftsteller-Ich sich »endlich Klarheit darüber verschaffen« will, was »mich hier in dem Betrieb zu einer fast unmöglichen Figur hatte werden lassen. Oberflächlich gesehen, kannte ich die Gründe: es war die Kollision zwischen meinen Pflichten als Arbeiter und dem selbstgesetzten Ziel, etwas zu sein, das ich, lächerlich genug, einen Schriftsteller nannte.« Der Schreibende verhandelt im weiteren Verlauf des Textes ausschließlich »das Ausmaß meiner Verschuldung«, das aus seinem inneren Gegensatz zwischen Arbeiter und Schriftsteller hervorgeht.

Während des Schreibens fällt sein Blick auf eine alte Trauerweide, die er rechts im Fabrikhof sehen kann und die morsch und gepeinigt wirkt. Sie wird zum Ausgangspunkt literarischer Selbstreflexionen, in denen der Schreibende feststellen muss: Für den »Tonfall«, den er für seine Lyrik im Ohr hat, gibt es keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Diese Erkenntnis steigert sich bis zu einem Satz, der in bitterem Sarkasmus auch die Art und Weise zusammenfasst, wie in der DDR über Literatur verhandelt wird: »Die Lyrik ist der Realität zum Opfer gefallen.«

Zum Fluchtpunkt wird schließlich eine Alraune, die unter einem Pflasterstein »verführerisch wächst«, eine Zauberpflanze, die auch bei den Brüdern Grimm vorkommt und ein wenn auch oft giftiges Geheimnis birgt. Die Literatur der Romantik wird beim frühen Hilbig zu einem Gegenmodell, und dass sie in der offiziellen DDR-Kulturpolitik verpönt ist und vor allem von Georg Lukács als die Wurzel allen Übels analysiert wurde, erhöht ihren Reiz umso mehr.

Hilbig begann vollkommen abgeschottet von den literarischen Diskussionen um ihn herum zu schreiben. Er entwarf abgründige Bilder ohne oberflächliche, aufdringliche Beziehungen zu aktuellen Fragen und bewegte sich doch unmissverständlich in den Braunkohlerevieren der DDR, in einer gleißenden apokalyptisch anmutenden Gegenwart. Dieser Autor ist ein hervorragendes Beispiel für die Schwierigkeiten, eine »DDR-Literatur« zu definieren. Er ist durch und durch vom Alltag in der DDR geprägt worden, und seine Texte verarbeiten offenkundig diese Erfahrungen. Doch seine erste Veröffentlichung, der Gedichtband »abwesenheit«, erschien 1979 im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main, wo dann etliche weitere Bücher von ihm herauskamen. Berühmt wurde er in der Bundesrepublik. In der DDR kam 1983 bei Reclam Leipzig dann ein schmaler Auswahlband mit dem Titel »Stimme Stimme« heraus, mit Gedichten und wenigen, nicht sehr zentralen Prosastücken, und dabei blieb es.

Als aber nach dem Ende der DDR, wieder bei Reclam Leipzig, 1992 eine große Sammlung mit zum Teil noch unveröffentlichten und wichtigen Texten Hilbigs erschien, wurde klar, dass dies sein eigentlicher Resonanzraum war: »zwischen den paradiesen« erscheint heute als eine editorische Meisterleistung, weil sie die spezifische Ost-Anbindung dieses Autors hervorhob und ihn erstmals in seiner vollen Bedeutung kenntlich machte. Er war eindeutig ein DDR-Autor, ohne ein DDR-Autor zu sein. Es war mehr als nur eine lustige Arabeske, dass der Band »zwischen den paradiesen« als eine Art Motto den Brief voranstellte, den Hilbig an die »ndl«, die Zeitschrift des DDR-Schriftstellerverbands, geschickt hatte und der dort im Heft Nr. 7 des Jahres 1968 auch als Leserbrief abgedruckt wurde: »Darf ich Sie bitten, in einer Ihrer nächsten Nummern folgende Annonce zu bringen: ›Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte? Nur ernstgemeinte Zuschriften an: W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstraße 19b.‹ Ich bitte, nach Abdruck der Anzeige, mir die Rechnung zuzuschicken.«

War das Verzweiflung? War das Chuzpe? War es die Absicht, auf die absurden Bedingungen der DDR-Veröffentlichungspraxis aufmerksam zu machen? Es war alles auf einmal, aber man sollte den Anteil nicht unterschätzen, den das Bewusstsein der Sinnlosigkeit dabei einnahm. Die Versuche, Hilbig im Nachhinein als Arbeiterschriftsteller und Ostdeutschem ein DDR-Selbstbewusstsein zu unterstellen, sind müßig. Auch nach dem Ende der DDR, bis zu seinem Tod 2007, ließ er keinen Zweifel daran, wie er zu diesem Staatswesen stand. Im Roman »Das Provisorium« aus dem Jahr 2000, in dem die Hauptfigur als Schriftsteller im Westen herumgeistert, heißt es über die DDR: »Dieses Land da drüben hatte seine Zeit geschluckt! Dieser Vorhof der Realität. Dieses Land, triefend von Schwachsinn, verkrüppelt vor Alter, zermürbt und verheizt von Verschleiß und übelriechend wie eine Mistgrube, dieses Land hatte ihn mit Vergängnis gefüttert und seine Reflexe gelähmt, es hatte ihm die Lust aus den Adern gesogen.«

Das Tragische bei Hilbig war, dass er dennoch mit sämtlichen Fasern an sein Herkunftsland gebunden blieb. Im Westen spürte er seit 1985, dass ihm alles abhandengekommen war – vor allem das, was ihn zum Schreiben angetrieben hatte. Noch kurz vor seiner Ausreise aus der DDR, in einem letzten Gespräch mit Franz Fühmann, hatte er gesagt: »Ich werde hierbleiben. Hierbleiben, um weiter über meine Spaltungsgeschichten zu schreiben.«

Dies war sein Thema. Er kämpfte mit sich als Arbeiter und mit sich als Schriftsteller. Immer wieder umkreiste er diesen grundsätzlichen Konflikt, und er trieb ihn in ausufernden Satzkonstruktionen in immer größere Extreme und Ausweglosigkeiten. 1989 erschien sein erster großer Roman, »Eine Übertragung«, und an der zentralen Stelle heißt es dort: »Die Übertragung meines Lebens in einen endlichen Satz hieß: wenn ich schreibe, dann bin ich. Aber ich bin nicht, setzte ich hinzu. Es gab für mich kein Sein des Schreibens, und der Kampf darum war die einzig gültige Metapher, die mein Leben beschrieb. Immer suchte ich nach dieser Metapher, sie zu finden hätte bedeutet, mein Leben ganz in ein Abwesendes zu übertragen.«

»abwesenheit«, der erste Gedichtband von Hilbig, sollte ursprünglich den Titel »Gegen den Strom« tragen. Dass dabei etwas Widerständiges angesprochen werden sollte, leuchtet unmittelbar ein. Interessant ist jedoch, wie Hilbig selbst diesen Titelvorschlag erklärte. An seinen Lektor Thomas Beckermann schrieb er: »Der Titel ist eigentlich von Huysmans (sein Buch ›À rebours‹, bei uns erschienen als ›Gegen den Strich‹)«. Hilbig bezieht sich auf ein zentrales Manifest einer Literatur, die sich selbst stolz einer »Dekadenz« zurechnete. Die Hauptfigur in Huysmans’ Roman aus dem Jahr 1884 zieht sich, in Ablehnung jeglicher sozialer Realität, in ein Vorstadthäuschen zurück und huldigt dem Ästhetizismus und Mystizismus.

Hilbigs Vorliebe für die Literatur des Fin de Siècle schließt an seine frühe Romantik-Rezeption an. Vor allem die Lektüre Rimbauds hat ihn in seiner eigenen Lebenswahrnehmung offenkundig gestärkt und bestätigt. Der frühe Text »Die Arbeiter. Ein Essai« fällt schon in der Unterzeile dadurch auf, dass »Essai« hier, ganz im Gegensatz zum üblichen deutschen Sprachgebrauch, mit einem »i« am Ende geschrieben wird. Das huldigt ganz explizit dem Französischen und verweist auf den literarischen Hallraum, den sich Hilbig mit bürgerlich dekadenten Autoren aus dem Paris des späten 19. Jahrhunderts eröffnet hatte. Der »poète maudit«, also der verfemte Dichter à la Baudelaire oder Rimbaud, war für Hilbig zwangsläufig ein Identifikationsmodell: Der Heizer aus Meuselwitz wurde bei seinen Arbeitskollegen ebenfalls zu einem solchen, und er selbst gab ihnen unter Schuldgefühlen recht.

In Hilbigs Gedichten sind viele Anspielungen auf das Spätbarocke, auf den Manierismus, auf exponierte Künstlichkeit zu erkennen. Hier fand er das Material, das seiner eigenen Notlage zu entsprechen schien. Auf der Leipziger Buchmesse trieb er sich tagelang an den Bücherständen der westdeutschen Verlage herum und schrieb dort wie besessen Gedichte ab. Er suchte manisch nach einer Gegenliteraturgeschichte, in die er sich einschreiben konnte. Hilbig muss es als eine traumhafte Konstellation empfunden haben, dass im Jahr 1980 im Gustav Kiepenheuer Verlag in Leipzig eine für die DDR aufsehenerregende Anthologie erschien, die seinen Suchbewegungen entsprach: »Der Untergang der romantischen Sonne. Ästhetische Texte von Baudelaire bis Mallarmé«.

Hier fanden sich Originaltexte dessen, was ihn anzog, es ging um Symbolismus, Dekadenz und Formalismus, hier gab es Überlegungen über den »emanzipatorischen Sinn der reinen Kunst« oder über die »entdeckende und antizipierende Rolle der Kunst«, die dem üblichen Sprachgebrauch in der DDR entgegenstanden und in denen er sich heimisch fühlen konnte. »Der Untergang der romantischen Sonne«: Dies bildete für Hilbig ein Leitmotiv für das, was er schrieb, damit sind seine grenzüberschreitenden, sinnlich überwältigenden und abgründigen DDR-Texte ästhetisch erfasst. Seine ursprünglichen Gegenwelten, die er einmal bei Novalis oder bei E. T. A. Hoffmann gefunden hatte, schienen langsam zu verschwinden. In den Vordergrund trat dafür ein Dichter wie Charles Baudelaire, der die Farben, in denen die »sterbende Sonne spielt«, als »Kaskaden von geschmolzenem Metall« beschrieb, als »Paradiese von Feuersgluten«. Wie Baudelaire suchte Hilbig nun die »Allegorie einer Seele«, »der das Leben schwerer ward und die nun, beladen mit einem prächtigen Schatz von Gedanken und Träumen, fern hinter dem Horizont hinuntersteigt«.

Hilbigs Spaltungsgeschichten hatten mit den Doppelgängermotiven und Ich-Verspiegelungen der Romantik begonnen. Aber er radikalisierte sie immer weiter und überführte sie in seine spezifische DDR-Erfahrung, durch die die Fragwürdigkeit des Ich noch eine ganz besondere Färbung bekommt. Im exzessiven Vorgang des Schreibens versucht es sich ständig selbst zu vergewissern und löst sich dabei in den Buchstabenströmen auf. Bei Hilbig gibt es meistens eine zentrale Figur, die zwischen verschiedenen Rollen hin und her changiert. Das Ich macht dabei immer öfter Probeläufe, in denen es »Er« genannt wird oder als eine fiktive Figur namens »C.« auftaucht: die Aufspaltungen des Ich, seine Verdoppelungen und Aufsplitterungen in ganze literarische Rahmenhandlungen, die die fehlenden anderen Personen zu ersetzen suchen – das kann man als den »Stoff« von Hilbigs Prosa bezeichnen.

Zum ersten Mal taucht der Wechsel zwischen Ich und Er im Prosatext »Die Einfriedung« auf, der 1980 in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht wurde. Er geht auf eine der gravierendsten biografischen Erfahrungen Hilbigs zurück, nämlich die Untersuchungshaft und die Verhöre durch die Stasi von Mai bis Juli 1978. Die durch eine konkrete DDR-Situation definierten Zersetzungsprozesse des Ich werden in Hilbigs Prosa ab diesem Zeitpunkt in etliche Versuchsanordnungen überführt. Die Erzählung »Der Brief« von 1981, das erste der großen Prosastücke, ist dabei programmatisch. Das in seinem Zimmer eingeschlossene Ich entwirft sich eine literarische Spiegelfigur, die »C.« heißt und in deren fiktiver Welt plötzlich das Ich wieder als Figur auftaucht. Ein Text mit dem Titel »Er, nicht ich« variiert diese Konstellation und wirkt wie ein Vorspiel zum Roman »Eine Übertragung«, der die Auflösung des Ich in verschiedenen Formen nachzeichnet.

Diese Prosatexte, die das Ich zergliedern und auflösen, sind nicht einfach den Problematiken der bürgerlichen Moderne nachempfunden, sondern sie entsprechen Hilbigs Erfahrung als Arbeiter und Staatsbürger in der DDR. Er arbeitet an einer neuen, die frühe Avantgarde zitierenden und weiterführenden Ästhetik des Zerfalls. Als Werktätiger in der DDR steht ihm dafür ein besonderes Assoziationsarsenal zur Verfügung. Seine Bilder entsprechen der Wahrnehmung, dass Anspruch und Wirklichkeit von vornherein auseinanderfallen, er hat die Bilder der Braunkohlelandschaft und des DDR-Tagebaus neu aufgeladen, mit den Batterien der schwarzen Romantik und des symbolistischen Pathos.

Wolfgang Hilbig ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es mit einer Zuordnung zur »DDR-Literatur« sein kann. Er kann daneben auch Kontroversen darüber auslösen, wie es mit einer Literatur der »Moderne« in der DDR bestellt war und wie angemessen der Begriff der Moderne hier überhaupt sein kann. Man hat in diesem Zusammenhang von einer spezifischen »DDR-Moderne« gesprochen, einer »nachgeholten Moderne«.

Die Vorstellungen darüber, was es generell mit der »Moderne« auf sich hat, können erheblich differieren. Frank Schirrmacher wollte anhand seiner Rezension des Hilbig-Romans »Ich« im Oktober 1993 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen grundsätzlichen literaturpolitischen Paradigmenwechsel konstatieren und formulierte seine These bereits in der Überschrift: »Über ein literarisches Meisterwerk und seine Verhinderung durch den Geist der Moderne«. Das war natürlich in den Westen hineingesprochen, wo die schwierige und sich verweigernde Moderne schon abgehakt und eine »Postmoderne« ausgerufen worden war. Damit verglichen wirkt die Einschätzung, die der Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi David Menzer, also Sascha Anderson, seinem Führungsoffizier über Hilbig mitteilt, ziemlich apart: »von den jüngeren kollegen wird er als qualitätsvoller literat eingeschätzt, der allerdings nicht zur moderne zählt.« Mit »Moderne« meint David Menzer hier etwas ganz anderes als Schirrmacher. Er hat wohl eher eine Literatur im Blick, wie Sascha Anderson sie schreibt.

In einem Vortrag an der US-amerikanischen Universität Lexington 1988 findet sich eine der äußerst seltenen poetologischen Selbstaussagen Hilbigs. Er erklärt, wie er sich als Schriftsteller im Verhältnis zur westlichen Moderne sieht: »Im Gegensatz zu einigen Schreibweisen abendländischer Lyrik, mit denen banal gewordenen Inhalten durch Verdunkelung des Ausdrucks neue Töne entlockt werden sollten, entstand in der DDR eine Lyrik des verdunkelten Zustands als Voraussetzung, die auch durch bohrendes Hinterfragen dieses Zustands oft genug nicht zu einer Erhellung durchdrang. Es entstand fast so etwas wie eine zweite Generation moderner Schreibweisen.«

Das ist die DDR-Moderne: Unter gesellschaftlichen Gegebenheiten, die die Subjektivität aus einer ganz anderen Perspektive in Frage stellen, entsteht etwas Neues. Hilbig hasste den, wie er es formulierte, »käuflichen Realismus« der offiziellen DDR-Vertreter. Seine DDR-Moderne hat zwar einige Berührungspunkte mit literarischen Formen, die bereits vorher im Westen entstanden waren, aber die Bedingungen des DDR-Sozialismus bringen zwangsläufig etwas Eigenes hervor. Die zweite Moderne, die Hilbig konstatiert, hat bei allen Ich- und Wortverlusten eine unverkennbar östliche Färbung.

Wie ein großer, rätselhafter Monolith steht seine 1991 erschienene Erzählung »Alte Abdeckerei« in der damaligen deutschen Literaturlandschaft. Obwohl es keine direkten Anspielungen und Benennungen dafür gibt, geht es um die Nachwirkungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Und im Mittelpunkt steht, ohne dass dieses Kürzel einmal auftaucht, die DDR – der preußisch-sächsische Sozialismus im Gefolge deutscher totalitärer Traditionen und des Nationalsozialismus. Die »Alte Abdeckerei« ist eine apokalyptische Vision. Das Flüsschen, das sich unter weit ausladenden und üppigen Weiden den Weg entlangzieht, wirkt zunächst wie ein naturmagisches Objekt. Doch es wird mit beschwörenden Worten immer enger umkreist und evoziert langsam etwas ganz anderes als einen harmlosen Bach. Als es an einer Betonbrüstung unter der Erde verschwindet, die »Rampe« genannt wird, werden historische Bilder aus den deutschen Konzentrationslagern aufgerufen. Die Erde erscheint in der Folge als »Gaia«, als Mutter, die die vergrabenen geschichtlichen Verbrechen plötzlich »ausschwitzt«. Und dann gibt es noch die Arbeiter eines Werks, das »Germania II« heißt, denen sich der Erzähler anschließen möchte und deren animalisch anmutende, fast ohne Worte auskommende Sprache er lobt.

Es handelt sich um eine Landschaft deutscher geschichtlicher Mythen. Das Ich, das hier spricht, verschwimmt, es agiert gleichzeitig in der Kindheit, als Erwachsener und als zeitlose Instanz. Und das Flüsschen mit den Weiden wird unversehens zum Totenfluss der Antike. Das strotzende Grün der Weiden und der anliegenden Wiesen, das anfangs beschrieben wird, rührt von den Stoffen her, die der Fluss mit sich führt. Er schäumt, er ist milchig und fettig, es treiben in ihm die Abfallprodukte tierischen Lebens. Die Abdeckerei an seiner Quelle zerlegt und verarbeitet tote, aber auch kranke Tiere. Daher stammen die wie künstlich aufgrünenden Pflanzen und der durchdringende seifige Geruch, der sich nach und nach in den Zeilen des Textes breitmacht.

Meuselwitz, die Nazizeit mit dem Massenmord an den Juden, die DDR mit ihrer Chemieindustrie und der Schriftsteller, der sich gegen den Strom zu stellen versucht: In »Alte Abdeckerei« ist das alles mit enthalten, aber der Text geht als sprachliche Vergegenwärtigung noch weit darüber hinaus. Die Meuselwitz-Kindheit taucht in vielen Prosastücken Hilbigs auf, und man erkennt oft dieselbe Konstellation. Das namenlose Ich haust in einer kleinen, verwahrlosten Nische mit überladenem Schreibtisch in der Wohnung der Familie. Sie besteht aus Mutter und Großmutter, ohne Männer. Abgeschottet vom »Stadtinneren«, als »lichtscheu« apostrophiert, verlässt die Erzählstimme in der Dämmerung die Wohnung – erst die »Stunde des Übergangs« scheint diese Möglichkeit zu bieten. Der Hilbig-Erzähler ist eine Ausgeburt der Nacht. Zerfallende organische Substanzen wie in »Alte Abdeckerei«, Abfallprodukte und verrottende Industrieanlagen bilden die Grundlage dessen, was dieses spezielle literarische Ich herausbildet. Es ist nur fähig zu existieren, wenn es schreibt, wenn es sich auf dem Papier vergewissern kann. In »Die Weiber« entwirft dieses Schriftsteller-Ich ein Szenario, das von einer unbändigen Sexual- und Körpermetaphorik bestimmt wird: »Den hellgelben Sirup, den ich während meines Schlafs in dem reglosen Deckenlicht erbrochen hatte, der meine Lippen mit dem dreckigen Tischtuch verband, den Pilz, der sich mir unter dem Haar ausbreitete, den Schorf, der allabendlich, nach meinem Tagesschlaf, mir die Zunge bedeckte, den ich mit dem braun aus der Wasserleitung tröpfelnden Zahnputzwasser durchseichte, um sodann schwarze Buchstaben, Kreuze, gezackte Medaillen ins Spülbecken zu husten: dies würde fortan das Material sein für meine Ich-Beschreibung.«

Aus dieser Ästhetik des Ekels, des Hässlichen entstehen glühende Endzeitwelten. Manchmal scheint es so, als begäbe sich hier ein später Nachfahr von Franz Kafka auf den Bitterfelder Weg, auf proletarische Prozessionen. Unerlöst pocht er an »die Pforte des Paradieses«, sieht sich unschuldig-schuldig vor dem »Gericht«. Und es ist kein Wunder, dass dieses Ich sich »in der übelriechenden Abgeschiedenheit meiner Verstecke immer deutlicher auswachsen sah zu einer bestialischen Riesenspinne, die, in ihren Schmutz verkrallt, unter konvulsivischem Gemurmel giftige Buchstaben wiederkäute«. Es gibt, bei allen sprachlichen und stilistischen Unterschieden, eine große Gemeinsamkeit zwischen Hilbig und Kafka: Bei beiden wird radikal das Exempel durchexerziert, das Leben vollkommen im Schreiben aufgehen zu lassen.

Die zweite Moderne, die drohende Auslöschung der Subjektivität führt Hilbig 1993 in all ihren Facetten ganz konkret mit seinem Roman »Ich« vor. Hier wird die real existierende DDR durchgearbeitet. Die nach 1989 stark aufgeheizte Stasi-Diskussion und eine damit verbundene einverständige »Moral« kümmern Hilbig dabei eher nicht. Ihn interessiert die Stasi als literarisches Sujet, nämlich als ganz spezifisches Wechselverhältnis von Realität und Fiktion. Das »Ich« des Romans, mit den Initialen M. W., Deckname »Cambert«, ist zunächst wieder eine autobiografische Fiktion des Autors Wolfgang Hilbig. Doch was bisher aus der Perspektive eines Opfers der Verhältnisse wahrgenommen wurde, wird jetzt überführt in den Lebenslauf eines Stasi-Spitzels, und dieser erscheint als ein Opfer zweiten Grades.

Der »Untergrund«, in den die Spitzeltätigkeit führt, wird konkret und erscheint als vertrautes Hilbig-Milieu, ja, im Untergrund scheint er zu sich selbst gekommen zu sein: M. W. hält sich meist in den Kellern und unterirdischen Gängen des Molochs Berlin auf, und das Gestein, das seit tausend Jahren »in den Schoß der Erde« gefügt worden ist, wittert und modert vor sich hin. Die sinnliche Kraft, die Hilbig in der Beschreibung dieser dunklen, nassen Steinwüsten entfaltet, ist dieselbe wie die, die in »Alte Abdeckerei« die Assoziationsräume des Nationalsozialismus, der DDR und des mythischen Totenflusses umschloss. Hier sind es die Innenräume eines Spitzels: »Der Glitzer, der von den Wänden floß, wies auf brachiale Ernährung hin, die Ballaststoffe, versetzt mit ranzigen Fetten und minderwertigen Spirituosen, schienen sengend und unter düsteren Emanationen aus den Ziegelfugen zu tropfen« – so sieht es aus, wenn im Untergrund geschnüffelt wird.

Nach 1989, mit der Aufdeckung des DDR-Geheimdienstes, werden erstaunliche Parallelen zwischen Ich und Gesellschaft, zwischen dem nicht fassbaren Ich in den Texten des Schriftstellers Hilbig und der geheimen Wirklichkeit der DDR sichtbar. Hilbig arbeitete bei der Niederschrift von »Ich« daran, dass sein labiler literarischer Selbstentwurf, das Schwanken zwischen Ich und Er, dass also seine paradoxe Wirklichkeit der Dichtung eine ungeheure Entsprechung in den bisher nur anonymen Mechanismen der Macht hatte. In den Akten des Staatssicherheitsdienstes wurde ebenfalls die Realität zur Fiktion, und diese Fiktion wirkte auf die Wirklichkeit zurück.

Es gibt bereits in »Eine Übertragung« von 1989 Passagen, die einige Parallelen von Dichtung und Geheimdienst reflektieren. Vom »Geheimhaltungskodex meines Literatendaseins« ist die Rede, von den »Verbiegungen«, die der »Geheimhaltungspraxis verschuldet« sind. Der »Heizer« ist vom »Arbeiter« verfolgt, der »Schriftsteller« von der »Macht«, er entwirft sich einen eigenen, geheimen Raum. Die Auffächerungen des Erzählers führen zu dunklen Ahnungen: »Unter der absoluten Herrschaft der Fiktion können Nachrichten der Wirklichkeit nur noch in Form von Kassibern kursieren, und in einer solchen Form ist die Wirklichkeit allen denkbaren Fehldeutungen ausgesetzt.«

Was in »Eine Übertragung« anklingt, ist in »Ich« zu Ende geführt. Die »absolute Herrschaft der Fiktion«, die literarische Utopie, wird in der Stasi, dem Geheimdienst der DDR, zur ungeahnten Realität. Hilbig lässt die auf nichts mehr verweisenden Wortketten mancher Untergrunddichter und die bürokratischen Leerläufe der Geheimdienstformeln ineinander übergehen: »an ihren wuchernden Genitiven werde ich sie erkennen.« Der Prenzlauer Berg mit seinen Simulationstheorien ist auch ein Zerrspiegel des Staatswesens. Unter völlig anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen als in Frankreich, wo diese Theoreme entwickelt wurden, konnte die »Simulation« in der DDR für einige zu einem Modebegriff werden, mit dem Geheimdienst und Untergrund parallelgeschaltet wurden.

Mit dem Roman »Ich« hatte Hilbig mit der DDR abgeschlossen. Seine Themen waren ausgeschöpft. Damit begann eine neue, von ihm allerdings mehr oder weniger scharf vorhergesehene Krisensituation. Die Welt der Bundesrepublik drängte sich als eine andere äußere Wirklichkeit in seine innere Wirklichkeit, die immer noch das Braunkohlegebiet um Meuselwitz war. Und diese Erkenntnis führte zu einer substanziellen Bedrohung. Hilbigs Welt war von einer existenziellen Form von Literatur bestimmt gewesen, die im Westen nun verschwand. Im Roman »Das Provisorium« stellte sich Hilbig im Jahr 2000 diesem Problem. Es ist ein wortgewaltiger, zermürbender, bis an die Grenze und darüber hinaus gehender Roman, voller verzweifelter poetischer Funken und einem alles mit sich reißenden Malstrom.

Der Text setzt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Hilbig in den Westen kam, 1985 mit einem Schriftstellervisum, und er endet mit dem Ende der DDR 1990. Dieser Zeitraum ist im Nachhinein als ein provisorischer zu erkennen; eine Zwischenzeit, in der der Protagonist zwischen Ost und West zu schweben scheint, und dieser Schwebezustand hat etwas Haltloses. In der westlichen Gesellschaft ist für C., der sich bisher fast organisch als Schriftsteller begriffen hatte, sofort klar: »Hier eignete er sich nicht zum Schriftsteller.« C. merkt, dass er nur noch ein Darsteller ist und eine Rolle spielt, und sieht sich seines ursprünglichen Schreibimpulses beraubt. Er wird auf zahlreichen Lesereisen als »Dichter« herumgereicht und dabei als Subjekt endgültig ausgelöscht. C. geht durch die Einkaufsstraßen der westdeutschen Städte, mit ihren Ladenpassagen und Firmensignets, und stellt fest, dass sich hier »das Schriftsystem in ein Medium des Analphabetismus zurückverwandelt« hat. C. ist aus der Bahn geworfen. Er ist auf seinen Körper reduziert, und der Alkohol treibt ihn immer stärker in die Isolation.

Es gibt in diesem Roman wuchtige, eindringliche Passagen, in denen es um einen bestimmten Hass geht, in der DDR verortet und in Westdeutschland freigesetzt: »Es schien eine ganze Menge von Quellen in ihm zu geben, aus denen plötzlich der Hass hervorschoss, wie aus einer Vielzahl geöffneter Venen, deren pulsierender Strom nicht zu stoppen war. Er hielt sich an der Flasche fest, die vor ihm auf dem Abstellbrett am Fenster stand, er war erstarrt und lauschte auf das lautlose Wimmern, das irgendwo in seinem Körper war.« Der Hass, die »Bestie« in C., ist das große Thema dieses Romans, der zu einer Tabula rasa wird. Es ist ein gleißendes Kontinuum, das keinen linearen Prinzipien folgt und durch reißende Assoziationsströme gebildet wird. Die einzelnen Orte und der konkrete Zeitpunkt bieten keine Anhaltspunkte. Nur die Anordnung der Abfallkörbe an den Bahngleisen, die sich auftürmenden Underbergfläschchen ergeben eine eigene Topografie – überhaupt stellen Bahnhöfe die Fixpunkte dar, die Ausschänke und die Ausdünstungen des Körpers.

Hilbigs Literatur, das wird im »Provisorium« deutlich, ist mit ihrer ganzen Energie im Osten verortet. »Sein Dasein ohne Herkunft, seine Leben ohne Geschichte«: so bezeichnet sich C. in einer seiner wütenden Satzkaskaden, und in den Straßen von Nürnberg, hinausgeschnellt in den Westen und in ein völlig neues Koordinatensystem, holt ihn seine vielfach gebrochene Existenz ein: »Er kam sich vor wie eine von seinem Schöpfer im Stich gelassene Romanfigur. Mitten auf der Straße hatte der Erfinder seine Figur stehengelassen, irgendwo zwischen Anfang und Ende, er hatte nicht mehr gewusst, wohin mit ihr; im Wortreichtum seiner Konklusionen begann sie langsam zu verrotten.«

Hilbig hat sich des Öfteren selbst als eine Kaspar-Hauser-Figur imaginiert, das »Kaspar Hauser Lied« von Georg Trakl war für ihn ein wichtiger Bezugspunkt. Die Sinnlichkeit und die raffinierten Reize und Nuancen der bürgerlichen Kultur konnte er nur von ihrer abgewandten Seite her wahrnehmen, und dafür ging er bis in die früheste deutsche Neuzeit zurück. In einem Gespräch mit Marie-Luise Bott teilte Hilbig eine zentrale Erfahrung mit: »Es gibt dieses berühmte Erweckungserlebnis bei Marcel Proust, wie er die Madeleine in den Lindenblütentee taucht und ihm alles wieder einfällt. Das gab es früher schon viel besser bei Jakob Böhme, der in seiner Schuhmacherwerkstatt saß und auf einem Regal an die Wand gelehnt einen Zinnteller hatte. Dort ist ein Sonnenstrahl hereingefallen und hat plötzlich die ganze Wohnung strahlend erhellt. Und da ist Jakob Böhme aufgesprungen und hinausgegangen und hat einen Bewusstseinsstrom in sich verspürt, der ihn an alles wiedererinnert hat. Bei mir war’s ein billiger Aluminiumteller.«

Dieser scheinbar beiläufig nachgeschobene letzte Satz berührt den Kern von Hilbigs Ästhetik. Von einem billigen Aluminiumteller aus eroberte er sich seine ganz eigene Welt der Wörter. Doch parallel dazu rückte auch »die Krankheit meiner Sprache« in den Mittelpunkt, sie war der Ausgangspunkt seiner unvergleichlichen literarischen Visionen. Wenn man sich Wolfgang Hilbig in der heutigen Gegenwartsliteratur vorstellt, wirkt er mehr denn je wie ein Zitat aus früheren Epochen, ein Dichter, der die selbstverständlich gewordenen Formen der Öffentlichkeit einfach ignoriert. In den literarischen Organen der Kreativwirtschaft, in der die Kunst als eine Dienstleistung definiert wird, würde er irritierende Entzündungen hervorrufen.

Es gibt aber bei alldem auch die Eigendynamik der Literatur. In Hilbigs Erzählung »Die Kunde von den Bäumen« taucht die Sehnsuchtslandschaft einer unerreichbaren Kindheit auf, eine Allee von Kirschbäumen, die es früher am Ortsausgang gab. Die Suche nach diesen Bäumen ist seitdem zu einem »Umherstreunen« geworden. Erst wenn alle Geschichten dazu erzählt werden könnten, wären die Kirschbäume wieder da. Diesen schönen Auftrag hat uns Wolfgang Hilbig hinterlassen.

Gestrüpp, Geröll, Geraschel

Wilhelm Genazinos Lust, durch Gudrun hindurchzuküssen

Wilhelm Genazino hat eine Monika. Und er hat auch eine Gabriele. Wenn er bei der einen nicht mehr weiterweiß, geht er einfach in das nächste Zimmer, da steht die andere. Die großen Schreibmaschinenhersteller von damals, Olympia und Adler, haben ihre Modelle nicht von ungefähr mit Frauennamen ausgestattet: Es ist der Geist solider Sekretärinnen, der hier aufgerufen wird, und es ist ein Hauch von Poesie. Diese Verbindung bildet das literarische Urmotiv von Wilhelm Genazino. Es entspringt einer Zeit, die etwas von Unschuld hat, einer Zeit, in der etwas beginnt und in der es langsam aufwärtsgeht: der Zeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre, als die Bundesrepublik zögernd ein bisschen lockerer wird. Es ist die Zeit, die Wilhelm Genazino zu einer mythischen gemacht hat. Hier sind Sehnsüchte zu Hause, die nicht mehr viel mit Ort, Handlung und Geschichte zu tun haben. Die Frauenfiguren bei Genazino sind dem geschuldet, sie tragen Namen der Reinheit. Sie heißen Monika oder Gabriele, einmal ist es Gudrun, und in »Ein Regenschirm für diesen Tag« fängt es mit einer gewissen Dagmar an und hört bei Margot nicht auf. Diese Namen wirken, wie die Schreibmaschinen, seltsam entrückt. Und dennoch geht von ihnen, hinterrücks, ein ungeahnter Glanz aus.

Die zentralen Figuren in Genazinos Romanen sind alle in dieser Atmosphäre groß geworden. Sie spielen mit ihren Freundinnen Federball und sinnieren über deren hellrosafarbenen, fast weißen Lippenstifte. Sie kaufen sich unter erheblichen Mühen ihre ersten Anzüge aus Diolen oder Trevira. Es geht um Blusen, ums Bügeln und um Hoffmanns Stärkepuder. Danach riecht es ziemlich oft, vor allem an den etwas schlüpfrigen Stellen. Der Held in »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« darf Gudrun »von oben in die Bluse und in den Büstenhalter« fassen, aber, so heißt es: »Es war nicht erlaubt, während des Knutschens seitlich auf die Couch umzukippen und trotzdem weiterzuknutschen.« Unter diesen Umständen hat die frühe Bundesrepublik angefangen ihre Identität auszubilden. Genazinos Figuren sind die glaubwürdigsten Zeugen für die seelische Entwicklung in diesem Staatsgefüge, er schreibt die Psychogeschichte der Republik. Seine Romane sind von Anfang an dem Unbewussten auf der Spur, das dieser Gesellschaft zugrunde liegt. Sie ziehen kleine, immer enger werdende Kreise. Es gibt die stickige Luft der Nachkriegszeit. Es gibt das Aufblühen erster Freiheiten. Und parallel dazu folgt die Erkenntnis der Zwänge – in der täglichen Kantine zum Beispiel, wo die Tabletts in drei kleine Plastikfächer unterteilt sind: für Fleisch, für Kartoffeln, für Gemüse. Immer wieder endet es in einem spezifischen Angestelltendasein, das ruhelos in sich rotiert. Hier verweilt Genazino am häufigsten: in Fußgängerzonen und Schnellimbissen, in grotesk-harmlosen Partnerbeziehungen. Er kriecht in die Eingeweide der Bundesrepublik.