Die Geister, die ich teilte - Fritz Jergitsch - E-Book

Die Geister, die ich teilte E-Book

Fritz Jergitsch

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Beschreibung

Der Gründer der "Tagespresse", der binnen Wochen ein Millionenpublikum über Facebook erreichte, rechnet mit den sozialen Medien ab. Eine spannende Analyse! Das vergangene Jahrzehnt brachte uns erstmals seit Ende des 2. Weltkriegs einen bedenklichen Anstieg der autokratisch regierten Staaten. Hängt das Wiedererstarken von Autokratien mit dem Aufstieg der sozialen Medien zusammen? Fritz Jergitsch zeigt in "Die Geister, die ich teilte" auf, wie Facebook, Twitter und Co. ticken, und beschreibt, wie Autokraten und andere dieser Welt die sozialen Medien für Fake News missbrauchen. Dabei bezieht sich Jergitsch auf aktuelle Entwicklungen und analysiert, wieso in einer Pandemie plötzlich Millionen Menschen glaubten, das Virus sei nur eine Erfindung, und wieso ein US-Präsident seine Anhänger zum Sturm auf das Kapitol aufhetzen konnte. Werden wir die Geister, die wir teilten, wieder los?

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Fritz Jergitsch

Die Geister,die ich teilte

Wie soziale Medienunsere Freiheit bedrohen

© 2021 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Umschlagfoto: Getty Images; Win McNamee

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Barbara Köszegi

ISBN ePub:

978 3 7017 4668 2

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3533 4

Inhalt

Einleitung

Der Vormarsch der Autokratien

Die Zeitenwende

Wie alles begann

Frankensteinmonster

Der Datenskandal

Die Fake-News-Falle

Die Panik-Falle

Die Polarisierungs-Falle

Adolf Hitler, Influencer

Die janusköpfige App

Holen wir uns zurück, was uns zusteht

Epilog: Ein Sicherheitsgurt für Facebook & Co.

Quellen

Einleitung

Im Jahr 2012 genoss ich mein Leben als fauler Volkswirtschaftsstudent in Utrecht, einer malerischen Studentenstadt. In der geografischen Mitte der Niederlande gelegen, kennt man Utrecht vor allem für seine idyllischen Kanäle und den ikonischen, 112 Meter hohen Kirchturm. Eines Abends, als ich, anstatt zu lernen, wie ein Zombie durch meinen Facebook-Newsfeed scrollte, erblickte ich eine sonderbare, massenhaft geteilte Nachricht: »Linie übertreten: Rekordsprung aus 39 Kilometern Höhe für ungültig erklärt.« Auf dem Artikel-Foto: Felix Baumgartner, der tags zuvor aus der Stratosphäre gesprungen war und den Weltrekord für den höchsten Fallschirmabsprung aufstellte. Verdutzt klickte ich den Artikel an und las eine todernste Meldung darüber, dass Baumgartner beim Absprung um sieben Millimeter über der Absprunglinie gestanden hatte. Bald musste ich feststellen, ich war auf eine Meldung der deutschen Satirezeitung Der Postillon hereingefallen.

Ich fand sofort Gefallen an dem Stil, das aktuelle Weltgeschehen durch satirische Überhöhung zu persiflieren. Natürlich, dem kleinen Österreich blieb eine eigene Satireseite wieder einmal vorenthalten (jedenfalls kannte ich keine). »Hm, na ja, wenn niemand eine Satireseite macht, vielleicht muss ich sie machen?«, schoss es mir durch den Kopf. In derselben Sekunde verwarf ich den Gedanken jedoch wieder, da ich bezweifelte, dass meine Texte lustig genug wären, um irgendwen zu interessieren.

Doch die Idee ließ mich nicht los und so begann ich, regelmäßig satirische Texte über aktuelle Nachrichten zu verfassen. Nach einigen Dutzend Meldungen entschied ich mich, Nägel mit Köpfen zu machen, und registrierte am 5. Mai 2013 die Domäne »dietagespresse.com«. Binnen weniger Tage hatte ich den Blog eingerichtet und stellte erste Texte online.

Nur: Wie lenkt man die Massen auf seine neue Website? Ich registrierte mich inkognito auf der österreichischen Nachrichtenseite derstandard.at, die für ihr belebtes Diskussionsforum bekannt ist. Ich beobachtete über Tage, welche Meldungen gerade heiß diskutiert wurden, schrieb einen Satireartikel darüber und postete im Forum unterhalb der Meldung einen Link. »Die Tagespresse hat das gut auf den Punkt gebracht!«, kommentierte ich am 29. Mai 2013 unter einem Artikel über die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und fügte einen Link zu meinem Satire-Beitrag hinzu, mit der Headline: »Homo-Ehe: Bereits zwei Millionen französische Familien zerstört.« Ein Politiker der Grünen teilte den Artikel auf Facebook. Binnen weniger Stunden erzielte ich 20 000 Klicks. Einige Dutzend wildfremde Leute abonnierten die Facebook-Seite und den Twitter-Account der Tagespresse. Ungläubig starrte ich auf die Zugriffsstatistik. Bekannt zu werden ging einfacher als gedacht, mein Feuer war entfacht.

So schrieb ich munter weiter und stürzte mich, inzwischen mit fertigem Bachelor zurück in Wien, auf ein neues Thema. Zu diesem Zeitpunkt sorgte Edward Snowden mit seinen Aufdeckungen über das massive Überwachungsprogramm des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes NSA für Aufsehen. Er flüchtete zunächst nach Hongkong, dann tauchte er ab. Die Welt rätselte über seinen Aufenthaltsort, wilde Spekulationen gingen durch die Medien. In Referenz auf die langen Asylverfahren in Österreich schrieb ich einen Artikel mit folgender Headline: »Vertraut auf Trägheit der Justiz: Edward Snowden in Wien gelandet.« Ich erstellte eine Fotomontage von Snowden mit abgedunkelten Sonnenbrillengläsern, zitierte im Text einen Zollbeamten am Flughafen, der Snowdens Ankunft gegenüber der Tagespresse »bestätigte«, und verlinkte den Beitrag auf Facebook.

In meinem Echtzeit-Analysetool sah ich wenig später, dass 20 Personen gerade meinen Artikel lasen. »Nicht schlecht!«, dachte ich. Zu meinem großen Erstaunen stieg diese Zahl in kurzer Zeit auf 40. Ich freute mich über meinen bis dato größten Erfolg. Glücklich machte ich mir in der Küche einen Kaffee. Den hatte ich mir verdient! Als ich wiederkam, waren es schon 100 Menschen. Ich verfiel in helle Aufregung. Was geht hier vor? Doch da ging der Ansturm erst so richtig los. Ab etwa 200 Menschen, die zeitgleich meine Seite lasen, begannen die ersten fremdsprachigen Tweets von seriösen JournalistInnen auf Twitter aufzutauchen: »Edward Snowden has landed in Vienna – confirmed by border officials«, postete ein Account aus den USA und verlinkte die Tagespresse. Meine Aufregung schlug langsam in Entsetzen um: Was habe ich nur angestellt? Ich sah bereits die wütende Meute vor dem Fenster mit Heugabeln demonstrieren, meinen Kopf fordernd. Man muss sich vorstellen: Ich saß zu diesem Zeitpunkt vor dem PC im Wohnzimmer meiner Mama, bei der ich damals noch wohnte.

Schließlich schnellte die Zahl der LeserInnen auf 500 hoch. Mittlerweile tauchten im Sekundentakt Tweets in unterschiedlichsten Sprachen auf, wonach Snowden sich in Wien aufhalte. Ein Account des Hacker-Kollektivs »Anonymous« kündigte eine Pressekonferenz mit dem Whistleblower am Flughafen Wien an. Irgendwann stieg die Zahl der gleichzeitigen LeserInnen auf 1200 an. Etwa zu diesem Zeitpunkt meldete sich das österreichische Außenministerium zu Wort und stellte nach mehreren Anfragen internationaler Medien klar: »Edward Snowden ist nicht in Wien.« Jetzt gab mein Server den Geist auf. Da die Tagespresse auch etliche andere Websites mit in den Abgrund zog, habe ich seither »Hausverbot« beim Hostingprovider und muss mir einen eigenen Server mieten. »Online-Satire aus Österreich narrt die Welt«, titelte an jenem Tag die österreichische Nachrichtenseite Der Standard.

Meine Geschichte wäre ohne soziale Medien nicht möglich gewesen. So viele Menschen in so kurzer Zeit zu erreichen, hätte wenige Jahre zuvor noch vermögende Geldgeber, teure Druckerpressen und eine gut dotierte Redaktion, einen Vertrieb, eine Marketingabteilung erfordert. Ich dagegen investierte alles in allem kaum 100 Euro und ein paar Stunden Arbeit.

Das Internet hat die Art und Weise revolutioniert, wie wir untereinander Informationen austauschen. Kommunikation funktioniert heute billiger, unkomplizierter und vor allem schneller als jemals in der Geschichte der Menschheit. Wenn wir eine E-Mail verschicken, erreicht sie ihr Ziel dank Glasfaserkabel fast in Lichtgeschwindigkeit – wir haben die Grenzen der physikalischen Machbarkeit de facto ausgereizt.

Als wir in den 1990ern begannen, uns über das Internet zu vernetzen, verfielen wir in Euphorie. Wir dachten, die Ära von Propaganda und Falschmeldungen gehe nun zu Ende. Denn was könnten PopulistInnen noch unternehmen, wenn sich die Menschen direkt untereinander vernetzen, austauschen und ohne Zensur kommunizieren können? Die Demokratie könne doch nur siegen, ja, ein Sieg sei geradezu eine historische Unvermeidbarkeit, wenn wir die Lüge mit nur einem Klick widerlegen können, dachten wir.

Doch wenn 2016 ein Reality-TV-Star mithilfe von Falschmeldungen ins Weiße Haus gewählt wird, seine Amtszeit mit einem Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol endet und er dabei von 45 Prozent der US-AmerikanerInnen unterstützt wird, wenn die Militärregierung in Myanmar den Genozid an einer ganzen Volksgruppe durch Kampagnen auf Facebook legitimiert, wenn während einer Jahrhundertpandemie plötzlich Millionen Menschen glauben, das Virus, das sie eigentlich krank macht, sei nur eine Erfindung irgendwelcher Eliten, dann sollte selbst dem größten Optimisten klar sein: Irgendwas läuft da gravierend falsch.

Zu Beginn der 2020er-Jahre steht fest, dass sich unsere gesellschaftspolitischen Hoffnungen in die neue Technologie nicht erfüllt haben. Von einer aufgeklärten Gesellschaft, in der Propaganda und Lügen kurze Beine haben, in der Autokraten ihre Macht verlieren, weil ihnen die Öffentlichkeit einen unerbittlichen Spiegel vorhält, sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: Soziale Netzwerke, Algorithmen und Technologieriesen haben den Mächtigen neue Werkzeuge in die Hand gegeben, um die Massen nach ihrem Gutdünken zu manipulieren, gegeneinander aufzuhetzen und dabei ihre eigene Agenda zu verfolgen.

Eine alarmistische Verteufelung dieser neuen Technologien liegt mir jedoch fern. Das Internet und die sozialen Netzwerke bescherten der Menschheit einen unmessbaren Nutzen. WhatsApp, Instagram und Facebook bringen uns unsere Mitmenschen näher, YouTube unterhält mit einer schier endlosen Auswahl an Videos, Reddit stimuliert Debatten, TikTok bringt Milliarden Menschen zum Lachen, Tinder bringt einander völlig unbekannte Menschen zusammen.

Mit diesem Buch will ich einen Beitrag dazu leisten, dass der Traum von der digitalen Revolution nicht zum Albtraum wird. Ich selbst bin mit dem Internet aufgewachsen, habe die Anfänge der sozialen Netzwerke erlebt und gesehen, wozu sie imstande sind. Über die Jahre habe ich einige Ansichten zu diesem Themenkomplex entwickelt und sehe soziale Medien heute kritischer als noch vor zehn Jahren.

Was genau falschläuft, wo die neuen Technologien Risiken für unser Zusammenleben bergen und wie man mit diesen Risiken umgehen könnte, das möchte ich in diesem Buch aufzeigen. Wir leben in einem neuen Zeitalter, das uns Technologien beschert, die es ermöglichen, unsere Wahrnehmung der Realität effektiver als jemals zuvor zu beeinflussen. Wenn uns ein Blick in die Geschichtsbücher eines zeigt, dann dies: Wer die Nachrichten manipuliert, wer die Wahrnehmung der Realität manipuliert, der manipuliert auch den Verlauf der Weltgeschichte.

Der Vormarsch der Autokratien

»Das Kapitol ist anscheinend unter der Kontrolle eines Mannes, der einen Wikingerhelm trägt«, schreibt New York Times-Journalist Mark Leibovich am 6. Jänner 2021. Er berichtet live vom Sturm auf das US-Kapitol durch einen wütenden Mob von Anhängern von Noch-US-Präsident Donald Trump. Soeben drangen sie in den Plenarsaal des Repräsentantenhauses ein. Triumphierend stolziert einer von ihnen, ein Verschwörungstheoretiker namens Jake Angeli, durch die altehrwürdigen Gemäuer und posiert für die Kameras. Sein ikonischer Wikingerhelm, an dem Hörner befestigt sind, macht ihn weltbekannt.

Nur wenige Stunden zuvor hielten Trump und sein Anwalt Rudy Giuliani eine Ansprache vor Tausenden Anhängern auf dem Platz vor dem Weißen Haus. Giuliani wiederholte Verschwörungstheorien über einen angeblichen großflächigen Wahlbetrug und forderte wörtlich ein »trial by combat« ein – ein unverhohlener Aufruf zur Gewalt, den er später als »Game Of Thrones«-Referenz relativierte.1 Anschließend sprach Trump, der seinen Anhängern einheizte und sie aufforderte, zum nahegelegenen Kapitol zu marschieren. »Wir kämpfen, wir kämpfen wie verrückt, und wenn ihr nicht wie verrückt kämpft, habt ihr bald kein Land mehr«, warnte er und versprach, mit den Protestierenden zum Kapitol zu marschieren (was er dann nicht tat). Er hatte seine Rede noch gar nicht beendet, da setzte sich der Mob schon in Bewegung. Hunderte Menschen, viele in militärischer Kleidung, stürmten das Kapitol. Vier Protestierende sowie ein Polizist der Capitol Police kamen letztendlich dabei ums Leben. Die Ausforschung der am Sturm Beteiligten erwies sich als nicht besonders schwierig, da sich die Teilnehmenden massenhaft filmten, auf ihren sozialen Kanälen Selfies mit Klarnamen posteten und den Sturm teilweise live mit ihren Smartphones übertrugen. Verblendet von Jahren der Desinformation und Verschwörungstheorien dachten sie offenbar, sie stünden auf der Seite der Gerechtigkeit. Sie bemerkten nicht, dass sie eigentlich einen Putschversuch im Dienste eines Narzissten ausführten, der seine Wahlniederlage nicht akzeptieren wollte. Für viele seiner Fans endete der gewaltsame Ausflug im Gefängnis.

Über Jahre hatte Trump seine digitale Strahlkraft genutzt, um eine fanatisierte Anhängerschaft um sich zu scharen, ihr eine verzerrte Weltsicht einzuimpfen und um zuallerletzt einen großflächigen Wahlbetrug zu erfinden, an den laut Umfragen eine Mehrheit der republikanischen Wähler tatsächlich glaubte. Wäre der Sturm auf das Kapitol allein Trump anzulasten, würde dieses Buch jetzt hier enden. Aber diese Vorfälle markierten nur den traurigen Höhepunkt einer Entwicklung, die ihren Ausgang bereits viele Jahre früher genommen hatte, lange bevor Trump am 16. Juni 2015 im Trump-Tower die Rolltreppe hinunterfuhr, um seine Kandidatur bei den US-Wahlen zu verkünden. Eine Entwicklung, die sich nicht nur auf die USA beschränkt, sondern weltweit beobachtet wird.

Das vergangene Jahrzehnt ist gekennzeichnet vom rapiden Aufstieg von Rechtspopulisten und Autokraten in zahlreichen Demokratien. Unter den neuen, demokratiefeindlich eingestellten Staatsoberhäuptern der letzten zehn Jahre finden sich etwa Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Narendra Modi in Indien, Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, oder der PiS-Chef Jarosław Kaczyński in Polen. Langzeitherrscher wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei, Viktor Orbán in Ungarn und Wladimir Putin in Russland legten in den vergangenen Jahren einen bedenklichen Wandel von Modernisierungshoffnungen zu populistischen Autokraten hin. In einigen Ländern Europas kamen Rechtspopulisten in Griffweite der Macht, so etwa Heinz-Christian Strache in Österreich, Marine Le Pen in Frankreich oder Matteo Salvini in Italien. In anderen europäischen Ländern konnten rechtspopulistische Bewegungen massiv erstarken, wie etwa die AfD in Deutschland, der Vlaams Belang in Belgien, die Fortschrittspartei in Norwegen oder die gleichnamige Partei in Dänemark. Dem britischen Rechtspopulisten Nigel Farage gelang mit dem Brexit-Votum im Jahr 2016 ein beachtlicher Wahlerfolg, das Land wird derzeit von Boris Johnson regiert, dem rechtspopulistische Tendenzen nachgesagt werden. Auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz konnte bei den Nationalratswahlen 2017 unter anderem deshalb reüssieren, weil er die ausländerfeindlichen Positionen der FPÖ im Wesentlichen übernahm und für ein bürgerliches Publikum wählbar machte.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sank die Zahl der Autokratien, also jener Staaten, in denen ein Einzelner die Staatsgewalt in der Hand hält, zunächst rapide ab: von 137 Autokratien im Jahre 1945 auf einen Tiefstand von 78 im Jahr 2009. Doch dieser Kurs kehrte sich seither um, bis zum Jahr 2020 stieg die Zahl sogar wieder auf 92 an, womit sich autokratische Staaten erstmals seit 2001 wieder in der Mehrheit befinden.2 Wenn uns das Internet also von Tyrannei und Diktatur befreien und die Demokratie stärken sollte, so ist von diesem Effekt bis dato wenig zu spüren. Stattdessen durchleben wir eine historische Phase des Erstarkens autokratischer Politik, mit einer Besinnung auf Werte wie Nationalismus, Stärke und Tradition.

Dieses düstere Bild malt der Demokratie-Report 2020 des V-Dem-Instituts der Universität Göteborg. Das Institut bezieht in seine Analyse 28 Millionen Datenpunkte aus 202 Ländern ein, befragt 3000 ExpertInnen und versucht so, ein Bild von der Lage der Demokratie in der Welt einzufangen.3 Das Urteil: Autokratien befinden sich global auf dem Vormarsch. 54 Prozent der Menschheit leben in Autokratien, weitere 35 Prozent in Staaten, die zunehmend in autokratische Zustände abrutschen. Dieser Trend betrifft nicht nur Entwicklungs- und Schwellenländer. Die USA unter Trump und die Türkei werden etwa als schwierige Patienten hervorgehoben. Mittlerweile darf sich auch die EU über ihr erstes nicht demokratisches Mitglied »freuen«: Ungarn wird erstmalig als »electoral authoritarian regime« bezeichnet, als eine Autokratie, die versteckt hinter einer demokratischen Fassade agiert und Institutionen der Demokratie für ihren Machterhalt aushöhlt. Im Jahr 2017 beobachteten die ForscherInnen in 19 Ländern Angriffe auf die Redefreiheit, diese Zahl stieg bis zum Jahr 2019 auf 31 an.

PolitologInnen sprechen daher bereits von einer »dritten Welle der Autokratisierung«.4 Die erste und die zweite Welle der Autokratisierung werden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet, sie waren mehrheitlich geprägt durch »klassische« Machtergreifungen: Militärputsche, Invasionen feindlicher Staaten oder eine demokratische Machtergreifung gefolgt von einer überfallsartigen Abschaffung der Demokratie (z.B. Hitler in Deutschland).

Die dritte Welle unterscheidet sich von den ersten beiden in einem signifikanten Aspekt: Sie manifestiert sich primär durch eine langsame, aber beständige Erosion demokratischer Institutionen. Die Machthaber kommen demokratisch an die Macht und beginnen anschließend, die Demokratie, ihre Normen und Institutionen zu untergraben, nicht überfallsartig, sondern Schritt für Schritt. Denn eine zu schnelle Autokratisierung führt zu nationalem wie internationalem Widerstand. Regime in aller Welt haben dazugelernt und schaffen die Demokratie lieber in kleinen, verborgenen Schritten ab.

Der Rückzug der Demokratie korreliert zeitlich mit der Ausbreitung sozialer Medien und dem Aufstieg von Facebook, Twitter und Co., die allesamt in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden sind. Doch Korrelation ist nicht dasselbe wie Kausalität: Nur weil etwas gleichzeitig passiert, lassen sich aus dieser Tatsache allein keinerlei Rückschlüsse auf einen unmittelbaren Zusammenhang ziehen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich in der Tat ein äußerst komplexes Bild des Verhältnisses zwischen Politik und sozialen Medien. Eines lässt sich jedoch vorweg sagen: Genauso wie die Politik immer schon in gegenseitiger Wechselwirkung mit klassischen Medien stand, genauso ist es auch mit sozialen Medien. Politik prägt soziale Medien durch Gesetze und oft auch Repression. Umgekehrt prägen soziale Medien auch Politik und Gesellschaft.

Nicht nur Autokraten erkannten bald die Macht sozialer Medien. Die Euphorie, die in den 2000er-Jahren aufgekommen war, als die Menschen merkten, wie blitzartig sie sich untereinander vernetzen konnten, um politische Agenden durchzubringen, setzte zunächst in unserer nahöstlichen Nachbarschaft einen Prozess in Gang, der die dort seit Langem herrschenden Autokraten das Fürchten lehrte. Es war ein erster Vorgeschmack auf die realpolitische Macht sozialer Medien, er ging als »Arabischer Frühling« in die Geschichte ein. Dabei kam es keineswegs zur Unterdrückung des Volks mithilfe sozialer Netzwerke. Vielmehr nutzte die Zivilgesellschaft die neuen Medien, um sich ihrer autokratischen Anführer zu entledigen.

Der Arabische Frühling

Zuerst schlossen sie seinen Gemüsestand, dann beschlagnahmten sie seine Waage, dann misshandelten sie ihn. Am 17. Dezember 2010 zündete sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest und Verzweiflung über die schlechte Behandlung durch Behörden selbst an. Er starb einige Tage später im Krankenhaus. Seine Verzweiflungstat setzte landesweite Massenproteste in Gang. Der Unmut über die schlechte wirtschaftliche Situation im Land hatte sich über Jahre angestaut, die Verzweiflungstat von Bouazizi entzündete die Protestbewegung wie ein Funke einen Haufen Dynamit. Die Massendemos griffen schon bald auf Nachbarländer über, dann auf den gesamten arabischen Raum.

Soziale Medien spielten eine Schlüsselrolle bei der Entstehung und Organisation der Proteste. Die Menschen nutzten sie, um sich gegen ihre Machthaber zu organisieren und die staatlich zensierten Medien zu umgehen. Während Menschen in Europa einander via Facebook zu ihren Geburtstagspartys einluden, luden sie sich im Maghreb gegenseitig zu Demonstrationen ein. Eine Umfrage in Ägypten und Tunesien ergab, dass neun von zehn Befragten Facebook zur Organisierung der Proteste nutzten, oder um FreundInnen darüber in Kenntnis zu setzen.5 So trugen die Plattformen zu einer rasanten Massenmobilisierung bei. Die Nutzerzahlen von Facebook und Twitter im arabischen Raum stiegen während des Arabischen Frühlings rapide an. In Ägypten versuchte das Regime, die Koordination und Planung der AktivistInnen zu verhindern, indem das Internet im ganzen Land einfach abgedreht wurde. Doch es war bereits zu spät, die Menschen in Ägypten hatten da bereits begriffen, dass sie mit ihrer Unzufriedenheit nicht allein waren. Die Massenproteste wuchsen folglich sogar noch weiter an, der Langzeitherrscher Hosni Mubarak wurde nach nur 17 Tagen abgesetzt. In Ländern mit geringerer Internetverbreitung wurde die Rolle der sozialen Medien teils von TV-Sendern wie Al Jazeera übernommen, die von den Massenprotesten in Tunesien und Ägypten ausführlich berichteten. Die Bewegung führte schlussendlich zu Absetzung, Sturz oder Rücktritt zahlreicher weiterer Staatsoberhäupter in der Region, darunter Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten, Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali Abdullah Salih im Jemen. In manchen Ländern tobt bis heute ein Bürgerkrieg, etwa in Syrien. Die Tatsache, dass der Arabische Frühling nur in Tunesien zu einer echten Demokratisierung führte, steht auf einem anderen Blatt.

Möglicherweise hätte die wirtschaftliche Misere im arabischen Raum früher oder später auch ohne soziale Medien zu Massenprotesten geführt, so wie jedes Fass irgendwann überläuft. Dennoch beschleunigten Facebook und Twitter die Ausbreitung der Proteste signifikant.6 Die sozialen Medien ermöglichten eine effiziente Organisation und steigerten die Motivation des eigenen sozialen Umfelds zur Teilnahme. Die propagandistischen Gegendarstellungen der Herrscher in den Staatsmedien liefen ins Leere. In den westlichen Staaten und ihren Zivilgesellschaften wurden die Vorgänge als »Demokratiebewegungen« begrüßt. Zusätzlich sorgte die brutale Reaktion vieler Herrscher auf die Proteste für Entsetzen: So ließ der syrische Machthaber Bashar al-Assad Fassbomben über Demonstrationszügen abwerfen, Gaddafi und andere Diktatoren gaben Schießbefehle, unter den Demonstrierenden gab es viele Tote. Dies führte zu einer Solidarisierung der EU und der USA mit der Protestbewegung. Eine Debatte über die möglichen Gefahren sozialer Medien für die Stabilität eines Staats blieb daher völlig aus, da ihre Mobilisierungsmechanismen nicht als bedrohlich wahrgenommen wurden.

Werkzeuge der Macht

Heute gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass soziale Medien zu weit mehr fähig sind als nur zur Katalyse von »guten« Massenprotesten gegen autokratische Herrscher. Sie können auch das weniger Gute katalysieren. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump sagte im Jahr 2017 gegenüber dem TV-Sender Fox Business: »Ich glaube, ohne soziale Medien wäre ich gar nicht hier. […] Twitter ist wie eine Schreibmaschine, wenn ich etwas poste, dann gebt ihr es sofort in eure Sendung. Wenn jemand was über mich sagt, dann kann ich mich zack, zack darum kümmern. [Ohne Twitter] könnte ich mich niemals so zu Wort melden.«7

Über seinen Twitter-Account übte Trump eine Macht aus wie noch kein Staatsoberhaupt vor ihm: Er attackierte KritikerInnen und JournalistInnen, feuerte Kabinettsmitglieder, verbreitete seine oft falsche Sicht der Dinge ohne Widerspruch, stellte einen Schießbefehl gegen Demonstrierende von »Black Lives Matter« in den Raum und drohte sogar anderen Ländern mit Krieg. Offizielle Presseaussendungen oder Redemanuskripte gingen über den Schreibtisch von PressesprecherInnen, die Trumps destruktivste Impulse so entschärfen konnten. Doch über sein Handy konnte Trump seine Gedanken ungefiltert und ohne Rücksicht auf Verluste herumposaunen.

Trump ist nicht der einzige Politiker, der soziale Medien intensiv zur Kommunikation nutzt. Heutzutage tut dies faktisch jede in der Politik tätige Person, entweder persönlich oder über ein Social-Media-Team. Besonders RechtspopulistInnen können mit Fug und Recht als Pioniere der politischen Social-Media-Kommunikation bezeichnet werden. Heinz-Christian Strache galt als einer der ersten österreichischen Politiker mit einer großen Präsenz auf Facebook. Über Jahre konnte ihm niemand in der österreichischen Politik in puncto Reichweite und Fans das Wasser reichen. Jair Bolsonaro, einst eine politische Randfigur der Extremisten in Brasilien, baute auf YouTube einen Videokanal auf, der zeitweise mehr SeherInnen verzeichnete als die meisten nationalen TV-Sender des Landes.8 Matteo Salvini, Marine Le Pen, Nigel Farage: Sie alle verfügen über riesige Kanäle in sozialen Medien, auf denen sie ein Millionenpublikum ungefiltert erreichen.

Gewiss gab es Autokraten und Fake News schon lange vor den sozialen Medien. Auch steht außer Zweifel, dass Trumps Fans nicht durch seinen Twitter-Account radikalisiert wurden, sondern vom Gefühl, von der Elite ignoriert zu werden, und von der Angst, in einer sich schnell wandelnden Welt zu den ModernisierungsverliererInnen zu zählen.

Doch Trumps Twitter-Account ließ ihn zur Projektionsfläche dieser wütenden Gruppe werden. Sein Aufstieg, aber auch jener der anderen genannten PopulistInnen, zeigt exemplarisch, wie soziale Medien die Strategien und Vorgehensweisen von autokratisch eingestellten PolitikerInnen verändern. Wie sich in diesem Buch noch zeigen wird, sind soziale Medien den Autokraten dieser Welt bei der Erosion der Demokratie behilflich. Denn Facebook, YouTube, Twitter und Co. drückten ihnen neuartige, mächtige Werkzeuge in die Hand. Soziale Medien verhelfen den autokratischen Bewegungen so zu neuem Schub. Unzufriedenheit, Wut auf die Eliten und Abstiegsangst sind die Saat, soziale Medien der Dünger.

Resümee

Das vergangene Jahrzehnt bescherte uns einen rapiden Aufstieg von Autokraten in zahlreichen Demokratien. PolitologInnen sprechen bereits von der »dritten Welle der Autokratisierung«. Diese Welle korreliert zeitlich mit der Ausbreitung sozialer Medien. Doch die Kausalität verläuft weitaus komplexer. So lehrte etwa der Arabische Frühling viele Diktatoren in muslimischen Ländern das Fürchten. Heute wissen wir allerdings, dass das Internet nicht nur demokratische Protestbewegungen fördert. Rechtspopulisten gehören zu den Pionieren, wenn es um die Nutzung sozialer Medien geht. Sie erkannten den Wert dieser neuen Werkzeuge und erwiesen sich in ihrer Anwendung bisher als äußerst geschickt.

Die Zeitenwende

Lange sahen wir die gefährliche Symbiose zwischen sozialen Medien und Autokraten nicht. Denn die Entstehung des Internets entfachte in uns eine Euphorie und einen starken Glauben an die positiven gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen Technologie.

Schon kurz nach der Bildung der ersten Computernetzwerke bemerkten die Menschen das gigantische Potenzial hinter der Idee, die später als »Internet« bekannt wurde. Schnell war klar, dass die neuen Möglichkeiten zur blitzschnellen, grenzenlosen Kommunikation von Wissen alle unsere Lebensbereiche verändern würden. Aus den Verheißungen des anbrechenden Informationszeitalters erwuchs ein Optimismus, der lange anhielt und dem sich nur wenige entziehen konnten. Ein Blick in die Archive zeigt: Die Menschen legten von Anfang an große Hoffnungen in die Technologie.

In den ersten Medienberichten über das Internet kam der Begriff »Internet« noch gar nicht vor. Es war das Jahr 1981, Ronald Reagan wurde gerade als neuer US-Präsident vereidigt, die Welt steckte mitten im Kalten Krieg. Die kalifornische Nachrichtensendung NewsCenter 4 faszinierte ihre ZuseherInnen in jenen Tagen mit einer utopischen Zukunftsvision: »Stellen Sie sich vor: Sie sitzen beim Morgenkaffee und drehen Ihren Computer an, um die Zeitung von heute zu lesen. Das ist nicht so abwegig, wie es klingt«, regte die Moderatorin die Fantasie ihrer ZuseherInnen an. Der Bericht handelte von einem experimentellen Computernetzwerk zwischen acht Zeitungen. Zum damaligen Zeitpunkt existierten in den USA bereits verschiedenste Netzwerke parallel zueinander, schon seit den 1960ern, allerdings beschränkten sie sich auf den Datenverkehr zwischen Universitäten und Verteidigungseinrichtungen. Erst Jahre später entwickelte sich daraus ein übergreifendes Netzwerk.

Am 5. November 1988 erschien in der New York Times zum ersten Mal der Begriff»Internet«, um dieses Netzwerk von Computern zu beschreiben.9 Jedoch nicht in einem positiven Kontext, etwa um die neue, revolutionäre Technologie zu lobpreisen, sondern – welche Ironie – um die Ausbreitung des weltweit ersten Computervirus zu vermelden, das sich über ein Netzwerk ausbreitete. Im Jahr 1988, als das Virus zuschlug, waren bereits 60 000 Computer miteinander verbunden. Als Übeltäter entlarvten ErmittlerInnen ausgerechnet den Sohn des Chefs des damaligen National Computer Security Center, einer Einrichtung, die zur NSA gehörte. Robert T. Morris jr., damals ein 23-jähriger Student, hatte ein Computerprogramm erstellt, das sich innerhalb des damaligen Netzwerks des US-Verteidigungsministeriums unbemerkt von Computer zu Computer kopieren sollte. Leider enthielt der Code einen Fehler, der dazu führte, dass sich das Virus unkontrolliert ausbreitete und 6000 vernetzte Computer im ganzen Land befiel, etwa zehn Prozent des damaligen Internets. Sein Vater, Morris senior, bezeichnete das Virus als »Werk eines gelangweilten Studenten« mit womöglich positiven Effekten: Lenke es doch die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Risiken einer Vernetzung von Computern. Morris jr. wurde zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Er sollte wenige Jahre später eine Internetfirma gründen, die er just vor dem Platzen der Dotcom-Blase teuer verkaufte. Heute lehrt er am renommierten Massachusetts Institute of Technology.

Erst im Jahr 1990 begann die Kommerzialisierung des Internets, beschleunigt durch die Entwicklung des World Wide Web, einem einheitlichen System zum Abrufen von Internetseiten. Ab diesem Jahr stieg auch das Medieninteresse an der neuen Technologie.

Einen ersten konkreten Bezug auf die bahnbrechenden Möglichkeiten des Internets nahm die New York Times am 5. Mai 1990. »Eine faszinierende Art und Weise, Freundschaften zu schließen!«, zitiert die Zeitung etwa eine Frau aus dem kalifornischen Santa Monica. Ihre Stadt hatte ein Computernetzwerk eingerichtet, mit dem BürgerInnen untereinander via Computer kommunizieren konnten. Das Netzwerk erfreute sich großer Beliebtheit. »Würden wir es abschalten, gäbe es eine Revolution«, vermutete ein Stadtbeamter gegenüber der New York Times. Auch über eine elektronische Konferenz des IT-Riesen IBM wurde berichtet, bei der Tausende TeilnehmerInnen untereinander Nachrichten verschicken konnten. »Ansonsten unlösbare Probleme können wir jetzt binnen Minuten lösen«, zeigte sich der IBM-Forschungsleiter für Computersysteme begeistert von den ersten Erfolgen. Auch erste politische Anwendungen waren Thema des Artikels, etwa von chinesischen StudentInnen außerhalb Chinas, die sich nach der Niederschlagung der Proteste am Tian’anmen-Platz via Internet organisierten, oder auch von Neonazi-Gruppierungen, die heimliche Treffen organisierten.

Die Zeitung resümiert: »Die soziologischen Effekte von Computernetzwerken sind zwar umstritten […]. Es steht jedoch außer Zweifel, dass die Auswirkungen dieser neuen Generation elektronischer Kommunikation erheblich sein werden. Vereinfacht gesagt: Das Internet ermöglicht es vielen Menschen, mit vielen anderen zu kommunizieren, die sich irgendwo auf der Welt befinden. Es ermöglicht eine schnelle und einfache Teilnahme auf eine Weise, die Briefe, Telefone und Fernsehen nicht schaffen.«10

Derselbe Artikel enthält jedoch auch eine fast schon prophetische Warnung: »Einige Jugendliche scheinen die Computerkommunikation so einfach und faszinierend zu finden, dass sie viele Stunden am Tag an der Tastatur verbringen, was möglicherweise die Entwicklung persönlicher sozialer Fähigkeiten verzögert.«

Geradezu euphorisch berichtete die Zeitung im Jahr 1992 über erste Bildungsprojekte via Internet: »Befürworter sagen, dass das Internet gewöhnlichen Menschen, die gewöhnliche PCs verwenden, ein neues Maß an Macht verleiht und sich auf das Bildungssystem des Landes auswirken könnte, indem es Schülern und Studenten weltweit Zugang zu Spitzenforschung verschafft.« Die New York Times ging zum damaligen Zeitpunkt von 25 Millionen jährlichen InternetnutzerInnen aus.

Dieser Tonfall zog sich auch durch die folgenden Jahre. Immer öfter wurde über Investitionen und Erweiterungen des Internets berichtet und seine Bedeutung betont. Im Jahr 1993 zog ein Professor der Universität Illinois in der New York Times schließlich sogar einen Vergleich zu Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks, und meinte: »Das Internet verkürzt Distanz und Zeit auf null. Es ist, als ob alle Forscher der Welt in einem Raum wären.«11 Sein optimistisches Resümee: »Es ist die vereinheitlichende Technologie, die uns helfen kann, die Epidemie der Gruppen-Feindschaften, die wir weltweit sehen, zu überwinden. Wir alle wollen eine Struktur, die die Menschheit vereint. Das Internet deutet in diese Richtung. Es fördert eine sehr egalitäre Kultur in einer Zeit, in der sich die Welt in schwindelerregendem Tempo verändert.«

In Talkshows wie Today wurde das Internet im Jahr 1994 eifrig diskutiert. »Macht es euch nichts aus, dass ihr diese Leute gar nicht kennt?«, fragte eine Moderatorin ihre Kollegen. »Ich meine, jeder kann mit dir ein Gespräch anfangen und gemeinsam herumjammern!« Ein Kollege pflichtete ihr bei: »Es ist die Gruppentherapie der 1990er!«

Im selben Jahr widmete sich das renommierte Time Magazine den potenziellen Auswirkungen des Internets auf den Journalismus: »Das Internet repräsentiert die ultimative Befreiung des Journalismus. Jeder mit einem Computer und einem Modem kann sein eigener Reporter, Chefredakteur und Herausgeber werden – und seine Berichterstattung an Millionen Leser in aller Welt weiterverbreiten.«12 Das Time Magazine sah in diesem Paradigmenwechsel die »Saat revolutionärer Veränderung«.

Ein Kommentar des Intellektuellen und Leiters der New York Public Library Paul LeClerc in der New York Times aus dem Jahr 1996 fing die enthusiastische Stimmung der Meinungselite gegenüber dem Internet ein: »Ungefähr einmal im Jahrhundert erhält Amerika die Chance, dass seine Bibliotheken unsere Demokratie erheblich voranbringen. Ein solcher Moment ist zum dritten Mal in unserer Geschichte gekommen.«13 Er zog Parallelen zum Jahr 1793, als Benjamin Franklin in Philadelphia die erste öffentliche Bibliothek der USA eröffnete. Etwa hundert Jahre später ließ Stahlmagnat und Philanthrop Andrew Carnegie nicht weniger als 1679 Bibliotheken im ganzen Land erbauen. Nun ermögliche ein neues