Die Geheimnisse von Paris. Band III - Eugène Sue - E-Book

Die Geheimnisse von Paris. Band III E-Book

Eugène Sue

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Beschreibung

Entführung, Mord und Prostitution: Eugène Sues "Die Geheimnisse von Paris" entführt die Leser in die elenden Arbeiterviertel und die Unterwelt von Paris im Jahre 1838. In den schmutzigen Spelunken, wo sich die Verbrecher der Stadt treffen, werden finstere Pläne geschmiedet, während sich in den schicken Salons der adligen Oberschicht familiäre Dramen abspielen, aber um jeden Preis die Fassade gewahrt werden muss. Der Moloch Paris lässt hier mit seiner Enge, seinem Dreck und den allgegenwärtigen Verbrechen die Menschen verrohen. Und mitten in diesem Sumpf der zwielichtigen Gassen des Großstadtdschungels erscheint wie aus dem Nichts ein fremder Retter, der sich den Hilflosen und Entrechteten zur Seite stellt, um das Boshafte zur Rechenschaft zu ziehen. Auf insgesamt knapp 2000 Seiten entfaltet sich ein detailreiches und farbenprächtiges Bild des Pariser Alltags Mitte des 19. Jahrhunderts. Dutzende von Figuren aus unterschiedlichen sozialen Ständen und ihre Geschichten werden mit dem Haupthandlungsfaden des Werkes verwoben. Sue verbindet Elemente des Kriminalromans, des Gesellschaftsromans und des Melodrams und erschafft daraus ein bildgewaltiges Epos einer vergangenen Zeit, das durch sein Rachemotiv und die intriganten Verwicklungen zuweilen an den Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas erinnert, der von Sue inspiriert wurde. Der Abenteuer-Klassiker liegt hier in der ungekürzten Übertragung ins Deutsche von August Diezmann vor. Zeichensetzung und Rechtschreibung der Erstübertragung wurden teilweise dem heutigen Sprachgebrauch angenähert, teilweise beibehalten. Dies ist der Versuch eines Kompromisses zwischen einem Zugeständnis an die Lesegewohnheiten heutiger Leserinnen und Leser sowie der Bewahrung des damaligen Sprachkolorits, welches wesentlich zur Atmosphäre der Geschichte beiträgt. Dieses ist der dritte von sechs Bänden des monumentalen Werkes. Der Umfang des dritten Bandes entspricht ca. 330 Buchseiten.

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Seitenzahl: 413

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Eugène Sue

 

DIE GEHEIMNISSE VON PARIS

 

 

 

Historischer Roman

in sechs Bänden

 

 

BAND III

 

 

 

Ungekürzte Ausgabe

in einer

Übersetzung von

 

August Diezmann

 

 

 

 

 

 

 

Die Geheimnisse von Paris wurde im französischen Original Les mystères de Paris zuerst veröffentlicht vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 in der Tageszeitung Le Journal des Débats (Paris).

Diese ungekürzte und vollständige Ausgabe in sechs Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

 

Band 3 von 6

www.apebook.de

1. Auflage 2020

Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Übersetzung von August Diezmann (Otto Wigand Verlag). Zeichensetzung und Rechtschreibung der Erstübertragung wurden teilweise dem heutigen Sprachgebrauch angenähert, teilweise beibehalten. Dies ist der Versuch eines Kompromisses zwischen einem Zugeständnis an die Lesegewohnheiten heutiger Leserinnen und Leser sowie der Bewahrung des damaligen Sprachkolorits, welches wesentlich zur Atmosphäre der Geschichte beiträgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96130-199-7

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, bearbeitet von SKRIPTART.

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2020

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DIE GEHEIMNISSE VON PARIS. Band III

Impressum

DRITTER BAND

I. Das Urteil.

II. Louise.

III. Die Lachtaube.

IV. Die Lachtaube.

V. Nachbar und Nachbarin.

VI. Das Budget der Lachtaube.

VII. Der Tempel.

VIII. Die Entdeckung.

IX. Die Erscheinung.

X. Die Verhaftung.

XI. Das Geständnis.

XII. Das Verbrechen.

XIII. Die Unterredung.

XIV. Der Wahnsinn.

XV. Jacob Ferrand.

XVI. Die Expedition.

XVII. Herr von St. Remy.

XVIII. Das Testament.

XIX. Die Gräfin Mac Gregor.

XX. Karl Robert.

XXI. Die Herzogin von Lucenay.

XXII. Die Anklage.

XXIII. Beratung.

XXIV. Die Schlinge.

XXV. Reflexionen.

XXVI. Pläne für die Zukunft.

XXVII. Das Frühstück.

XXVIII. St. Lazarus.

XXIX. Mont-Saint-Jean.

XXX. Die Wölfin und die Schallerin.

Eine kleine Bitte

Direktlinks zu den einzelnen Bänden

A p e B o o k C l a s s i c s

N e w s l e t t e r

F l a t r a t e

F o l l o w

A p e C l u b

L i n k s

Zu guter Letzt

 

 

 

Dritter Band

 

 

I. Das Urteil.

Der Steinschneider stand verwundert auf, um zu öffnen. Zwei Männer traten ein.

Der Eine war groß, hager, hatte ein gemeines blütenreiches Gesicht mit dickem schwarzen Backenbarte, der grau zu werden anfing, hielt in der Hand einen dicken schweren Stock und trug einen aus der Façon gedrückten Hut und einen langen ganz zugeknöpften mit Kot bespritzten grünen Rock. Der abgeschabte schwarze Sammetkragen ließ einen langen roten behaarten Hals sehen. Der Mann hieß Malicorne.

Der Andere war kleiner, dick und untersetzt, hatte ebenfalls ein gemeines Gesicht und war mit einem gewissen grotesken Luxus gekleidet. Brillantenknöpfe hielten die Falten seines Hemdes von zweifelhafter Weiße fest, und auf der verschossenen schottischen Weste, die unter einem gelblichgrünen Palletot hervorsah, schlängelte sich eine lange goldene Kette. Dieser Mann hieß Bourdin.

»Pfui! Wie das hier nach Armut und Tod stinkt!« sagte Malicorne, der auf der Türschwelle stehen blieb.

»Ja, nach Moschus riecht es hier nicht«, entgegnete Bourdin mit einer Gebärde des Ekels und der Verachtung. Dann trat er zu Morel, der ihn ebenso verwundert als unwillig ansah.

Durch die halb offen gebliebene Türe hindurch sah man das boshafte, aufmerksame und schlaue Gesicht des kleinen Lahmen, der den Unbekannten gefolgt war, ohne daß sie es wußten, um zu horchen und zu spionieren.

»Was wollen Sie?« fragte der Steinschneider barsch, den die Grobheit der beiden Männer empörte.

»Hieronymus Morel?« fragte Bourdin.

»Der bin ich.«

»Steinschneider?«

»Der bin ich.«

»Gewiß?«

»Noch einmal, ich bin es.— Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe; was wollen Sie? — sprechen Sie oder entfernen Sie sich.«

»Wozu die Ehrlichkeit?— Ich danke. — Sag' doch, Malicorne«, fuhr der Mann fort, indem er sich an seinen Kameraden wendete, »hier ist nicht viel zu machen, wie bei dem Vicomte von St. Remy.«

»Ja; aber wo etwas zu machen ist, findet man den Käfig meist leer und den Vogel ausgeflogen. — Solches Ungeziefer, wie das hier, klebt dagegen in seinem Loche fest.«

»Freilich; solche Menschen wünschen nichts mehr als eingesperrt zu werden, weil sie da gefüttert werden müssen.«

»Es kostet dem Gläubiger mehr, als die ganze Geschichte wert ist; aber das ist seine Sache.«

»Wenn Ihr nicht betrunken wäret«, fiel Morel unwillig ein, »könnte man in Zorn geraten.— Entfernt Euch augenblicklich!«

»Sieh da, sieh da«, entgegnete Bourdin mit beleidigender Hinweisung auf den verwachsenen Steinschneider, »der Krumme da ist ein famoser Kerl, denkt, wir wollten in dem Loche da bleiben, in das ich meinen Hund nicht sperren möchte.«

»Großer Gott!« rief Magdalene, die so erschrocken war, daß sie bis dahin kein Wort hatte sagen können, »rufe doch um Hilfe; es sind vielleicht Spitzbuben; nimm Deine Diamanten in Acht!«

Morel, der die beiden Unbekannten, die nicht eben ehrlich aussahen, immer näher an seinen Arbeitstisch treten sah, auf welchem die Steine noch lagen, fürchtete wirklich eine böse Absicht, ging rasch an den Tisch und bedeckte mit beiden Händen die Edelsteine.

Der kleine Lahme, der noch immer horchte und spionierte, hörte die Worte Magdalenens, bemerkte die Bewegung des Handwerkers und dachte bei sich:

»Sieh — sieh — sieh —, man sagte, er arbeite in falschen Steinen; wenn sie falsch wären, würde er nicht so sehr fürchten, bestohlen zu werden. — Gut, daß ich das weiß, die Mutter Mathieu, die oft hierher kommt, hat also auch echte Diamanten in ihrem Strickbeutel. — Gut, daß ich das weiß; ich werde es der Eule sagen, der Eule —«

»Wenn Sie sich nicht sogleich entfernen, rufe ich die Wache«, sagte jetzt Morel.

Die Kinder fingen an zu weinen und die alte Blödsinnige setzte sich auf ihrem Lager auf.

»Wenn Jemand das Recht hat, die Wache zu rufen, so sind wir es; hören Sie, Herr Krummer?« antwortete Bourdin.

»Weil uns die Wache Beistand leisten muß, um Sie fortzubringen, wenn Sie nicht gutwillig mitgehen«, setzte Malicorne hinzu; »wir haben allerdings keinen Friedensrichter bei uns, wenn Ihnen aber an seiner Gesellschaft etwas liegt, so werden wir Einen ganz warm aus dem Bette wegholen. — Bourdin, geh und hole ihn.«

»Ich — ich soll in das Gefängnis?« rief Morel bestürzt.

»Ja, nach Clichy —«

»Nach Clichy?« wiederholte der Handwerker mit stierem Blicke.

»Schulden wegen in das Gefängnis, wenn das deutlicher ist«, entgegnete Bourdin.

»Sie — Sie — wären — der Notar — Ach, mein Gott!«

Und Morel sank todtenbleich auf seinen Schemel ohne ein Wort hinzusetzen zu können.

»Wir sind Diener vom Handelsgericht. — Verstanden?«

»Morel — der Wechsel von dem Herrn Louisens! Wir sind verloren!« rief mit herzzerreißender Stimme Magdalene.

»Da ist das Urteil«, sagte Malicorne, indem er aus der Brieftasche einen Bogen Stempelpapier nahm. Nachdem er in einer gewöhnlichen eintönigen Art und fast unverständlich einen Theil des Actenstückes verlesen hatte, trug er die letzten nur zu deutlichen Worte höchst vernehmlich vor: »das Gericht verurtheilt demnach den Herrn Morel, unter Androhung persönlicher Haft, dem Herrn Jacob Ferrand, Notar zu Paris, die Summe von dreizehnhundert Francs mit Zinsen vom Tage des Protestes an zu zahlen und verurtheilt ihn überdies zu den Kosten.

Gegeben zu Paris, d. 13. Sept. 1838.«

»Und Louise? Louise?« rief Morel fast wahnsinnig, ohne, wie es schien, auf die Vorlesung zu hören, »wo ist sie? Hat sie den Notar verlassen — da er mich in das Gefängnis bringen lassen will? Guter Gott, was ist aus Louisen geworden?«

»Wer ist Louise?« fragte Bourdin.

»So lass' ihn doch reden«, fiel Malicorne brutal ein; »siehst Du denn nicht, daß es nicht recht richtig bei ihm im Kopfe ist? ... Vorwärts«, setzte er hinzu, indem er an Morel trat, »vorwärts, daß wir aus diesem Loche fortkommen; ich muß reine Luft athmen; hier wird man verpestet.«

»Morel, gehe nicht; vertheidige Dich«, rief Magdalene außer sich. — »Schlag die Menschen da todt. — Ach, Du bist feige. Du wirst Dich fortführen lassen, Du wirst uns verlassen —«

»Tun Sie, als ob Sie zu Hause wären, Madame«, fiel Bourdin höhnend ein, »aber wenn Ihr Mann die Hand gegen mich erhebt, ist es um ihn geschehen —«

Morel, dessen Gedanken sich nur mit Louisen beschäftigten, hörte nichts von dem, was um ihn her gesprochen wurde; mit einemmale zeigte sich aber ein Ausdruck bitterer Freude auf seinem Gesichte und er rief aus:

»Louise hat das Haus des Notars verlassen, — ich gehe mit leichtem Herzen in das Gefängnis.« Als er aber wieder um sich blickte, setzte er hinzu: »aber wer wird nun meine Frau und ihre Mutter und meine Kinder ernähren? Im Gefängnisse wird man mir keine Steine zum Schleifen anvertrauen; man wird glauben, ich sei wegen schlechten Lebenswandels dahin gekommen; — will der Notar den Tod der Meinigen, unser Aller Tod?«

»Noch einmal, wird es bald ein Ende haben?« fiel Bourdin ein. — »Ziehe Dich an, Mann, und mach', daß wir fortkommen.«

»Ach, meine guten Herren, nehmen Sie es nicht übel, was ich eben gesagt habe«, rief jetzt Magdalene von ihrem Lager aus. »Sie werden nicht so hartherzig sein, Morel fortzuführen; was sollte aus mir und meinen fünf Kindern und meiner blödsinnigen Mutter werden? Sehen Sie die Arme da, wie sie auf der Matratze kauert! Sie ist verrückt, meine guten Herren, sie ist verrückt.«

»Die Alte mit dem geschorenen Kopfe?«

»Wahrhaftig, sie ist geschoren«, sagte Malicorne; »ich glaubte, sie hatte eine weiße Nachtmütze auf dem Kopfe.«

»Ihr Kinder, kniet hin vor den guten Herrn«, fuhr Magdalene fort, welche durch dieses letzte Mittel die Hartherzigen erreichen wollte, »bittet sie, daß sie Enren armen Vater nicht mit fortnehmen, der Euch Brod giebt.«

Trotz dem Befehle ihrer Mutter weinten die Kinder fort und wagten nicht, ihr elendes Lager zu verlassen.

Die Blödsinnige fing bei diesem ungewöhnlichen Geräusche und bei dem Anblicke der beiden fremden Männer an, dumpf zu heulen und zu jammern und drückte sich an die Wand.

Morel schien alles, was um ihn her vorging, nicht zu beachten; der Schlag, der ihn bedrohete, war so entsetzlich, so unerwartet, die Folgen dieser Verhaftung kamen ihm so furchtbar vor, daß er gar nicht daran zu glauben vermochte. Die Kräfte verließen den schon durch Entbehrungen aller Art erschöpften Mann und er saß da auf seinem Schemel bleich, mit stierem Blicke, in sich selbst zusammengesunken, mit schlafs herabhängenden Armen, den Kopf auf die Brust gesenkt —

»Tausend Donnerwetter, wird's nun bald?« rief jetzt Malicorne. Glaubt Ihr denn, wir erbaueten uns hier? Vorwärts, oder ich brauche Gewalt!«

Und der Mann packte Morel an der Achsel und schüttelte ihn tüchtig.

Diese Drohung, diese Gebärde erregte in den Kindern die höchste Angst; die drei kleinen Knaben krochen aus dem Strohsacke halb nackt heraus, fielen weinend, mit gefaltenen Händen vor den Dienern des Handelsgerichts auf die Knie nieder und riefen mit jammervoller Stimme:

»Gnade! Machen Sie unsern Vater nicht todt!«

Bourdin wurde bei dem Anblicke dieser armen Kinder, die vor Kälte und Angst zitterten, trotz seiner natürlichen Gefühllosigkeit und der Gewöhnung an solche Auftritte fast gerührt. Sein unbarmherziger Kamerad aber machte roh sein Bein von den umfassenden Armen der Kinder frei, die sich bittend an dasselbe klammerten.

»Welch' ein gräuliches Gewerbe hätten wir, wenn wir es immer mit solchen Menschen zu thun hätten!«

Eine grauenhafte Episode machte diesen Auftritt noch gräßlicher.

Das älteste der kleinen Mädchen, das mit der kranken Schwester in dem Strohsacke geblieben war, rief plötzlich:

»Mutter! Mutter! — ich weiß nicht, was Adele hat! — Sie ist ganz kalt. — Sie sieht mich immer an, aber sie athmet nicht mehr —«

Das arme schwindsüchtige Kind war sanft dem Tode in die Arme gesunken, ohne Klage, das Auge auf die Schwester gerichtet, die es so innig liebte.

Unmöglich läßt sich der Schrei beschreiben, den die Frau Morel's ausstieß bei dieser schrecklichen Anzeige; sie errieth die Wahrheit; es war ein krampfhafter Schrei, so wie er aus dem tiefsten Herzen einer Mutter gerissen wird.

»Adele sieht aus wie todt. Ach Du lieber Gott, ich fürchte mich!« rief das Kind, indem es schnell den Strohsack verließ und ängstlich sich in die Arme der Mutter flüchtete.

Diese vergaß, daß ihre fast gelähmten Beine sie nicht tragen konnten und machte eine gewaltsame Anstrengung, um aufzustehen und zu ihrem gestorbenen Kinde zu gehen, aber die Kräfte reichten nicht aus und sie sank mit einem letzten Schrei der Verzweiflung auf den Fußboden nieder. Dieser Schrei fand ein Echo in dem Herzen Morel's; er fuhr aus seinem Stumpfsinn auf, war mit einem Sprunge an dem Strohsacke und nahm sein vierjähriges Kind — Er fand es todt.

Die Kälte und der Hunger hatten das Ende beschleuniget. Die armen kleinen Glieder waren bereits eiskalt und erstarrt.

II. Louise.

Morel, dem vor Verzweiflung und Entsetzen das graue Haar sich sträubte, stand mit dem todten Kinde in den Armen unbeweglich da und betrachtete es mit stierem, thränenlosen Auge.

»Morel! Morel! — Gieb mir Adele her!« rief die unglückliche Mutter aus, welche die Arme nach ihrem Gatten hin ausstreckte. — »Es ist nicht wahr, nein, sie ist nicht todt; Du wirst es sehen, ich erwärme sie wieder.«

Die Neugierde der Blödsinnigen wurde durch die Eile der beiden Fremden erregt, mit welcher sie zu dem Steinschneider traten, der sich von dem todten Körper seines Kindes nicht trennen wollte. Die Alte hörte auf zu jammern, richtete sich empor, schlich langsam hinzu, hielt ihren häßlichen dummen Kopf über die Achsel Morel's vor und betrachtete einige Augenblicke den Leichnam ihrer Enkelin.

Ihre Züge behielten den gewöhnlichen Ausdruck des Stumpfsinnes und nach einer Minute etwa gähnte sie laut in dem Tone eines hungrigen Raubthieres, kehrte auf ihr Lager zurück und warf sich auf dasselbe mit den Worten:

»Hat Hunger! hat Hunger!«

»Sie sehen, meine Herren, Sie sehen ein armes Kind von vier Jahren, Adele. — Sie heißt Adele. Noch gestern Abend habe ich sie geküßt und diesen Morgen — liegt sie da. Sie werden sagen, ich hatte nun ein Kind weniger zu ernähren, ich hätte Glück, nicht wahr?«

Sein Verstand schien unter so vielen harten Schlägen allmälig zu wanken.

»Morel, ich will mein Kind sehen, ich will es!« rief Magdalene aus.

»Ja, eines nach dem andern«, antwortete der Mann und er legte das Kind in die Arme seiner Frau.

Da bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen und jammerte laut.

Magdalene legte den Leichnam ihres Kindes in das Stroh ihrer Lagerstätte und betrachtete es mit einem gewissen Neide, während die andern Kinder neben ihr knieten und weinten.

Die Diener des Gerichts, die durch den Tod des Kindes einen Augenblick erweicht worden waren, erlangten bald ihre gewöhnliche Gefühllosigkeit wieder.

»Nun«, sagte Malicorne zu dem Steinschneider, »Ihr Kind ist gestorben, das ist ein Unglück; aber wir sind alle sterblich, wir können es nicht hindern und ändern, ebensowenig als Sie. — Sie müssen uns folgen, denn wir haben noch Jemanden zu holen. Es giebt viel Arbeit.«

Morel hörte nicht auf ihn.

Ganz versunken in seine finstern Gedanken, sprach er mit dumpfer, gebrochener Stimme vor sich hin:

»Das arme Kind muß doch begraben und hier bewacht werden, bis man es abholt. — Es begraben! — aber wo das Geld dazu hernehmen? Wir haben nichts. — Und den Sarg? Wer wird uns Credit geben? Ach, ein so kleiner Sarg, für ein Kind von vier Jahren, der kann nicht theuer sein, — und einen Leichenwagen brauchen wir auch nicht; den kleinen Sarg nimmt man unter den Arm. Ha! ha! ha!« setzte er mit grauenvollem Lachen hinzu, »wie glücklich ich bin! Sie hätte können im achtzehnten Jahr sterben, in dem Alter Louisens, und einen so großen Sarg würde man mir nicht auf Credit gegeben haben.«

»Nun — der Mann ist im Stande den Kopf zu verlieren«, sagte Bourdin zu Malicorne: »sich nur seine Augen an; man könnte sich vor ihm fürchten. — Und die alte Verrückte, die vor Hunger heult! Welche Familie!«

»Wir müssen aber doch der Sache ein Ende machen.

— Bezahlen muß uns der Gläubiger. Fass an; er wird freilich unterwegs ein gewaltiges Geschrei erheben.

— Ist es aber unsere Schuld, daß sein Kind gestorben ist?«

»Wenn man so arm ist, sollte man keine Kinder in die Welt setzen.«

»Vorwärts! Vorwärts, Mann!« sagte Malicorne, indem er Morel auf die Achsel klopfte; »wir haben nicht Zeit lange zu warten; wenn Sie nicht bezahlen können, fort in's Gefängnis —«

»In das Gefängnis, Herr Morel?« fiel eine jugendliche wohlklingende Stimme ein und rasch trat ein junges brünettes, frisches Mädchen in das Stubchen.

»Ach, Mamsell Lachtaube!« sagte eins der Kinder weinend. »Sie sind so gütig. — Retten Sie den Vater, man will ihn in das Gefängnis schleppen und unsere kleine Schwester ist gestorben —«

»Adele ist todt!« rief das junge Mädchen aus, dessen große schwarze Augen sich mit Thränen füllten. »Euer Vater in das Gefängnis? Das ist nicht möglich.«

Und unbeweglich sah sie bald den Steinschneider, bald dessen Frau, bald die Gerichtsdiener an.

Bourdin trat zu ihr.

»Mein schönes Kind, Sie sind ruhig, bringen Sie doch den Mann da zu Verstande! sein Kind ist gestorben, leider! Aber er muß uns nach Clichy folgen — in das SchuldGefängnis; wir sind Diener des Handelsgerichts.«

»Es ist also wahr?« rief das junge Mädchen aus.

»Ja, es ist wahr. Die Mutter hat das Kind im Bette, man kann es ihr nicht nehmen, — es beschäftiget sie. — Der Vater sollte dies benutzen, um sich fortzumachen.«

»Ach Gott! Ach Gott! welches Unglück!« rief das Mädchen aus; »welches Unglück! Und was thun?«

»Bezahlen oder in das Gefängnis gehen, ein Drittes giebt es nicht; können Sie ihm zwei oder drei Tausendfrancsbillets leihen?« fragte Malicorne höhnend; »wenn Sie es können, so geben Sie her und wir ziehen ab.«

»Es ist entsetzlich!« jammerte das Mädchen in Unwillen. »Bei einem solchen Unglücke noch zu spaßen!«

»Nun, ohne Spaß«, sagte einer der Gerichtsdiener, »wenn Sie etwas hier nützen wollen, so sorgen Sie dafür, daß die Frau ihren Mann nicht fortführen sieht. Es werden damit Beiden eine schlimme Viertelstunde ersparen.«

»Der Rath war allerdings brutal, aber gut, das Mädchen befolgt^ ihn und trat zu Magdalenen, die in ihrer Verzweiflung sie nicht zu sehen schien, ob sie gleich neben den Kindern an dem Lager der Kranken niederkniete.

Morel war aus seiner augenblicklichen Verwirrung wieder zu sich gekommen, wurde aber nun von den nie ^erdrückendsten Gedanken bestürmt, denn nachdem er ruhiger geworden, konnte er alle Schrecken seiner Lage erkennen. Der Notar mußte unbarmherzig sein, da er sich zu diesem Schritte hatte entscheiden können; die Gerichtsdiener thaten nur ihre Pflicht.

Morel fügte sich.

»Nun, wird es endlich fortgehen?« sagte Bourdin zu ihm, ,

»Ich kann diese Diamanten nicht hier lassen; meine Frau ist halb wahnsinnig«, antwortete Morel, indem er auf die Edelsteine zeigte, welche auf dem Arbeitstische umher lagen. — »Die Maklerin, für die ich arbeite, wird sie diesen Vormittag oder doch im Laufe des Tages abholen; sie haben einen bedeutenden Werth.«

»Gut, gut!« dachte der kleine Lahme bei sich, der noch immer an der angelehnten Türe lauschte, »da« soll die Eule erfahren.«

»Geben Sie mir nur Zeit bis morgen«, fuhr Morel fort, »damit ich der Mäklerin die Diamanten zurückgeben kann.«

»Das ist nicht möglich. Die Sache muß sogleich abgemacht werden.«

»Aber ich kann die Diamanten nicht hier liegen lassen und der Gefahr aussetzen, verloren zu werden.«

»Nehmen Sie die Steine mit; unser Fiacre steht unten und wir wollen zu der Mäklerin fahren; ist sie nicht da, so legen Sie die Diamanten in dem Bureau in Clichy nieder, wo sie eben so sicher sind wie in der Bank; aber rasch nun, rasch! Wir gehen still fort, ohne daß Ihre Frau und Ihre Kinder es merken.«

»Geben Sie mir Zeit bis morgen, damit ich mein Kind begraben lassen kann«, bat Morel mit flehentlicher Stimme und mit Thränen in den Augen.

»Nein. — Wir haben nun schon eine Stunde hier versäumt —«

»Dieses Begräbniß würde Sie nur traurig stimmen«, fiel Malicorne ein.

»Ja wohl, es würde mich traurig stimmen«, entgegnete Morel bitter. — »Sie scheuen sich so sehr, die Leute zu betrüben! — Noch ein letztes Wort —«

»Donnerwetter! Machen Sie rasch«, sagte Malicorne in brutaler Ungeduld.

»Seit wann haben Sie Befehl mich zu verhaften?«

»Das Urteil ist schon vor vier Monaten gefällt, aber gestern erst erhielt unser Huissier von dem Notar die Anzeige, das Urteil zu vollziehen —«

»Gestern? So spät?«

»Was geht das mich an? Suchen Sie Ihre Siebensachen zusammen.«

»Gestern! Und Louise ist nicht hieher gekommen! Wo ist sie? Was ist aus ihr geworden?« sprach der Steinschneider, indem er ein mit Baumwolle ausgelegtes Schechtelchen nahm und in dasselbe die Steine legte. — »Aber ich will jetzt nicht daran danken —, im Gefängnisse werde ich Zeit haben, darüber nachzudenken —«

»Holen Sie Ihre Kleider, damit wir fortkommen.«

»Ich brauche nichts einzupacken und habe nichts mitzunehmen als diese Diamanten —«

»So kleiden Sie sich an.«

»Ich habe nichts anderes, als was ich auf dem Leibe trage.«

»In diesen Lumpen wollen Sie ausgehen?« fiel Bourdin ein.

»Sie werden sich meiner Gesellschaft schämen«, entgegnete der Steinschneider bitter.

»Nein, denn wir haben ja den Fiacre, den Sie bezahlen müssen«, erwiederte Malicorne.

»Vater, die Mutter ruft Dich«, sagte Eines der Kinder.

»Hören Sie mich an«, flüsterte Morel Einem der Gerichtsdiener schnell zu, »gestatten Sie mir eine letzte Begünstigung, handeln Sie nicht unmenschlich. — Ich habe nicht den Muth, von meiner Frau und meinen Kindern Abschied zu nehmen, mein Herz würde brechen. Wenn sie sehen, daß Sie mich fortführen, werden sie mir nachlaufen. — Ich möchte das vermeiden und bitte Sie, sagen Sie laut zu mir, Sie würden in drei oder vier Tagen wiederkommen, und stellen Sie sich als gingen Sie; erwarten Sie mich auf der Treppe: fünf Minuten nachher komme ich nach, das erspart mir das Abschied nehmen; ich würde das nicht ertragen können, ich würde den Verstand darüber verlieren, was beinahe schon jetzt geschehen wäre.«

»Wir kennen das. Sie wollen uns hinter das Licht führen«, antwortete Malicorne; »Sie wollen sich drücken.«

»Ach, mein Gott! mein Gott!« rief Morel in schmerzlichem Unwillen aus.

»Ich glaube nicht, daß er etwas Ungerechtes vorhat«, sagte Bourdin leise zu seinem Kameraden; »wir wollen ihm den Willen thun, sonst kommen wir nicht fort von hier; ich werde außen an der Türe bleiben; die Stube da hat keinen andern Ausgang, er kann uns nicht entgehen.«

»Meinetwegen, aber das Donnerwetter soll ihn erschlagen! — Wie zerlumpt! Wie zerlumpt!« Dann sagte er leise zu Morel: »gut, wir wollen im vierten Stock warten, aber kommen Sie schnell nach.«

»Ich danke Ihnen«, antwortete Morel.

»Nun«, sprach Bourdin laut, »da es so ist und Sie versprechen zu bezahlen, so wollen wir jetzt gehen; nach fünf oder sechs Tagen werden wir wiederkommen —«

»Ja, meine Herren, ich hoffe dann bezahlen zu können«, antwortete Morel.

Die Gerichtsdiener entfernten sich.

Der kleine Lahme hatte sich, um nicht gesehen zu werden, in dem Augenblicke, als die Gerichtsdiener aus dem Stübchen traten, auf die Treppe geflüchtet.

»Hören Sie, Madame Morel!« sagte Mamsell Lachtaube zu der Frau des Steinschneiders, um dieselbe von den traurigen Gedanken zurückzubringen, »man läßt Ihren Mann in Ruhe; die beiden Gerichtsdiener sind fortgegangen.«

»Hörst Du, Mutter? Man führt den Vater nicht fort«, sagte der älteste Knabe.

»Morel, Morel, nimm Einen der großen Diamanten, man wird es nicht merken, und wir sind gerettet«, sprach Magdalene in völligem Irrsein. »Unsere kleine Adele wird nicht mehr frieren, nicht mehr todt sein.«

Der Steinschneider benutzte einen Augenblick, in welchem ihn Niemand von den Seinigen ansah, und ging vorsichtig hinaus.

Der Handelsgerichtsdiener wartete draußen auf einem kleinen Vorsaale, dessen Decke ebenfalls das Dach bildete.

Auf diesen Vorsaal ging auch die Türe zu einem in welchem Pipelet seinen Ledervorrath hatte, er würdige Hausmann (Portier) nannte diese Bodenkammer, wie bereits erwähnt, seine Theaterloge, weil er durch ein Loch in der Rand in das Stübchen Familie Morel hineinsehen und so Zeuge mancher trauriger Auftritte dort sein konnte. Der Gerichtsdiener bemerkte diese Türe und glaubte einen Augenblick, sein Gefangener habe vielleicht auf diesen Ausgang gerechnet, um zu entfliehen oder sich zu verbergen.

»Nun vorwärts!« sagte er, indem er auf die erste Stufe trat und dem Steinschneider winkte, ihm zu folgen —

»Nur noch eine Minute, aus Barmherzigkeit!« sagte Morel.

Er kniete nieder und warf durch eine Ritze in der Türe einen letzten Blick auf seine Familie, faltete die Hände und sprach ganz leise unter heißen Thränen und mit herzzerreißender Stimme vor sich hin: »Lebt wohl, meine armen Kinder! Lebe wohl, meine arme Frau! Lebt wohl!«

»Wird's nun bald?« fiel Bourdin brutal ein.

Morel stand auf und wollte dem Gerichtsdiener folgen, als man auf der Treppe rufen hörte:

»Vater! Vater!«

»Louise!« rief der Steinschneider, indem er die Hände zum Himmel emporhob, »ich werde sie also noch einmal sehen und umarmen können!«

»Gott sei Dank, ich komme noch zu rechter Zeit«, sprach die Stimme unten, und man hörte das Mädchen rasch die Treppe heraufsteigen.

»Beruhigen Sie sich, armes Kind«, sagte eine dritte rauhe keuchende Stimme, die von weiter unten heraufklang, »ich stelle mich, wenn es sein muß, in der Flur unten auf, mit meinem Alten, und die Kerle sollen nicht eher hinaus, bis Sie mit ihnen gesprochen haben.«

Man hat ohne Zweifel die Frau Pipelet erkannt, die minder rasch auf den Beinen war als Louise und derselben langsam folgte.

Einige Minuten nachher lag Louise in den Armen ihres Vaters.

»Du bist es, Louise, meine gute Louise!« rief Morel unter Thränen aus. »Aber wie blaß Du aussiehst. Mein Gott, was fehlt Dir?«

»Nichts —, nichts —«, antwortete Louise stammelnd. — »Ich bin so schnell gelaufen. — Hier ist das Geld —«

»Was?«

»Du bist frei.«

»Du wußtest also?«

»Ja, ja. — Nehmen Sie, meine Herrn, hier ist das Geld«, sagte das Mädchen, indem sie Malicorne eine Rolle mit Goldstücken gab.

»Aber das Geld, Louise, das Geld?!«

»Du sollst alles erfahren, jetzt nur sei ruhig. — Geh und beruhige meine Mutter.«

»Nein —, sogleich«, sprach Morel, indem er sich vor die Türe stellte. — Er dachte an den Tod seines Kindes, von dem Louise noch nichts wußte. — »Warte, — ich muß erst mit Dir reden. — Aber das Geld, das Geld?«

»Nur eine Minute!« sagte Malicorne, indem er die Goldstücke überzählte und einsteckte. »Vierundsechzig, fünfundsechzig; — das macht dreizehnhundert Francs. — Haben Sie nur das?«

»Du bist ja nur dreizehnhundert Francs schuldig, nicht wahr?« sagte Louise bestürzt zu ihrem Vater.

»Ja«, antwortete Morel.

»Richtig«, entgegnete der Gerichtsdiener; »der Wechsel beträgt dreizehnhundert Francs, gut, der ist bezahlt, aber die Kosten? Ohne die Verhaftung betragen sie schon elfhundert und vierzig Francs.«

»Ach, mein Gott, mein Gott!« jammerte Louise; »ich glaubte, es wären nur dreizehnhundert Francs. — Mein guter Herr, — das soll später bezahlt werden; Sie haben doch eine hübsche Abschlagssumme erhalten, nicht wahr, Vater?«

»Später? — Sehr wohl; bringen Sie das Geld in das Gefängnisbüreau und man wird Ihren Vater freilassen. — Vorwärts! Halten Sie uns nicht länger auf.«

»Sie führen ihn fort?«

»Wenn er den Rest bezahlt, wird er frei. Geh voran, Bourdin.«

»Gnade! Gnade!« jammerte Louise.

»Nun geht das Gejammere von neuem an. Man könnte trotz der Kälte dabei schwitzen, auf Ehre!« sagte der Gerichtsdiener. Dann trat er zu Morel und setzte hinzu: »Wenn Sie nicht sogleich gehen, fasse ich Sie am Kragen und werde Sie hinunter transportiren.«

»Ach, mein armer Vater! — Ich glaubte ihn wenigstens gerettet zu haben«, sprach Louise tief betrübt.

»Nein, nein, Gott ist nicht gerecht!« rief der Steinschneider in Verzweiflung aus, indem er außer sich mit dem Fuße stampfte.

»Ja —, Gott ist gerecht; er erbarmt sich immer der rechtschaffenen Leute, die in Noth kommen«, sprach eine kräftige, wohlklingende Stimme.

In demselben Augenblicke erschien Rudolph an der Türe der kleinen Bodenkammer, wo er ungesehen mehrere Auftritte beobachtet hatte, die wir beschrieben haben.

Er war blaß und tief ergriffen.

Die Gerichtsdiener traten bei dieser plötzlichen Erscheinung unwillkührlich zurück. Morel und dessen Tochter sahen den Fürsten erstaunt an.

Rudolph zog aus seiner Westentasche ein kleines Packet zusammengelegter Banknoten, nahm drei davon, reichte sie Malicorne und sagte zu demselben:

»Hier sind 2500 Francs; geben Sie dem Mädchen das Gold zurück, das Sie von ihr erhielten!«

Der sehr verwunderte Gerichtsdiener nahm zögernd die Banknoten, besah sie von allen Seiten und steckte sie endlich ein. In dem Maße aber, wie sein mit Furcht verbundenes Staunen schwand, stellte sich seine gewöhnliche Rohheit und Grobheit wieder ein; er betrachtete Rudolph von dem Kopfe bis zu den Füßen und sagte zu ihm:

»Die Banknoten sind echt, aber wie kommen Sie zu einer so bedeutenden Summe? — Sie wird doch Ihr Eigenthum sein?«

Rudolph war sehr bescheiden gekleidet und in Folge seines Aufenthaltes in der Bodenkammer Pipelet's mit Staub bedeckt.

»Ich habe Dir gesagt, Du sollst das Gold dem jungen Mädchen da zurückgeben«, entgegnete Rudolph kurz und hart.

»Ich habe Dir gesagt! — Warum nennst Du mich Du?« sprach der Gerichtsdiener, indem er drohend an Rudolph trat.

»Gieb das Gold heraus!« wiederholte der Fürst, indem er das Handgelenk Malicorne's faßte und so stark drückte, daß dieser unter dem gewaltigen Griffe zusammensank und sprach: »Sie thun mir weh, lassen Sie los!«

»Gieb das Gold heraus« Du bist bezahlt, und pack' Dich von dannen, ohne ein Wort zu sagen, oder ich werfe Dich die Treppe hinunter.«

»Nur gemach! Nur gemach! Da ist das Gold«, sagte Malicorne. indem er Louisen die Geldstücke überreichte, »aber nennen Sie mich nicht Du und mißhandeln Sie mich nicht. — Weil Sie stärker sind als ich, so —«

»Ja, wer sind Sie, daß Sie hier so auftreten?« fragte Bourdin hinter seinem Kameraden hervor; »wer sind Sie?«

»Wer er ist, Du Narr? Mein Miethsmann ist es, mein allerbester Miethsmann, Ihr groben Kerle!« rief die Frau Pipelet, die jetzt ganz athemlos herbeikam und auch diesmal ihre blonde Perücke a la Titus trug. Sie hatte in der Hand einen Topf mit rauchender Suppe, die sie den Morels bringen wollte —

»Was will die alte Hexe?« fiel Bourdin ein.

»Wenn Ihr mich antastet, kratze ich Euch die Augen aus«, rief die Frau Pipelet, »und mein Miethsmann, mein bester Miethsmann wird Euch die Treppe hinunter spediren, wie er es gesagt hat; dann kehre ich Euch mit dem Besen hinaus wie Unrath, der Ihr seid.«

»Die Alte ist im Stande, das ganze Haus gegen uns in Aufruhr zu bringen. — Wir sind bezahlt, wir haben auch die Kosten erhalten, wollen also gehen«, sagte Bourdin zu Malicorne.

»Da sind Ihre Papiere«, sprach dieser zu Morel, indem er ihm ein Actenheft vor die Fuße warf.

»Willst Du sie sogleich aufheben! Man bezahlt Dich, damit Du redlich und höflich bist«, sagte Rudolph, indem er den Gerichtsdiener mit einer Hand zurückhielt und mit der andern auf die Papiere wies.

Der Gerichtsdiener, der bei diesem zweiten fürchterlichen Griffe wohl fühlte, daß er mit einem solchen Gegner sich nicht messen könnte, bückte sich murrend, hob das Heft auf und übergab es Morel, der es maschinenmäßig nahm.

Es war ihm als träume er.

»Wenn Sie auch eine Eisenfaust haben, so sehen Sie sich doch vor, daß Sie nicht einmal unter unsere Hände gerathen«, sagte Malicorne.

Nachdem er dabei die Faust gegen Rudolph geballt hatte, eilte er mit seinem Kameraden rasch die Treppe hinunter.

Die Frau Pipelet schickte sich an, Rudolph wegen der Drohungen des Gerichtsdieners zu rächen; sie sah begeistert ihren Suppentopf an und rief mit Heldenkühnheit aus:

»Die Schulden Morel's sind bezahlt, — sie werden sich selbst etwas zu essen kaufen können und brauchen meine Suppe nicht. Aufgepaßt unten!«

Dabei bog sich die Alte über die Treppenlehne und goß den Inhalt ihres Topfes den beiden Gerichtsdienern, welche eben die erste Treppe erreicht hatten, auf den Rücken.

»Tausend Millionen Donnerwetter!« schrie Malicorne; »wollt Ihr da oben aufpassen!«

»Alfred!« rief dagegen Madame Pipelet aus vollem Halse hinunter: »Alfred! Alter, gieb den Beiden etwas auf den Kopf! Sie erlaubten sich unanständige Bemerkungen gegen Deine Frau. Nimm den Besen! Schlag zu! Schlag zu!«

Und in ihrem Eifer warf sie den Gerichtsdienern auch den Topf nach, der mit entsetzlichem Getöse auf der Treppe zerbrach, als die Verfolgten eben die letzten Stufen erreicht hatten.

Während die Frau Pipelet die Gerichtsdiener mit Schimpfreden und Hohn verfolgte, war Morel vor Rudolph auf die Knie gesunken.

»Ach, lieber Herr, Sie retten uns das Leben! Wem verdanken wir diese unverhoffte Hilfe?«

»Gott! Er erbarmt sich, wie Sie sehen, der Rechtschaffenen.«

 

 

III. Die Lachtaube.

Louise, die Tochter des Steinschneiders, war ausfallend schön, groß und schlank und glich der Juno der Alten in der Regelmäßigkeit der ernsten Züge, wie der Jägerin Diana in der Zierlichkeit der hohen Gestalt. Trotz der gebräunten Gesichtsfarbe, trotz den durch schwere Arbeiten hartgewordenen und hochgerötheten Händen, trotz dem einfachen Anzuge hatte das Mädchen etwas Hohes und Edles an sich, das der Handwerker in seinem Vaterstolze etwas Prinzessinnenartiges nannte.

Wir wollen es nicht versuchen, den Dank und das freudige Staunen der Familie zu schildern, die so plötzlich einem entsetzliche Schicksale entrissen war. Einen Augenblick wurde in diesem Freudenrausche selbst der Tod des Kindes vergessen.

Nur Rudolph bemerkte die Ungewöhnliche Blässe Louisens und die düstere Trauer, aus der sie sich trotz der Befreiung ihres Vaters nicht herausreißen zu können schien.

Ilm die Familie über ihre Zukunft vollständig zu beruhigen und eine Freigebigkeit zu rechtfertigen, die sein Incognito gefährden konnte, sagte Rudolph zu dem Steinschneider, den er auf den Vorsaal zog, während Mamsell Lachtaube Louise auf den Tod ihrer kleinen Schwester vorbereitete:

»Gestern früh war eine junge Dame hier bei Ihnen?«

»Ja, Herr, und sie schien mit Schmerz den Zustand zu sehen, in dem wir uns befinden.«

»Nächst Gott haben Sie ihr zu danken, nicht mir —«

»Es wäre also wahr? Diese junge Dame —«

»Ist Ihre Wohlthäterin. — Ich habe oft Waaren zu ihr getragen; vorgestern, als ich hier im Hause ein Zimmer miethete, erfuhr ich durch die Portiersfrau Ihre grausame Lage und da mir der wohlthätige Sinn jener Dame bekannt war, so ging ich zu ihr; gestern war sie hier, um sich selbst von der Größe Ihrer Armut zu überzeugen; sie wurde schmerzlich davon ergriffen, und da diese Noth nicht die Folge eines schlechten Lebenswandels sein kann, so hat sie mich beauftragt, selbst und sobald als möglich Erkundigungen über Sie einzuziehen, weil sie nach Ihrer Rechtschaffenheit ihre Wohlthaten bemessen wollte —«

»Die gütige, vortreffliche Dame! Ich hatte wohl Recht, als ich sagte —«

»Als Sie zu Magdalenen sagten: wenn es die Reichen nur wüßten! nicht wahr?«

»Sie kennen den Namen meiner Frau? Wer hat Ihnen gesagt, daß —«

»Seit diesem Morgen sechs Uhr«, unterbrach Rudolph Morel, »war ich in der Bodenkammer neben Ihrer Stube versteckt.«

»Sie? — Herr!«

»Ich habe alles gehört, alles, Sie ehrlicher vortrefflicher Mann!«

»Mein Gott, warum waren Sie da?«

»Ich konnte nirgends besser Auskunft erhalten als von Ihnen selbst; ich wollte, Ihnen unbewußt, Alles sehen und hören. — Der Portier hatte von dieser Kammer gesprochen als er mir anbot, sie mir als Holzplatz zu vermiethen. — Diesen Morgen verlangte ich sie zu sehen, ich bin eine Stunde dageblieben und konnte mich überzeugen, daß es keinen rechtlichern, edlern und muthiger ergebenen Charakter giebt als den Ihrigen.«

»Du lieber Gott, das ist kein großes Verdienst; ich bin so geboren und könnte nicht anders handeln.«

»Ich weiß es wohl, auch lobe ich Sie nicht, aber ich schätze Sie. — Ich wollte eben aus der Kammer heraustreten, um Sie von den Gerichtsdienern zu befreien, als ich die Stimme Ihrer Tochter hörte, der ich das Vergnügen lassen wollte, Sie zu retten. Lider entzog der armen Louise die Habsucht der Gerichtsdiener diese Freude, und ich trat nun erst hervor. Ich hatte gestern einige Summen eingezogen, die man mir schuldig war, und konnte also Ihrer Wohlthäterin einen Vorschuß leisten, indem ich Ihre unglückliche Schuld bezahlte. Aber Ihr Unglück ist so groß gewesen, Sie haben es auf so würdige Weise ertragen, daß die Theilnahme, die man Ihnen schenkt und die Sie verdienen, dabei nicht stehen bleiben wird. Ich kann Ihnen im Namen Ihres rettenden Engels eine friedliche glückliche Zukunft verbürgen —«

»Wäre es möglich? Aber ihren Namen nennen Sie mir wenigstens, guter Herr, den Namen dieses Engels vom Himmel, des rettenden Engels, wie Sie die Dame nennen!«

»Ja, ein Engel ist sie, — und Sie hatten ganz Recht, als Sie sagten, Große und Kleine, Vornehme und Geringe Hätten ihre Noth —«

»Die Dame ist auch unglücklich?«

»Wer hätte nicht seinen Kummer? — Aber ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen ihren Namen verschweigen sollte. Die Dame heißt —«

Rudolph bedachte jedoch, daß die Frau Pipelet recht wohl wußte, die Frau von Harville sei in das Haus nur gekommen, um nach dem »Commamanten« zu fragen, fürchtete das indiscrete Geschwätz der Portiersfrau und fuhr nach einer kurzen Pause fort:

»Ich werde Ihnen den Namen der Dame — unter einer Bedingung nennen.«

»Sprechen Sie, guter Herr, sprechen Sie.«

»Unter der Bedingung, daß Sie den Namen gegen Niemanden, hören Sie? gegen Niemanden nennen —«

»Ich schwöre es Ihnen. — Kann ich aber ihr, der Vorsehung der Armen, nicht wenigstens danken?«

»Ich werde die Frau von Harville fragen und zweifele nicht, daß sie einwilliget —«

»Die Dame heißt —?«

»Marquise von Harville.«

»Ich werde diesen Namen nie vergessen; sie soll meine Heilige sein, zu der ich bete. — Wenn ich bedenke, daß durch sie meine Frau und meine Kinder gerettet sind ...! — gerettet! nein, nicht alle, nicht alle, die arme kleine Adele werden wir nicht wiedersehen. — Ach Du lieber Gott, wir würden sie freilich doch einmal verloren haben, — sie war nicht zu retten —«

Und der Steinschneider trocknete die Augen.

»Was die Bestattung des armen Kindes betrifft, so hören Sie mich an. — Ich bewohne mein Zimmer noch nicht; es ist groß, gesund und duftig; es steht bereits ein Bett darin und man könnte alles Nöthige dahin bringen, damit Sie und ihre Familie vor der Hand dort wohnten, bis es der Frau von Harville gelungen ist, Ihnen eine passende Wohnung zu verschaffen. — Die Leiche Ihres Kindes bliebe dann hier in, der Stube, wo in der Nacht, wie es sich geziemt, ein Geistlicher bei ihr wacht und betet. Ich werde den Herrn Pipelet bitten, die Besorgung dieser traurigen Angelegenheit zu übernehmen.«

»Aber Sie Ihres Zimmers zu berauben! Nein, nein. — Jetzt, da wir ruhig sind, da ich nicht mehr fürchte, in das Gefängnis gebracht zu werden, werden wir unsere kleine Wohnung für einen wahren Palast ansehen, besonders wenn meine arme Louise bei uns bleibt und wie sonst für Alles sorgt.«

»Ihre Louise soll Sie nicht mehr verlassen. — Sie sagten, es würde Ihre größte Freude sein, sie immer in Ihrer Nähe zu haben. — Es soll nicht bloß Ihre Freude, es soll Ihr Lohn sein.«

»Ach, Herr, ist es nur möglich? Es kommt mir alles wie ein Traum vor. — Ich bin nie sehr fromm gewesen, aber ein solcher Vorfall, eine solche unerwartete Hilfe könnte Einen zu dem Glauben bringen ...«

»Glauben Sie immer,— was wagen Sie dabei?«

»Sie haben Recht«, antwortete Morel, »was wagt man dabei?«

»Wenn der Schmerz eines Vaters Entschädigungen anerkennen könnte, würde ich Ihnen sagen, daß Sie zwar eine Tochter verloren, eine andere aber wiedergefunden haben.«

»Sie haben Recht, guter Herr. — Wir haben nun unsere Louise —«

»Sie nehmen mein Zimmer an, nicht wahr? Wie sollte sonst die Wache bei der Todten möglich sein«? Denken Sie an Ihre Frau, deren Kopf schon so schwach ist —; wollten Sie ihr vierundzwanzig Stunden lang ein so trauriges Schauspiel vor die Augen stellen?«

»Sie denken an Alles, an Alles! Wie gütig Sie sind!«

»Sie haben Ihrem wohlthätigen Engel zu danken.

— Ich sage Ihnen nur, was sie sagen würde und sie wird gewiß Alles billigen.— Sie nehmen also an, die Sache ist abgemacht. Jetzt sagen Sie mir, dieser Jacob Ferrand —?«

Eine finstere Wolke zog über die Stirn Morel's.

»Dieser Jacob Ferrand«, fuhr Rudolph fort, »ist der Notar Jacob Ferrand, welcher in der rue du sentier wohnt?«

»Ja, Herr. — Kennen Sie ihn?« Dann fuhr Morel fort, indem von Neuem seine Besorgnisse wegen Louise aufstiegen:

»Da Sie mich gehört haben, guter Herr, so sagen Sie, — sagen Sie —, habe ich wohl ein Recht, gegen diesen Mann aufgebracht zu sein? Und wer weiß, ob meine Tochter, meine Louise —«

Er konnte nicht vollenden und schlug die Hände über das Gesicht.

Rudolph errieth seine Besorgnisse.

»Gerade dieser äußerste Schritt des Notars«, sagte er zu Morel, »muß Sie beruhigen; er ließ Sie ohne Zweifel verhaften, um sich zu rächen, weil Ihre Tochter seine Anträge abgewiesen; übrigens habe ich alle Ursache zu glauben, daß er ein unredlicher Mann ist.

— Wenn dies wirklich so ist«, setzte Rudolph nach einer kurzen Pause hinzu, »so rechnen Sie auf die Vorsehung, sie wird ihn strafen —«

»Er ist sehr reich und ein Heuchler.«

»Sie waren sehr arm und verzweifelten. c Hat die Vorsehung Sie verlassen?«

»Ach nein, Herr. Glauben Sie nicht, daß ich das aus Undankbarkeit sage.«

»Ein rettender Engel ist Ihnen erschienen, und ein unerbittlicher Rächer wird vielleicht den Notar erfassen, — wenn er schuldig ist.«

In diesem Augenblicke kam Mamsell Lachtaube aus dem Stübchen heraus und wischte die Augen ab.

Rudolph sagte zu dem Mädchen:

»Nicht wahr, schöne Nachbarin, Herr Morel wird wohlthun, wenn er mit seiner Familie mein Zimmer bezieht, bis sein Wohlthäter, in dessen Namen ich handle, eine anständige Wohnung für ihn gefunden hat?«

Das Mädchen sah Rudolph verwundert an.

»Sie wollten so edel sein, mein Herr?«

»Ja, aber unter einer Bedingung, die von Ihnen abhängt, schöne Nachbarin—«

»Alles, was von mir abhängt, werde ich —«

»Ich habe einige sehr dringende Rechnungen für meinen Prinzipal in Ordnung zu bringen, man wird sie bald abholen lassen, — meine Papiere liegen unten — Werden Sie, als gute Nachbarin, mir erlauben, diese Arbeit bei Ihnen, an einer Ecke Ihres Tisches, zu verrichten, während Sie auch arbeiten? Ich würde Sie nicht stören und die Familie Morel könnte sogleich, mit Hilfe Pipelet's und seiner Frau, bei mir einziehen —«

»Wenn es weiter nichts ist, herzlich gern; Nachdem, was Sie für den guten Morel thun, ein schönes Beispiel. — Zu Ihrem Befehl, mein Herr!«

»Nennen Sie mich »Nachbar«, sonst ist es mir nicht wohl und ich könnte Ihr Anerbieten nicht annehmen«, antwortete Rudolph lächelnd.

»Darauf soll es mir nicht ankommen! Und ich kann Sie ja auch Nachbar nennen, da sie es sind.«

»Vater, die Mutter ruft, komm! komm!« sagte einer der Knaben, der aus dem Stübchen herauskam.

»Gehen Sie, lieber Herr Morel. — Wenn unten Alles bereit ist, wird man es Ihnen anzeigen.«

Der Steinschneider ging schnell in das Stübchen hinein.

»Nun, schöne Nachbarin«, sagte Rudolph, »Sie müssen mir noch eine Gefälligkeit erzeigen.«

»Von ganzem Herzen gern, wenn es mir möglich ist, Herr Nachbar.«

»Sie sind, ich weiß es, eine vortreffliche gute Wirtin und es ist nöthig, für die Familie Morel sogleich das zu kaufen, was sie an Kleidungsstücken, Betten ec. in meinem Zimmer braucht, wo sich erst mein Junggesellenmobiliar befindet, das nicht viel ist und das man gestern gebracht hat. Wie fangen wir es an, um das herbeizuschaffen, was ich für die Morels wünsche?«

Das Mädchen dachte einen Augenblick nach, dann antwortete sie:

»Binnen zwei Stunden können Sie Alles haben, gute fertige warme propere Kleidungsstücke, gute weiße Wäsche für die ganze Familie, zwei kleine Betten für die Kinder, eins für die Großmutter, kurz Alles, was nöthig ist, aber das wird viel, viel Geld kosten.«

»Wieviel wohl?«

»Wenigstens, — wenigstens fünf- bis sechshundert Francs.«

»Für Alles?«

»Ja. — Sie sehen, es ist viel Geld«, sagte das Mädchen, die große Augen machte und den Kopf schüttelte.

»Und wir könnten Alles bekommen?«

»Binnen zwei Stunden.«

»Sie sind ja wahrhaftig eine Fee, schöne Nachbarin!«

»Ach nein, es ist ganz einfach. — Der »Temple« ist hier ganz in der Nähe und dort findet man Alles, was man braucht.«

»Der Temple?«

»Ja, der Temple.«

»Was ist das?«

»Sie kennen den Temple nicht, Nachbar?«

»Nein, Nachbarin.«

»Dort kaufen sich aber doch alle Leute wie Sie und ich, wenn sie sparsam sind, die Meubles, Kleider und Alles. Es ist dort viel billiger und ganz gut —«

»Wahrhaftig?«

»Das glaube ich. — Wieviel haben Sie z. B. für Ihren Rock da gegeben?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen —«

»Was, Nachbar? Sie wissen nicht, was Sie Ihr Rock kostet?«

»Ich will es Ihnen in Vertrauen gestehen, schöne Nachbarin«, antwortete Rudolph lächelnd, »ich habe ihn noch nicht bezahlt. — Sie sehen daraus, daß ich nicht wissen kann ...«

»Herr Nachbar, Herr Nachbar, es kommt mir vor, als hielten Sie nicht eben sehr auf Ordnung!«

Ach nein, schöne Nachbarin.«

»Das muß anders werden, wenn wir Freunde werden sollen, und ich sehe es, wir werden Freunde werden, Sie haben ein so gutmüthiges Gesicht! und Sie sollen es nicht bereuen, mich zur Nachbarin zu haben. — Sie helfen mir, ich helfe Ihnen, wie es Nachbarn geziemt. — Ich werde für Ihre Wäsche sorgen und Sie helfen mir mein Stübchen bohnen. — Ich stehe sehr früh auf und werde Sie wecken, damit Sie nicht zu spät in Ihr Geschäft kommen.— Ich klopfe solange an die Wand, bis Sie rufen: guten Morgen, Nachbarin!«

»Schön! vortrefflich! Sie wecken mich, Sie sorgen für meine Wäsche und ich bohne Ihr Zimmerchen.«

»Und Sie werden ordentlich?«

»Gewiß.«

»Und gehen in den Temple, wenn Sie etwas zu kaufen haben? Denn sehen Sie, Ihr Rock da kostet Ihnen vielleicht achtzig Frcs., im Temple bekommen Sie ihn für dreißig.«

»Das ist ja wunderbar! Sie glauben also, daß wir mit fünf- bis sechshundert Frcs. für die armen Morels —«

»Damit könnten sie gänzlich, sehr gut und für eine lange Zeit ausgestattet werden.«

»Eine Idee, liebe Nachbarin!«

»Lassen Sie Ihre Idee sehen, Herr Nachbar!«

»Sie verstehen sich auf Wirtschaftsgegenstände?«

Ja, — ein wenig«, antwortete das Mädchen mit einiger Eitelkeit.

»Nehmen Sie meinen Arm, wir wollen in den Temple gehen und eine Ausstattung für die Morels kaufen: ja?«

»Welches Glück! Die armen Leute! Aber das Geld?«

»Ich habe Geld.«

»Fünfhundert Francs?«

»Der Wohlthäter der Familie Morel hat mir Vollmacht gegeben, er wird nichts schonen, bis die braven Leute sich wohl befinden. Wenn man irgendwo bessere Sachen bekommt als im Temple —«

»Nirgends findet man etwas Besseres und Alles ist gleich fix und fertig; kleine Kuttchen für die Kinder, Kleider für die Mutter —«

»So wollen wir in den Temple gehen, liebe Nachbarin.«

»Ach mein Gott! — aber ...«

»Nun was denn?«

»Nichts, — nur —, sehen Sie, meine Zeit ist Alles, was ich habe: ich habe schon etwas versäumt, weil ich oft zu Morels gegangen bin und Sie werden einsehen, eine Stunde hier, eine Stunde da, bald macht es einen ganzen Tag und ein Tag das sind dreißig Sous: wenn man aber auch einen Tag nichts verdient, leben muß man doch. Aber — gleichviel! — ich arbeite in der Nacht etwas länger, die Lustpartien sind so selten und der heutige Ausgang macht mir große Freude, — es ist mir, als wäre ich reich, reich, sehr reich und als kaufte ich alle die schönen Sachen für die armen Morels mit meinem Gelde. Ich nehme nur rasch den Shawl um, setze ein Häubchen auf und stehe zu Diensten, Herr Nachbar!«

»Erlauben Sie, daß ich, da Sie so bald fertig sind, meine Papiere unterdeß zu Ihnen bringe?«

»Sehr gern, Sie werden da mein Stübchen sehen«, antwortete das Mädchen mit Stolz, »denn ich habe schon aufgeräumt, was Ihnen beweist, daß ich früh aufstehe und daß, wenn Sie ein Langschläfer sind, Sie an mir eine schlimme Nachbarin haben werden.«

Leicht wie ein Vogel flatterte das Mädchen die Treppe hinunter. Rudolph folgte ihr und ging zuerst in sein Zimmer, um sich von dem Staube aus der Bodenkammer Pipelet's zu befreien.

Wir werden später mittheilen, warum Rudolph von der Entführung Mariens noch nicht unterrichtet war, die den Tag vorher stattgefunden hatte.

Wir erinnern ferner den Leser daran, daß Mamsell Lachtaube allein die Wohnung Franz Germain's, des Sohnes der Madame Georges, kannte, und Rudolph viel daran lag, dieses wichtige Geheimnis zu ergründen.

Der Gang nach dem Temple, den er der Grisette vorschlug, sollte ihm ihr Vertrauen gewinnen und zugleich die traurigen Gedanken zerstreuen, welche der Tod des Kindes Morel's in ihm geweckt hatte.

Das Kind, welches Rudolph noch so schmerzlich betrauerte, mußte ungefähr in demselben Alter gestorben sein.

In diesem Alter war Marie wirklich der Eule von der Wirtschafterin des Notars Jacob Ferrand übergeben worden.

Später werden wir berichten, unter welchen Umständen und zu welchem Zwecke.

Rudolph trat mit einer großen Papierrolle in das Stübchen seiner Nachbarin.

IV. Die Lachtaube.

Die Lachtaube war ungefähr in demselben Alter wie die Schallerin, ihre ehemalige Gefängnisgenossin; aber es war ein Unterschied zwischen den beiden jungen Mädchen wie zwischen Lachen und Weinen, zwischen der fröhlichen Sorglosigkeit und dem melancholischen Brüten, zwischen der kühnsten Gleichgültigkeit gegen die Zukunft und einem traurigen fortwährenden Nachdenken über die Zukunft, zwischen einer zarten, vortrefflichen, erhabenen, poetischen, schmerzlich empfindlichen, unheilbar verletzten Natur und einer heitern, lebendigen, glücklichen, beweglichen, prosaischen, sorglosen, obgleich gutmüthigen und mitleidigen; Lachtaube, wie wir das Mädchen noch immer nennen und wie sie allgemein hieß, war weit entfernt, egoistisch zu sein, sie hatte keinen Kummer als über die Noth anderer Leute, an denen sie von Herzen Antheil nahm und für die sie sich bereitwillig aufopferte, die sie aber auch vergaß, sobald sie den Rücken gewendet hatte, wie man im gewöhnlichen Leben sagt. Oft fing sie mitten im Lachen an zu weinen oder hörte plötzlich zu weinen auf, um hell zu lachen.