Die Geheimnisse von Paris. Band VI - Eugène Sue - E-Book

Die Geheimnisse von Paris. Band VI E-Book

Eugène Sue

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Beschreibung

Entführung, Mord und Prostitution: Eugène Sues "Die Geheimnisse von Paris" entführt die Leser in die elenden Arbeiterviertel und die Unterwelt von Paris im Jahre 1838. In den schmutzigen Spelunken, wo sich die Verbrecher der Stadt treffen, werden finstere Pläne geschmiedet, während sich in den schicken Salons der adligen Oberschicht familiäre Dramen abspielen, aber um jeden Preis die Fassade gewahrt werden muss. Der Moloch Paris lässt hier mit seiner Enge, seinem Dreck und den allgegenwärtigen Verbrechen die Menschen verrohen. Und mitten in diesem Sumpf der zwielichtigen Gassen des Großstadtdschungels erscheint wie aus dem Nichts ein fremder Retter, der sich den Hilflosen und Entrechteten zur Seite stellt, um das Boshafte zur Rechenschaft zu ziehen. Auf insgesamt knapp 2000 Seiten entfaltet sich ein detailreiches und farbenprächtiges Bild des Pariser Alltags Mitte des 19. Jahrhunderts. Dutzende von Figuren aus unterschiedlichen sozialen Ständen und ihre Geschichten werden mit dem Haupthandlungsfaden des Werkes verwoben. Sue verbindet Elemente des Kriminalromans, des Gesellschaftsromans und des Melodrams und erschafft daraus ein bildgewaltiges Epos einer vergangenen Zeit, das durch sein Rachemotiv und die intriganten Verwicklungen zuweilen an den Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas erinnert, der von Sue inspiriert wurde. Der Abenteuer-Klassiker liegt hier in der ungekürzten Übertragung ins Deutsche von August Diezmann vor. Zeichensetzung und Rechtschreibung der Erstübertragung wurden teilweise dem heutigen Sprachgebrauch angenähert, teilweise beibehalten. Dies ist der Versuch eines Kompromisses zwischen einem Zugeständnis an die Lesegewohnheiten heutiger Leserinnen und Leser sowie der Bewahrung des damaligen Sprachkolorits, welches wesentlich zur Atmosphäre der Geschichte beiträgt. Dieses ist der sechste von sechs Bänden des monumentalen Werkes. Der Umfang des sechsten Bandes entspricht ca. 460 Buchseiten.

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Seitenzahl: 575

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Eugène Sue

 

DIE GEHEIMNISSE VON PARIS

 

 

 

Historischer Roman

in sechs Bänden

 

 

BAND VI

 

 

 

Ungekürzte Ausgabe

in einer

Übersetzung von

 

August Diezmann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Geheimnisse von Paris wurde im französischen Original Les mystères de Paris zuerst veröffentlicht vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 in der Tageszeitung Le Journal des Débats (Paris).

Diese ungekürzte und vollständige Ausgabe in sechs Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

 

Band 6 von 6

www.apebook.de

1. Auflage 2020

Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der Übersetzung von August Diezmann (Otto Wigand Verlag). Zeichensetzung und Rechtschreibung der Erstübertragung wurden teilweise dem heutigen Sprachgebrauch angenähert, teilweise beibehalten. Dies ist der Versuch eines Kompromisses zwischen einem Zugeständnis an die Lesegewohnheiten heutiger Leserinnen und Leser sowie der Bewahrung des damaligen Sprachkolorits, welches wesentlich zur Atmosphäre der Geschichte beiträgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96130-202-4

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, bearbeitet von SKRIPTART.

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2020

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DIE GEHEIMNISSE VON PARIS. Band VI

Impressum

SECHSTER BAND

I. Gringalet und Schneidentzwei.

II. Der Triumph Gringalet's und Gargousse's.

III. Ein unbekannter Freund.

IV. Die Befreiung.

V. Strafe.

VI. Die Armen-Bank.

VII. Die Schuldigen.

VIII. Rudolph und Sarah.

IX. Rache.

X. Furens amoris.

XI. Die Visionen.

XII. Das Hospital.

XIII. Der Besuch.

XIV. Fräulein von Fermont.

XV. Marien-Blume.

XVI. Hoffnung.

XVII. Vater und Tochter.

XVIII. Aufopferung.

XIX. Die Vermählung.

XX. Bicêtre.

XXI. Der Schulmeister.

XXII. Morel, der Steinschneider.

XXIII. Die Toilette.

XXIV. Martial und der Schuri-Mann.

XXV. Der Finger Gottes.

Gerolstein

I. Der Prinz Heinrich von Herkausen-Oldenzaal an den Grafen Maximilian von Kaminetz.

II. Der Prinz Heinrich von Herkausen-Oldenzaal an den Grafen Maximilian von Kaminetz.

III. Der Prinz Heinrich von Herkausen-Oldenzaal an den Grafen Maximilian von Kaminetz.

IV. Die Prinzessin Amalie.

V. Erinnerungen.

VI. Geständnisse.

VII. Das Gelübde.

VIII. Der dreizehnte Januar.

Eine kleine Bitte

Direktlinks zu den einzelnen Bänden

A p e B o o k C l a s s i c s

N e w s l e t t e r

F l a t r a t e

F o l l o w

A p e C l u b

L i n k s

Zu guter Letzt

 

 

 

 

 

 

 

Sechster Band

 

 

 

I. Gringalet und Schneidentzwei.

Ehe wir die Erzählung des Spitzigen mitteilen, müssen wir den Leser daran erinnern, daß die meisten Gefangenen seltsamer Weise und trotz ihrer Verderbtheit fast immer die naiven Erzählungen lieben, in denen, nach den Gesetzen eines unerbittlichen Geschicks, der Unterdrückte nach zahllosen Prüfungen an seinem Tyrannen gerächt wird.

Wir sind weit entfernt, im geringsten die verdorbenen Menschen mit der Masse des ehrlichen armen Volkes vergleichen zu wollen, aber ist es nicht bekannt, mit welchem rasenden Beifalle das Publikum der Boulevard-Theater die Befreiung des Opfers begrüßt, und mit welchen leidenschaftlichen Verwünschungen es den Bösewicht und Verräter verfolgt?

Man spottet gewöhnlich über diese rohen Äußerungen des Mitgefühls für das Gute, Schwache, Verfolgte, und des Widerwillens gegen das Mächtige, Ungerechte, Grausame.

Man tut unserer Meinung nach unrecht.

Ist nicht Alles zu hoffen von einem Volke, dessen guter moralischer Sinn sich so unfehlbar äußert? Von einem Volke, das trotz der Wunderkraft der Kunst nie zugeben würde, daß sich ein dramatisches Werk mit dem Triumphe des Bösewichtes und der Unterdrückung des Gerechten endigte?

Diese verlachte, verspottete, verachtete Tatsache erscheint uns sehr beachtenswert wegen der Tendenzen, die sie dartut und die sich selbst häufig, wir wiederholen es, unter den verworfensten Menschen finden, sobald sie gleichsam ruhen und nicht durch Not oder Verführung zu neuen Verbrechen getrieben werden.

Sollte man nicht glauben, weil selbst im Verbrechen verhärtete Menschen bisweilen noch an der Erzählung und dem Ausdrucke edler Gefühle innigen Anteil nehmen, daß in allen Menschen, mehr oder weniger, die Liebe zum Schönen, zum Guten, zum Gerechten liege, daß aber die Armut und die Verdummung diese göttlichen Instinkte ersticken und so die erste Ursache der menschlichen Entartung werden?

Ist es nicht offenbar, daß der Mensch meist nur schlecht wird, weil er unglücklich ist, und daß man ihm die Tugend möglich macht, wenn man ihn den schrecklichen Versuchungen der Not entreißt, indem man seinen materiellen Zustand auf billige Weise verbessert?

*

Der Eindruck, welchen die Erzählung des Spitzigen hervorbrachte, wird hoffentlich einige der oben ausgesprochenen Ideen deutlich machen.

Der Spitzige begann also seine Erzählung bei der tiefsten Stille der Zuhörer mit folgenden Worten:

»Die Geschichte, welche ich der ehrenwerten Gesellschaft erzählen will, ist in einer schon lange vergangenen Zeit geschehen. Das sogenannte Klein-Polen war noch nicht zerstört. Die ehrenwerte Gesellschaft weiß ohne Zweifel, was Klein-Polen war?«

— »Allerdings«, antwortete der Gefangene mit der blauen Mütze und der grauen Blouse, »es waren Häuschen an der Straße du Rocher und der Pepinière.«

»Richtig, mein Sohn«, fuhr der Spitzige fort, »und die Cité, die doch bekanntlich keineswegs aus Palästen besteht, würde gegen jenes Klein-Polen immer noch eine Straße Rivoli sein; aber für unsere Leute war es ein famoser Platz; Straßen kannte man da nicht, sondern nur Gäßchen, Häuser auch nicht, sondern Hütten; ebensowenig hatte man dort Pflaster, sondern einen weichen Teppich von Kot und Mist, so daß ein Wagen keinen Lärm gemacht haben würde, wenn einer durchgefahren wäre; es kam aber keiner dahin. Von früh bis zum Abend, besonders aber vom Abend bis zum Morgen hörte man den Ruf: »zu Hilfe! Mörder! Diebe! Wache!« Aber die Wache rührte sich nicht. Je mehr Leute in Klein-Polen erschlagen wurden, um so weniger gab es zu arretiren.

»Es wimmelte und krabbelte von Menschen dort; Ihr hättet das sehen sollen; freilich wohnten wenige Juweliere, Goldschmiede und Bankiers da, aber desto mehr Leierkastenmänner, Bajazzos, Polichinells, Bären- und Affenführer. Unter den letztern nun gab es einen, den man Schneidentzwei nannte, so schlecht war er, besonders gegen die Kinder. Man nannte ihn Schneidentzwei, weil er mit einem Beilhiebe einen kleinen Savoyarden mitten durch gehauen haben sollte.«

Bei dieser Stelle der Erzählung des Spitzigen schlug es ein Viertel, auf vier Uhr. Da die Gefangenen sich um vier Uhr in ihre Schlafsäle begeben, so mußte das Verbrechen des Skeletts vor dieser Zeit vollbracht werden.

— »Tausend Donnerwetter! Der Aufseher geht nicht fort«, sagte der Bandit leise zu dem dicken. Lahmen.

— »Sei nur ruhig; ist einmal die Geschichte im Zuge, so wird er sich schon drücken —«

Der Spitzige fuhr fort:

»Woher Schneidentzwei gekommen, wußte Niemand; »Einige sagten, er sei ein Italiener, Andere nannten ihn einen Zigeuner, einen Türken, einen Afrikaner. Die guten Frauen sahen in ihm einen Hexenmeister, obgleich ein Hexenmeister in dieser Zeit eine närrische Rolle gespielt haben würde. Ich für meinen Teil möchte aber doch den Frauen beistimmen, und zwar deshalb, weil er immer einen großen roten Affen bei sich hatte, der Gargousse hieß und so bösartig war, daß man hätte sagen können, er habe den Teufel im Leibe gehabt. — Ich werde gleich mehr von diesem Gargousse erzählen. Jetzt will ich Euch den Schneidentzwei beschreiben; er hatte eine Farbe wie Stiefelstolpen, rote Haare wie sein Affe, grüne Augen und eine schwarze Zunge, weshalb ich ihn denn auch wie die guten Hausfrauen für einen Hexenmeister halte.«

— »Eine schwarze Zunge?« fragte Barbillon.

— »Schwarz wie Tinte«, antwortete der Spitzige.

— »Warum?«

»Weil seine Mutter während ihrer Schwangerschaft wahrscheinlich von einem Neger gesprochen hatte«, entgegnete der Spitzige mit bescheidener Bestimmtheit. »Mit diesen Vorzügen verband nun Schneidentzwei das Gewerbe, ich weiß nicht wie viele Schildkröten, Affen, Meerschweinchen, weiße Mäuse, Füchse und Murmeltiere zu halten, die einer gleichen Anzahl von kleinen Savoyarden oder verlassenen Kindern entsprachen.

»Alle Morgen gab Schneidentzwei einem Jeden sein Vieh und ein Stück schwarzes Brot und nun fort — zum Betteln. Diejenigen, welche Abends nicht wenigstens funfzehn Sous brachten, wurden geprügelt, wie geprügelt! Im Anfange hörte man die Kinder von einem Ende Klein-Polens bis zum andern schreien.

»Ich muß nun auch erwähnen, daß in Klein-Polen ein Mann lebte, den man den Alten nannte, weil er der älteste dort und gleichsam der Maire, der Vorsteher, der Friedens- oder vielmehr Streitrichter war, denn zu ihm ging man (er war Weinschenke und Garkoch), wenn man auf keine andere Weise fertig werden konnte. Obgleich nun der Alte sehr alt war, so war er doch stark wie Hercules und sehr gefürchtet. Man schwur in Klein-Polen nur bei ihm. Sagte er: es ist gut, so sagten alle Andern auch: es ist gut; sagte er, das ist schlecht, so sagten die Andern alle ebenfalls: das ist schlecht. Übrigens war er im Grunde ein guter Mann, aber ein schreckbarer, wenn z. B. starke Leute Schwächere maltraitirten, so konnten sie sich nur vor ihm in Acht nehmen.

»Da der Alte der Nachbar Schneidentzwei's war, so hatte er im Anfange die Kinder schreien hören wegen der Schläge, die sie von dem Tierbesitzer erhielten. Gleich dachte er bei sich: wenn ich die Kinder noch einmal schreien höre, so soll das Schreien an Dich kommen, und da Du eine stärkere Stimme hast, so werde ich auch stärker ausklopfen.«

— »Ein prächtiger Kerl, der Alte; er gefällt mir«, sagte der Gefangene mit der blauen Mütze.

— »Mir auch«, setzte der Aufseher hinzu, der näher an die Gruppe trat.

Das Skelett konnte eine Bewegung der Ungeduld nicht unterdrücken.

Der Spitzige fuhr fort:

»Des Alten wegen, welcher Schneidentzwei gedroht hatte, hörte man die Kinder nicht mehr in der Nacht in Klein-Polen schreien, aber die armen Kleinen hatten es deshalb nicht besser, denn sie schrien, wenn sie ihr Herr schlug, bloß deshalb nicht, weil sie noch mehr geschlagen zu werden fürchteten. Daß sie sich bei dem Alten hätten beschweren können, fiel ihnen gar nicht ein.

»Für die fünfzehn Sous, die jeder der Kleinen Abends bringen mußte, erhielten sie von Schneidentzwei Wohnung, Kost und Kleidung.

»Abends ein Stück schwarzes Brot, wie zum Frühstück, — das war die Kost; Kleidungsstücke gab er ihnen gar nicht, — das war die Kleidung, und Abends sperrte er sie mit dem Viehe zusammen in einer Dachkammer ein, zu der man auf einer Leiter hinaufsteigen mußte, — das war die Wohnung. Waren die Tiere und die Kinder zusammen oben auf dem Stroh, so zog er die Leiter zurück und schloß die Falltüre zu.

»Ihr könnt Euch das Leben und den Lärm denken, den diese Affen, Meerschweinchen, Füchse, Mäuse, Schildkröten, Murmeltiere und Kinder ohne Licht in der Kammer verführten, die so klein war, daß sie sich kaum rühren konnten. Schneidentzwei schlief in einer Kammer darunter und hatte seinen großen Affen Gargousse bei sich, der an seinem Bette angebunden war. Wenn es oben gar zu arg rumorte und schrie, stand Schneidentzwei ohne Licht auf, nahm eine große Peitsche, stieg auf die Leiter hinauf, öffnete die Falltüre und schlug im Finstern mit der Peitsche unter den krabbelnden Haufen von Kindern und Vieh.

»Da er immer vierzehn, fünfzehn Kinder hatte und einige der unschuldigen Würmer ihm bisweilen bis zwanzig Sous brachten, so blieben dem Schneidentzwei nach Abzug der Kosten, die nicht groß waren, vier Francs oder hundert Sous täglich übrig. Das vertrank er und einmal des Tages wenigstens war er total schwarz. — Das war seine Lebensweise und er sagte, er müsse so leben, sonst litte er den ganzen Tag an Kopfschmerzen. Von dem Gelde kaufte er aber auch Schöpsherzen für Gargousse, denn sein großer Affe fraß rohes Fleisch wie ein Wilder.

»Aber ich sehe, die ehrenwerte Gesellschaft möchte auch etwas von Gringalet hören; also, meine Herrn —«

»Ja, Gringalet, dann gehe ich, und esse meine Suppe«, sagte der Aufseher.

»Unter den Kindern, die Schneidentzwei mit seinem »Viehe ausschickte«, fuhr der Spitzige fort, »befand sich auch ein armer kleiner Teufel mit Namen Gringalet, der weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwester hatte, und ganz mutterseelenallein in der Welt stand, in die er nicht freiwillig gekommen war, und die er wieder verlassen konnte, ohne daß Jemand darauf geachtet hätte.

»Er war klein, schwächlich, kränklich, daß es einen Stein hätte erbarmen können. Man hätte ihn für sieben oder höchstens acht Jahre alt gehalten, er war aber dreizehn alt. Wenn er nur halb so alt aussah, als er wirklich war, so geschah es nicht aus bösem Willen, — er hatte nur etwa alle zwei Tage einmal gegessen, und da noch so wenig, und so schlecht, so schlecht, daß es wirklich zu verwundern war, wie er noch sieben Jahre alt aussehen konnte.«

— »Der arme Teufel! Es ist mir, als sähe ich ihn vor mir«, fiel der Gefangene mit der blauen Mütze ein. »Und es gibt so viele Kinder der Art — kleine halbverhungerte Würmer —«

— »Sie müssen jung anfangen, um sich daran zu gewöhnen«, entgegnete der Spitzige mit bitterm Lächeln.

— »Mach' weiter — geschwind!« rief das Skelett barsch aus. »Der Herr Aufseher verliert die Geduld, seine Suppe wird kalt.«

— »Das bleibt sich gleich«, entgegnete der Aufseher. »Ich will Gringalet noch etwas genauer kennen lernen; es amüsiert mich.«

»Ja, es ist sehr interessant«, setzte Germain hinzu, der aufmerksam zugehört hatte.

—»Ich danke für Ihre Bemerkung, Herr Kapitalist«, antwortete der Spitzige., »das macht mir noch mehr Vergnügen als Ihre zehn Sous.«

— »Donnerwetter!« schrie das Skelett; »wird's bald werden?«

— »Sogleich«, entgegnete der Spitzige.

»Schneidentzwei hatte eines Tages Gringalet halb verhungert und halb erfroren auf der Straße aufgelesen; er hätte besser getan, wenn er ihn hätte sterben lassen. Da nun Gringalet schwach war, so war er auch furchtsam, und weil er furchtsam war, wurde er von den andern Kindern geneckt, die ihn prügelten und ihm so arg mitspielten, daß er wohl bösartig geworden wäre, wenn es ihm nicht an Mut und Kraft gefehlt hätte.

»Aber nein, wenn er tüchtig geprügelt worden war, weinte er und sagte: »ich habe Niemandem etwas zu Leide getan, und mir tut Jedermann Leids an; das ist nicht recht. — Ach, wenn ich stark und mutig wäre!« Ihr glaubt vielleicht, Gringalet wollte hinzusetzen: so würde ich es den Andern schon entgelten lassen. O, keineswegs, nichts weniger; er sagte: wenn ich stark und mutig wäre, würde ich die Schwachen gegen die Starken verteidigen, denn ich bin schwach und muß von den Starken viel leiden.

»Da er nun aber einmal die Starken nicht hindern konnte, die Schwachen zu quälen, so hinderte er wenigstens, daß die großen Tiere die kleinen fraßen —«

— »Das ist ein drolliger Einfall!« rief der Gefangene in der blauen Mütze dazwischen.

»Noch drolliger ist es«, fuhr der Erzähler fort, »daß dieser Einfall für Gringalet ein Trost wegen der Schläge zu sein schien, die er erhielt. Das beweist gewiß, daß er im Grunde kein schlechtes Herz hatte —

— »Das glaube ich! Im Gegenteil —«, sagte der Aufseher. »Der Spitzige erzählt sehr gut.«

In diesem Augenblicke schlug es halb vier Uhr. Der Henker Germain's und der dicke Lahme wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

Die Zeit rückte vor, der Aufseher ging nicht fort, und einige der Gefangenen, die am wenigsten verhärtet, schienen den schrecklichen Plan des Skeletts gegen Germain fast zu vergessen, so begierig hörten sie der Erzählung des Spitzigen zu.

»Wenn ich sage«, fuhr dieser fort, »Gringalet hinderte die großen Tiere, die kleinen zu fressen, so versteht sich, daß er sich nicht in die Angelegenheiten der Löwen, der Tiger, der Wölfe, noch selbst der Füchse und Affen in der Menagerie Schneidentzwei's mischte; dazu war er zu furchtsam; sobald er aber z. B. eine Spinne in ihrem Neste lauern sah, um eine arme leichtsinnige Fliege zu fangen, die sorglos in der Sonne des lieben Gottes herumflatterte, ohne Jemanden zu belästigen, Plautz! schlug Gringalet mit dem Stocke in das Netz, befreite die Fliege und zermalmte die Spinne wie ein Held, — ja, ja, wie ein Held, denn er wurde weiß wie ein neugewaschnes Hemd, wenn er solch garstiges Vieh angriff; er mußte also allen Mut zusammennehmen, da er sich doch vor einem Maikäfer fürchtete und lange Zeit gebraucht hatte, ehe er sich an die Schildkröte gewöhnte, mit der ihn Schneidentzwei jeden Morgen ausschickte. Auch bewies Gringalet, weil er seine Furcht vor den Spinnen überwand, um die Fliegen zu befreien —«

— »Ebensoviel Courage wie ein Mann, der einen Wolf angreift, um ihm ein Lamm aus den Zähnen zu reißen«, fiel der Gefangene mit der blauen Mütze ein.

— »Oder wie Jemand, der sich an Schneidentzwei gewagt hätte, um ihm Gringalet aus den Klauen zu reißen«, setzte Barbillon hinzu, dessen Aufmerksamkeit durch die Erzählung ebenfalls sehr gefesselt wurde.

»Ihr habt vollkommen Recht«, fuhr der Spitzige fort. »Nach solchen Heldentaten fühlte Gringalet sich nicht mehr so unglücklich. Ob er gleich sonst nie lachte, so lächelte er dann, setzte die Mütze (wenn er eine hatte) auf ein Ohr, und sang die Marseillaise mit Siegermiene. In solchen Augenblicken würde es keine Spinne gewagt haben, ihm in's Gesicht zu sehen.

»Ein anderes Mal fiel ein Heimchen in's Wasser und zappelte vor Angst, zu ertrinken; gleich war Gringalet bei der Hand, griff mutig mit den Fingern in das Wasser, holte das Heimchen heraus und legte es in's sonnige Gras. Ein Schwimmer mit Rettungsmedaillen am Rocke, der den zehnten Verunglückten gerettet, würde nicht stolzer gewesen sein, als es Gringalet war, wenn er das Heimchen wohl und munter davonlaufen sah —

»Das Heimchen gab ihm weder Geld noch eine Medaille, ja es bedankte sich nicht einmal bei ihm, eben so wenig als die Fliege. Aber, Spitziger, wird die ehrenwerte Gesellschaft sagen, welches Vergnügen fand denn Gringalet, der von Jedermann geprügelt wurde, darin, Heimchen zu retten und Spinnen zu tödten? Warum rächte er sich nicht dadurch, daß er so viel Schlimmes Tat, als er nach seinen Kräften thun konnte, z. B. indem er Fliegen von Spinnen fressen oder Heimchen ertrinken ließ oder gar Heimchen selbst ersäufte?«

— »Ja, warum rächte er sich nicht so?« fragte Nicolaus.

— »Was würde ihm dies genützt haben?« warf ein Anderer ein.

— »Er hätte gequält, weil man ihn quälte«, erläuterte ein Dritter.

— »Nein! Ich sehe es ein, warum der kleine arme Kerl gern Fliegen rettete«, sagte der Gefangene mit der blauen Mütze. »Er dachte vielleicht bei sich: wer weiß, ob man mich nicht auch einmal so rettet.«

»Der Camerad hat Recht«, entgegnete der Spitzige, »er hat erraten, was ich der ehrenwerten Gesellschaft eben sagen wollte. — Gringalet war nicht boshaft; auch sah er nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze, aber er dachte bei sich: Schneidentzwei ist meine Spinne, vielleicht tut einmal Jemand für mich, was ich für die armen Brummfliegen tue, — vielleicht zerreißt man ihm sein Netz und befreit mich aus seinen Klauen. — Selbst sich zu retten, davonzulaufen, würde er nicht gewagt haben. Eines Abends aber, als weder er noch seine Schildkröte Glück gehabt und nur drei Sous verdient hatten, prügelte Schneidentzwei den armen Gringalet so sehr, daß er es wahrhaftig nicht mehr aushalten konnte. Er lauerte auf den Augenblick, als die Falltüre offen war, und lief auf der Leiter hinunter, während Schneidentzwei sein Vieh fütterte —«

— »Desto besser!« sagte einer der Gefangenen.

— »Warum beschwerte er sich nicht bei dem Alten?« warf der Mann mit der blauen Mütze ein; »Schneidentzwei würde sein Teil erhalten haben.«

»Das wagte er nicht, er fürchtete sich zu sehr und wollte lieber versuchen, ob er davonlaufen könnte. Leider hatte ihn Schneidentzwei gesehen, packte ihn am Halse und zog ihn wieder in die Bodenkammer hinaus. Gringalet zitterte diesmal am ganzen Körper, wenn er bedachte, was ihn erwarte —

»Ich muß nun von Gargousse, dem großen Lieblingsaffen Schneidentzwei's, etwas sagen. Das boshafte Tier war wahrhaftig größer als der kleine Gringalet. Hört mich an, warum man ihn nicht auch wie die andern Tiere der Menagerie auf der Straße zeigte. Gargousse war so boshaft und so stark, daß unter allen den Knaben nur ein Auvergnat von vierzehn Jahren, ein entschlossener Bursch, ihn hatte bändigen und an der Kette halten können, nachdem er sich oft mit ihm geschlagen. Und Blut mußte er doch noch immer oft lassen, wenn der boshafte Affe tückisch wurde. »Warte«, dachte der Junge eines Tages bei sich, »ich will mich schon an Dir rächen.« Er zog eines Morgens mit ihm aus wie gewöhnlich und kaufte ihm, um ihn zu ködern, ein Schöpsherz. Während Gargousse fraß, zog der Junge einen Strick durch das Ende seiner Kette, band den Strick an den Baum und prügelte dann das Tier weidlich durch.«

— »Das war recht getan.«

— »Bravo!«

— »Immer drauf!«

»Ja, er schlug immer brav drauf«, fuhr der Erzähler fort. »Ihr hättet sehen sollen, wie Gargousse schrie, die »Zähne fletschte, emporsprang, hin und her hüpfte, aber der Bursche schlug immer drauf, hast Du nicht gesehen! —

»Leider ist es bei den Affen wie bei den Katzen, sie haben ein zähes Leben. Gargousse war nun eben so pfiffig als boshaft; als er merkte, wo es hinaus wollte, machte er plötzlich nach einem tüchtigen Hiebe einen letzten Luftsprung, fiel der Länge lang am Baume nieder, ächzte, streckte alle vier von sich, stellte sich tot und rührte sich ebensowenig wie ein Stück Holz.

»Weiter wollte der Auvergnat nichts. Er glaubte, der Affe sei tot, machte sich aus dem Staube, und ließ sich bei Schneidentzwei nicht wieder sehen. Aber Gargousse blinzelte ihm nach, und sobald er sah, daß er allein, daß der Auvergnat fort war, biß er den Strick entzwei, der seine Kette an dem Baume festhielt. Das Boulevard Monceau, wo der Tanz vor sich gegangen, war ganz nahe bei Klein-Polen, der Affe wußte den Weg auswendig wie ein Vaterunser, und kam zu seinem Herrn, der vor Wut schäumte, als er seinen Affen so zugerichtet sah. Von dieser Zeit an hatte Gargousse einen solchen Groll gegen alle Kinder im Allgemeinen, daß Schneidentzwei, der doch gar nicht weichherzig war, ihn keinem mitzugeben wagte, weil er ein Unglück fürchtete, Gargousse wäre im Stande gewesen, ein Kind zu erwürgen und aufzufressen. Auch würden die kleinen Tierzeiger, die das recht wohl wußten, sich von Schneidentzwei lieber haben halbtot schlagen lassen, als daß sie sich an den Affen wagten.«

— »Ich muß meine Suppe essen«, sagte der Aufseher, indem er nach der Türe zu ging. »Der Spitzige lockt mit seinen Geschichten die Vögel von den Bäumen herunter, und zwingt sie, ihm zuzuhören. Gott weiß, woher er das nimmt, was er erzählt.«

— »Endlich geht der Aufseher«, sagte leise das Skelett zu dem dicken Lahmen; »ich halte es nicht länger aus. — Sorgt nur dafür, daß Ihr Euch dicht um den Angeber herumstellt, das Übrige ist meine Sache —«

— »Verhaltet Euch ruhig«, sagte der Aufseher, indem er nach der Türe hin ging.

— »Ruhig wie die Bildsäulen«, antwortete das Skelett, indem der Bandit sich Germain näherte, während der dicke Lahme und Nicolaus, nachdem sie sich durch einen Wink verständigt hatten, ebenfalls ein paar Schritte näher traten.

— »Ach, Herr Aufseher, Sie gehen gerade bei der schönsten Stelle fort«, sagte der Spitzige mit einem vorwurfsvollen Blicke.

Wäre der dicke Lahme nicht gewesen, der ihn rasch am Arme ergriff, das Skelett hätte sich auf Germain gestürzt.

— »Wieso bei der schönsten Stelle?« antwortete der Aufseher, indem er sich nach dem Erzähler umdrehte.

— »Das glaube ich«, sagte der Spitzige; »Sie wissen gar nicht, was Sie einbüßen. — Das Schönste in meiner Geschichte fängt eben erst an —«

—»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte das Skelett, mit Mühe seine Wut an sich haltend; »er ist heute nicht im Zuge, ich finde seine Erzählung sehr albern wie Alles —«

— »Meine Erzählung albern?« entgegnete der Spitzige, in seiner Erzählereitelkeit verletzt; »Herr Aufseher, nun bitte ich Sie, bleiben Sie bis zu Ende, — es dauert höchstens noch eine Viertelstunde. Übrigens ist Ihre Suppe so schon kalt, Sie büßen also nichts ein. Ich werde mich beeilen, so daß Sie Ihre Suppe noch essen können, ehe wir in die Schlafsäle hinaufgehen.«

— »Ich bleibe, aber erzähle rasch«, sagte der Aufseher, indem er wieder näher trat.

— »Daran tun Sie sehr recht; Sie werden, ohne mich zu rühmen, nichts dergleichen gehört haben, namentlich am Ende, — bei dem Triumphe des Affen und Gringalets, die alle kleinen Tierführer und alle Bewohner Klein-Polens begleiteten. Auf Ehre, 's ist prächtig.«

— »So erzähle schnell«, sagte der Aufseher, der wieder an den Ofen trat.

Das Skelett zitterte vor Wut. Es wurde fast wahrscheinlich, daß das Verbrechen nicht ausgeführt werden konnte. War einmal die Zeit des Schlafengehens gekommen, so war Germain gerettet, denn er befand sich nicht in demselben Schlafsaale mit seinem unversöhnlichen Feinde, und am andern Tage sollte er bekanntlich eine leergewordene einzelne Zelle erhalten.

Dann erkannte das Skelett auch an den Unterbrechungen durch mehrere Gefangene, daß sie durch die Erzählung des Spitzigen mitleidig gestimmt werden konnten; vielleicht sahen sie dann dem schrecklichen Morde, um den es sich handelte, nicht gleichgiltig zu.

Das Skelett konnte den Erzähler verhindern, die Geschichte zu Ende zu bringen, aber dann schwand auch die letzte Hoffnung, den Aufseher gehen zu sehen.

»Die ehrenwerte Gesellschaft mag selbst urteilen, ob meine Geschichte albern ist«, sprach der Spitzige weiter. »Es gab also kein boshafteres Tier als den großen Affen, Gargousse, der namentlich gegen die Kinder so erbittert war wie sein Herr. — Was tat Schneidentzwei, um Gringalet für den Fluchtversuch zu strafen? Das sollt Ihr sogleich erfahren. Er nahm das Kind, sperrte es für die Nacht wieder in der Dachkammer ein und sagte: morgen früh, wenn alle andern fort sind, werde ich Dich vornehmen und Du wirst sehen, was ich mit denen anfange, die ausreißen wollen —«

»Ihr könnt Euch denken, welche schreckliche Nacht der arme Gringalet verbrachte. Er tat fast kein Auge zu und fragte sich immer, was wohl Schneidentzwei mit ihm vornehmen wolle. Nachdem er lange darüber nachgedacht, schlief er endlich doch ein. — Aber was für ein Schlaf war es! Überdies hatte er einen Traum, einen schrecklichen Traum, d. h. einen Traum, der im Anfange schrecklich war, — Ihr werdet sehen —

»Er träumte, er sei eine der armen Fliegen, von denen er viele aus Spinneweben befreit hatte, und befinde sich in einem großen starken Netze, in dem er mit allen Kräften zappelte, ohne sich freimachen zu können. Dann sah er langsam und heimtückisch ein Ungeheuer auf sich zu kommen, das das Gesicht Schneidentzwei's und einen Spinnenkörper hatte.

»Mein armer Gringalet fing an zu zappeln, wie Ihr Euch wohl denken könnt, aber je eifriger er war, umso mehr verwirrte er sich in dem Netze, wie es den armen Fliegen ergeht. — Endlich kam die Spinne heran, — sie berührte ihn, er fühlte sich von den großen kalten haarigen Beinen des schrecklichen Tieres ergriffen, fortgezogen,— er war schon halb tot, aber da hörte er plötzlich ein leises helles Gesumme und sah eine schöne goldene Fliege, die einen zierlichen Spieß, gleich einer Diamantnadel führte, erzürnt um die Spinne herumfliegen, und eine Stimme (wenn ich sage eine Stimme, so denkt Euch die Stimme einer Fliege) sagte zu ihm: arme kleine Fliege, — Du hast Fliegen gebettet, — die Spinne soll —«

»Leider erwachte Gringalet plötzlich und sah das Ende des Traumes nicht. Dennoch war er anfangs einigermaßen beruhiget und dachte bei sich: vielleicht hätte die goldene Fliege mit dem Diamantspieße die Spinne gelobtet, wenn ich das Ende des Traumes gesehen.

»Wenn aber auch Gringalet sich mit solchen Gedanken wiegte, um sich zu beruhigen und zu trösten, so konnte er doch seine Angst nicht unterdrücken, und je näher der Morgen kam, um so stärker wurde sie, bis er endlich den Traum vergaß oder vielmehr nur an das Schreckliche desselben dachte, an das große Netz, in dem er gefangen gewesen, und an die Spinne mit dem Gesichte Schneidentzwei's. — Ihr könnt Euch denken, wie er vor Furcht zitterte, der arme Junge, so allein, ganz allein ohne Jemanden, der ihn verteidigen mochte.

»Früh, als er die Morgendämmerung durch das Fensterchen der Dachkammer hereinblicken sah, verdoppelte sich seine Angst, denn der Augenblick rückte heran, da er mit Schneidentzwei allein sein sollte. Da fiel er mitten in der Bodenkammer auf seine Knie, weinte heiße Tränen und bat seine Cameraden, sie möchten Schneidentzwei für ihn um Gnade bitten oder ihm beistehen, zu entkommen. Ach, alle schlugen dem armen Gringalet die Bitte ab, einige aus Furcht vor dem Herrn, andere aus Sorglosigkeit und noch andere aus Bosheit.«

— »Böse Buben!« rief der Gefangene mit der blauen Mütze aus; »hatten sie gar kein Herz im Leibe?«

— »'s ist wahr«, meinte ein Anderer, »es bleibt rührend, den armen Kleinen von der ganzen Welt verlassen zu sehen.«

— »Und allein, ohne Verteidiger«, fuhr der Gefangene in der blauen Mütze fort: »man muß doch Jeden bedauern, der nichts tun kann als geduldig den Hals hinzuhalten. — Hat Einer Zähne, um zu beißen, oh, dann ist es etwas Anderes; dann mag er sich seiner Haut wehren.«

— »Das ist wahr«, meinten mehrere Gefangene.

— »Nun«, rief das Skelett, das seine Wut nicht mehr bergen konnte, zu dem Gefangenen in der blauen Mütze gewendet, aus: Wirst Du wohl Dein Maul halten? Habe ich nicht Ruhe geboten? Bin ich der Vorsteher oder nicht?«

Der Mann in der blauen Mütze sah statt aller Antwort dem Skelett keck in das Gesicht und machte dann die bekannte höhnende Gebärde, indem er den Daumen der fächerartig ausgestreckten rechten Hand an die Nasenspitze und den kleinen Finger auf den Daumen der ebenfalls ausgespreizten linken Hand stützte. Diese stumme Antwort begleitete er mit einem so grotesk verzerrten Gesicht, daß mehrere Gefangene laut auflachten, während andere dagegen über die Keckheit des neuen Gefangenen staunten, der sich gegen das allgemein gefürchtete Skelett aufzulehnen wagte.

Dieser Bandit ballte die Faust gegen den Gefangenen in der blauen Mütze und sagte zähneknirschend zu ihm:

»Wir werden morgen miteinander rechnen —«

»Ich werde Dich das Addieren lehren, sorge nicht —«

Um dem Aufseher nicht einen neuen Grund zum Bleiben zu geben, antwortete das Skelett ruhig:

»Davon ist die Rede nicht; ich habe auf Ordnung hier zu sehen und man muß auf mich hören, nicht wahr, Aufseher?«

»Allerdings«, antwortete der Aufseher. »Unterbrich nicht und Du, Spitziger, fahre fort, aber mach' schnell.«

 

II. Der Triumph Gringalet's und Gargousse's.

»Gringalet«, fuhr der Spitzige fort, »der sich so ganz verlassen sah, mußte sich also in sein unglückliches Schicksal ergeben. Es wurde endlich Tag und alle Kinder machten sich bereit, mit ihren Tieren fortzugehen. Schneidentzwei öffnete die Falltüre und rief jeden einzeln aus, um ihm sein Stück Brot zu geben. Alle stiegen auf der Leiter hinunter, während sich Gringalet, mehr tot als lebendig, mit seiner Schildkröte in einen Winkel drückte und sich nicht rührte. Er sah einen seiner Cameraden nach dem andern abziehen und hätte viel darum gegeben, wenn er ihnen hätte folgen können. — Endlich verließ der letzte die Bodenkammer. Dem armen Knaben klopfte das Herz gewaltig, ob er gleich bisweilen hoffte, sein Herr würde ihn vergessen. Ach ja! Eben rief Schneidentzwei, der an der Leiter geblieben war, mit starker Stimme: »Gringalet! — Gringalet!«

»Hier, Herr!«

»Komm sogleich herunter oder ich hole Dich«, sprach Schneidentzwei weiter.

»Gringalet glaubte, sein jüngster Tag sei gekommen. »Nun«, dachte er bei sich und zitterte an allen Gliedern, während er an seinen Traum dachte, »nun bist Du arme Fliege in dem Netze, die Spinne wird Dich packen —«

»Nachdem er seine Schildkröte vorsichtig und sanft auf den Boden gelegt hatte, nahm er gleichsam Abschied von ihr, denn er hatte das Tier ordentlich lieb gewonnen, und trat an die Falltüre. Schon hatte er den Fuß auf die oberste Sprosse gesetzt, als Schneidentzwei ihn an dem armen spindeldürren Beine packte und so stark zog, daß Gringalet sich nicht halten konnte, an der Leiter herunter rutschte und mit dem Gesichte auf alle Sprossen aufschlug.«

— »Wie Schade, daß der Alte von Klein-Polen nicht da war! Er würde einen schönen Tanz mit Schneidentzwei aufgeführt haben«, sagte der Mann in der blauen Mütze; »in solchen Augenblicken ist es schön, stark zu sein.«

»Ja wohl, aber leider war der Alte nicht da. Schneidentzwei packte also den armen Kleinen an den Beinkleidern und trug ihn in seine Schlafkammer, wo der große Affe an dem Bett angebunden war. Sobald das böse Vieh das Kind sah, fing es an zu springen und die Zähne zu fletschen wie wüthend und lief, so weit es die Kette erlaubte, Gringalet entgegen, als wollte er den Armen fressen.«

— »Armer Gringalet! Wie wird es ihm ergehen?«

— »Wenn er in die Klauen des Affen fällt, ist er verloren.«

— »Donnerwetter!« rief der Mann mit der blauen Mütze; »ich könnte in diesem Augenblicke keinem Floh etwas zu Leide thun. Und Ihr, Freunde?«

— »Ich auch nicht.«

— »Ich auch nicht.«

In diesem Augenblicke schlug es drei Viertel auf vier Uhr.

Das Skelett, das mehr und mehr fürchtete, es würde ihm keine Zeit zur Ausführung des Planes übrig bleiben, und wüthend über die Unterbrechungen war, welche zu verrathen schienen, daß mehrere Gefangene wirklich mitleidig gestimmt worden, rief aus: »Ruhe nun! Dieser unselige Erzähler wird nie zu Ende kommen, wenn Ihr so viel redet als er.«

Diejenigen, welche die Erzählung unterbrochen hatten, schwiegen.

Der Spitzige fuhr fort:

»Wenn man bedenkt, wie schwer es Gringalet geworden war, sich an seine Schildkröte zu gewöhnen, und daß selbst die mutigsten seiner Cameraden schon bei dem Namen Gargousse's zitterten, so wird man sich eine Vorstellung von seiner Angst machen können, als er sich durch seinen Herrn ganz nahe zu dem Affen getragen sah.

»Gnade, Herr!« rief er aus und die Zähne klapperten ihm im Munde zusammen, als hätte er das Fieber, »Gnade, Herr! Ich will es nie wieder thun.«

»Der arme Kleine sagte: »ich will es nie wieder thun«, ohne zu wissen, was er sagte, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Aber Schneidentzwei achtete nicht darauf. Trotz dem Jammern des Kindes, das sich wehrte, trug er es ganz nahe zu Gargousse, der es packte und —«

Die Zuhörer, die immer aufmerksamer wurden, schauderten.

— »Ich wäre dumm gewesen, wenn ich fortgegangen wäre«, sagte der Aufseher, indem er noch näher trat.

»Das ist noch nichts; das Schönste kommt noch«, sagte der Spitzige. »Sobald Gringalet die kalten haarigen Pfoten des großen Affen fühlte, die ihn am Halse und am Kopfe packten, wurde er wie wahnsinnig und schrie so jämmerlich, daß es einen Tiger erbarmt haben würde:

»Die Spinne meines Traumes, Du lieber Gott! Die Spinne meines Traumes! Kleine goldene Fliege, komm mir zu Hilfe!«

»Willst Du Dein Maul halten! Willst Du Dein Maul halten!« schrie Schneidentzwei dazwischen, indem er ihn mit dem Fuße trat, denn er fürchtete, es könnte das Geschrei gehört werden. Nach einer Minute war das nicht mehr zu fürchten; der arme Gringalet schrie nicht mehr und wehrte sich nicht mehr; er kniete da, weiß wie ein Tuch, schloß die Augen und zitterte an allen Gliedern wie in der größten Winterkälte. Unterdeß schlug ihn der Affe, rupfte ihn, kratzte ihn. Mitunter hielt das boshafte Tier inne, um seinen Herrn anzusehen, gerade als wären sie beide mit einander einverstanden gewesen. Schneidentzwei seinerseits lachte so laut, daß man von dem Schreien Gringalet's nichts gehört haben würde, wenn er noch geschrien hätte. Das schien dem Affen Muth zu machen, denn er schlug und kratzte immer ärger —«

— »Der verfluchte Affe!« rief der Mann in der blauen Mütze aus. »Hätte ich ihn am Schwanze, ich würde ihn herumdrehen wie eine Schleuder und ihm dann den Kopf auf dem Pflaster zerschlagen.«

— »Der Affe war so schlecht wie ein Mensch.«

— »So schlecht ist kein Mensch.«

»So schlecht wäre kein Mensch?« entgegnete der Spitzige. »Und Schneidentzwei? Bedenkt nur, was er nachher Tat. Er machte von seinem Bette die Kette des Affen los, die sehr lang war, entriß ihm auf einen Augenblick das Kind, das mehr tot als lebendig war, und band es an der andern Seite des Bettes an, so daß Gringalet an dem einen Ende der Kette war, Gargousse an dem andern.«

— »Eine schöne Erfindung!«

— »Es bleibt doch wahr, manche Menschen sind boshafter als die boshaftesten Tiere.«

»Als Schneidentzwei dies getan hatte, sagte er zu seinem Affen, der ihn zu verstehen schien: »aufgepaßt, Gargousse! Man hat Dich gezeigt; jetzt wirst Du Gringalet zeigen; er wird Dein Affe sein. Allons! Auf, Gringalet! Oder ich heiße Gargousse Dich wieder packen.«

»Das arme Kind war wieder auf die Knie gefallen, faltete die Hände, konnte aber kein Wort sprechen; man hörte nur seine Zähne zusammenschlagen.«

»Laß ihn marschiren, Gargousse!« sagte Schneidentzwei zu seinem Affen, »und wenn er stöckisch ist, mach' es wie ich.«

»Dabei versetzte er dem Knaben Hiebe mit der Peitsche, dann gab er sie dem Affen.

»Ihr wißt, daß die Affen Alles nachmachen; Gargousse war geschickter als alle; er nahm also die Peitsche in die eine Pfote und schlug auf Gringalet los, der wohl aufstehen mußte. Wenn er stand, war er etwa so groß, als der Affe. Schneidentzwei ging darauf fort, die Treppe hinunter und rief Gargousse. Der Affe folgte ihm und trieb Gringalet mit Peitschenhieben vor sich her.

»So kamen sie in den kleinen Hof des Hauses Schneidentzwei's, der sich hier zu amüsiren gedachte. Er schloß die Türe zu und befahl dem Affen, das Kind mit Peitschenhieben im Hofe herum vor sich zu treiben.

»Der Affe gehorchte und jagte Gringalet herum, während Schneidentzwei da stand und sich vor Lachen den Bauch hielt. Ihr denkt nun wohl, mit dieser Grausamkeit sei er zufrieden gewesen? Keineswegs. Gringalet wäre bis jetzt mit einigen Kratzwunden, vielen Peitschenhieben, und einer großen Angst davon gekommen. Schneidentzwei war also nicht zufrieden.

»Um den Affen wüthend zu machen gegen das Kind, »das kaum noch Athem hatte, packte er Gringalet an den Haaren, Tat, als schlage und beiße er ihn, gab ihn dann dem Affen wieder und sagte: beiß! beiß! und zeigte ihm ein Stück Fleisch, um ihm zu sagen: das wird Dein Lohn sein.

»Ach, Freunde, es war ein schrecklicher Anblick.

»Denkt Euch einen großen rothen Affen mit schwarzer Schnauze, der die Zähne fletscht wie ein Besessener und sich wüthend, wie toll aus den armen Unglücklichen stürzt, der sich nicht verteidigen konnte, gleich bei dem ersten Schlage niedergeworfen war und sich auf den Bauch gelegt hatte, mit dem Gesichte an die Erde, um nicht ganz entstellt zu werden. Als Gargousse, der von seinem Herrn immer mehr angereizt wurde, dies sah, sprang er ihm auf den Rücken, packte ihn am Halse und fing an ihn am Kopfe blutig zu beißen.

»O die Spinne — meines Traumes! Die Spinne!« rief Gringalet mit erstickter Stimme aus und er glaubte, sein Ende sei gekommen. Mit einem Male hörte man an die Türe klopfen: »Poch! Poch!«

»Ah, der Alte!« riefen freudig die Gefangenen. »Endlich!«

»Ja, diesmal war er es, und er rief durch die Türe hindurch: »Wirst Du aufmachen, Schneidentzwei? wirst Du aufmachen? Stelle Dich nicht taub, denn ich sehe' Dich — durch das Schlüsselloch.«

»Schneidentzwei mußte antworten und ging unwillig nach der Türe zu, um dem Alten aufzumachen, der trotz seiner funfzig Jahre ein sehr rüstiger Mann war und mit dem sich nicht spaßen ließ, wenn er böse wurde.

»Was wollen Sie?« fragte ihn Schneidentzwei, indem er die Türe halb aufmachte.

»Ich will mit Dir reden«, antwortete der Alte, der fast mit Gewalt in den kleinen Hof hinein trat und, als er den Affen noch immer Gringalet mißhandeln sah, hinzueilte, Gargousse an dem Felle packte, ihn von dem Kinde losreißen und wegschleudern wollte. Da erst bemerkte er, daß das Kind mit dem Affen zusammengebunden war. Als er dies gesehen, warf er Schneidentzwei einen schrecklichen Blick zu und sagte zu ihm: »gleich binde den armen Kleinen los!«

»Ihr könnt Euch die Freude und die Ueberraschung Gringalet's denken, der, halb tot vor Schreck, sich zu so gelegener Zeit und wie durch ein Wunder gerettet sah. — Er mußte an die goldene Fliege seines Traumes denken, obgleich der Alte nicht eben wie eine Fliege aussah —«

— »Na«, sagte der Aufseher, indem er nach der Türe zuging, »da Gringalet gerettet ist, so werde ich nun meine Suppe zu mir nehmen.«

»Gerettet!« entgegnete der Spitzige, »ach ja, gerettet! Der arme Gringalet ist noch nicht am Ziele seiner Leiden.«

— »Wirklich?« fragten einige Gefangene teilnehmend.

— »Was kann ihm denn noch begegnen?« fragte der Aufseher, der wieder zurückkam.

— »Bleiben Sie, Aufseher, und Sie werden es erfahren«, antwortete der Erzähler.

— »Der Spitzige macht mit einem, was er will«, meinte der Aufseher; »ich bleibe noch.«

Das Skelett schäumte vor Wut und der Spitzige fuhr fort:

»Schneidentzwei, der den Alten fürchtete wie das Feuer, hatte brummend den Knaben losgebunden. Als dies geschehen, schleuderte der Alte Gargousse an den Boden und gab ihm einen gewaltigen Fußtritt. Der Affe schrie jämmerlich, fletschte die Zähne und flüchtete sich auf einen kleinen Schuppen, von wo er dem Alten die Faust ballte.

»Warum schlagen Sie meinen Affen?« fragte Schneidentzwei den Alten.

»Du solltest fragen, warum ich Dich nicht selbst schlage. — Das Kind so zu mißhandeln! Bist Du schon so früh betrunken?«

»Ich bin eben so wenig betrunken als Sie; ich lehre meinen Affen ein Kunststück; ich will eine Vorstellung geben, in welcher er und Gringalet zusammen auftreten; das ist mein Geschäft; warum mischen Sie sich da hinein?«

»Ich mische mich in das, was mich angeht. Als ich diesen Morgen Gringalet nicht mit den andern Kindern an meiner Türe vorüber kommen sah, fragte ich, wo er sei; die Kinder antworteten nicht und sahen verlegen aus; ich kenne Dich und errieth, daß Du ihm einen schlechten Streich spieltest. Ich täuschte mich nicht. Höre mich an. So oft ich Gringalet nicht mit den Andern früh an meiner Türe vorüber kommen sehe, werde ich mich hier einfinden und Du mußt mir ihn zeigen, sonst schlage ich Dich, bis —«

»Ich thue, was ich will; Sie haben mir nichts zu befehlen«, antwortete Schneidentzwei, durch diese Drohung gereizt. — »Sie werden nicht schlagen, und wenn Sie nicht sogleich gehen, wenn Sie wieder kommen, werde ich —«

»Plautz! hatte Schneidentzwei ein paar Püffe, die ein Rhinoceros hätten niederwerfen können: Das der Lohn dafür, daß Du dem Alten von Klein-Polen so antwortest.«

— »Ein paar Püffe, das war knauserig«, sagte der Mann mit der blauen Mütze; »ich würde ihn besser bedient haben.«

— »Er hätte es auch verdient«, bemerkte ein anderer Gefangener.

»Der Alte«, fuhr der Spitzige fort, »hätte es mit zehn Schneidentzwei's aufgenommen. Schneidentzwei mußte also die Püffe einstecken, aber er war wüthend darüber, daß er Schläge bekommen hatte, namentlich in Gegenwart Gringalet's. Er nahm sich deshalb auch sogleich vor, sich zu rächen, und er kam auf einen Gedanken, der nur einem Teufel einfallen konnte. Während er diesen Einfall überlegte und sich dabei die Ohren rieb, sagte der Alte zu ihm:

»Wenn Du das Kind noch einmal mißhandelst, so zwinge ich Dich, mit Deinen Tieren Klein-Polen zu verlassen, oder hetze Jedermann gegen Dich auf. Du weißt, daß man Dich schon haßt, man wird Dir also eine Lehre geben, die Dein Rücken so leicht nicht vergißt, dafür stehe ich.«

»Heimtückisch wie er war und um seinen bösen Einfall ausführen zu können, gab Schneidentzwei klein zu und sagte: »Sie thun wirklich Unrecht, wenn Sie mich schlagen und glauben, ich hätte etwas gegen Gringalet; im Gegenteil, ich wiederhole, daß ich meinen Affen ein neues Kunststück lehre. Er ist einigermaßen widerspenstig und hat im Unwillen den Kleinen gebissen, was mir leid tut.«

»Hm!« sagte der Alte, der ihn von der Seite ansah; »sagst Du mir da die Wahrheit? Warum bindest Du Gringalet, wenn Du Deinen Affen ein neues Kunststück lehrst?«

»Weil Gringalet zu dem Kunststücke gehört. Ich will Ihnen meine Idee mitteilen. Ich gedenke dem Gargousse einen rothen Rock anzuziehen und einen Federhut aufzusetzen, setze Gringalet auf ein Kinderstühlchen, binde ihm eine Serviette um und der Affe soll mit einem großen hölzernen Messer den Barbier spielen.«

»Der Alte mußte darüber lachen.

»Ist das nicht ein drolliger Einfall?« fragte Schneidentzwei.

»Spaßhaft ist es«, entgegnete der Alte, »zumal Dein Affe sich gewiß geschickt zum Barbier anstellen wird.«

»Das glaube ich. Wenn er mich fünf oder sechs Mal Gringalet hat rasiren sehen, wird er es mit seinem großen hölzernen Rasirmesser nachmachen. Aber erst muß er sich an den Jungen gewöhnen und deshalb hatte ich sie zusammengebunden.«

»Warum hast Du aber gerade Gringalet dazu ausgewählt?«

»Weil er der kleinste ist und, wenn er sitzt, Gargousse größer aussieht als er. Übrigens wollte ich auch Gringalet die Hälfte der Einnahme zuwenden.«

»Wenn es so ist«, sagte der Alte beruhigt, »so bedaure ich, Dich geschlagen zu haben; Du hast es bei dem nächsten Male gut.«

»Während sein Herr so mit dem Alten sprach, wagte Gringalet sich nicht zu rühren. Er zitterte wie ein Espenblatt und hätte sich gern vor dem Alten niedergeworfen, um ihn zu bitten, er möge ihn mit fortnehmen; aber er hatte den Muth nicht und dachte bei sich: »es wird mir gehen wie der armen Fliege in meinem Traume; die Spinne wird mich zerreißen; ich täuschte mich, als ich glaubte, die goldene Fliege würde mich retten.«

»Nun, mein Sohn, da der Vater Schneidentzwei »Dir die Hälfte der Einnahme gibt, so wirst Du Dir Mühe geben, Dich an den Affen zu gewöhnen. — Du wirst Dich an ihn gewöhnen, und wenn die Einnahme gut ist, wirst Du Dich nicht zu beklagen haben.«

»Er sich beklagen? Hast Du Dich zu beklagen?« fragte ihn sein Herr, indem er ihm von der Seite einen so schrecklichen Blick zuwarf, daß das Kind gern in die Erde gesunken wäre.«

»Nein, nein«, antwortete er stammelnd.

»Sie hören es«, sagte Schneidentzwei, »er hat sich nie zu beklagen gehabt, ich will immer nur sein Bestes. Wenn ihn Gargousse das erste Mal gekratzt hat, so wird es nicht wieder geschehen, ich verspreche es Ihnen; ich werde dafür sorgen.«

»So wird Jedermann zufrieden sein.«

»Gringalet vor allen«, sagte Schneidentzwei. »Nicht wahr, Du wirst zufrieden sein?«

»Ja — ich werde zufrieden sein«, antwortete das Kind zitternd.

»Und zur Entschädigung für die Kratzwunden gebe ich Dir ein gutes Frühstück, denn der Alte wird mir einen Teller mit Cotelettes und Gurken, vier Flaschen Wein und ein Fäßchen Branntwein schicken.«

»Mein Keller und meine Küche stehen Jedermann zu Diensten.«

»Der Alte war ein braver Mann, verkaufte aber sehr gern Wein. Schneidentzwei wußte das und so ging der Alte ganz vergnügt und über das Schicksal Gringalet's beruhigt nach Hause.

»So war der arme Kleine wieder in der Gewalt seines Herrn. Sobald der Alte den Rücken gewendet hatte, wies Schneidentzwei dem Armen die Treppe, und befahl ihm, schnell wieder in die Bodenkammer hinaufzugehen. Das Kind ließ sich das nicht zweimal sagen und lief erschrocken davon.

»Ach Du mein Gott!« rief Gringalet aus, als er sich auf das Stroh neben seine Schildkröte warf und bitterlich weinte. Er mochte eine gute Stunde gelegen haben, als Schneidentzwei ihn wieder rief. Der Kleine ängstigte sich diesmal noch mehr, denn die Stimme seines Herrn klang nicht wie gewöhnlich.

»Wirst Du bald kommen?« wiederholte Schneidentzwei unter schrecklichen Flüchen.

»Gringalet stieg eilig die Leiter hinunter. Kaum war er unten angekommen, so nahm ihn sein Herr und trug ihn in sein Zimmer, während er bei jedem Schritte wankte, denn er hatte so viel, so viel getrunken, daß er total schwarz war und kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Er taumelte bald nach vorn, bald nach hinten und sah Gringalet mit schrecklichen Augen an, aber ohne etwas zu sprechen, die Zunge war ihm zu schwer. Gringalet hatte sich in seinem Leben nicht so sehr gefürchtet.

»Gargousse war an dem Bette angebunden.

»In der Mitte der Stube stand ein Stuhl und an der Lehne hing ein Strick.

»So — setz' Dich — da — her«, fuhr der Spitzige fort, indem er von nun an bis an's Ende das Stammeln eines Betrunkenen nachmachte, wenn er Schneidentzwei reden ließ.

»Gringalet setzte sich zitternd nieder. Schneidentzwei band ihn, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Stricke an der Stuhllehne an, aber das war keine leichte Ausgabe für ihn, da er aus den Beinen wankte und mit den Händen zitterte. Endlich war Gringalet doch festgebunden. Ach Du lieber Gott!« jammerte er. »Diesmal wird mich Niemand erlösen.«

»Der arme Junge hatte Recht; Niemand konnte, Niemand durfte kommen; der Alte war beruhigt fortgegangen und Schneidentzwei hatte die HausTüre verschlossen und verriegelt. Es konnte also dem armen »Gringalet Niemand zu Hilfe kommen.«

— »Diesmal«, sagten die Gefangenen gerührt, »diesmal bist Du verloren, Gringalet.«

— »Der arme Kleine!«

— »Wie Schade!«

— »Wenn er durch zwanzig Sous zu retten wäre, ich gäbe sie darum.«

— »Ich auch.«

— »Der schlechte Schneidentzwei.«

— »Was hat er mit ihm vor?«

Der Spitzige fuhr fort:

»Als Gringalet an den Stuhl gebunden war, sagte sein Herr zu ihm — und der Erzähler ahmte von neuem das Stammeln eines Betrunkenen nach —: »Canaille — Du — bist Schuld — daß ich Prügel bekommen, Du mußt ster — sterben —«

»Er zog dabei aus seiner Tasche ein großes frisch geschliffenes Rasirmesser, machte es auf und faßte mit der einen Hand Gringalet an den Haaren ...«

Ein Gemurmel des Unwillens und des Abscheues erhob sich unter den Gefangenen und unterbrach den Spitzigen auf einige Zeit, der dann fortfuhr:

»Bei dem Anblicke des Messers rief das Kind: »Gnade, Herr! Gnade! Schlachten Sie mich nicht!«

»Schrei' zu in drei Teufels Namen, Du wirst nicht lange mehr schreien«, antwortete Schneidentzwei.

»Goldene Fliege, goldene Fliege, komm zu Hilfe!« rief der arme Gringalet fast wahnsinnig, indem er wieder an seinen Traum dachte, der so tiefen Eindruck aus ihn gemacht hatte. »Die Spinne will mich packen!«

»Ah Du — Du nen — nennst mich — Spinne, Du —«, stammelte Schneidentzwei.— »Da — rum und — auch — anderer Geschichten wegen — mu — mußt Du sterben, — verstanden? — Aber nicht — von meiner Hand, weil — das — und weil man mich gu — guil ... guillotiniren — würde. — Ich — habe die Sache — nur angestellt, — und — am Ende bleibt — sich's doch gleich«, sagte Schneidentzwei, indem er hin und her wankte. Dann rief er seinen Affen, der die Zähne fletschte und abwechselnd seinen Herrn und den Knaben ansah.

»Da, Gargousse«, sagte er, indem er ihm das Rasirmesser und Gringalet zeigte, den er an den Haaren hielt, — »mach' es so— siehst Du? —«

»Und er fuhr mit dem Rasirmesser mehrmals an dem Halse Gringalet's hin, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden.

»Der Affe war so gescheidt und so bösartig, daß er gleich errieth, was sein Herr wollte, und um ihm dies zu beweisen, faßte er sich selbst mit der linken Pfote am Kinne, legte den Kopf zurück und Tat mit der rechten Pfote, als schneide er den Hals durch.

»Richtig, Gargousse, — richtig«, stammelte Schneidentzwei, indem er die Augen halb zudrückte und so arg schwankte, daß er mit Gringalet und dem Stuhle beinahe umgefallen wäre ... »Ja, — so ist s recht, — ich werde — Dich — losmachen und — Du — wirst ihm die — Ke — Kehle abschneiden, — nicht wahr, Gargousse?«

»Der Affe knirschte mit den Zähnen, als hätte er Ja sagen wollen, und streckte die Pfote aus, um das Messer zu nehmen, das Schneidentzwei ihm reichte.

»Goldene Fliege, goldene Fliege, komm zu Hilfe!« murmelte Gringalet mit fast verlöschender Stimme, denn er glaubte, diesmal habe sein letztes Stündlein geschlagen. Er rief die goldene Fliege zu Hilfe, ohne auf sie zu hoffen; er sprach die Worte aus, die man beim Ertrinken ruft: »mein Gott!«

»Aber — in diesem Augenblicke sah Gringalet durch das, offene Fenster eine der kleinen grünen und goldenen Fliegen hereinkommen, deren es so viele gibt; sie flog und flog umher gleich wie ein Feuerfunken, und eben als Schneidentzwei das Rasirmesser dem Affen Gargousse gab, flog sie dem Bösewichte gerade in das Auge.

»Eine Fliege im Auge ist nun nicht eben viel, aber im ersten Augenblicke sticht's und brennt's wie ein Nadelstich. Schneidentzwei, der kaum auf den Beinen stehen konnte, fuhr rasch mit der Hand nach dem Auge, so rasch, daß er taumelte, der Länge nach hinfiel und gerade an das Bettbein, an das Gargousse gebunden war.

»Goldene Fliege, ich danke Dir, Du hast mich gerettet«, rief Gringalet aus, der von dem Stuhle aus Alles gesehen hatte.«

— »Ja, es ist wahr, die goldene Fliege war Schuld, daß ihm der Hals nicht abgeschnitten wurde«, sprachen mehrere Stimmen.

— »Es lebe der Spitzige mit seinen Geschichten!« rief Einer aus.

»Wartet nur, das Schönste und Schrecklichste der Geschichte kommt noch. — Schneidentzwei war umgefallen wie ein Sack; er war so betrunken, daß er sich eben so wenig rührte wie ein Scheit Holz und nichts mehr von sich wußte. Beim Fallen hatte er Gargousse fast tot gedrückt, ihm eine Hinterpfote fast gebrochen. — Ihr wißt, daß der Affe sehr bösartig und rachsüchtig war. Er hatte das Messer, das ihm sein Herr gegeben, damit er Gringalet die Kehle abschneide, nicht losgelassen. Und was Tat der Affe, als er seinen Herrn daliegen sah? Er sprang auf ihn, kauerte sich ihm auf die Brust, packte mit der einen Pfote die Haut am Halse und schnitt ihm mit der andern — ritsch! — die Kehle durch, wie er es an Gringalet hatte thun sollen.«

— »Bravo!«

— »Das war gut.«

— »Vivat Gargousse!« riefen die Gefangenen begeistert.

— »Vivat die kleine Fliege!«

— »Vivat Gringalet!«

— »Vivat Gargousse!«

»Ja, meine Freunde«, fiel der Spitzige ein, über den Erfolg seiner Erzählung höchlich erfreut, »wie Ihr jetzt ruft, so rief eine Stunde später auch ganz Klein-Polen.«

— »Wie so ?«

»Ich habe erwähnt, daß der böse Schneidentzwei, um seinen bösen Plan ganz ungestört ausführen zu können, seine Türe von innen verschlossen und verriegelt hatte. Gegen Abend kamen die Kinder nach einander mit ihren Tieren zurück. Die Ersten pochten; Niemand antwortete; als sie alle versammelt waren, pochten sie wieder, — vergebens. Einer ging zu dem Alten, um ihm zu sagen, daß ihr Herr nicht aufmache, wie sie auch anklopften.— »Er wird betrunken sein«, sagte der Alte; »ich habe ihm Wein geschickt. Wir müssen die Türe aufbrechen, denn die Kinder können doch die Nacht über nicht unter freiem Himmel bleiben.«

»Man brach also die Türe auf, gelangte hinein in das Haus und kam in die Stube. Was sah man da? Gargousse kauerte auf seinem Herrn und spielte mit dem Rasirmesser; der arme Gringalet, den der Affe zum Glück nicht hatte erreichen können, war noch immer auf dem Stuhle festgebunden, wagte die Leiche Schneidentzwei's nicht anzusehen, sondern betrachtete die kleine goldene Fliege, die erst lange um ihn herumgeflattert war, gleichsam um ihm Glück zu wünschen, und sich dann auf seine Hand gesetzt hatte.

»Gringalet erzählte den Leuten Alles. Es sah, wie man zu sagen pflegt, wie eine Fügung des Himmels aus und der Alte rief denn auch aus: Vivat Gringalet! Vivat Gargousse, der den bösen Schneidentzwei umgebracht hat. Es war Zeit, daß die Reihe an ihn kam.«

»Ja, ja«, stimmte die Menge ein, denn Schneidentzwei wurde von Allen gehaßt.

»Es war Nacht geworden; man zündete Strohfackeln an und band Gargousse auf eine Bank, die vier Jungen auf den Achseln trugen. Dem Affen schien dies nicht eben zu gefallen und er zeigte fletschend die Zähne, während er im Triumphe herumgetragen wurde. Nach dem Affen kam die Reihe an Gringalet, den der Alte auf seinen Armen herumtrug. Alle kleinen Tierführer, jeder mit seinem Viehe, umringten den Alten, der Eine trug seinen Fuchs, der Andere sein MurmelTier, der Dritte sein Meerschweinchen; die, welche Geige spielten, spielten Geige; manche hatten einen Dudelsack und sie spielten auch, mit einem Worte, es war ein Lärm, eine Freude, eine Lust, wie man sich's kaum vorstellen kann. Hinter den Musikern und den Tierführern folgten alle Bewohner von Klein-Polen, Männer, Weiber und Kinder; fast alle trugen eine Strohfackel in der Hand und schrien wie besessen: Vivat Gringalet! Vivat Gargousse! So ging der Zug in dem Hofe Schneidentzwei's herum. Gringalet seinerseits hatte, sobald er losgebunden war, nichts Eiligeres zu thun gehabt, als die kleine goldene Fliege in eine Papiertüte zu stecken, und während man ihn im Triumphe herumtrug, rief er aus: »kleine Fliegen, ich habe wohl getan, daß ich Euch von den bösen Spinnen nicht fressen ließ, denn ...«

Das Ende der Erzählung des Spitzigen wurde unterbrochen.

— »Vater Roussel«, rief eine Stimme von außen, »komm doch und iß Deine Suppe; es wird bald vier Uhr schlagen.«

— »Die Geschichte ist zu Ende und ich gehe. Ich danke, Spitziger, Du hast mich gut unterhalten, dessen kannst Du Dich rühmen«, sagte der Aufseher zu dem Spitzigen, indem er nach der Türe zu ging. Ehe er hinausschritt, blieb er stehen und sagte: »betragt Euch, wie sich's ziemt.«

— »Wir hören die Geschichte vollends an«, sagte das Skelett keuchend vor Wut. Dann setzte der Bandit leise gegen den dicken Lahmen hinzu: »sieh dem Aufseher nach, und wenn er auf dem Hofe hinaus ist, rufe: Gargousse! und der Angeber ist tot.«

— «Ja, ja«, antwortete der dicke Lahme, der den Aufseher begleitete und in der Türe stehen blieb.

»Ich sagte also«, fuhr der Spitzige fort, »daß Gringalet, während man ihn im Triumphe herumtrug, fortwährend —«

»Gargousse!« rief der dicke Lahme, indem er sich umdrehte. Er hatte den Aufseher den Hof verlassen sehen.

— »Zu mir! Gringalet — ich werde Deine Spinne sein!« sprach alsbald das Skelett, indem es sich so ungestüm auf Germain stürzte, daß dieser weder eine Bewegung machen, noch aufschreien konnte.

Seine Stimme erstickte unter dem fürchterlichen Drucke der langen Eisenfinger des Skeletts.

 

III. Ein unbekannter Freund.

»Wenn Du die Spinne bist, so werde ich die goldene Fliege sein, Skelett«, ließ sich eine Stimme in dem Augenblicke vernehmen, als Germain, durch den plötzlichen und ungestümen Angriff seines unversöhnlichen Gegners überrascht, auf die Bank fiel und der Räuber ihm ein Knie auf die Brust setzte, während er ihn an der Kehle gepackt hatte.

»Ja, die Fliege werde ich sein, und eine famose Fliege dazu«, wiederholte der Mann in der blauen Mütze, von den, wir schon mehrmals gesprochen haben, der drei bis vier Gefangene, die ihn von Germain trennten, bei Seite warf, mit einem gewaltigen Satze zu dem Skelett gelangte, den Banditen packte und ihm auf den Schädel und zwischen die Augen einen endlosen Hagel dicht fallender Faustschläge versetzte.

Der Mann in der blauen Mütze, der kein Anderer war als der Schuri-Mann, hämmerte noch immer mit den Fäusten auf dem Skelett herum und sagte dazu: einen solchen Hagel bekam ich von Herrn Rudolph auf meinen Schädel, — ich habe sie mir gemerkt.«

Die Gefangenen blieben verblüfft stehen, ohne für oder gegen den Schuri-Mann Partei zu nehmen, so sehr hatte der unerwartete Angriff sie überrascht. Mehrere von ihnen, die den heilsamen Eindruck der Erzählung des Spitzigen noch nicht vergessen hatten, freuten sich sogar über dieses Ereigniß, das Germain retten konnte.

»Was hat der? Was will der?« rief der dicke Lahme aus, der den Arm des Schuri-Mannes von hinten fassen wollte, während dieser alle seine Kräfte aufbot, das Skelett auf der Bank festzuhalten.

Der Vertheidiger Germain's erwiederte diesen Angriff des dicken Lahmen durch einen so heftigen Fußtritt, daß er denselben weit von sich schleuderte.

Germain, der totenbleich, fast erstickt neben der Bank kniete, schien nicht zu wissen, was um ihn hervorging. Er war so heftig gewürgt worden, daß er kaum zu athmen vermochte.

Nach der ersten Betäubung gelang es dem Skelett durch eine verzweifelte Anstrengung, sich von dem Schuri-Manne frei zu machen und wieder auf die Beine zu kommen.

Keuchend, trunken von Wut und Haß, sah er grauenhaft aus —

Ueber sein leichenartiges Gesicht strömte das Blut und seine Oberlippe, die zurückgezogen war wie bei einem wüthenden Wolfe, ließ die dichtstehenden Zähne sehen.

Endlich rief er mit vor Ermattung und Zorn zitternder Stimme aus:

»Macht doch den Räuber da kalt! Memmen Ihr, — laßt mich von hinten überfallen, — der Angeber wird uns entkommen.«

Während dieses kurzen Waffenstillstandes hatte der Schuri-Mann den halb ohnmächtigen Germain aufgehoben und so geschickt manövrirt, daß er allmälig in eine Ecke gelangte, wo er seinen Schützling niederlegte.