Die Geheimnisse des Tibers - Birgit Schönau - E-Book

Die Geheimnisse des Tibers E-Book

Birgit Schönau

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Beschreibung

Lebensader, Höllenfluss, Lustgewässer: Über Jahrtausende war der Tiber Roms Schicksalsfluss. Als Gott verehrt und als Geißel gefürchtet, bestimmte er das Leben der ewigen Stadt. An seinen Ufern erhoben sich Kirchenstaat und Ghetto, Prunkpaläste und Armenhäuser, hier wurde gekämpft, gelitten, gefeiert – und Geschichte geschrieben. Ein Fluss voller Grandezza, Schrecken und Wunder, von denen Birgit Schönau in ihrem mitreißenden Buch erzählt. Rom und der Tiber, das ist eine 3000-jährige Geschichte. Sie reicht vom römischen Weltreich über die große Zeit der Päpste bis in die Gegenwart. Lange existierten die Stadt und ihr Fluss in enger Symbiose. Der Tiber hielt das tägliche Leben in Gang, vom Getreide bis zum Marmor-Obelisken wurde auf ihm alles transportiert. Sein Wasser stillte den Durst der Stadt, trieb Mühlräder an, seine Fischgründe machten die Kirche reich. Die Römer fürchteten die Naturgewalt der oft verheerenden Überschwemmungen. Doch sie genossen den Fluss auch beim Baden und als Kulisse für die Zaubergärten der Renaissance. Reiche Fürsten und arme Schlucker zogen an seine Ufer auf der Suche nach Seelenheil. Am Tiber wurden Ritterschläge erteilt, Waisenmädchen verheiratet, Hinrichtungen vollzogen, Pestkranke kuriert und Prostituierte eingezäunt. In Birgit Schönaus fesselnder Doppelbiographie von Rom und dem Tiber fließt alles ineinander: Jubeljahre und Schreckenszeiten, Religion und Verbrechen, Kunst und Kloake, Geschichte und Geheimnis.

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BIRGIT SCHÖNAU

DIE GEHEIMNISSE DES TIBERS

Rom und sein ewiger Fluss

C.H.BECK

ZUM BUCH

Lebensader, Höllenfluss, Lustgewässer: Über Jahrtausende war der Tiber Roms Schicksalsfluss. Als Gott verehrt und als Geißel gefürchtet, bestimmte er das Leben der Ewigen Stadt. An seinen Ufern erhoben sich Kirchenstaat und Ghetto, Prunkpaläste und Armenhäuser, hier wurde gekämpft, gelitten, gefeiert und Geschichte geschrieben. Ein Fluss voller Grandezza, Schrecken und Wunder, von denen Birgit Schönau in ihrem mitreißenden Buch erzählt.

Rom und der Tiber, das ist eine 3000-jährige Geschichte. Sie reicht vom römischen Weltreich über die große Zeit der Päpste bis in die Gegenwart. Lange existierten die Stadt und ihr Fluss in enger Symbiose. Der Tiber hielt das tägliche Leben in Gang, vom Getreide bis zum Marmor-Obelisken wurde auf ihm alles transportiert. Sein Wasser stillte den Durst der Stadt und trieb Mühlräder an, seine Fischgründe machten die Kirche reich. Die Römer fürchteten die Naturgewalt der oft verheerenden Überschwemmungen. Doch sie genossen den Fluss auch beim Baden und als Kulisse für die Zaubergärten der Renaissance. Reiche Fürsten und arme Schlucker zogen an seine Ufer auf der Suche nach Seelenheil. Am Tiber wurden Ritterschläge erteilt, Waisenmädchen verheiratet, Hinrichtungen vollzogen, Pestkranke kuriert und Prostituierte eingezäunt. In Birgit Schönaus fesselnder Doppelbiographie von Rom und dem Tiber fließt alles ineinander: Jubeljahre und Schreckenszeiten, Religion und Verbrechen, Kunst und Kloake, Geschichte und Geheimnis.

ÜBER DIE AUTORIN

Birgit Schönau, geb. 1966, war nach dem Studium der Geschichte und Journalistik lange Jahre Italienkorrespondentin und ist heute Autorin der ZEIT. Sie hat zahlreiche Bücher zur Geschichte und Gegenwart Italiens veröffentlicht, darunter Gebrauchsanweisung für Rom (2016).

INHALT

VORWORT

KARTEN

~ Kapitel 1 ~: DER MYTHOS LEBT

Legenden der Vergangenheit, Bedrohung der Zukunft

~ Kapitel 2 ~: DER FLUSS UND SEINE HÄFEN

Wie der Tiber die Römer versorgte

Emporium: Alles Korn der Welt

Ostia: Seefahrer, Kaufleute, Bäcker

Marmorwahnsinn

Holz treibt flussabwärts

Ripa Grande: Wein und Pilger

~ Kapitel 3 ~: LEBENSQUELL DER METROPOLE

Wie Rom aus dem Tiber aß und trank

Brot und Fische

Das beste Trinkwasser der Welt

~ Kapitel 4 ~: JORDAN DER PÄPSTE

Ein heidnischer Flussgott wird heiliggesprochen

Der Vatikan im alten Rom

Der steinerne Zeuge des Martyriums

Das Kreuz siegt – am Tiber?

Oberste Brückenbauer und andere Pontifices

Der Gottesstaat am Tiber

~ Kapitel 5 ~: STROM DER PILGER

Wie der Massentourismus am Tiber erfunden wurde

Run auf die Reliquien

Jubeljahre und Papstexil

Overtourism und Pilgerkatastrophe

Ein Papst baut eine Brücke

~ Kapitel 6 ~: ZUR HÖLLE MIT DEM TIBER!

Wie der Fluss seine Stadt unter Wasser setzte

Götterzorn und Hochwasserschutz

Die Rache des Verwahrlosten

Das große Sterben

~ Kapitel 7 ~: CLOACA MAXIMA

Wie der Tiber den Abfall der Stadt entsorgte

Göttliche Kloake

Hauptsache frische Luft

~ Kapitel 8 ~: DIE EINGESCHLOSSENEN

Roms Juden und das Ghetto am Fluss

Toleranz und Verfolgung

Geduldet von den Päpsten

300 Jahre Gefangenschaft

Befreiung und Shoah

~ Kapitel 9 ~: DIE RANDGESELLSCHAFT

Arme, Kranke, Prostituierte, Gefangene: Der Tiber als Fluss der Ausgegrenzten

Die Armen

Bedrohte Mädchen, gefallene Frauen

Die Kranken

Die Gefangenen

~ Kapitel 10 ~: NASSES GRAB

Die Toten im Tiber

Kaiser Elagabal (222)

Papst Formosus (897)

Herzog Juan Borgia (1497)

Donato Carretta (1944)

~ Kapitel 11 ~: SPLASH!

Spektakel, Schwimmen, Flanieren: Ein Fluss zum Vergnügen

Seeschlachten und Schwimmwettkämpfe in der Antike

Die Renaissance: Dolce Vita am Ufer

Badespaß im Fluss von Goethe bis Pasolini

~ Kapitel 12 ~: DES WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG

Wie der Fluss aus der Stadt verschwand

Der letzte Kampf des alten Helden

Der Stadtfluss wird eingekesselt

~ Kapitel 13 ~: ODE AN DEN BLONDEN GOTT

Der Fluss in Malerei, Literatur und Film

Künstler Tiber und Künstler-Tiber

Pasolini – ein Kapitel für sich

DER TIBER IN ROM – EINE ZEITTAFEL

ROMS TIBERBRÜCKEN

ANMERKUNGEN

VORWORT

DER MYTHOS LEBT

DER FLUSS UND SEINE HÄFEN

LEBENSQUELL DER METROPOLE

JORDAN DER PÄPSTE

STROM DER PILGER

ZUR HÖLLE MIT DEM TIBER!

CLOACA MAXIMA

DIE EINGESCHLOSSENEN

DIE RANDGESELLSCHAFT

NASSES GRAB

SPLASH!

DES WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG

ODE AN DEN BLONDEN GOTT

QUELLEN UND LITERATUR

BILDNACHWEIS

NAMENREGISTER

Für Olaf, Henning und Holger

VORWORT

Prima de Roma ce stavo già.[1] (Vor Rom gab es mich schon.)

Über die Hälfte meines Lebens habe ich am Tiber verbracht, in Rom und während der langen und heißen Sommer auf einem umbrischen Hügel über dem Flusstal. Ich lebte am Tiber und habe ihn doch erst spät entdeckt, genau wie die meisten Einheimischen. Der Tiber war kein Ort, den wir aufsuchten. Auf dem Land führte zu ihm kein Weg, und in Rom waren seine Ufer ein von Müll und Schmutz überzogenes Niemandsland, wo sich allenfalls die Ratten wohlfühlten. So blieb der Tiber im Hintergrund, flüchtig wahrgenommen beim Überqueren einer Brücke auf dem Weg zur Peterskirche oder zu einem Spiel der AS Roma im Olympiastadion – und beim Warten in einem der häufigen Staus auf den Uferstraßen.

Das änderte sich erst, als 2005 am rechten Ufer ein Radweg angelegt wurde. Endlich ein richtiger Radweg! In Rom ist das Netz bis heute sehr dünn. Diese Piste am Tiber ist aber nicht nur sehr nützlich, sie ist auch wunderschön. Oberhalb der hohen Kaimauern erheben sich die Kuppeln und Türme der Stadt. Unten führt der Weg entlang an der malerischen Ruine des Ponte Rotto, an den Stromschnellen der Tiberinsel, an den Marmorfundamenten des Ponte Sisto. Man sieht die Einmündung der Cloaca Maxima am anderen Ufer und erahnt unter dem schweren Grün der Platanen die schneeweiße Halle von Richard Meyer für die Ara Pacis, den Altar des Augustus. Im mal gelblichen, mal graugrünen Wasser des Flusses schwimmen Enten und manchmal auch Nutrias; Kormorane betreiben ihre Jagd auf Fische. Der Tiber ist ein riesiges Biotop, ein vielfältiges Stück Natur mitten in der Stadt.

Einmal entdeckt, ließ mich der Fluss nicht los. Ich besuchte ihn, wann immer es ging, und ich begann, ihn zu erforschen. Das Ergebnis ist dieses Buch, eine Art Flussbiographie, aber auch ein Doppelporträt. Denn im Großen und Ganzen konzentriere ich mich auf die 3000-jährige Symbiose zwischen dem Tiber und seiner Stadt: Rom. Dabei erzähle ich die Geschichte aus der Perspektive des Flusses.

Auf den ersten Blick mag der Tiber ein ungewöhnlicher Protagonist sein. Wenn es um Rom geht, sind wir es gewöhnt, antike Kaiser, mittelalterliche Päpste, später noch die italienischen Könige und die Faschisten im Vordergrund zu sehen. Tatsächlich aber schrieb der Stadtfluss die Geschichte der Römer. Von allen Mächten in der Stadt war er über Jahrhunderte die stärkste. Seine Überschwemmungen waren so gewaltig, dass nicht selten Hunderte Menschen ums Leben kamen. Das Tiberhochwasser konnte Jubeljahre vorzeitig beenden und hatte damit auch Auswirkungen auf die Romwallfahrten, die seit dem Mittelalter viele tausend Pilger in Bewegung setzten. Andererseits fungierte der Fluss bis ins 19. Jahrhundert als wichtigste Lebensader der Stadt. Der Tiber war der größte Verkehrsweg für den Warentransport, gleichzeitig Trinkwasserlieferant – und Kloake.

In einem Porträt des Tibers geht es also um Wirtschaftsgeschichte, Umweltgeschichte, Religionsgeschichte, aber auch um Kultur- und Sozialgeschichte. Denn der Fluss lieferte nicht nur die Baumaterialien für die Monumente der Stadt mit den meisten Kunstschätzen der Welt. Er war auch immer ein Strom der Künstler. Maler von Van Wittel bis Kentridge thematisierten ihn, Filmregisseure nutzten ihn als geheimnisvolle Kulisse, Dichter von Horaz bis Pasolini waren vom Tiber fasziniert. Die Reichen bauten an seinen Ufern Villen mit weitläufigen Parks, und auch die weniger wohlhabenden Römer suchten am und vor allem im Stadtfluss Erfrischung. Bis vor wenigen Jahrzehnten war der Tiber Roms größte Badeanstalt. Augustus schwamm ebenso in seinem Wasser wie Goethe.

Insofern bildete der Tiber sicher das wichtigste integrative Element in einer Stadt, deren Bewohner ihn seit Ewigkeiten nicht bei seinem Namen, sondern einfach nur fiume nennen: Fluss. Doch ein Gleichmacher war er nie. Von seinen Gewaltausbrüchen waren stets vor allem die Armen betroffen, die die Obrigkeit an die Flussufer abschob. Nicht allein die Gefängnisse befanden sich hier, auch die Kranken- und Armenhäuser – und das Ghetto, in dem die Juden Roms über 300 Jahre lang eingepfercht waren.

Für diese Geschichte des Tibers konnte ich aus einer Fülle von Material schöpfen, von antiken Quellen über die Ingenieursprojekte für die «Einkesselung» der Flussufer im 19. Jahrhundert bis zu den Filmen von Paolo Sorrentino. Auch bei den meisten Historikern Roms findet der Fluss Erwähnung: Selbst wenn er nicht im Mittelpunkt steht, kann man ihn nicht ignorieren.

*

Danke an meinen Mann Alessandro De Luca, der mich auf vielen Tiber-Erkundungen begleitet hat. Dank auch an Alfio Furnari, Stefanie Hölscher und Laura Ilse, die das Projekt mit so viel Engagement begleitet und betreut haben. Und ein großes Dankeschön an Golo Maurer und das Team der wunderbaren Bibliotheca Hertziana, die so viele Geheimnisse des Tibers birgt.

Grazie a te, fiume.

KARTEN

~ Kapitel 1 ~

DER MYTHOS LEBT

Legenden der Vergangenheit, Bedrohung der Zukunft

Der große Fluss kommt in der Stille zur Welt. Nur das leichte Rauschen der Blätter ist im dichten Weißbuchenwald auf dem Monte Fumaiolo zu hören, manchmal der Schrei eines Falken. Wie ein zaghaftes Wispern klingt das Gemurmel der Quelle, die an diesem letzten Tag des heißen Sommers 2022, unter der pompösen Travertin-Stele mit dem plumpen Bronzeadler, in ein kleines Becken tröpfelt. Drei Wolfsköpfe, antiken Schiffsverzierungen nachempfunden, starren bedrohlich auf das Rinnsal herab, eine Inschrift tönt: «Qui nasce il Fiume sacro ai destini di Roma.» Hier also entspringt Roms heiliger Schicksalsfluss. Und fällt 273 Straßenkilometer von der Stadt entfernt erst einmal in eine kurze Steinrille, die den Fußweg zur Quelle kreuzt.

Derart eingerahmt sind die ersten Tibertropfen seit dem Jahr XII der «Faschistischen Ära». Zur Einweihung der Quellenanlage in 1268 Metern Höhe war am 15. August 1934 Benito Mussolini persönlich erschienen, als handele es sich um eine Staatsangelegenheit. In Wirklichkeit ging es um Mythenbildung für seinen eigenen Personenkult. Der «Duce» hatte die Verschiebung der Regionalgrenzen veranlasst, auf dass der Schicksalsfluss Roms, der Hauptstadt des neuen, faschistischen Imperiums, in Mussolinis eigener Heimatprovinz entspringe, der heutigen Emilia-Romagna, und nicht länger in der Toskana. Der Faschistenführer stammte aus dem 70 Kilometer von der Tiberquelle entfernten Predappio, einem Ort fernab aller Mythologie – bis der «Mann der Vorsehung» den Tiber ins Spiel brachte. Da hatte die Toskana das Nachsehen.

Wie alle Neugeborenen ist der «Schicksalsfluss» hier wenig majestätisch. «Anfangs ist er unbedeutend», wusste schon der ältere Plinius.[1] Fast scheint es, als würde er am Ende der gefassten Rille in den verrottenden Buchenblättern auf dem Waldboden auf Nimmerwiedersehen versickern. So dünn ist er und so fragil. Aber er schlängelt sich tapfer weiter, stolpert dann in einem kleinen Wasserfall über moosbehangene Kalksteine. Ein zweites Bächlein stößt dazu, dann kommt auch schon ein drittes. Von Anfang an ist dieser Fluss kein Einzelkämpfer, er wird genährt und gefüllt von vielen Zuflüssen auf seinem Weg durch ein Fitzelchen Emilia-Romagna, dann durch ein herbes Stück Toskana, das grüne Umbrien und schließlich Latium.

Zum Tiberinus Pater, Vater Tiber, wird er erst nach 350 Flusskilometern abwärts, in Rom. Ohne Rom wäre er ein Fluss unter vielen, europäische Mittelklasse, in Italien erst die Nummer drei nach dem Po und der Etsch. Rom aber macht den Tiber zum Flussgott, zum «Nil des Abendlandes», wie der deutsche Historiker Ferdinand Gregorovius im 19. Jahrhundert schwärmte, zum «caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis», dem bläulichen Tiber, des Himmels liebster Strom. So verklärte ihn Vergil: «Ich bin es, den du mit voller Strömung die Ufer streifen und fruchtbares Land durchschneiden siehst.»[2]

In der Aeneis erscheint der Gott Tiberinus, «ein Greis schon, unter Pappellaub» dem am Ufer des Flusses ruhenden Aeneas und prophezeit dem Helden aus Troja die Gründung der Stadt Alba Longa durch dessen Sohn.[3] Der etwa 20 Kilometer südlich von Rom gelegene Ort galt als «Mutterstadt» der Römer und Heimatstadt des Geschlechts der Julier, dem Julius Caesar und Augustus angehörten. In seinen Händen erhebt Aeneas das Flusswasser gen Himmel und verspricht dem «Tiber, Vater, samt deinem geheiligten Strom» andauernde Ehrung und Opfergaben, «wo immer du, Herrlichster, aus dem Erdboden hervortrittst (…), hörnertragender Fluss, Herrscher über Hesperiens Gewässer».[4] Der Fluss vereint griechische und römische Mythologie zu einer gemeinsamen Heldensage, seine Wasser erquicken den Flüchtling aus Troja, Sohn der Göttin Aphrodite, wie dessen Nachfahren Romulus und schließlich Augustus.

Ohne Tiber kein Rom, ohne Rom kein Mythos. Die gewaltige Geschichtserzählung Ab urbe condita («Von der Gründung der Stadt an») des Titus Livius beginnt am Fluss, mit der Legende von Romulus und Remus. Es ist diese Erzählung, die den Tiber weltberühmt werden lässt, indem sie ihn zum Protagonisten der Stadtgründung erhebt. Die Sage von der wundersamen Rettung der römischen Zwillinge ähnelt der biblischen Legende vom Hebräersohn Mose, den seine Mutter am Ufer des Nils aussetzt, wo er von der Tochter des Pharaos gefunden wird.[5]

Bei Livius ist die Königstochter Rea Silvia aus Alba Longa, eine Nachfahrin von Aeneas und die leibliche Mutter von Romulus und Remus. Der Kriegsgott Mars hat sie vergewaltigt und dabei mit den Zwillingen geschwängert, die also von zwei Göttern abstammen. Weil Rea Silvia aber als Priesterin zur Keuschheit verpflichtet ist, wird sie zur Gefangenschaft verurteilt – die alten Römer machten keinen Unterschied zwischen Vergewaltigungen und verbotenem außerehelichen Sex. Die Kinder der Verdammten trifft es noch härter, sie sollen von königlichen Sklaven in einer Wanne unterhalb des Kapitolshügels auf dem Tiber ausgesetzt werden. Doch der Fluss führt gerade Hochwasser, an seinen Ufern haben sich zahlreiche seichte Randtümpel gebildet, und bis zum eigentlichen Strom stoßen die Sklaven gar nicht vor. Also setzen sie, aus Feigheit oder aus Mitleid, die kleine Wanne in eine der Uferlachen. Der Tiber lässt die Babys unbehelligt auf dem flachen Wasser schwimmen, aber ihren Hunger kann er natürlich nicht stillen. Bald lockt ihr klägliches Geschrei eine Wölfin an, die Romulus und Remus mit ihrer Milch nährt. Das Tier wird zur Ziehmutter, der Flussgott zum Pater Tiberinus, gemeinsam ermöglichen sie Roms Geburt.[6]

Damit nicht genug: Die römische Mythologie verortete auch Herkules, den Sohn des Zeus bzw. Jupiter, am Tiber. Titus Livius erzählt, dass Herkules nach Verrichtung seiner zehnten Tat, dem Raub der Rinderherde des Riesen Geryon, die Tiere an den Tiber treibt, «an eine Stelle mit üppigem Graswuchs, um die Rinder durch Ruhe und kräftiges Futter wiederherzustellen».[7] Der Held selbst schläft, als ihm der römische Hirte Cacus die Herde stiehlt und in einer Tuffsteinhöhle verbirgt. Herkules tötet Cacus und opfert eines der Rinder den Göttern. Dieses Opfer wurde später von Romulus übernommen, der dem Herkules angeblich einen Tempel am Forum Boarium, dem Rindermarkt am Tiberufer, stiftete. Erhalten ist der kreisrunde «Tempel des siegreichen Herkules» aus dem Jahr 120 v. Chr. Er gilt als ältester Marmorbau Roms.[8]

Die Römer stellten sich den Gott Tiberinus als Sohn des doppelköpfigen Janus und der Nymphe Juturna vor, deren Quelle auf dem Forum Romanum lag. Der Tiber hatte seinen Tempel auf der Flussinsel und seinen Festtag am 8. Dezember, also mitten in der Hochwassersaison, wenn Opfergaben sinnvoll waren, um den winterwilden Gott zu besänftigen. Für Augustus, unter dessen Ägide Vergil und Titus Livius schrieben, bildete der Divo Tiberinus, der göttliche Tiber, gemeinsam mit der Göttin Roma ein mythisches Fundament seiner Herrschaftslegitimation. Er übernahm den Titel des Pontifex Maximus, des Obersten Brückenbauers, der als Führer des wichtigsten Priesterkollegiums für die letzte Brücke vor der Flussmündung zuständig war.[9] Der Tiber avancierte zur Chefsache und der Brückenbauer-Titel zum Beinamen der römischen Kaiser. Die von ihnen bestallten Künstler zeigten den nunmehr imperialen Flussgott vornehmlich als freundlichen Gönner und Genießer, heiter hingegossen in seinem breiten Bett.[10] Alles unter Kontrolle, lautete so die Botschaft. Mochte der Tiber auch regelmäßig die Stadt mit seinen Überschwemmungen heimsuchen – er war deshalb noch lange kein Feind der gottgleichen Herrscher Roms, sondern blieb ein alles in allem leutseliger, manchmal etwas exzentrischer Verbündeter.

Als athletischer Flussgott mit Füllhorn erscheint der Tiber in dieser Statue aus der Kaiserzeit am Fuße des römischen Rathauses auf dem Kapitol.

Am angeblichen Fundort der Zwillinge gegenüber der Tiberinsel war seit der Römischen Republik jenes «Boot des Aeneas» ausgestellt, das den Sohn der Aphrodite an die Küste Latiums getrieben haben soll. Der spätantike Geschichtsschreiber Prokop sah es noch im Jahr 520 und beschrieb ein 40 Meter langes und 8 Meter breites Relikt, das nach seiner Beobachtung nicht zusammengesetzt, sondern aus einem einzigen Stück Holz geschaffen war – also eine Art Riesenkanu. Der Chronist bestaunte den hervorragenden Zustand dieser «Reliquie», das Boot sei wunderbar erhalten, mit keiner einzigen morschen Stelle. Offenkundig war Prokop von der Echtheit des Aeneas-Schiffs überzeugt, das zu seinen Lebzeiten schon mindestens 1000 Jahre im Wasser gelegen haben musste.[11]

Aus der Tibermythologie übernahmen später die Päpste den Titel des Pontifex Maximus. Doch das Christentum kennt keine Verehrung von Naturgöttern. In seiner heiligen Stadt blieb der Tiber deshalb ein unbezähmbarer Heide, der immerhin als Trinkwasserlieferant, Wasserstraße und Abfallgrube nützlich war. Erst der Faschismus entdeckte die alten Sagen und die pompöse Rhetorik der römischen Kaiserzeit neu. Aeneas, Romulus, Augustus – in diese Reihe wollte sich auch Mussolini stellen. Also ließ er wie ein Herrscher der Antike einen Obelisken übers Meer reisen und den Tiber hochtreideln. Wie Augustus erbaute er mit viel Marmor ein neues Marsfeld am Fluss – das Foro Mussolini heißt inzwischen unverfänglich Foro Italico. Und wie Trajan träumte der «Duce» von einer neuen Stadt, dem «Dritten Rom» (nach dem antiken und dem des Königreichs Italien), das sich «entlang der Ufer des heiligen Flusses bis zum Strand des Tyrrhenischen Meeres erstreckt».[12] Realisiert wurde lediglich das eklektische Viertel EUR mit seinen «Neuinterpretationen» von Kolosseum und Peterskirche, heute mit über 9000 Einwohnern Roms Stadtteil Nummer neun. Der Tiber fließt diskret an ihm vorbei.

*

Oben auf dem Monte Fumaiolo scheinen Rom und seine Herren auf einem anderen Planeten zu liegen. Nur ein paar Pilzsucher sind unterwegs, mit halbleeren Körben. Erst Dürre, dann Kälte, das mögen die Steinpilze nicht, die sonst um diese Jahreszeit den Buchenwald übersäen. Immerhin gibt es Brombeeren in Hülle und Fülle an dem steilen Weg, der dem frisch entsprungenen Tiber talwärts folgt. Ein Stück von ihm hat sich der Campingplatz Tevere einverleibt, durch dessen Gelände der junge Fluss auf einen Wasserfall zusteuert, bei dem er angeblich den ersten großen Auftritt hat. Aber heute fällt die Vorstellung aus. Noch im Frühsommer, versichern die Pilzsammler, sei der Tiber hier heruntergedonnert, doch jetzt ist die große Felswand ganz trocken. Es scheint, als hätten die Steine den Tiber verschluckt, nur ganz unten, rechts in der Ecke, tropft er aus dem Felsen in eine kleine Pfütze.

Auch im Tal liegt sein Bett weitgehend ausgetrocknet in der Landschaft mit dichten Wäldern, aus denen immer wieder Kalksteinfelsen ragen. Erst bei Sansepolcro, nach der Aufstauung im Montedoglio-See, hüpft der Tiber munter über Stock und Stein, mal silbern, mal grünlich schimmernd. Hier hat er auch die Toskana fast hinter sich gelassen, es folgt Umbrien: Città di Castello, Umbertide, Perugia. Das Tal weitet sich, die ersten richtigen Nebenflüsse gesellen sich dazu, nach Todi kommt der zweite Stausee Lago di Corbara. Hinter Orvieto knickt der Tiber dann hart nach Süden ab. Links liegt nun Umbrien, rechts Latium, sanfte Hügel mit Dörfern und Burgen, kleine Schluchten, weidengesäumte Ufer. Wer seine Felder am Fluss liegen hat, tränkt sie wie seit Tausenden von Jahren mit Tiberwasser.

Nördlich von Orte, einer malerisch auf einem Tuffsteinfelsen gelegenen Kleinstadt, befindet sich am linken Ufer der antike Flusshafen Seripola, nicht nur eine einfache Anlegestelle, sondern eine Siedlung mit Wohnhäusern und Werkstätten. Angelegt in der Frühzeit der Republik, beweist der Hafen die zentrale Funktion des Tibers als Wasserweg nach Rom. Noch bevor die Römer Straßen bauten, fuhren sie auf dem Fluss. Von Anfang an war der Tiber ein äußerst nützlicher Gott.

Nach Seripola stößt der Nera zu ihm. Dieser wasserreichste aller Zuflüsse hat sich seinerseits kurz zuvor nahe der Industriestadt Terni den Velino einverleibt, der bereits von den alten Römern durch die Cascata delle Marmore reguliert wurde, mit 165 Metern noch immer der höchste künstliche Wasserfall Europas. Längst wird damit Strom produziert, doch der Tiber bekommt von der gewaltigen Entladung nichts mit. Ungerührt, breit und gemächlich fließt er nach der Einmündung des Nera dahin. An seinen Ufern liegen vor Rom keine Städte mehr, nur noch die Ruinen des antiken Hafens von Ocriculum, der von 300 v. Chr. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Betrieb war. In die offene Flusslandschaft gestreut, überdauern die Reste von Kornhallen, Thermen und Theatern. Dazwischen residieren wie letzte Gralshüter imperialer Größe Reiher und Eisvögel, Nutrias und Damhirsche.

Autobahn und Eisenbahntrassen folgen dem Tiber auf seinem Weg nach Rom, lassen den Fluss, der sich in großen Schleifen voranschiebt, mal links, mal rechts liegen. Von der Quelle bis zur Stadt durchzieht der Tiber ein weitgehend ländliches Mittelitalien der Felder und Wälder, eine archaische Landschaft, die seit der Antike kaum verändert und verbaut erscheint. Wie aus dem Nichts kündigt sich daher, mit Hochhäusern und dem Gewirr der Ausfallstraßen, die Metropole an, und auch der Tiber wird plötzlich städtisch. Die Stadtautobahn überquert ihn auf dem Staudamm Ponte di Castel Giubileo, bevor unterhalb des Monte Antenne der Aniene einmündet, der zweitstärkste Nebenfluss des Tibers.

Entsprungen in einem Gebirgszug auf der Grenze zwischen Latium und den Abruzzen, wurde der Aniene in der Antike ebenfalls als Gott verehrt.[13] Zu Zeiten der Grand Tour bewunderten die Reisenden aus dem Norden den pittoresken «kleinen Bruder» des Tibers, mitsamt seinem spektakulären Wasserfall bei Tivoli und der antiken Steinbrücke des Ponte Nomentano in einer verwunschenen Auenlandschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das gründlich. Industrieanlagen und rasch wachsende Wohnsiedlungen ohne Kanalisation ließen den Aniene trübe und stinkend wie eine offene Kloake erscheinen. Er fungierte als größte Giftspritze für den Tiber, bis Anfang der 1960er Jahre beide Flüsse faktisch umgekippt waren.[14] Wenn sie systematisch zu Abfallgruben herabgewürdigt werden, sind auch Flussgötter sterblich.

*

Jahrzehntelang siechte der Tiber dahin. Römer und Touristen mieden den Fluss, der ihnen schmutzig und unheimlich erschien, als ein Störfaktor degenerierter Natur inmitten grandioser Monumentalität. Nachdem Generationen von Einheimischen im Stadtfluss schwimmen gelernt hatten, erließ die Verwaltung 1968 ein Badeverbot. Die Badeanstalten schlossen, nur die Ruderclubs hielten sich, auch wenn sich kaum noch jemand im Boot auf den Fluss traute. Die innerstädtischen Ufer verkamen zu Müllhalden. Ratten hausten dort und verseuchten mit ihrem Urin den Fluss. Noch 1979 starb ein Schwimmer, der das strenge Verbot missachtet hatte, an der von Ratten verbreiteten Leptospirose. Ein tragischer Einzelfall, doch Ansteckungen mit Hepatitis, Typhus und anderen Infekten waren an der Tagesordnung und wurden von Hygiene-Experten direkt dem Tiber und dem Aniene zugeschrieben.[15] Erst Anfang der 1970er Jahre wurde die erste Kläranlage in Betrieb genommen, weitere folgten. Zuletzt wurden im Frühling 2023 gut 80.000 Menschen in den Wohnsiedlungen an der Via Cassia und im Nordwesten Roms angeschlossen. Der Tiber ist endlich keine Kloake mehr.[16]

Früher hingen nach jedem Winterhochwasser monatelang Tausende Plastiktüten in der Ufervegetation. Dieser Müll wird heute dank schwimmender Barrieren vor der Stadt abgefangen. Und wenn sich doch einmal, was leider durchaus vorkommt, ein Kühlschrank am Ponte Sisto verhakt oder Elektroroller an der Böschung vor der Engelsburg «vergessen» werden, dann rückt die täglich patrouillierende Stadtreinigung zur Entsorgung an. Mit den Abfällen sind auch die Ratten verschwunden – nicht ganz natürlich, aber doch so, dass sie kaum noch zu sehen sind. Denn die Tiberratten haben in den großen Möwen natürliche Feinde und werden von ihnen dezimiert.

Lange haben die Römer ihren Fluss ignoriert. Die Wende brachte der Fahrradweg: Seit 2005 die erste Teilstrecke der Pista Ciclabile am rechten Ufer eröffnet wurde, treibt es die Einheimischen wieder zum Fluss. Inzwischen ist der Tiberradweg 32 Kilometer lang und führt fast bis ans Meer, vor allem aber ist über ihn das Zentrum und der gesamte Westen der Stadt zu erreichen. Manche nutzen ihn als Trainingsstrecke, viele auf dem Weg zur Arbeit. Als Joggingstrecke ist die Piste ebenfalls beliebt, ein überraschend stiller und naturbelassener Rückzugsort gleich unterhalb der mit dröhnendem Dauerverkehr belasteten Uferstraßen. Außer an manchen Wochenenden, wenn der Weg unten am Wasser ähnlich überfüllt ist wie die Autostraßen oberhalb der Kaimauern.

Rom investiert in den Tiber. Erstmals fließt Geld aus dem Budget für das Heilige Jahr in den Fluss – das hat es vor dem Jubiläum von 2025 noch nie gegeben. Die heruntergekommenen Uferzonen der Peripherie, etwa in der Gegend von St. Paul vor den Mauern und in der Magliana, werden in Parks umgewandelt, die gerodeten Tiberränder im Norden der Stadt systematisch «aufgeforstet». So soll ein Ökosystem gerettet werden, das schon wieder existenziell bedroht ist. Diesmal vom Klimawandel.

In extrem heißen und langen Sommern kann man zusehen, wie der Tiber immer weniger wird. Dann sinkt sein Pegel in der Innenstadt neuerdings auf ein Viertel der Normalhöhe, wie im Juli 2022 nach fast 200 Tagen ohne Regen. «Versumpfung» diagnostizieren die Experten. Und rümpfen dabei die Nase, denn der Sumpftiber riecht. Seine Agonie ist jedoch beileibe nicht nur ein ästhetisch-psychologisches Problem. Weniger Tiber, das heißt noch mehr Hitze, bedeutet noch weniger Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen und noch weniger Möglichkeit zum Aufatmen für die Menschen.

Seit Jahren sterben in der Hitze massenhaft Fische. Die Gründe dafür sind nicht eindeutig geklärt, verschiedene Ursachen werden vermutet – defekte Kläranlagen, erhöhte Konzentration von Insektiziden und anderen Giften, vor allem aber schlicht Sauerstoffmangel im allzu niedrigen, allzu warmen Wasser. In der Stadt verbreitet sich angesichts der Fischkadaver ein apokalyptisches Gefühl. Erstmals fragen sich die Römer: Wäre es möglich, dass ihr Tiber ganz verschwindet? Bis 2050 könnte er sich zu einem Bach zurückentwickeln, warnt die große Umweltschutzorganisation Legambiente.

Der Tiber ist weg! In seinem Film Siccità («Dürre», 2022) erzeugt der Regisseur Paolo Virzì eine Schockwirkung mit Spezialeffekten, um die katastrophalen Folgen des Klimawandels zu thematisieren. Rekord-Niedrigwasser und Fischsterben sind in den langen, heißen römischen Sommern seit einigen Jahren Realität.

Rom ohne Tiber – ein Alptraum, den der Regisseur Paolo Virzì in einem Kinofilm darstellt. Als Siccità («Dürre») Ende September 2022 erschien, war der Tiber auch in der Realität nur ein Rinnsal, aber in Virzìs Film ist er schon ausgetrocknet. Die Römer spazieren durch sein Bett, die Brücken überspannen nur noch eine große Leere. Anstelle des «blonden Tibers» klafft mitten in der Stadt ein Erdloch aus Lehm und Geröll, und Bagger räumen die Reste von Booten weg. Schockierende Bilder, durch Spezialeffekte erzeugt. Eine Dystopie, die Wirklichkeit werden könnte.

Nach der realen Dürre des Sommers braucht der Tiber Monate, um sich zu erholen. Wenn er im Winter für wenige Tage den Radweg überflutet, geht ein Aufatmen durch die Stadt: Er ist wieder da! Auf dem Ponte Milvio und auf der Tiberinsel treffen sich die Schaulustigen, um das schlammgraue Hochwasser zu fotografieren, das der Fluss Richtung Meer wälzt.

Nach der Stadt scheint der Tiber alles Majestätische hinter sich zu lassen. Südwestlich von Rom wird er zum Wasserlauf eines Niemandslandes, charakterlos wie die flache und zersiedelte Landschaft vor der Küste. Bei der Ruinenstadt Ostia Antica teilt er sich in zwei Arme – den antiken Kanal des Trajan und die natürliche Fiumara grande, die zwischen Ostia und Fiumicino ins Tyrrhenische Meer mündet, unspektakulär und so gut wie unbeachtet. Keine Stele weit und breit, kein in Bronzelettern gegossener Abschiedsgruß. Der göttliche Schicksalsfluss, der mythische Pater Tiberinus, stiehlt sich hier einfach davon.

~ Kapitel 2 ~

DER FLUSS UND SEINE HÄFEN

Wie der Tiber die Römer versorgte

Heute liegt der Tiber still und leer. Schwer vorstellbar, dass es hier zwei Jahrtausende lang zuging wie auf dem Canal Grande in Venedig. Große Schiffe, über und über beladen mit Getreide, Stoffen und Gewürzen. Aus Baumstämmen zusammengebundene Flöße, vollbepackt mit Weinfässern, Öl-Amphoren, Brennholz. Dazu Fischerboote und kleine Kähne zum Übersetzen zwischen den Ufern, an denen die Untergeschosse der Häuser und Paläste im Wasser standen. Vor Brückenpfeilern waren Getreidemühlen angedockt, hölzerne Fischplattformen dümpelten vor der Tiberinsel. Häfen und Uferstraßen waren voll mit Menschen und Lasttieren, die Waren vom Fluss in die Stadt transportierten.

Ohne den Tiber wäre Rom verhungert. Ohne den Tiber wären keine Häuser gebaut worden, keine Tempel und keine Paläste. Rom wäre ohne Waffen geblieben, ohne Heizungen, ohne Kunst. Alles, was die größte Stadt des europäischen Altertums zum Leben brauchte und was sie zur Weltmacht aufsteigen ließ, kam über den Fluss, ihren Mercator placidissimus, wie der ältere Plinius ihn nannte, den ruhigsten und zuverlässigsten aller Kaufmänner, «fähig, jedes große Schiff aus dem Italischen Meer zu tragen und (…) alle Erzeugnisse der Erde herbeizuschaffen».[1]

Plinius beschrieb den Seehandel, der schon in der Römischen Republik begann und im Kaiserreich, als Rom Europa und den Mittelmeerraum beherrschte, zur Blüte gelangte. Doch darüber hinaus kamen über Jahrtausende auch Waren aus Mittelitalien ausschließlich über den Fluss nach Rom – Holz vor allem, außerdem landwirtschaftliche Produkte wie Wein und Öl.

Einige Häfen waren bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Betrieb. Erst als die Schifffahrt durch die Eisenbahn und dann durch den Straßenfernverkehr ersetzt wurde, verlor die Wasserstraße Tiber ihre Bedeutung, nachdem sie die Stadt zweieinhalb Jahrtausende lang versorgt hatte.

Emporium: Alles Korn der Welt

So alt wie die Stadt ist ihr erster Tiberhafen. Als auf dem Palatin die ersten Lehmhütten gebaut wurden, gab es unten am Tiber schon eine Anlegestelle, ziemlich genau an der Stelle, wo die Legende die Rettung von Romulus und Remus aus dem Fluss verortet. Fundstücke aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. bezeugen die Existenz des Portus Tiberinus am einstigen Forum Holitorium, Forum Suarium und Forum Boarium, dem Gemüse-, Schweine- und Rindermarkt unterhalb des Marcellus-Theaters.[2] Waren aus Latium und Etrurien, aber auch die Güter des aufkommenden Seehandels wurden am Flussufer ausgeladen, viele Lebensmittel gleich auf den nahen Märkten verkauft. Doch bereits in der Morgendämmerung des 2. Jahrhunderts v. Chr. erwies sich dieser portus als zu klein für die aufstrebende Stadt und ihren Alltagsbedarf. Ein neuer Flusshafen für den erstarkenden Seehandel musste her, und zwei mächtige Männer des tonangebenden Patrizierclans der Aemilier veranlassten seinen Bau. Marcus Aemilius Lepidus und Lucius Aemilius Paullus zeichneten verantwortlich für das Emporium, eine riesige Anlage am Südhang des Aventins beim heutigen Stadtteil Testaccio. Sie lag gleich neben der ersten Flussbrücke oberhalb der Tibermündung, dem Pons Sublicius.[3]

Allein die Hafenmauer war einen halben Kilometer lang, ebenso die parallel zum Fluss errichtete siebenschiffige Säulenhalle mit dem Namen Porticus Aemilia, in der sich vermutlich Lagerhallen und vielleicht auch eine Schiffswerft befanden.[4] Die an diese porticus angrenzenden horrea umfassten mindestens drei Hektar. Dabei handelte es sich um festungsähnliche, wasserdichte Silos, die über die ganze Stadt verstreut in der Nähe des Tibers angelegt wurden und die zum Teil noch die Päpste des frühen Mittelalters nutzten. Vorwiegend Getreide wurde darin gelagert, aber an den überlieferten Namen lassen sich auch andere Bestimmungen ablesen: Die horrea candelaria horteten Fackeln, Kerzen und Talg, die horrea chartaria Papyrus und Pergament, die horrea piperataria Gewürze.[5] Vor allem im Winter, wenn die Schiffe nicht fuhren, musste die Stadt aus den Lagern versorgt werden, die Tag und Nacht mit Feuerwehrkohorten beschützt wurden und deren Instandhaltung und Kontrolle erheblichen Aufwand verlangte.

In der Kaiserzeit wurden jährlich rund 800.000 Tonnen Waren aus aller Welt im Emporium abgeladen. Tausende von Arbeitern waren auch außerhalb der Schifffahrtssaison von April bis Oktober am Flusshafen beschäftigt. In seinem Loblied auf Rom bestaunte der Grieche Aelius Aristides 143 n. Chr. die Hafenwirtschaft am Tiber: «In Rom findet man alles und von bester Qualität (…) Ägypten, Sizilien und alle bewohnten Gegenden Libyens sind eure Kornkammern (…) Die Stadt bekommt die wertvollsten Waren aus aller Welt, aus Indien, Arabien, Babylonien. Man wundert sich, dass im Hafen, aber auch auf dem Meer Platz für so viele Schiffe ist.»[6]

Dafür, dass sich auf dem Fluss der Verkehr nicht staute, das Löschen der Ladung und der Transport in die Hallen reibungslos vonstatten gingen, sorgte eine straff organisierte Verwaltung. Und doch grenzte es an ein Wunder, dass die Versorgung der Millionenstadt auf diese Weise funktionierte. Viele Stationen waren zu absolvieren, bevor die Waren in Rom eintrafen. Von den Herkunftsländern bis ins Zentrum des Reichs war es ein langer und beschwerlicher Weg, der Wochen, manchmal Monate dauerte.

Denn so unglaublich es klingen mag, Rom musste über Jahrhunderte ohne einen richtigen Seehafen auskommen. Die Kornlieferungen aus Sizilien, dem Osten des Reichs und vor allem aus Ägypten kamen nicht etwa an der Tibermündung an, sondern 220 Kilometer weiter südlich, im Golf von Pozzuoli. Dort wurden Tonnen von Getreide in Lagerhäuser gebracht und nach und nach auf kleinere Schiffe geladen, die anschließend die Küste in Richtung Ostia hochfuhren und dann auf dem Tiber bis in die Stadt. Die Weinschiffe aus Gallien, die Salzfischladungen aus Spanien und Sardinien, die Früchtekähne aus Tunesien konnten zwar direkt Kurs auf Ostia nehmen, doch für die meisten war dort Endstation. Sie waren zu groß und zu schwer, um den Fluss hinauffahren zu können, der auch an seiner Mündung nicht breiter als 100 Meter war. Rom war ein Riese, sein Fluss aber blieb ein Zwerg, der in großen Kurven und mit vielen Untiefen zwischen Stadt und Meer mäanderte. Damit die Fracht im Emporium ankam, blieb nur die Möglichkeit, sie auf wendige Flussschiffe umzuladen.

Der Historiker und Geograph Strabon beobachtete, wie das in der Zeit Caesars vor der Küste vonstatten ging. «Obwohl es bei bewegter See gefährlich ist, überwiegt die Aussicht auf Profit.»[7] Es gab schlicht keine Alternative. Die wenigsten konnten warten, bis sich die Wogen glätteten, um das Umladen in aller Ruhe zu vollziehen. Zeit war auch in der Antike Geld, also mussten die Schiffer ihre Fracht so schnell wie möglich loswerden und heimfahren. Manche ließen nur einen Teil der Ware umschichten und segelten dann mit etwas leichterem Gepäck flussaufwärts. Doch das hing auch davon ab, ob der Tiber genügend Wasser führte.

Für die wenigen Passagiere, die damals Schiffsreisen unternahmen, war der Weg in die Hauptstadt ähnlich mühsam. Der Apostel Paulus etwa fuhr, um sich in Rom gegen eine Anklage zu verteidigen, über Malta bis Pozzuoli. Dort blieb er eine Woche als Gast der kleinen christlichen Gemeinde und begab sich dann auf der Via Appia weiter nach Rom – ob auf einem Karren, zu Pferd oder zu Fuß, ist nicht überliefert. Unterwegs machte er zweimal Rast, 70 bzw. 30 Kilometer von der Stadt entfernt. Paulus brauchte also drei Tage für die Strecke vom Hafen bis zum Zielort. Mit dem Schiff hätte es länger gedauert – und wäre vielleicht auch teurer gewesen.[8]

Das Problem war bekannt, eine Lösung schwierig: Der Tiber lagerte so viel Feststoffe in seinem Mündungsbereich ab, dass der Hafen von Ostia schnell versandete. Julius Caesar plante deshalb ein Dreistufenprojekt. Im Norden Roms sollte der Tiber unterhalb der Milvischen Brücke westlich an der Stadt vorbeigeleitet werden, indem man ihn in einen Kanal «umbettete». Südlich von Rom sollten den Fluss dann weitere Kanäle mit der gut 100 Kilometer entfernt gelegenen Hafenstadt Terracina verbinden. Das hätte die Strecke von Rom bis zum nächsten großen Seehafen um die Hälfte verkürzt. Zusätzlich wollte Caesar auch den Hafen von Ostia ausbauen.[9] Doch das ehrgeizige Vorhaben wurde nach seiner Ermordung 44 v. Chr. nicht weiterverfolgt. Anstatt in Ostia zu investieren, verlegte Augustus auch noch den Stützpunkt der Militärflotte an den Golf von Pozzuoli.

Der Transport nach Rom blieb aufwändig, ja mühsam, aber notwendig. Schon die Römische Republik war zur Versorgung der Bevölkerung mit dem Grundnahrungsmittel Getreide auf Übersee-Importe angewiesen. Titus Livius berichtet von einer Hungersnot im Jahr 492 v. Chr., ausgelöst durch Landflucht und die Aufgabe von Feldern in der Umgebung von Rom. Das Getreide sei damals aus Cumae «links am Meere hinab», aber auch aus dem weiter entfernten Sizilien beschafft worden.[10] Seit 120 v. Chr. garantierte die Regierung eine monatliche Getreideration, die unter Caesar kostenlos wurde und zwischenzeitlich etwa 320.000 Empfängern zustand. Als Augustus die Zahl drastisch reduzieren wollte, ließ ihn der Protest im Volk schnellstens zurückrudern.[11] Die römischen Kaiser waren keinesfalls abgeschottete Alleinherrscher, sondern stets auf Tuchfühlung mit den Römern und abhängig vom Konsens. Und die Lebensmittelversorgung für die Hauptstadt zu organisieren, war ihre wichtigste innenpolitische Aufgabe. Augustus musste seine Fürsorgepflicht erfüllen und den 200.000 bis 250.000 berechtigten Familienvätern weiter eine Monatsration von 35 Kilo Getreide garantieren. Das bedeutete 8750 Tonnen Gratisgetreide im Monat, 105.000 Tonnen im Jahr, heranzuschaffen auf 500 Schiffen.

Denn der Weg übers Meer war immer noch schneller und sicherer als über das Netz der Straßen, zudem konnten viel größere Mengen transportiert werden. Dem Ochsenkarren, der höchstens eine Tonne ziehen konnte, stand ein Schiff mit 200, manchmal sogar 300 Tonnen Ladung gegenüber. Die Schiffsimporte waren billiger, aber nicht ohne Risiko. Immer wieder sanken Schiffe, andere konnten auch während der Saison wochenlang nicht fahren, wenn die See zu aufgewühlt war. Hinzu kam, dass sich die kaiserlichen Getreideverwalter durchaus verkalkulierten. Der Geschichtsschreiber Tacitus schildert, wie die Menschen reagierten, als sich in Rom unter Kaiser Claudius einmal mitten im Winter die Nachricht verbreitete, die Kornvorräte reichten nur noch für zwei Wochen. Panik brach aus. «Man klagte nicht nur im geheimen; sondern umringte den zu Gericht sitzenden Claudius mit wildem Geschrei und trieb ihn gewaltsam in die äußerste Ecke des Forums, bis er sich mit einer Schar von Soldaten durch die erbitterte Menge Bahn brach.» In seiner Not befahl der Kaiser Nachschub. Bei einer für die Jahreszeit ruhigen See und wahrscheinlich gegen sehr gute Bezahlung brachten römische Reeder (unter ihnen übrigens auch einige Frauen) genügend Getreide aus Ägypten, um die Römer und ihren Kaiser zu retten.[12]

Wie heikel die Getreide-Importe waren, bekam 62 n. Chr. auch Nero zu spüren. Erst hatten seine Verwalter zu viel Weizen gelagert – mit dem Ergebnis, dass er in den Silos verrottete. Der Kaiser ließ das Korn demonstrativ in den Tiber werfen, um dem Volk zu beweisen, dass er nicht darauf angewiesen war. Seht her, wir haben Korn im Überfluss! Das war gelogen, und bald rächte sich Neros Übermut. Bei einem Unwetter im Hafen (in welchem, verrät Tacitus nicht) verlor er 200 Schiffe, beim Treideln über den Tiber brannten angeblich weitere 100 aus. Damit war ein Großteil der Handelsflotte perdu. Den Preis für das Getreide zu erhöhen, traute sich Nero dennoch nicht, aus Angst um Thron und Leben.[13]

Immer wieder versuchten Roms Herrscher, den heimischen Getreideanbau anzukurbeln, um sich von den Importen zumindest stückweise unabhängig zu machen. Vergeblich, denn für die Bedürfnisse einer Millionenstadt hätte die regionale Produktion niemals ausgereicht, zudem bildete das Umland kein Zentrum des Kornanbaus, sondern lieferte eher Wein, Olivenöl und Brennholz.[14] Dennoch verstummte die Kritik an der «Globalisierung» des Getreidehandels nicht. Tacitus etwa, selbst Politiker und zeitweise Statthalter in Asien, machte sich um das Jahr 100 zum frühen Fürsprecher einer nachhaltigen Null-Kilometer-Politik: «Einst pflegte Italien seinen Legionen in den entferntesten Provinzen Verpflegung nachzuführen, und auch heute noch leidet das Land nicht an Unfruchtbarkeit», monierte er. «Aber wir beuten lieber Afrika und Ägypten aus und geben den Schiffen und der Unbill von Schicksal und Wetter das Leben des römischen Volkes preis.»[15]

Tacitus attackiert hier die Genusssucht einer römischen Oberschicht, die auf der Jagd nach den erlesensten Produkten des Imperiums oft das regionale Angebot verschmähte und sich stattdessen Güter aus den entlegensten Winkeln liefern ließ. Diese Elite kümmerten weder die Kosten noch die Schwierigkeiten des interkontinentalen Transports. Wozu hatte Rom denn die halbe Welt erobert? Doch nicht, damit die haute volée der Hauptstadt auf ihren Gastmählern nur Dinkelbrei aus Umbrien auftischte, gekleidet in grobe, kratzige Tuniken aus der Wolle von Schafen aus den Sabiner Bergen. Rom war kein Hirtendorf mehr wie in seinen mythischen Anfängen, sondern eine Weltstadt.

Also fand der berühmte Falerner Wein aus Kampanien ebenso seinen Weg ins Emporium am Tiber wie der vollmundige Rote aus der Provence. Einheimisches garum, die herzhafte Würztunke aus vergorenem Fisch, war Kost für die weniger Betuchten, die Vornehmen konnten sich die teure und angeblich feinere Mischung aus Spanien leisten. Und wenn die Armen die Fische aus dem Tiber angelten, kauften die Reichen sie lieber aus Marokko, Portugal, Algerien, Libyen und vom Schwarzen Meer. Im südspanischen Cadiz und in Tunesien entstand schon im Kaiserreich eine regelrechte Konservenindustrie mit Fischen in Salzfässern. Von der Insel Samos wurden Pfauen importiert, aus Phrygien (heutige Türkei) Kraniche, die Datteln kamen aus Ägypten und die Birnen vorzugsweise aus Syrien – dabei gab es davon in Italien mehr als 30 verschiedene Sorten.[16]

Die Reeder verdienten hervorragend an diesem Handel, und neureiche Händler verdankten ihm ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Neros «Stilberater» Petronius etwa ließ in seinem Satyricon den Ex-Sklaven Trimalchio über seine Überseegeschäfte prahlen: «Fünf Schiffe habe ich gebaut, Wein geladen – und damals wog er Gold auf –, nach Rom geschickt. Es war, als hätte ich’s bestellt: Alle Schiffe sind gekentert, Tatsache, kein Theater. An einem Tag hat Neptun 30 Millionen geschluckt. Denkt ihr, ich hätte schlapp gemacht? Weiß Gott, mir ist dieser Schaden egal gewesen, so wie gar nicht geschehen. Ich habe andere (Schiffe) fertigen lassen, größer und besser und einträglicher (…) Ihr wisst, ein großes Schiff kann Großes leisten. Ich habe wieder Wein geladen, Speck, Bohnen, Parfüm, Sklaven. (…) Schnell kommt, was der Himmel will. Mit einer einzigen Fahrt habe ich zehn Millionen eingefahren.»[17]

Außer Delikatessen gab es natürlich noch andere, haltbarere Luxusgüter. Stoffe aus Seide und Wolle, Edelhölzer, Edelsteine, Elfenbein, Gewürze, Parfüms und Farbstoffe waren begehrt und für die große Masse unerschwinglich. Immer neuer Nachschub an Waren aus aller Welt landete im Emporium, transportiert von einer Handelsflotte, die größer war als die französische zur Zeit des Sonnenkönigs.[18]

Neben Getreide war Olivenöl das wichtigste Lebensmittel. Es wurde auch zur Beleuchtung und zur Körperpflege benutzt und musste importiert werden, als die regionale Produktion für den Pro-Kopf-Verbrauch von 22,5 Kilo pro Jahr nicht mehr ausreichte.[19] Bereits in der frühen Kaiserzeit wandelten die Römer deshalb die Steppen Nordafrikas in Olivenhaine um und siedelten dort Nomaden als Bauern an. Bald wurde Olivenöl in ebenso großem Stil importiert wie Getreide. Auf dem Monte Testaccio, einem künstlichen Hügel aus antiken Amphorenscherben unweit des Emporium-Hafens, stammen 85 Prozent der zerschlagenen Tongefäße aus Baetica in Südspanien und 15 Prozent aus Nordafrika (Libyen und Tunesien). Von der Augustuszeit bis ins 3. Jahrhundert landeten hier schätzungsweise 25 Millionen Öl-Amphoren, auf denen Herstellername, Nettogewicht, Name des Kontrolleurs und Jahr der Spedition verzeichnet waren. Sorgfältig wurden die Scherben zu einem 36 Meter hohen Müllberg geschichtet, der heute mit Gras und Büschen umwachsen ist und einen Umfang von einem Kilometer hat. Am Fuße des Hügels befinden sich Lokale, deren «Weingrotten» in den Scherbenberg geschlagen sind. Weiter oben haben Hühner ihren Auslauf, Menschen dürfen aber nur in geführten Gruppen hinauf: Der uralte Monte de cocci («Scherbenberg»), ein weltweit einzigartiges Monument antiker Importwirtschaft und Abfallentsorgung und bis ins 19. Jahrhundert Schauplatz ausgelassener Volksfeste, ist inzwischen eine äußerst fragile Sehenswürdigkeit.[20]

So ausgeklügelt der Handel mit immer exotischeren Waren auch war – das Problem des Seehafens vor den Toren Roms blieb ungelöst. Gewaltige Mengen an Sand und Schlamm hinterließ der Tiber Jahr für Jahr an seiner Mündung, nach Schätzung heutiger Experten vier bis fünf Millionen Kubikmeter.[21] Man konnte buchstäblich zusehen, wie das Meer sich von den spärlichen Hafenanlagen in Ostia immer weiter entfernte. Als Kaiser Claudius den Befehl zum Neubau gab, rieten die Experten davon ab. Das Projekt sei zum Scheitern verurteilt, schon Caesar habe aus gutem Grund darauf verzichtet.[22]

Doch Claudius wollte partout als Hafenbauer in die Geschichte eingehen. Also ließ er nördlich der Tibermündung neue Molen anlegen, einen Kanal zum Fluss durchstechen sowie eine neue Straße bauen, die 24 Kilometer lange Via Portuense. Die Baustelle überwachte er persönlich, pendelte über Jahre regelmäßig zwischen Rom und dem Meer, verbrachte Wochen bei seinen Ingenieuren. Vor lauter Eifer für sein Lieblingsprojekt übersah Claudius, dass sich in Rom einige Senatoren gegen ihn verschworen. Angeführt wurden sie von dem ebenso gutaussehenden wie ehrgeizigen Aristokraten Silius – einem Geliebten von Claudius’ Ehefrau Messalina.

Im Herbst des Jahres 48, der Hafen war nach sieben Jahren noch längst nicht fertig, nutzte Messalina die Abwesenheit ihres Gatten, um mit Silius ein rauschendes Fest im Kaiserpalast auf dem Palatin zu veranstalten. Es muss wild zugegangen sein, wie Tacitus berichtet, bei einem Gelage zu Ehren des Weingottes Bacchus.[23] Dass der mit Weinlaub bekränzte Geliebte Messalinas quasi als Mitgastgeber auftrat, machte die Party in den Augen vieler Höflinge zum Putschversuch: Sie argwöhnten, Silius wolle Claudius’ Platz einnehmen, als Gatte und als Herrscher. «Von Ostia zieht ein schweres Unwetter auf», soll einer der Gäste gescherzt haben, der angeheitert auf einen Baum geklettert war.[24] Die Prophezeiung sollte sich erfüllen.

Boten ritten nach Ostia, um Claudius zu informieren: Messalina habe ihren Ehemann verraten und ihren Geliebten geheiratet! Ein Staatsstreich stehe bevor, womöglich regiere Silius schon, jedenfalls sei das Leben des Kaisers in Gefahr.[25] Auf seinem überstürzten Rückweg in die Stadt gab Claudius den Befehl, den Nebenbuhler und Messalina töten zu lassen. Wenig später heiratete er seine Nichte Agrippina, eine steinreiche Witwe und Mutter des späteren Kaisers Nero. Ihr Vermögen floss nun auch in den Hafenbau in Ostia, der laufend neue Löcher in die Staatskasse riss.[26] Die Fertigstellung seines ehrgeizigen Projekts erlebte der Kaiser nicht mehr, das große Eröffnungsfest durfte erst sein Nachfolger Nero im Jahr 64 abhalten. Da war Agrippina auch schon tot, ermordet auf Befehl ihres Sohnes.

Vom Hafen des Claudius sind außer einigen Mauerresten noch die etwas klobigen Travertinsäulen der Portikus mit ihren fassförmigen Abschnitten erhalten. Nichts blieb von den weit ins Meer reichenden Molen oder vom seinerzeit berühmten Leuchtturm, der den Schiffern den Weg wies. Schon nach wenigen Jahrzehnten versandete das Becken, das sich zudem allzu weiträumig dem offenen Meer darbot: Im Jahr 62 ließ ein Sturm mehrere dort verankerte Getreideschiffe versinken. Und wieder blieb nur Pozzuoli.

Erst 40 Jahre später löste Kaiser Trajan das Problem. Er ließ ein neues Becken erbauen, das hinter der alten Einfahrt und dadurch geschützter lag und gleichzeitig durch einen neuen Kanal direkt mit dem Tiber verbunden wurde. Heute liegt der Portus Traiani drei Kilometer von der Küste entfernt inmitten von Wiesen, Wasserläufen und Pinienwäldern. Das Gelände ist unterteilt in einen öffentlich zugänglichen archäologischen Park und den Privatbesitz der Adelsfamilie Sforza Cesarini. Zu Letzterem gehört ein See, der gar kein See ist, sondern das antike Hafenbecken. Trajans Ingenieure entwarfen ein fast 33 Hektar umfassendes Sechseck, mit genügend Anlegeplätzen für die großen Schiffe. Aber ohne Umschichten ging es immer noch nicht. Das Umladen konnte Tage dauern, es kam sogar vor, dass ein Schiff nach dreiwöchiger Anreise von Alexandria eine weitere Woche in Ostia stand.[27]

Nur ein verschwindend geringer Teil der Fracht wurde auf Karren geladen. Vermutlich nutzten vor allem Passagiere den Wagenservice vom Hafen in die Stadt, das Gros der Waren aber kam auf Flusslastschiffe. Ein in den Vatikanischen Museen aufbewahrtes kleines Fresko zeigt, wie im 3. Jahrhundert n. Chr. das Beladen eines solchen navis caudicaria vor sich ging: Auf der Isis Geminiana befinden sich fünf Männer. Einer von ihnen schüttet Getreide in ein Fass, das vom Schiffsbesitzer Arascantus kontrolliert wird. Am Heck steht der Steuermann, während über eine Planke zwei weitere Männer mit Getreidesäcken eintreffen. Ein weiterer hockt vor einem Getreidebehälter mit der Aufschrift «feci» («ich habe gemacht»).[28] Aber am Ziel ist die Isis Geminiana noch nicht. Bei sehr günstigen Bedingungen – genügend Wind, kein Hoch- und kein Niedrigwasser – konnte ein kleines Flussschiff auch schon mal den Tiber hochsegeln. Dieses hier hat jedoch kein Segel am Mast. Das Schiff des Arascantus musste flussaufwärts nach Rom gezogen werden – die nächste mühsame und zeitaufwändige Angelegenheit.

Im Meereshafen von Ostia musste Getreide von den großen Schiffen mühsam auf kleinere Boote umgeladen werden, die Sklaven dann flussaufwärts in die Stadt zogen. Dieses Fresko aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. zeigt die Arbeit auf dem Flussschiff Isis Geminiana.

Im Schnitt dauerte das Treideln drei Tage. Übernommen wurde es von Männern (helciarii), die entweder zur Schiffsmannschaft gehörten oder als «Leiharbeiter» angeheuert wurden.[29] Sie waren begehrt und gut bezahlt, denn die Nachfrage war größer als das Angebot. Man musste sie im Voraus bestellen. Je stärker der Hafen wuchs, desto größer wurde der Bedarf an Arbeitern, an Unterkünften und Tavernen für Seeleute, an Kontoren für die Händler. Im Schatten des Trajanshafens erblühte die Stadt Ostia.

Ostia: Seefahrer, Kaufleute, Bäcker

Das schwarzweiße Fußbodenmosaik am Eingang mit seinem dezenten Muschelmotiv wirkt einladend wie vor 1800 Jahren. Auch der Marmortresen, über den früher Speisen und Getränke für den Straßenverkauf gereicht wurden, steht noch, ebenso eine Anrichte im Innern mit drei Etagen für Gläser und Teller. Ein gelbgrundiges Fresko an der Wand im Gastraum zeigt, was hier einst bestellt werden konnte: Oliven und Rüben, Wein und runder Käse. Im lauschigen Innenhof durften die Gäste, auf gemauerten Bänken sitzend, an einem kühlenden Brunnen ihr Mahl verzehren und dazu piperatum trinken, eine Art Gewürzwein mit Honig und Pfeffer. Eine Treppe führte nach unten in den Vorratsraum, wo all diese Schätze, vor Wärme wie Kälte geschützt, aufbewahrt wurden.

Eine Hafenkneipe in der Via Diana, Ostia Antica. In der Zeit von Kaiser Trajan trafen sich hier Matrosen und Hafenarbeiter auf ein Gläschen Wein oder piperatum, den Aperitif der Antike, und einen schnellen Imbiss mit Brot, Käse und Oliven.

In manchen Winkeln von Ostia Antica fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit von Trajan, als diese popina (Taverne) in der Via Diana ihre Gäste bewirtete und die Ziegelhäuser nebenan von Hafenarbeitern und ihren Familien bewohnt waren. Gleich nach Pompeji bildet Ostia Antica das größte römisch-archäologische Areal der Welt. Von seinen rund 150 Hektar ist nur etwa die Hälfte freigelegt – genug, um die Hafenstadt mit ihrem großzügigen Forum, dem Theater, den Tempeln, einer Synagoge, aber auch den Wohnhäusern, Bädern, Lagern, Fischhallen und Kneipen erfahrbar zu machen.

Kaum ein Punkt in Ostia Antica war von Tiber und Meer weiter als ein paar hundert Meter entfernt. Eine uralte Straße führte hierher, über die sich die mittelitalienischen Stämme ihre Salzversorgung sicherten. An der Tibermündung lagen große Salinen. Angelegt von den Etruskern, wurden sie von den Römern ausgebaut und bis ins späte 19. Jahrhundert genutzt. Salz war essenziell für die Konservierung von Lebensmitteln, für die Metallverarbeitung und auch für die Herstellung von Leder.[30]

Es war ein gewichtiges Motiv für den Bau einer Siedlung, aber natürlich nicht das einzige. Neben dem Monopol der Salinen beanspruchte der aufstrebende Stadtstaat Rom die Kontrolle der Flussmündung und verteidigte diese gegen benachbarte Stämme und Eindringlinge, die vom Meer kamen. So bestand Ostia (von lateinisch ostium, «Eingang», «Mündung») am Anfang aus einem Militärlager. Titus Livius, der die Gründung Ancus Martius (gest. 616 v. Chr.) zuschreibt, berichtet von gallischen Kämpfern, die 349 v. Chr. die Küstengegend nahe Rom verwüsteten, und von griechischen Piraten, die drohten, in den Tiber einzudringen.[31]

Der Ort an der Küste wurde für die Stadt flussaufwärts von zentraler militärischer und handelsstrategischer Bedeutung. Dabei schützte und versorgte Rom Ostia, wie andererseits Ostia Rom versorgte. Und in beide Richtungen geschah das auf dem Tiber. So wurde im Norden von Rom Tuffstein für die Stadtmauer von Ostia abgebrochen und auf Flößen flussabwärts transportiert. Später folgten Ziegel aus den Fabriken der Hauptstadt, Travertin aus dem Anienetal und andere Baustoffe.[32] Umgekehrt wurden alle möglichen Waren von der Flussmündung in die Stadt geschafft.

Mit seinen 232.000 Einwohnern ist Ostia heute ein römischer Stadtteil, was seine historische Berechtigung hat: Die antike Stadt war Roms erste Kolonie. Im Ostia der Trajanszeit lebten 50.000 Menschen. Zimmerleute und Seiler, Töpfer und Böttcher, Schmiede und Maurer waren die Protagonisten des Alltags am Hafen. Viele kamen von weither: Rund 40 Prozent der Einwohner hatten, wie ihre Nachnamen verrieten, einen Migrationshintergrund, fast alle aus dem griechisch geprägten Osten des Reichs. Sie waren Kaufleute oder ehemalige Sklaven und deren Nachkommen. Verglichen mit der Metropole Rom, wo der Anteil der Griechischstämmigen im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. bei über 60 Prozent lag, war Ostia noch nicht einmal besonders «international», aber wenn man es an heutigen Einwohnerstatistiken misst (Rom hat circa 13 Prozent Ausländer, davon die Hälfte aus der EU), war der Ausländeranteil enorm.[33]

An den Mosaiken der Piazzale delle Corporazioni kann man ablesen, wie viele Händler und Reeder aus dem ganzen Mittelmeerraum im 2. Jahrhundert n. Chr. in Ostia ihre Niederlassungen unterhielten. Kaufleute aus Libyen, Tunesien, Ägypten, Sardinien, Karthago, Mauretanien und Südfrankreich haben sich auf dem großen Platz zwischen Theater und Tiber verewigt. Die Mosaiken zeigen ihre Handelsschiffe, die Arbeit von Matrosen und Hafenarbeitern, maritime Szenen mit Fischen oder auch das Nildelta.[34] Die zentrale Rolle des Getreidehandels symbolisiert das Abbild eines modius – das zylinderförmige Maß für 8,7 Liter war damals Standard.[35]

Wie auch in Rom drehte sich hier fast alles ums Korn. Zur Hadrianszeit erstreckten sich die horrea von Ostia mutmaßlich über 36 Hektar.[36] Ein Großteil des Korns war für Rom bestimmt, doch auch an Ort und Stelle wurde sehr viel konsumiert. Zahlreiche Bäcker versorgten mit ihrem Brot die Einheimischen und die Matrosen der Handelsschiffe. Zu Hause scheint kaum jemand gebacken zu haben, auch nicht religiöse Minderheiten. Juden konnten ungesäuertes, koscheres Brot in der Bäckerei neben der Synagoge kaufen. Für gewöhnliche Backwaren gab es in unmittelbarer Hafennähe, gleich gegenüber den Getreidelagerhäusern, Großbäckereien mit nicht weniger als sechs Verkaufsräumen. Im Innenhof waren extra starke Mühlsteine im Einsatz – aus dem 120 Kilometer flussaufwärts gelegenen Orvieto.

Brot war in Ostia wie in Rom ein Grundnahrungsmittel für alle. Auch Hülsenfrüchte, Käse sowie Hühner- und Schweinefleisch waren für viele erschwinglich. Doch die Reichen, die sich von der Masse absetzen wollten, waren versessen auf Fisch. Das Meer vor Ostia allerdings konnte den Bedarf nicht stillen, es war schon zur Kaiserzeit hoffnungslos überfischt. Man erlaube den Fischen erst gar nicht, erwachsen zu werden, bemerkte der Spötter Juvenal. Immerhin fingen Ostias Fischer Schollen und sehr gute Krabben, die in der verwöhnten römischen Oberschicht jedoch als Arme-Leute-Essen abgetan wurden.[37]

«Die Fische sind so teuer wie die Köche», amüsierte sich der ältere Plinius über Feinschmecker, die nicht davor zurückschreckten, den sechsfachen Jahressold eines Legionärs für ein luxuriöses Fischessen auszugeben.[38] Viele Reiche verfügten über private Zuchtteiche, die, nur durch Dämme getrennt, direkt am Meer lagen – damit sie auch bei schlechtem Wetter fischen lassen konnten. Besonders Muränen scheinen bei der Oberschicht beliebt gewesen zu sein. Ein gewisser C. Hirrius lieferte für die Gastmähler Julius Caesars 6000 von diesen Fischen, während die jüngere Antonia ihre «Lieblingsmuräne» angeblich sogar mit Perlenohrringen schmückte. Aus der Gegend am Capo Misenum am Golf von Neapel, wo diese schwerreiche Nichte des Augustus und Mutter des Claudius im Sommer residierte, stammten auch Seeigel, die fleißige Fischer von den Felsen schälten und in mit Meerwasser gefüllten Käfigen auf die Reise nach Rom schickten.