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Nach seinem Kampf gegen den Sultan ohne Namen wurde Kara Ben Nemsi aus Istanbul verschleppt und findet sich in Anatolien wieder. Auf seiner Spur sind die unheimlichen Jagdhunde des Hayalbas. Ein einstiger Widersacher hilft Kara Ben Nemsi, unentdeckt in die Weidegründe der Haddedihn zu gelangen, wo Hadschi Halef Omar seine Schreckensherrschaft ausübt, als Marionette des Sultans ohne Namen. Um den Bann seines Freundes zu brechen, muss Kara Ben Nemsi zu seltsamen Mitteln greifen. Für den endgültigen Sieg über den Sultan ohne Namen aber braucht es die Hilfe des Zauberers Haschim – doch dieser verbirgt sich an unbekanntem Ort. Mit einem Epilog von Thomas Le Blanc! "Die Geister von Iskenderun" ist die Fortsetzung von "Die Seelen von Stambul".
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Seitenzahl: 631
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Band11
Die Geister von
Iskenderun
Der Sultan ohne Namen – Teil 2
vonAlexander Röder
Mit einem Epilogvon Thomas Le Blanc
KARL-MAY-VERLAGBAMBERG•RADEBEUL
Herausgegeben von Thomas Le Blanc und Bernhard Schmid
In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:
Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen (auch als Hörbuch)
Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren
Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers
Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache
Band 5 – Alexander Röder, Tanja Kinkel u. a. Sklavin und Königin
Band 6 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Auf der Spur der Sklavenjäger
Band 7 – Jacqueline Montemurri, Bernhard Hennen Der Herrscher der Tiefe
Band 8 – Friedhelm Schneidewind, Bernhard Hennen Das magische Tor im Kaukasus
Band 9 – Jacqueline Montemurri, Nina Blazon Das Geheimnis des Lamassu
Band 10 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Die Seelen von Stambul
Band 11 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Die Geister von Iskenderun
Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden
Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays
Weitere Informationen zur Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ finden Sie im Internet auf
www.magischer-orient.karl-may.de
© 2024 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Illustration: Elif Siebenpfeiffer
ISBN 978-3-7802-1411-9
www.karl-may.de
Der Himmel über mir strahlte in farbloser, blendender Helle. Ich hob die Hand, um meine Augen zu beschatten. Mein Arm schmerzte dumpf unter den Muskeln, als habe etwas am Mark meiner Knochen genagt. Mein gesamter Leib fühlte sich taub an, doch ich ahnte, dass es meine geschundene Seele war, die mir jene Pein bereitete. Ich litt daran, dass ich – mein Ich – in der Seelenwelt umgegangen war, während die leere Hülle aus Fleisch und Gebein und Innereien in der Menschenwelt geweilt hatte. Und dieser mein Leib war in jener Zeit bewegt worden, denn ich war nicht mehr in Stambul. Während meines Kampfes mit dem Hayalbas, mit Atsiz Bey, der in den Sphären der Seelen sich ereignet hatte, mussten die Schergen des Sultans ohne Namen meinen reglosen Körper verschleppt haben. Doch wohin?
Die Landschaft ringsum war mir fremd und das erschreckte mich zutiefst. Ich halte viel auf meine Erfahrungen als Reisender in den Ebenen und Bergen des Orients. Doch diese Felsgegend kannte ich nicht: missfarbenes Gestein, schroffe Flächen, nicht in vertrautem Braun und Grau, sondern grell schillernd wie die Opale aus den Gruben des fernen Australiens oder die bunten Gewächse aus warmen Korallenmeeren. Jede einzelne Farbe sprang mir schwirrend entgegen, als starrte ich durch zwei Kaleidoskopröhren, die man mir statt der Augen in den Schädel gesetzt hatte.
Diese wahntraumhafte Szenerie konnte unmöglich der Orient sein, kein mir bekanntes anderes Land, nicht einmal ein Ort auf dem Rund der Erdenwelt. Eine entsetzliche Erkenntnis schnitt in mein Bewusstsein: War ich gar nicht in die Lebenssphäre der Menschen zurückgekehrt, sondern harrte noch immer in der Seelenwelt? Fern der sieben gestaltgewordenen Geschichtsepochen Stambuls, in einem Randbereich jenseits der Abbilder der Stadt? In einer wilden Einöde weitab der seelischen Metropole, ohne jegliche Verbindung zu den Zeiten und den Menschen? Gähnte hinter jenem blendenden Himmel eine seelenlose, wesensferne Leere, getrennt von aller Schöpfung?
Oder war dies alles die Seelenentsprechung einer fremden Welt, fern der Erde? Ich sah die grellen Farben jener argen Landschaft und es quollen Worte in mir empor, die ich einst auf meinen Reisen vernommen hatte, aus den Mündern von greisen Sehern und weisen Frauen, von armen Gestalten, deren Geister die Gefilde der Vernunft ohne Wiederkehr verlassen hatten. Dumpf hallten die Klänge, die keiner mir bekannten Sprache entstammten: Barsoom, Amtor, Perelandra, Nu… – die Namen von Orten, die nicht zu erreichen waren mit den Wagen und Schiffen der Menschen.
Und ein weiterer Name offenbarte sich mir aus den Tiefen meiner Erinnerungen, der Name eines noch ferner gelegenen Orts, eines jenseits unserer Universen angesiedelten Sterns, weitab der Menschheit – Sitara.
Mein Atem ging stoßweise und ich sog zitternd einen seltsamen Duft ein, der durch eine unmerkliche Brise herankam. Er war scharf und balsamisch, wie von einer unbekannten Blüte verströmt, die im Licht ungesehener Gestirne ihren Kelch öffnete – eine Sternblume ...
Schwindel erfasste mich, ich schwankte auf meinen tauben Beinen und fand mit den halb erlahmten Armen nur mit Mühe mein Gleichgewicht. Ich schaute gen Himmel, in meine unbeschatteten Augen drang ein farbloses Gleißen, nicht das vorige Farbgewitter, doch ebenso stechend und brennend. Ich neigte den Kopf, zwang die Lider zusammen und fand meine Balance in der sanften, selbstbestimmten Nacht.
Was hatte ich gesehen, jenseits der harschen Attacke fremder Farben? Das gleißende Licht aus dem Wolkendunst, der die Sonne verborgen hielt, warf von mir und den aufragenden Gesteinsnadeln nicht den blassesten Schatten. Wie konnte das Licht mich blenden und doch wie ein Schleier über alles gebreitet sein? Ich presste die Finger gegen meine geschlossenen Lider. Im Dunkel brannten Funken auf. Als ich die Augen wieder öffnete, klärte sich mein Blick und mein Geist zudem. Der Mangel an Schatten rührte vom hohen Sonnenstand der Tagesmitte. Mein Farbsinn und mein Helligkeitsempfinden waren genarrt worden. Nun war alles grelle Gleißen aus dem Licht gewichen. Die Landschaft stach nicht mehr mit verstörend irisierendem Schimmer auf mich ein, sondern lag warm und vertraut da, in irdischen Tönen von Erde und Fels.
Ein Lachen brach aus mir heraus, das meine Gliedmaßen beben ließ und meine schmerzenden Muskeln belebte. Hatte ich wahrhaftig geglaubt, mich auf einem fernen Stern zu befinden? Dieser Gedanke war absurd. Jüngst hatte ich die Seelenwelt und vor einigen Jahren die Geisterwelt bereist. Die Grenzen zu jenen Gefilden befinden sich auf unserer Erde und sind von uns Erdengeschöpfen zu überschreiten, ob mit Schritten des Leibes oder mit Sprüngen des Geistes. Ein Übergang in Welten jenseits unseres Planetenrunds mag kaum möglich sein, da mögen die Phantasten unter den Wissenschaftlern, die Romanciers des Technischen noch so sehr daran glauben. Eine Reise zum Mond etwa, mittels eines Kanonenschusses und eines Projektils, innen komfortabel ausgestattet wie der Salonwagen eines Eisenbahnzugs, mag einen gewissen französischen Fabuleur umtreiben und seine Leser nicht minder in Bann schlagen, mir hingegen scheint es kaum wahrscheinlicher als der Ritt auf der Kanonenkugel, wie ihn der gemeinhin Lügenbaron genannte Freiherr zu Münchhausen in seinen unterhaltsamen Schnurren niedergelegt hat, aufgeschrieben vom geschätzten Herrn Gottfried Bürger, wohnhaft in England, der Heimat des gepflegten literarischen Witzes.
Denn eines ist mir, der ich bereits in einem unterseeischen Schiff durch das mittelländische Meer reiste, als unfreiwilliger Passagier eines zweifelhaften Gastgebers, ganz klar: Ein Mensch braucht Luft zum Atmen. Er mag sich in einer eisernen Hülle unter Wasser einige Zeit aufhalten können, dann aber muss er aus den Fluten emporsteigen, um die Lungen mit kühler Brise zu füllen. Wie soll dies jenseits der atembaren Sphäre des Erdenplaneten möglich sein? Wasser und Nahrung lassen sich in Flaschen, Schläuche und Blechbüchsen füllen, doch der Monsieur Faraday, der allerlei andere Gase verflüssigen konnte, scheiterte just am wichtigen Sauerstoff.
Ich füllte lachend meine Lungen mit Atem, die Luft schmeckte so rein und irdisch, wie ich sie an vielen Orten der Erde hatte einsaugen dürfen, selbst in den Randbereichen, wo Seelen und Geister hausen.
Und so erwachten meine Lebensgeister und meine Seele stärkte sich, meine Sinne waren frei von Wirrnis und Täuschung. Ich schaute ins Rund der Landschaft, die keine Phantasmagorie aus Albträumen war oder der Fernblick auf fremde Welten. Es war irdische Geografie, die mir vertraut ist, ob durch eigene Anschauung oder Erzählungen und Berichte anderer, was selten, doch durchaus vorkommt, denn die Erde ist weit und meine Reisen beileibe noch nicht beendet. Was sah ich also?
Ein weites Feld von riesenhaften Felsnadeln, als habe man von einer gewaltigen Tropfsteinhöhle die steinerne Decke gelüftet und die zuvor in Finsternis harrenden Stalagmiten dem Tageslicht dargeboten. Mehrfach mannshoch waren diese verwitterten Gebilde, manche schmaler, manche breiter, einige spitz wie Glockengehäuse von Kapellen oder wie schlanke Minarette, andere gedrungen und abgeflacht wie die Wohntürme des Kaukasus. Auf einem solchen stand ich und bemerkte mit kühler Erkenntnis, welches Glück mich davor bewahrt hatte, in meinem Wahn gar in die Tiefe gestürzt zu sein. Ich hätte mir an den Trümmern und dem Geröll des Grundes alle Knochen zerschlagen. So aber ging es mir wohl, trotz der kleineren Malaisen. Und ich wusste nun, wo ich mich befand:
Dies war Kappadokien, die markante Landschaft im Herzen Anatoliens, in den Weiten Kleinasiens, östlich des Bosporus. Ich war noch immer im Reich der Osmanen. Wieviel Zeit war seit meiner Reise in die Seelenwelt vergangen, die ich in Stambul unternommen hatte? War ich über die Seelenwelt an diesen Ort gelangt? In der Seelenwelt verging die Zeit anders, das hatte ich erfahren. Zu welchem Tag und welcher Stunde mochte ich hier in Kappadokien auf einer Felsnadel stehen?
Ich musste nicht den Sonnenstand und den Winkel zum Horizont bestimmen und nicht die spärliche Vegetation zwischen den Felsen auf ihren Gedeihzyklus prüfen – es genügte schlicht, mir über Kinn und Wangen zu fahren. Anhand meines Bartwuchses erkannte ich, dass man meinen reglosen Leib über den Bosporus geschifft und quer durch Kleinasien gekarrt hatte, denn ich hatte ja wohl kaum tagelang gebunden und bewusstlos auf einem Sattel geschwankt. Und auch das Ziel meiner erzwungenen Reise war mir klar: Ich war in Kappadokien, auf halbem Weg zwischen Stambul und Iskenderun, dem Machtzentrum des Sultans ohne Namen. Der Hayalbas, der Menschensammler, den ich in ungewollter Vertrautheit Atsiz Bey nennen durfte, wollte mich in seine Menagerie von gelehrten und famosen Persönlichkeiten sperren, eine äußerst zweifelhafte Ehre.
Ich hatte Ziel und Weg enträtselt. Doch warum war die Reise unterbrochen worden? Meine Verschleppung war bereits im Gang gewesen, als ich in der Seelenwelt dem Hayalbas gegenüberstand. Und als ich zurück in die wahrhaftige Welt gestürzt war, hatte ich anscheinend meine Gefangenenfesseln gesprengt und meinen Bewachern entkommen können. Ich war wie schlafwandelnd meinen Entführern entflohen, auf diese Felsnase geklettert und dann ohnmächtig geworden, alle Erinnerungen an Flucht und Aufstieg vergessend. Unfasslich! Doch wie konnte ich genau begreifen, wie man zwischen den Welten wandelte? Ich bin weder Magier noch Metaphysiker, und meine Einblicke in diese Dinge sind nur dürftig und schwach. Wichtiger war das Reale: Ich war in Kappadokien, meinen Wächtern entkommen und zweifellos in Gefahr, erneut gefangen und endgültig nach Iskenderun verschleppt zu werden ...
Ich Narr! Da stand ich aufrecht auf einer Felsnadel, weithin sichtbar und leicht auszumachen! Rasch sank ich in die Knie und spähte die Flanken der Felsnadeln entlang. Wo konnte ich hinunterklettern, die drei, vier Mannshöhen überwinden, die mich vom felsigen Grund trennten und dem Sichtschutz der ringsum aufragenden, natürlichen Türme?
Und dann sah ich, was mich erneut schwanken machte: Unter mir, zwischen den Sockeln der Felssäulen, auf den spärlich bewachsenen Freiflächen, sah ich die Trümmer eines hölzernen Wagens. Die Bretter, Achsen, Räder und Deichseln waren weit verstreut, wie gegen die hohen Steine geschleudert, als habe die Detonation von einigen Fässern Pulver das Gefährt zerrissen. Allein, es waren keine Spuren von Flammen zu sehen, kein Ruß und keine verkohlten Stellen. Der Wagen musste feuerlos zerborsten sein, wie von einer Riesenfaust, die, zuvor im Innern geballt, plötzlich die mächtigen Finger gespreizt hatte. Im Innern des Wagens hatten sich allerlei Güter und Gerätschaften befunden, die nun zerfetzt und zerbrochen auf den Felsen und dürren Büschen als bunte Sprenkel zu erkennen waren. Und zwischen den Fetzen und Scherben lagen auch die zerschlagenen, leblosen Leiber von Männern samt ihrer nutzlosen Waffen, die Säbel und Flinten außer Reichweite der erstarrten Finger.
Das mussten meine Entführer sein – waren sie selbst angegriffen worden? Überfallen, weil man sie für einen Handelszug wohlhabender Kaufleute gehalten hatte? Doch eine herkömmliche Bande von Räubern und Wegelagerern hätte kaum ein solches Vernichtungswerk vollbringen können!
Was auch immer geschehen war, der Lärm des Kampfes oder der Katastrophe mochten die Bewohner einer nahen Siedlung oder andere Reisende angelockt haben. Noch war niemand auszumachen, doch ich wollte bei ihrer Ankunft nicht auf der Spitze einer Felsnadel festgesetzt sein. Ich schob mich mit den Füßen voraus über die Kante, suchte mit den Stiefelspitzen Halt im porösen Gestein und klammerte die Finger in die wenigen Schrunden der Oberfläche, die von Wind und Regen geglättet war. Langsam und vorsichtig ließ ich mich hinabgleiten. Ich konnte beinahe wie auf einer steinernen Leiter hinuntersteigen, die Querrillen der Sedimentschichten boten komfortable Griffe und Tritte. Ich hatte Glück mit dieser gleichförmigen Felssäule, denn die meisten anderen ringsum waren wie Pilze geformt, deren schmale Köpfe einen Überhang darstellten, der mir durchaus Mühsal beschert hätte. Und trotz meiner ungewissen Lage und drohender Gefahr kam mir in den Sinn, wie ein ferner Betrachter dies beschauen würde: Da kletterte ein kleiner Mann in einem riesenhaften Pilzwald. Die Märchenerzähler dieser Welt hätten ihre Freude daran gehabt, seien es meine Landsleute wie die Brüder Grimm oder die Herren Bechstein und Musäus oder schrullige Briten wie jener Mister Carroll, der eine Fabel über ein Mädchen im Wunderland ersonnen hatte, welches ebendort mal ins Riesenhafte, mal ins Winzige verwandelt wurde. Nun, ich mochte mich weder als dieses Mädchen noch als der bekannte Däumling fühlen. Die kappadokischen Felssäulen wurden im anatolischen Volksmund als Feenkamine bezeichnet, doch in mir kam keine weitere wundersame Stimmung auf, denn als ich den steinigen Grund erreichte und mich von der Felssäule abwandte, stand ich vor dem schrecklichen Trümmerfeld mit all den Getöteten. Ich sah keine Kampfspuren, nicht einmal Blut. Die Leichen trugen keine sichtbaren Wunden. Ich ging zwischen den Überresten des Wagens hindurch und musterte die Männer, ein knappes Dutzend wohl. Sie waren allesamt kampferfahren, wie ich an ihren vernarbten Gesichtern und Händen erkennen konnte. Sie trugen türkische Kleidung, passend für eine Handelsreise, nicht jene von Kämpfern oder Soldaten. Wie vermutet, hatten meine Entführer vortäuschen wollen, harmlose Kaufleute zu sein. Die ringsum verstreuten Kästen, Fässchen und Säcke, teils zerborsten und zerrissen, hatten ihr Inneres aus Gewürzen und Kräutern über die Felsen, Trümmer und Leichen zerstäubt, sodass über dem schrecklichen Tableau ein betörender Duft wie von einem Basar der Spezereien lag. Ich erkannte Pimentkörner wie erdfarbenen Hagel und Nelken wie schwarzen Schnee, Zimtstangen und Muskatnüsse wie Zweige und Borkenknollen, als habe ein Sturm einen dürren Hain zerfetzt.
Wie eigentümlich, dass meine Entführer, die im Auftrag des Hayalbas handelten, sich eine derart detailreiche Tarnung auferlegt hatten. Empörung kam in mir auf: Hatte der Sultan ohne Namen mich in einer ohnehin geplanten Gewürzlieferung für seinen Palast in Iskenderun verborgen? Gewissermaßen um Transportkosten zu sparen? Sogleich schämte ich mich dieser empfundenen Kränkung, denn es mochte sein, dass die Toten wahrhaftige Kaufleute waren, welche nichts von ihrer geheimen Fracht gewusst hatten. Und die Kämpfer waren dann keine Schergen des Hayalbas gewesen, sondern notwendige Begleiter des Handelszugs. Ich sah auf den wenigen sandigen Erdflächen neben den Radspuren des Wagens auch Hufabdrücke. Die Reitpferde und Zugtiere waren unversehrt von der Katastrophe geflohen, die kein überraschender Überfall, keine plötzliche Explosion gewesen sein konnte. Denn welche Art Detonation hätte den Wagen, in dem ich mich unter Gewürzen verborgen befunden hatte, durch ihre Gewalt völlig vernichtet, mich selbst aber unbeschadet auf eine Felsnadel befördert, während die anderen Männer wundenlos starben, wie Fische in einem Teich, in welchen man eine Sprenggranate geworfen hatte …
Die Erkenntnis traf mich mit ebensolcher vernichtender Wucht und erschütterte meinen Körper, mehr noch meinen Geist: Die Ursache der feuerlosen Explosion, der Detonation als Ausbruch von tödlichem Luftdruck – musste ich selbst gewesen sein! Wie war sonst das Todesfeld zwischen den Felsnadeln zu erklären? Ich musste die Vernichtung ausgelöst oder verursacht haben, als ich – genauer meine Seele – aus der Seelenwelt in die Welt der Menschen und in meinen irdischen Körper zurückgekehrt war. Dies widersprach allerdings meinen bisherigen Erfahrungen, denn da war ich stets ohne derlei Effekt von meinen Besuchen der sieben Seelen Stambuls wiedergekehrt. Hatte zuvor die innere Macht der Metropole, eine Kraft der Stadt selbst, derlei schreckliche Wirkungen auf mein Umfeld und die Menschen darin verhindert? Wie konnte der Hayalbas dies nicht bedacht haben, der doch selbst wie auch seine Mentalmagier wesentlich erfahrener in den Seelenreisen waren?
Mir ging auf, dass Atsiz Bey geplant haben mochte, mich erst am Ziel meiner unfreiwilligen Reise, in Iskenderun, im Schutz seines Palasts und mit Hilfe seiner Magier aus der Seelenwelt zurückzuholen. Ich aber war unerwartet aus eigener Kraft und zu einem Zeitpunkt mitten auf der Reise, im Felsenwald von Kappadokien, aus der Seelenwelt hinaus in die Mitte meiner Wächter gestürzt – mit schrecklichen Auswirkungen.
So stand ich inmitten der Leichen, jener Menschen, die ich zu Tode gebracht hatte, mit einem Stoß von seelischer Kraft oder einer sonstigen Magie oder schlicht einer Erschütterung der Atmosphäre. Ich war zurück in die Welt gestoßen mit der Wirkung eines explodierenden Druckzylinders. Nicht allein Mister James Watt aus Schottland würde mich wie eine Wundergestalt auf dem Jahrmarkt bestaunen. Kara Ben Nemsi, der menschliche Dampfkessel!
Was blieb mir angesichts der ungewollt getöteten Unschuldigen noch anderes als bittere Ironie, wenn ich nicht seelisch zerbrechen wollte? Sühnen konnte ich das schuldlose Verbrechen kaum. Ich konnte mich nicht in den Gedanken retten, dass ich Schergen des Hayalbas getötet hätte, die mich zu meinem ewigen Schicksal im Kuriositätenkabinett des Sultans ohne Namen verbringen wollten. Es waren harmlose, betrogene Kaufleute gewesen, gedungen zu unwissentlichem Transport eines bewusstlosen Gefangenen, in einer unbewussten Sklavenkarawane.
Eine weitere Handvoll harmloser Menschen, um derer Willen ich des Hayalbas verbrecherische Machenschaften vereiteln musste! Ich war bereit, sogleich nach Iskenderun zu reiten, um dort nicht als Gefangener, sondern als Rächer einzutreffen – wenn doch an diesem Ort des Schreckens nur ein einzelnes Pferd verblieben wäre! Ich ahnte, dass die Tiere das herannahende Unheil gespürt haben mussten. Sie hatten gescheut und waren durchgegangen, als sie, im Gegensatz zu den Menschen, das aus seelenweltlicher Kraft gespeiste Beben bereits vor dessen Ausbruch gewittert hatten, wie eine natürliche Erschütterung der Erdenscholle.
Ich musste ein Reittier finden. Vielleicht war ein besonders robustes Pferd in der Nähe. Nachdem der erste Schrecken verflogen war, mochte es zum Grasen einiger dürrer Halme verharrt haben. Was blieb mir noch als bloße Hoffnung?
Ich schaute mich um, fand einen Wasserschlauch, der unversehrt und halb gefüllt war. Auch nahm ich ein einsam liegendes Messer samt Futteral und befestigte es an meinem Gürtel. Ich hätte nicht gewagt, dergleichen einem der Toten abzunehmen. Auch einen Karabiner fand ich, ein ältliches Modell, aber sorgsam gepflegt und mit einem wohlbestückten Patronengurt. In eine Leintuchtasche mit Lederriemen verstaute ich einiges vom Mundvorrat der Händler. Ich verspürte keinen Hunger, keinen Durst, ich wollte lediglich für einen längeren Weg gerüstet sein. Wie weit die nächste Siedlung entfernt lag, würde sich weisen. Nach einigem Zögern klaubte ich auch eine Börse mit einigen Münzen auf. Meine Scham darüber, die Leichen zu fleddern, wurde durch meine Notlage gemildert. Immerhin nahm ich diese Dinge keinem Toten ab.
Ich trat aus dem Trümmerfeld, umrundete den Sockel einer Felsnadel und wollte einen Blick auf die Freifläche jenseits des steinernen Waldes werfen, als ich ein Geräusch vernahm!
Es war kein Windhauch, der um die Felsen strich und das Gesträuch zauste, sondern ein leises, doch deutliches Schnaufen. Ich hatte nicht vergebens gehofft. Ein Pferd in der Nähe, welch ein Glück! Doch dann erkannte ich, dass dieser Laut von einem Menschen stammte, und von einem verletzten Menschen zudem. Einer der harmlosen Handelsleute war noch am Leben. Ihm musste ich beistehen, aus reiner Menschlichkeit gegenüber den Versehrten und Betrogenen und auch, damit ich in Erfahrung bringen konnte, was während meiner Bewusstlosigkeit geschehen war – und bei der von mir verursachten Katastrophe.
Ich horchte, vernahm erneut ein Stöhnen und sah nun auch die Spur auf dem sandigen Grund, wo sich der Verletzte entlanggeschleppt hatte. Er mochte bei dem Ereignis etwas abseitsgestanden haben. Nicht die volle Wucht der Druckwelle hatte ihn getroffen, aber ein Trümmerstück. Blut konnte ich nicht erkennen, doch einen Stiefel zwischen zwei niedrigen Felsen, der Verletzte hatte sich in seinem Schock in diese Nische verkrochen.
Ich räusperte mich.
„Selam Olsun! Sen iyimisin? – Sei gegrüßt! Geht es dir gut?“
Ich rief also einen Gruß auf Türkisch und fragte nach dem Befinden, vorsichtig und in beruhigendem Tonfall. Der Verletzte sollte mich für einen zufälligen Reisenden halten, einen Mann, der den Ort des Unglücks bemerkt hatte, vielleicht vom Lärm zuvor aufgeschreckt worden war. Ich wollte nicht für einen Schurken oder Plünderer gehalten werden. Zumal ich mich tatsächlich so fühlte, auch wenn mein Vergehen eher als Mundraub zu werten war.
Aus dem Schatten zwischen den Felsen tastete eine Hand, ein Leib zog sich nach vorn und ein Gesicht erschien, staubbedeckt, schweißschlierig und schmerzverzerrt.
Dann riss der Mann entsetzt die Augen auf und schrie, als habe er einen Dämon gesehen. Seine Finger spreizten sich vor Schreck und er rutschte vom Gestein ab, fiel beinahe wieder in die Schatten, fing sich erneut und versuchte Schutz zu finden, indem er mit den Stiefeln in den Sand trat, um sich tiefer zwischen die Felsen zu schieben.
„Beruhige dich“, sagte ich laut und hielt meine Tarnung als Unbeteiligter aufrecht. „Was ist geschehen?“
Statt einer Antwort vernahm ich einen leisen mechanischen Laut und warf mich im gleichen Wimpernschlag zur Seite, als ein Revolver krachte und die Felsnische mit einem Pulverblitz erhellte. Die Kugel sengte dicht an meinem Kopf vorüber, gefolgt von einer weiteren und einer weiteren, und kaum, dass das sechsfache Gewitter verhallt war, drang nurmehr ein Stakkato aus metallischem Klicken aus der Nische, als der Hammer der Waffe wiederholt auf verbrauchte Patronen traf. Der Mann war in Panik – verständlich nach dem schrecklichen, unvermittelten Ereignis.
„Ich tue dir nichts!“, rief ich. Gleichwohl lud ich leise den Karabiner durch. Der Mann mochte seinen Revolver mit neuen Patronen versehen und dann blind um sich schießend den Schutz der Felsen verlassen. Ich ging vorsichtig auf die Flanke einer Steinsäule zu, von wo aus ich die Felsennische gut sehen konnte.
„Du hast nichts zu befürchten!“, wiederholte ich.
Statt weiterer Kugeln kam ein Ruf:
„Nichts davon ist wahr!“, krächzte der Mann, zweifellos vom Schock verwirrt.
„Ich bin harmlos!“, gab ich zurück.
Dann änderte sich der Tonfall der Stimme, sie wurde hart und anklagend.
„Nichts wisst Ihr – Kara Ben Nemsi!“
Der Mann kannte meinen Namen! Und ich erkannte die Stimme, obgleich ich von ihr nur wenige Worte vernommen hatte, in Stambul, im Haus meines Freundes Maflei. Dies war kurz nach der Schlacht in der Zitadelle gewesen, als ich mit Qendressa zur vermeintlichen Rettung meiner Freunde Maflei und Amscha geeilt und stattdessen in eine Falle des Hayalbas geraten war. Die osmanische Gendarmerie hatte uns erwartet, ebenso die Geheimpolizei und ein Vertrauter des Sultans ohne Namen. Dieser verschlagene Mann hatte mir das lähmende Gift verabreicht, unter dessen Einfluss ich nach Iskenderun hatte verbracht werden sollen.
Ich kannte den Namen des Mannes nicht, hatte ihn aber wegen seiner Kleidung, einer schwarzen Jacke mit Hakenverschlüssen, Arkhalig genannt, die in Armenien als Tracht gilt, für einen Armenier gehalten. Und um sein Handgelenk war eine Schmuckkette mit einem schwarzen Stein geschlungen, was ich als Zeichen des Hayalbas erkannt hatte. Das Gesicht des vermeintlichen Armeniers aber kannte ich kaum – es war von auffälliger Unauffälligkeit gewesen und hatte sich meiner Kenntnisnahme und Erinnerung völlig entzogen – und wie ich damals meinte, auf magische Weise. Doch die Stimme hatte sich mir eingeprägt, war sie doch die letzte menschliche Stimme gewesen, die ich vor meiner Vergiftung und dem Übergang in die Seelenwelt vernommen hatte. Mein folgendes Gespräch mit Atsiz Bey hatte sich in dieser tonlosen Sphäre abgespielt, in der allein die Stimmen derer nachklingen, die wir in der Welt der Lebenden bereits vernommen hatten. Dies war im Falle des Hayalbas noch auf Kreta gewesen – als ich noch keinen seiner Namen kannte, nur den vagen Titel des Sultans ohne Namen. Es ist eigentümlich, wie sehr einen doch nach konkreten Namen verlangt und eine Abwesenheit derselben befremdet, obgleich die unterschiedlichen Worte für Namenlos, seien es Odysseus, Nemo oder Atsiz Bey, durchaus Namen sind und doch wieder nicht. Philosophie zum Verzweifeln. Übel aber, wenn namentlich Unbekannte mit Kugeln schießen!
Also der Armenier! Wenn er hier war, bedeutete das wohl, dass der Handelszug doch nicht aus unbescholtenen Kaufleuten bestanden hatte und es tatsächlich ein getarnter Gefange-nentransport gewesen war, mit mir als Insassen und dennoch mit Gewürzen verhüllt, falls jemand auf dem Weg nach Iskenderun neugierig hätte prüfen wollen. Denn sollte ich glauben, dass tatsächliche Spezereienhändler einen Unbekannten, also den Armenier, als schutzbedürftigen Mitreisenden angenommen hätten? So gefährlich war das Kernland der Osmanen nun nicht, dass ein einzelner Reiter es nicht hätte wagen können, auch allein Anatolien zu durchqueren. Jeder Kaufmann hätte eher vermutet, auf törichte Weise den Spitzel einer Diebesbande einzuladen und später seiner Waren verlustig zu gehen.
Nein, der Armenier mochte der Kopf des Transports gewesen sein, als Vertrauter des Hayalbas. Er kannte den Namen seines Gefangenen, meinen Namen, und er wusste um alle Umstände. Selbst als er von der Katastrophe überrascht worden war, wie auch die anderen, die nun tot zwischen den Felsen lagen – er musste begriffen haben, was geschehen war. Schließlich hatte er mich als den Grund des Ereignisses erkannt – als Augen-zeuge, wo ich nur mutmaßen konnte. Sollte der Armenier mir nun all meine Fragen beantworten!
„Wer seid Ihr?“, rief ich. „Stellt Euch vor, denn in Stambul habt Ihr unhöflich Euren Namen verschwiegen, obwohl Ihr mir einen Trank angeboten habt. Ich kenne dies nicht vom edlen Volk der Armenier.“
Ein gepresstes Lachen kam als Antwort. Dann eine raspelnde Stimme:
„Ach, der Arkhalig. Ihr versteht Euch wohl mehr auf Mode denn auf Menschen. Wie könnte ich ein Armenier sein!“
„Ein Osmane also, wenn ihr so übel von den Armeniern sprecht.“
„So wie ihr Deutschen von den Franzosen? Oder Polen? Oder ...”
„Nennt Euren Namen!“
„Ich bin namenlos, wie mein Herr.“
„Der Hayalbas? Atsiz Bey? Ich kenne viele seiner Namen!“
„Bloße Krücken aus leeren Worten. Menschen wie Ihr verzehren sich nach Namen, weil Ihr glaubt, damit einen Menschen zu kennen.“
„Und doch habt auch Ihr mich bei meinem Namen genannt.“
„Was sich für Jupiter geziemt, geziemt sich nicht für den Ochsen.“
„Ihr wendet das klassische Wort falsch an. Aber ein Mann von Bildung seid Ihr durchaus. Stammt Ihr etwa aus des Sultans Kabinett der Kuriositäten und habt zurzeit Freigang für niedere Dienste?“
Er schwieg! Einen Herzschlag nach dem anderen. Der Mann, der selbst nach jüngst erfahrenem Schock und Entsetzen sich rasch wieder spitzfindige Wortgefechte lieferte, war jetzt zu keiner gewitzten Parade fähig! In diese Blöße musste ich vorstoßen und einen weiteren Stich setzen, nein, eine ganze Abfolge von Hieben:
„Sagt mir, was ist geschehen, dass Eure hübsche kleine Handelskarawane an diesem Ort eine unfreiwillige Rast einlegte? Es werden kaum die Schönheiten der kappadokischen Felsentürme gewesen sein. Oder hattet Ihr gehofft, die Feen auf den Kaminen tanzen zu sehen? Wie viele an der Zahl finden denn auf so einer Spitze ihren Platz?“
Ich wusste, dass ich die rhetorische Klinge quälend in der traumatischen Wunde meines Gegners gedreht hatte, um dessen frische Erinnerungen an das entsetzliche Ereignis wieder heraufzubeschwören. Und ich selbst wollte doch so dringend wissen, was geschehen war: Ich hatte ohne eigenen Willen oder Bewusstsein eine ganze Gruppe von Männern getötet!
Der falsche Armenier schwieg weiterhin. Ich dürfte ihn nicht in seinem seelischen Elend brüten lassen, sondern musste einen Ausbruch provozieren.
„Sprecht nur! Was ist geschehen? Ich selbst habe wohl einiges versäumt, da ich etwas indisponiert war ...“
„Ihr seid ein Monstrum, Kara Ben Nemsi! Ein Unhold!“
Diese Worte schmerzten mich, zumal sie in diesen unwissenden Momenten meiner eigenen Einschätzung entsprachen. Dennoch durfte ich in diesem Duell der Worte keine Schwäche zeigen, sondern musste sogleich scharf antworten:
„Was habt Ihr erwartet? Angesichts der Tatsache, dass Euer Herr mich betäuben ließ, anstatt dass ich mit wachen Sinnen als Gefangener in den Palast verbracht würde. Mir wurde die Ehre einer Reise bei Bewusstsein verwehrt. Und das, obwohl ich doch gewissermaßen als Gast geladen wurde? Ihr seid also verwundert, dass ich mich am Ende doch empört zeigte und meinen Unmut kundtat?“
„Unmut! Ihr habt meine Männer ermordet!“
„Habe ich das? Ich sehe kein Blut an meinen Händen.“
„Weil Ihr nicht mit den Händen getötet habt!“
„Sondern?“
„Wie ein Dämon seid Ihr aufgefahren! Der Wagen, in dem wir Euch aufgebahrt und verborgen aus Stambul fortgebracht hatten, zersprang wie ein Kästchen aus dünnen Spänen! Die Männer wurden fortgeschleudert, mit kraftlosen Leibern, bereits tot, noch bevor sie auf die Felsen schlugen.“
„Und Ihr selbst? Wo wart Ihr?“ Ich bemühte mich, nicht zu viel Neugier oder gar Mitleid in meine Stimme zu legen. Stattdessen klang ich barsch wie ein Offizier, der einen Rapport forderte, von einem vom Gefecht geschundenen, schlichten Soldaten, der sich mühevoll und verletzt in den sicheren Befehlsstand geschleppt hatte. Es wirkte. Der Mann musste einst im Heer gedient haben und ich konnte in seiner angeschlagenen Verfassung die alten Gewohnheiten abrufen. Er antwortete ohne Zögern.
„Ich war mit dem Pferd etwas abseits geritten, als es plötzlich scheute.“
Wie ich vermutet hatte!
„Ich fiel aus dem Sattel, und als ich wieder auf den Beinen war und loslief – geschah das Unheil. Ich wurde von etwas getroffen, stürzte benommen auf den Rücken, und als ich wieder zu mir kam, sah ich Euch!“
Ja, es musste befremdlich gewirkt haben, wie ich mich aus den Trümmern erhob, trotz der Explosion unversehrt und zudem den Fesseln des betäubenden Tranks entronnen. Dennoch musste ich benommen gewesen sein, denn ich war auf eine der Felsnadeln geklettert. Um instinktiv Schutz zu suchen, weil ich einen Angriff vermutete? Warum hatte ich mich nicht schlicht zwischen den Felsen verborgen? War ich stattdessen bei Sinnen gewesen, hatte meine Lage erkannt und wollte mich durch den Ausblick von erhöhter Position orientieren, um zu wissen, bis wohin man mich verschleppt hatte? Aber warum konnte ich mich dann dessen nicht erinnern, sondern war erst in einer Art Delirium verfangen gewesen, bevor ich wieder hatte klar sehen und denken können?
Halt! Wie vermochte der falsche Armenier mich gesehen zu haben, wenn er auf den Rücken gestürzt war? Er selbst gab mir sogleich die schreckliche Beschreibung der Szene:
„Ihr seid geflogen! Emporgeschwebt wie ein Dämon in un-irdischem Glanz, doch mit ausgebreiteten Armen wie die Verhöhnung des Gekreuzigten!“
Das erschütterte mich in seiner Blasphemie, verriet mir aber, dass der Mann Christ war. Da er eine armenische Abkunft geleugnet hatte, versuchte ich einen anderen Akzent auszumachen, doch er sprach makelloses Türkisch mit Stambuler Färbung. Er hatte sich dort über recht lange Zeit als Spitzel des Hayalbas bewährt. Der Sultan ohne Namen hatte ihn nicht aufgeklärt, welche zerstörerischen Mächte in mir schliefen. Hatte Atsiz Bey dies so wenig geahnt wie ich selbst? Ich spürte, dass mich ein Schauder zu übermannen drohte, weshalb ich mich zwang, nüchtern über die Tatsachen nachzudenken. Über die vergangenen Jahre hatte ich gezwungenermaßen anerkannt und angenommen, dass ich einen Teil der Kräfte des magischen Schachspiels besaß, nach meinem Duell mit Al-Kadir. Doch ging jenes über die Fähigkeit hinaus, auf vage Weise jegliche Art von Zauber zu erspüren?
Ich hatte bei meinen Reisen in die Seelenwelt die zerstörerischen Effekte bemerkt, die ich bei den Mentalmagiern des Hayalbas auszulösen vermochte, und den scheußlichen Wesenheiten, über welche diese geboten oder die ein Teil von ihnen waren. Doch hatte ich dies mir in leiser Hoffnung dadurch erklärt, dass ich ein Kämpfer für das Gute war, ein Mensch mit reiner Seele und hehrer Gesinnung und jene die Schergen des Bösen, die Handlanger des Schlechten, ob in den Gefilden der Menschen oder jener der Geister und der Seelen. Ich konnte und wollte mir nicht eingestehen, dass auch ich Werke der magischen Vernichtung zu vollbringen vermochte – zudem ohne waches Bewusstsein! Nein, es musste an der besonderen Gegebenheit gelegen haben: eine Verquickung von Seelenmagie und schlichter Physik. Die Kräfte, welche mich aus der Seelenwelt hatten zurück in die Menschenwelt stürzen lassen, mussten die Zerstörung ausgelöst und mich im Abklingen noch in die Lüfte gehoben und auf der Felsnadel abgesetzt haben. Vielleicht durch mein Unbewusstes gelenkt, durch die Spuren der Magie und des Zaubers in mir. Und das letzte Verebben jener Kraft hatte mir die Wahnbilder vorgegaukelt. So musste es gewesen sein, denn in diesem Augenblick fühlte ich mich völlig menschlich, ohne fremde Fähigkeiten, mochte mir mein entsetzter Gegner auch anderes aus seiner Erinnerung berichten.
Ich mochte für kurze Zeit geschwebt haben, doch nur wie eine Feder im Wind, die ebenso wenig über die Lüfte gebietet, wie ich über dämonische Kräfte verfügte. Ich war der Mensch Kara Ben Nemsi und nicht wie der unmenschliche Obyr, jener blutsaugende Unhold, gegen den ich in Stambul gefochten hatte und der wahrhaftig wie ein Raubvogel zu fliegen vermochte!
Ich sprach in verzweifelter Selbstversicherung, als ich meinem Gegner zurief:
„Ihr wart verwirrt! Durch Schock und Schrecken habt Ihr Dinge gesehen, die Euch Euer schlechtes Gewissen vorspielte, weil Ihr für Euren unrechten Herrn Entführerdienste leistet.“
„Haltet mich nicht für einen Narren, der von Reue gebeutelt ist! Ich weiß von Euch und Euren Fähigkeiten. Nicht von ungefähr trug mein Herr mir auf, Euch den betäubenden Trank zu verabreichen und Euch den Talisman abzunehmen.“
Ja, der vermeintliche Armenier hatte mir den Musaddas aus der Westentasche gezogen. Doch ich wusste nur zu gut, dass dieser sechseckige Ring aus Gold keine anderen Kräfte barg, als dass er beim Blick durch seinen Kreis dem Beschauer die Dinge offenbarte, wie sie wirklich waren, also zauberische Täuschungen enthüllte. Der Musaddas war keineswegs eine Quelle von magischer Macht. Derlei hätte mir Haschim gewiss vermittelt. Hatte sich aber der Hayalbas getäuscht oder nur den falschen Armenier beruhigen wollen? War dieser Mann doch unwissender und abergläubischer, als ich vermutete? Nein, einen solchen konnte der Hayalbas kaum brauchen. Er war zu klug, um nicht zu wissen, dass allzu schlichte Handlanger am Ende alle Pläne gefährden. Ich hatte dies oft genug bei machthungrigen Schurken und ihren dummen Henkersknechten erlebt. Den falschen Armenier durfte ich nicht unterschätzen. Noch wirkte in ihm das Ereignis nach, welches er weiter schilderte:
„Ihr habt Euch in den Himmel geschwungen und dann auf der Felsnadel verharrt wie ein verfluchter Aasvogel in Menschengestalt.“
„Ihr seid so rasch mit dem Revolver; warum habt Ihr nicht auf mich gefeuert? Sowohl Geier als auch Menschen lassen sich mit Kugeln töten oder vertreiben.“ Ich war froh, dass der Mann langsam von seinem Dämonenwahn abkam. Allmählich nur, aber er schien den Irrsinn abzulegen. Das war mir Gefahr und Chance zugleich.
„Weil mir die Sinne schwanden“, klang es kleinlaut aus der Felsennische.
„Weniger wohl durch Zauberei als durch jenes Trümmerstück. Und ist nicht schlicht der Wagen explodiert, weil die Kaufleute, wenn sie denn welche waren, achtlos mit den Waren hantierten? Es waren Gewürze geladen, da hat es brennbaren Staub und entzündliche Öle – und Schießpulver für die Waffen …“
Der falsche Armenier lachte. „Was für ein Narr Ihr seid, dass Ihr die finsteren Kräfte verleugnet und alles Unirdische durch irdische Dinge zu erklären sucht!“
„Ich bin lange Zeit damit gut gefahren“, gab ich zu. „Aber wer in allem nur Zauberei erkennt, ist nicht weniger ein Narr.“
Ich trat halb aus der Deckung und zielte mit dem Karabiner in die dunkle Nische zwischen den Felsen.
„Heraus mit Euch, Mann im Arkhalig! Kein Dämonengeschwätz, ich drohe mit einer schlichten Bleikugel und Ihr habt Eure Revolverladung bereits verschossen.“
„Ich habe nachgeladen“, rief er schwach. Ich las daraus: vielleicht nur die halbe Trommel. Ich musste es wagen und schlug erneut den barschen Tonfall an.
„Kommt heraus oder ich schieße Euch in Eurer Höhle wie ein Tier zusammen! Tretet mir entgegen, so wie auch ich im Licht stehe. Zeigt mir Euer Gesicht. Ich fordere den Ring zurück, den Ihr mir genommen habt.“
Die Befehle verfingen, in den Schatten rührte es sich. Es mochte eine Finte sein, aber ich war mir sicher, dass mein Plan aufgehen würde. Tatsächlich streckte sich zuerst eine bloße Hand ins Freie, die Finger um Milde bittend gespreizt, und dann die andere, die den Revolver nur am Abzugsbügel schwingen ließ. Die freie Hand griff dann nach der Felskante und unter Ächzen kam der falsche Armenier aus seinem Versteck hervor.
Er trug tatsächlich den armenischen Arkhalig, die schwarze Jacke mit den Hakenverschlüssen, offenstehend und mit hellem Hemd darunter. Über all dem ein dünner, mantelartiger Umhang aus sandfarbenem Tuch. Sein Gesicht war von Staub und Schweiß bedeckt, und diese dunklen Schlieren verzerrten seine Züge, sodass er gewiss ein dämonischeres Antlitz besaß als ich selbst. Aber ich konnte so auch kaum erkennen, wie der Mann wahrhaftig aussah, was mir als seltsame Spiegelung der Szene in Stambul schien, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Er hatte ein eigentümlich unbemerkenswertes Konterfei besessen. Gewiss war ich damals erschöpft vom Kampf, besorgt und angeschlagen gewesen, später mit einem lähmenden Trank betäubt, doch verwunderte mich schon damals dieses Antlitz, welches mir dennoch als Gegenteil von einem sogenannten Dutzendgesicht erschienen war. Ich hatte in diesem Augenblick einen Gedanken gehabt, bevor mir die Sinne geschwunden waren …
Der Elende ließ den Revolver herumschwingen und schoss im gleichen Wimpernschlag, als seine Faust erneut den Griff packte. Ich spürte, wie der Stoff an meiner Schulter zerrissen und versengt wurde: nur ein Streiftreffer! Dennoch verriss ich den Karabiner, als ich selbst abdrückte. Nein, die Waffe selbst war wohl verzogen, denn noch bevor der Schuss verhallt war und der Pulverrauch sich gelichtet hatte, fiel der falsche Armenier stumm zu Boden – ich hatte ihn statt wie anvisiert am Waffenarm, ungewollt mitten ins Herz getroffen!
Ich sprang heran, doch ich sah bereits, wie das Blut die linke Brust des hellen Hemds dunkelrot färbte. Ich trat näher und sah keine Atembewegung, keine noch so kleine Regung. Der Revolver war der offenen Hand entfallen. Ich hob ihn auf und erkannte die einzelne Patrone in der sonst leeren Trommel. Ich fragte mich, ob der falsche Armenier tatsächlich gehofft hatte, mich mit einem Glückstreffer niederzustrecken, oder von mir getötet werden wollte, um sein Wissen in den Tod zu nehmen, vielleicht auf Geheiß des Hayalbas. Aber der falsche Armenier hatte mich nicht wahrhaftig für einen Dämonen gehalten – wie hätte er sonst glauben können, dass mich eine einfache Kugel zu töten vermochte? Eher hätte er den Revolverlauf mit dem Musaddas laden können, wie es Halef einst getan hatte, als wir in der stählernen Festung des Schut einen magischen Kreis hatten durchbrechen wollen.
Der Musaddas!
Ich weiß, es war in gewisser Weise Unrecht, doch ich neigte mich über dem Leichnam nieder, durchsuchte sachte den Arkhalig und fand tatsächlich in einer eingenähten Tasche meinen Sechseckring und nahm ihn an mich. Obwohl ich bis vor Kurzem in betäubter Starre gelegen und geistig in der Seelenwelt geweilt hatte, fühlte ich doch, dass ich das magische kleine Ding vermisst hatte, denn er hatte mir so manches Mal nützliche Dienste geleistet.
Wie auch jetzt! Ich gab meiner Ahnung von zuvor nach und schaute durch den Musaddas auf den falschen Armenier, ob seine seltsam neutralen Züge, die sich der Erinnerung verwehrten, etwa magischen Ursprungs waren. Nein, ich sah durch den kleinen Rahmen des Sechseckrings doch nur ein menschliches, durch bloße Schmutzstreifen getarntes Antlitz. Kein übernatürlicher Zauber, nur natürlicher Zufall, dass der Mann solch ein unmarkantes Gesicht hatte. Nun, das hatte ihm Maskerade und Verkleidung erspart, wenn er in den Diensten des Hayalbas unterwegs gewesen war.
Ich hingegen, der im Orient kein Niemand und noch weniger ein Dämon war, vor dem man kopflos floh, musste mich oft vor entlarvenden Blicken verbergen. Wie auch jetzt angeraten war. Ich befand mich seit dieser Stunde auf der Flucht, denn allzu bald würde der Sultan ohne Namen bemerken, dass sein Gefangenentransport vernichtet war und sein erhoffter Gast im Palast zu Iskenderun auf halbem Weg hatte entkommen können. Ich musste mich tarnen, so unweit vom Einflussbereich des Hayalbas, von Atsiz Bey. Und neben der Möglichkeit, schlicht zu verschleiern, dass ich Kara Ben Nemsi war, war es auch eine probate Methode, geschickt vorzuspielen, dass ich ein anderer sei. Etwa ein Armenier. Oder gar ein Vertrauter des Sultans ohne Namen.
Ich nahm also den Arkhalig des Toten an mich, den ich ihm behutsam vom reglosen Leib zog und diesen dann in seinen dünnen Mantel hüllte. Ich zog die schwarze Hakenjacke über, sie war glücklicherweise nicht von Blut besudelt. Sie mochte mir künftig als Tarnung dienen. Und wie mir der falsche Armenier den Musaddas genommen hatte, nahm ich ihm die Kette mit dem schwarzen Schmuckstein vom Handgelenk, die ich als Erkennungszeichen der Getreuen des Hayalbas ansah. Auch sie mochte nützlich sein.
Für den Musaddas suchte ich mir eine Lederschnur, schlang einen Knoten hinein und hing ihn mir um den Hals. Die Westentasche schien mir fürs Erste nicht mehr sicher.
Ich nahm also mein dürftiges, zusammengeklaubtes Reisegepäck auf und überlegte, in welche Richtung ich meinen Marsch beginnen mochte. Sollte ich mich einem der größeren Städtchen zuwenden, die in den vier Himmelsrichtungen lagen: Aksaray, Nevsehir, Nigde, Kayseri, wie ich von der geistigen Landkarte Zentralanatoliens ablas, die ich mir ins Gedächtnis rief? Oder sollte ich mich mit einem namenlosen Dorf begnügen, welches ich gewiss in kürzerer Zeit erreichen würde? Die Frage war, ob ich dort überhaupt ein Pferd erstehen könnte …
Eine Bewegung ließ mich aufschauen. Auf einer der Felsnadeln hockte ein riesenhafter schwarzer Geier. Der falsche Armenier hätte in seinem Wahn erneut einen Dämon gesehen.
Der Geier erhob sich, spreizte die Flügel – und ich erkannte, dass es ein auf der Spitze des Felsens kauernder Mensch gewesen war, der nun aufrecht dastand, die Arme ausgebreitet, von denen ein weites, nachtfarbenes Gewand hing. Und ein bleiches Gesicht wandte sich mir zu, aus dem schwarze Augen starrten – menschlich und doch nicht menschlich.
Eine entsetzliche Erinnerung brannte in mir auf, nein, ein schreckliches Erkennen!
Es war der Obyr aus Stambul, der dort stand, der untote Blutsäufer, der sich Seyfioglu Mukhtar nannte, weil er dieser Mensch einst gewesen war! Der jetzige Unmensch war dem falschen Handelszug und damit mir gefolgt.
Ich riss den Karabiner an die Schulter, als sich der Obyr von der Felsnadel abstieß und wie von schwarzen Schwingen getragen zu mir herschwebte. Dergleichen hatte der falsche Armenier von mir berichtet – hatte er schon da den Obyr gesehen?
Ich wollte eine Salve angeben und wusste doch, dass die Kugeln dem Untoten nichts anzuhaben vermochten. Aber ich würde ihn vielleicht bei seinem Angriff aufhalten können, vielleicht so lange aus der Bahn werfen, bis ich das Messer gezogen hätte …
Der Obyr setzte sachte seine Stiefel auf eine Fläche aus Sand und Geröll, ohne einen Laut zu verursachen. Er starrte mich an und öffnete dann den dünnen Mund, entblößte seine schmalen wolfsartigen Fänge. Ich glaubte, in der finsteren Höhle seines Schlunds die Narben zu sehen, die ich ihm im alten Kastell von Stambul zugefügt hatte, als ich ihm das magische Messer aus dem Kaukasus in den Hals gerammt hatte, um mich aus seiner Umklammerung zu befreien – und dabei die hilfreiche Klinge verloren hatte, mein Leben aber gewonnen!
Als der Obyr das Wort an mich richtete, erschien mir seine Stimme kehliger und raspelnder noch als zuvor.
„Grüße an Euch, Kara Ben Nemsi.“
„Warum so höflich, Unhold?“
Seyfioglu Mukhtar lächelte schrecklich, doch seine Stimme klang nun seltsam sanft.
„Ich komme in edlem Auftrag.“
„Ihr habt Euch dem Sultan ohne Namen angedient? Ein solcher Herr ist kaum edel zu nennen.“
„Ihr irrt, Kara Ben Nemsi. Ich bringe Euch die Bitte um Vertrauen.“
„Wem sollte ich vertrauen, wenn er Euch vertraut?“
„Es ist eine Dame, die ihr wahrhaftig als edel anerkennt, wenn ich mich nicht irre ...“
Ich ließ unwillkürlich den Karabiner sinken. Der Obyr nickte.
„Ja, Kara Ben Nemsi. Ich begegne Euch im Auftrag von Marah Durimeh.“
„Ihr lügt!“, brach es aus mir heraus. Ich hob den Karabiner. Der hehre Name der weisen Frau durfte mich nicht ins Vertrauen gegenüber dem Unhold locken. Er war ein Meister der Lüge, schon allein seines hohen Alters wegen. Und er war kein Mann von Ehre, nur weil er die Jahrhunderte damit zugebracht hatte, den verschleppten Schädel seines einstigen Herren aufzuspüren. Treue Ergebenheit zu einem grausamen Machthaber, selbst wenn dieser in jungen Jahren selbst Leid und Ungerechtigkeit erfahren hatte, sind keine Grundlage für Vertrauen. Und der Name einer Vertrauten ist leicht als Pfand verwendet. Ich wusste, dass der Obyr mich und Qendressa belauscht hatte, als wir im Turm des alten Kastells von Stambul auf magische Weise mit Marah Durimeh gesprochen hatten. Er wusste, was deren Name in mir zu bewirken vermochte. Doch er wusste auch, spätestens nach unserem Zweikampf, dass ich kein vertrauensseliger Geselle war.
Als habe er meine Gedanken erraten – oder schlicht in meinem Gesicht gelesen –, nickte der Obyr, der einst der Mensch Seyfioglu Mukhtar gewesen war.
„Ihr zweifelt, Kara Ben Nemsi. Was ich allzu gut verstehen kann. Lasst also eine weitere Bürgin für mich sprechen.“
„Eine Bürgin spricht nicht, wenn Ihr allein ihren Namen nennt.“ Ich ahnte, dass er nun Qendressas Namen anführen würde. Doch dies war so wenig wert wie die bloße Erwähnung von Marah Durimeh.
Der Obyr hob die sehnige, ausgezehrte Hand.
„Gewiss. So lasst mich auch die Taten schildern. Auf Geheiß Marah Durimehs erklärte sich die zweite Bürgin bereit, mir bei meiner Suche zu helfen.“
„Die Suche nach dem Schädel des Woiwoden Vlad, Eures einstigen Herrn?“
„Noch immer ist er mein Herr. Derlei Verpflichtung und Verbundenheit stirbt nicht mit dem Tod des Lehnsherrn.“
„Zumal wenn der Diener weiter ein Leben jenseits des Todes fristet. Und sich vom Blut Unschuldiger nährt.“
„Mildert es Euren Zorn, wenn ich erneut erwähne, dass es vorrangig das Blut von Schuldigen war?“
„Wer entscheidet über Schuld und Unschuld? Ihr?“
„Ihr ebenso wenig.“
„Und auch nicht die Dame Qendressa.“ Ich führte meine Verbündete nicht gern als Gegenargument an. Doch noch immer hegte ich leisen Groll gegen meine einstige Gegnerin, die ehemalige Hexe, die zwar ihrer Kräfte entbunden war, aber auf rein menschliche Weise grausam sein konnte.
„Ich spreche nicht von der Hexe“, entgegnete der Obyr, der sie für zauberkräftig hielt, weil sie mit magischen Dingen hantierte, wie den Zauberkerzen zum Zwiegespräch mit Marah Durimeh, über hundert Meilen messende Weiten hinweg.
„Sondern?“ Ein Verdacht stieg in mir auf. Würde der Obyr in einem weiteren Versuch der Täuschung etwa Lady Layard als Gewährsperson vorgeben? Die Gattin des britischen Botschafters zu Stambul – in deren Maske sich Qendressa in die Öffentlichkeit begeben hatte? Bei diesem Gedanken schwindelte mir, meine Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse drohten zu verschwimmen. All die falschen Identitäten und verschleierten Namen, die manipulierten Menschen an den Fäden des machtgierigen Marionettenspielers und seiner Mentalmagier – und die schrecklichen Wesen in der Seelenwelt! Hier stand ein scheußlicher Untoter vor mir, der vorgab, im Auftrag meiner weisen Patin, der heimlichen, geistigen Herrscherin des Orients, zu handeln – und nicht etwa als Scherge des namenlosen Sultans, der den Orient als Tyrann zu unterjochen suchte. Der Orient, dem ich mich seit vielen Jahren so verbunden fühlte, Dank meiner Freunde aus den Beduinenstämmen, allen voran Halef und ...
„Amscha“, sagte der Obyr.
Ich riss den Karabinerkolben an die Wange. Der Unhold las wahrlich meine Gedanken!
Ungerührt blickte er mich an.
„Die Beduinin half mir, nachdem Marah Durimeh sie darum bat. Mittels der Hexe Qendressa.“ Der Obyr hob entschuldigend die Hand. „Somit sprach ich doch von dieser.“
„Bei was half sie Euch?“, fragte ich, die Antwort ahnend.
„Den Schädel Vlads zu erlangen“.
Der Gedanke widerte mich an. Amscha, die stolze Kriegerin vom Stamme der Haddedihn, sollte in den Katakomben Stambuls nach den Gebeinen eines Woiwoden gesucht haben? Mit einem Untoten an ihrer Seite? Doch auch ich wäre einer solchen Bitte Marah Durimehs gefolgt, wenn es zu Verbündeten geführt hätte, im Kampf gegen den Sultan ohne Namen. Doch konnte der Obyr dies sein?
„Und nun seid Ihr willens, mir zu helfen?“, fragte ich.
Der Obyr lächelte schrecklich. Die Sonne stand über meiner Schulter, noch immer von Dunst verborgen, und doch konnte ich hinter den schmalen Zähnen den schwarzen Schlund des Unholds erkennen. Es braucht nicht Nacht noch Nebel, um vor Untoten zu erschauern.
„Eine Frau allein reicht nicht hin, um Euch zu überzeugen, Kara Ben Nemsi, aber derer drei reichen zur Fürsprache hin? Beugt Ihr Euch der dreifach weisen Weiblichkeit, wie von Parzen und Nornen vorgegeben?“
„Ihr seid belesen“, bemerkte ich knapp. Zur Verblüffung oder Verwunderung fehlte mir die geistige Kraft, auch die Waffe ließ ich sinken. Ich wehrte mich nicht gegen die aufdämmernde Gewissheit, denn ich spürte, dass ich nicht unter dem Bann des Obyr stand. Auch nicht des Hayalbas, aus der unbemessenen Ferne der Seelenwelt heraus.
„Ich hatte Jahrhunderte der Zeit, vergesst das nicht“, erklärte der Obyr.
„Beneidenswert.“
„Das Leben besteht nicht allein aus Büchern.“
„Gewiss.“ Wusste er um meine Profession? Oder sprach er nur von sich?
„Und auch nicht aus den Erzählungen, ob von Toten oder Lebenden.“
„Nun, ich muss Euch glauben. Auch wenn Ihr ein Wesen des Zwischenreichs seid.“
„Mit drei Zeuginnen.“
„Die Euch welchen Leumund bekunden?“
„Es geht um eine Aufgabe, die ich als Dank für die Hilfe übernommen habe.“
„Welche wäre? Ihr habt mich kaum aus den Fängen meiner Verschlepper gerettet.“ Ich deutete auf das Feld der zerschlagenen Leichen und Wagentrümmer, senkte Stimme und Blick. „Das war ich allein, mit ungewollten Kräften.“
„Das ist wohl wahr“, sprach der Obyr. „Und Grund genug, dass ich Euch ebenso zu fürchten habe wie Ihr mich. Vielleicht neigt sich die Waage sogar zu Euren Gunsten.“
„Und wozu brauche ich Euch dann?“, fragte ich scharf. Doch ich hatte nicht hochmütig zu sein. Die in mir verborgene Kraft war mir selbst eine Gefahr. Ich hegte die Hoffnung, dass jenes Ereignis nur ein einzelner Ausbruch gewesen war, aufgeladen durch die jüngsten Geschehnisse in der Seelenwelt. Nun stand ich wieder auf festem Erdboden, wenngleich in der Einöde Kappadokiens. Der Obyr sprach das Offenkundige aus:
„Um Euch von hier fortzubringen.“
„Ihr habt mir ein Pferd anzubieten?“ Ich spähte in die Ferne. Wenn die Tiere der falschen Handelskarawane noch in der Nähe waren, hätte der Obyr sie bei seinem Anflug auf die Felsnadeln sehen müssen. Aus der Perspektive des Geiers, für den ich ihn zunächst gehalten hatte. Oder hatte er die Pferde erschreckt und vollends verscheucht?
„Ein Pferd würde nichts nutzen“, verneinte der Obyr.
„Da bin ich anderer Ansicht“, gab ich zurück und dachte an meinen treuen Rappen Rih, der gewiss über vielen anderen Pferden steht.
„Ihr missversteht. Die Schergen des Hayalbas, wie Ihr ihn nennt, würden Euren Spuren leicht folgen.“
„Ein jeder, der gut Fährten lesen kann, kann sie auch verbergen. Ich zähle mich dazu.“
„Euch sind keine menschlichen Fährtenleser auf der Spur, es sind die Hunde von Dindalu.“
Die Stimme des Obyr klang hohl, doch der Name sagte mir nichts. Ich konnte nur mutmaßen:
„Aus welcher Zucht die Bluthunde auch stammen mögen, auch sie wird man überlisten können. Der Sultan hat also Verbindungen nach Indien?“
„Sie stammen nicht aus Indien. Nicht einmal aus dieser Welt. Und es sind keine Hunde, wie Ihr sie kennt. Wie kaum ein Mensch sie kennt. Sie gehorchen allein den Wesen, über die der Hayalbas gebietet. Manche aber sagen, die Hunde herrschen über die Wesen.“
„Und mancher Schwanz wedelt mit dem Hund, wie man in meiner Heimat sagt.“ Es drängte mich zu dieser spitzen Replik. Das stete Gerede von drohendem Unheil war mir zuwider, auch wenn ich selbst die Gefahr spürte. Doch ich musste sie niederringen und durfte mich nicht überwältigen lassen. Meine Lage war zu ernst und die Sorgen zu tief, da half nur ein Funken Heiterkeit.
„Ein Scherzwort“, nickte der Obyr. „Das erhellt die Lebensgeister.“
„Wie trefflich, dass Ihr es erkennt, Herr der Finsternis.“
Seyfioglu Mukhtar zeigte sich geschmeichelt, oder so schien es mir zumindest, bis er die Finger der Linken gen Süden richtete. Ich folgte dem Wink und sah am Horizont einen Fleck von Schwärze, wie aufsteigenden Rauch. Doch der Rauch bewegte sich nicht gen Himmel, sondern auf uns zu. Ich spürte sogleich, dass dies das Werk von Dämonen war.
„Die Hunde“, bemerkte ich tonlos.
„Schneller als Pferde, rascher als der Wind“, nickte Mukhtar.
„Was bleibt zur Flucht?“, fragte ich wahrhaftig bang, was mich sehr befremdete.
Mukhtar hielt mir die Hand entgegen wie eine groteske Aufforderung zum Tanz.
„Der Flug des Obyr.“
Dann griff er unvermittelt meine Unterarme, der Karabiner fiel aus meinen Händen dumpf in den Sand, und in kalter Umklammerung riss Mukhtar mich empor in die stille Luft über den Felsnadeln. Ich spürte keinen Windhauch, vernahm kein Rauschen, auch bewegten sich weder Kleider, Haar noch Gliedmaßen. Der Obyr hatte einen Bann gewoben. Mich selbst hatte eine seltsame Starre erfasst, als sei ich ein Tierjunges, das am Nacken gepackt wurde und aus Instinkt und Selbstschutz verharrte. Hilflos fühlte ich mich – und bemerkte zugleich, dass sich dieses Schweben so gänzlich anders anfühlte als bei meinem ersten Flug mit dem Obyr, im Zweikampf über der Zitadelle in Stambul. Hatte der Bann damals gefehlt, weil der Obyr ihn nicht gewoben hatte, nicht hatte weben können, weil wir in tödlichem Streit verfangen waren – oder umfing mich – oder uns – der jetzige Zauber, weil wir vor den Hunden von Dindalu flohen? Weil der Obyr mich vor jenen Wesen rettete? Ein erniedrigender Gedanke, doch ich wehrte mich nicht.
Wir flogen nach Norden. Der Flug an sich schreckte mich wenig. Ich hatte Schwingenrösser und Windpferde kennengelernt, auch leibhaftige geflügelte Stiere, die lebenden Ebenbilder jener steinernen Skulpturen, welche das Faible meines britischen Freunds Lindsay waren. Und ich selbst war wie ein Vogel gewesen in den Sphären der Seelenwelt über dem siebenfältigen Symbol von Stambul.
Nun glitt das Kernland Anatoliens mit seinen Hügeln und Flüssen unter mir hinweg, als wäre mein Leib ein bloßer Finger, der über die Linien einer Landkarte glitt. In der Ferne erhoben sich die Gipfel der Pontinischen Berge, erschienen als niedrige Felskette, welche die Ebene von den Fluten des Schwarzen Meers trennte. Doch keine der Küstenstädte wie Trabzon oder Sinop war unser Ziel, sondern Tokat, in deren Mitte gelegen, um einiges vom Meer entfernt, an den westlichen Ausläufern des Pontus.
Aus Tokat stammte Mukhtar, er hatte dort seinem späteren Herrn gedient, als dieser in osmanischer Gefangenschaft harrte, als Zwangspfand seines Vaters, dem Woiwoden der Walachei. Und dort hatte sich das unmenschliche Bündnis ergeben, welches Mukhtar zum Untoten gemacht hatte, auf Jahrhunderte währender Suche nach dem Schädel des Vlad. Dieser Kreis schloss sich nun, und auf eigentümliche Weise hatte ich Teil daran. Die tieferen Gründe würden sich mir bald enthüllen.
Ich hatte zu Beginn des unvermittelten Flugs nicht zurückschauen können zum Trümmerfeld zwischen den Felsnadeln, mit all den Toten und dem niedergestreckten falschen Armenier. Und so hatte ich auch keinen Blick auf die herannahenden Hunde werfen können, von denen ich nur wusste, dass sie keine irdischen Tiere waren. Ich spürte, dass es füglich war, wenn ich ihre Gestalt nicht kannte und ihnen niemals würde gegenübertreten müssen.
Irdisch und angenehm hingegen war die Ansicht Tokats, des antiken Eudoxia, der kleinen Stadt am sich flach dahinwindenden Fluss Jeschilirmak, die seit den Tagen der Hethiter im Tal zwischen den niedrigen, pinienbestandenen Bergbuckeln lag. Bis an deren Hänge wucherten die niedrigen, mit roten Schindeln flach gedeckten Häuser heran, ausgehend von den Ufern des Flusses wie ein herbstlicher Auenwald aus geduckten, gemauerten Bäumen. Die Kuppel der großen Moschee erhob sich trutzig aus deren Mitte, der eigentliche Bau ein klobiger Quader, als sei es ein orientalisches Gegenstück zu einer christlichen Wehrkirche des Mittelalters. Das Minarett aber wirkte schmal und zerbrechlich, ganz anders als ein robuster Glockenturm. Andere religiöse Gebäude machte einen gleichsam verzagten Eindruck, wie die orthodoxen und armenischen Kirchen, die zahlreich, aber ebenso wenig prachtvoll waren. Auch eine weitere Moschee wirkte wie ein Bergfried, der Fluchtturm einer Festung, jedoch auf wenige Mannshöhen niedergepresst und die Kuppel zu einer bloßen runden Dachhaube verkümmert, mit verkniffenen Lichtfenstern unter dem Ziegelhelm. Warum wirkte die Stadt Tokat so furchtsam, gleichsam eingeschüchtert?
Es war das Kastell auf dem Berg. Ein byzantinisches Ungetüm, erobert und erweitert von den Seldschuken und den Osmanen, von dessen nun zerfallenden Mauern sich zwei Dutzend halb enthauptete Türme reckten und das mit gebrochenem, doch unerbittlichem Blick und noch immer drohender Macht über die Stadt gebot, von einem schroffen, zweispitzigen Felsen herab, der wie ein gewaltiger, steinerner Splitter im Leib von Tokat steckte. In den Gewölben dieser Felsenburg war Mukhtars Herr eingekerkert gewesen, und mir schien, als seien die späteren Untaten des Woiwoden und Kriegsherrn Vlad in diese Mauern eingegangen und strahlten eine bedrückende Macht aus, unter der nun die Stadt litt. Vielleicht hatten deren Bürger und Künstler sich deshalb auf die wundersam zarten Textildrucke verlegt, für welche Tokat über Anatolien hinaus bekannt war – als wollten sich die geschundenen Gemüter mit Schönheit von Mustern und Farben gegen die Schwermut wehren.
Mukhtar schien meine finsteren Gedanken zu spüren. Vielleicht fühlte er auch den Strom meines Bluts, da ich starr in seinem harten Griff gefangen war. Unvermittelt lenkte er sein Schweben so, dass ich auch andere Gesichter Tokats erbli-cken konnte – als wolle er wie ein fliegender Fremdenführer, ein durch die Lüfte gleitender Cicerone, der Dante durch die Höllenkreise geleitet, mir auch heitere Seiten der vermeintlich niedergerungenen Stadt zeigen. Der seltsame Gedanke erheiterte mich, was mir wohltat – zumal angesichts meiner befremdlichen Situation: in den Krallen eines Obyr hoch über den Dächern, auf Augenhöhe mit dem Kastell, wie sonst kein Mensch es erleben würde, es sei denn im Korb eines Ballons – oder auf dem Rücken einer der geflügelten Kreaturen des magischen Orients.
Mir ging auf, dass es sein Gutes hatte, dass die Menschen Tokats nur selten die Augen zur Festung auf dem Bergkegel hinaufwandten – denn so sah uns niemand, was gewiss einiges an Aufruhr bewirkt hätte: zwei fliegende Männer! – Doch vielleicht würden sie unseren Schattenriss gegen die tiefstehende Sonne nur für einen riesenhaften Raubvogel halten. Es mochte sein, dass der Bann des Obyr nicht allein mich in Starre hielt und vom Wind abschirmte, sondern auch jeglicher Blick auf uns verschleiert wurde. Fremd war mir die Macht der Untoten, doch unvertraut mochte sie mir bleiben.
Ich starrte auf die Dächer der Stadt. Ich sah die Medrese, die höhere Schule, mit ihren Portalflanken aus rotem und weißem Stein, ein willkommener Farbstreifen im Grau des Bruchsteingemäuers. Auch die langgestreckte Fassade des Tasch Han, der großen Karawanserei, wirkte heiter mit ihren munter geschwungenen Arkaden. Der kleinere, nahezu quadratische Sülü Han besaß einen torhausartigen Eingang mit gähnendem Mauerbogen und zwei zwinkernden Fenstern darüber wie eine groteske Scherzmaske. Ich schnaubte belustigt und spürte mit einem Mal, dass mir leicht in Kopf und Magen wurde – wie lange war es her, dass ich Nahrung und Trank zu mir genommen hatte?
Als mir die Sinne zu schwinden begannen, spürte ich festen Boden unter den Stiefelsohlen. Wo in Tokat waren wir gelandet? – Ich sah den Festungsberg nicht mehr! Meine Beine gaben nach, als die Starre nachließ, Mukhtar packte meine Schultern und richtete mich auf. Ich wandte den Kopf und sah den steilen Steinhang über mir aufragen, der Gipfel der Klippe gekrönt von einem halb zerfallenen Turm der Felsenburg, der wie ein kranker Zahn aus einem morschen Kiefer ragte. Mukhtars Gesicht schob sich vor, das blasse Antlitz mit den schwarzen Augen so schrecklich wie der Anblick der Ruinen.
„Mein Heim“, sagte der Obyr, und ich wollte schon bitter nicken, als ich bemerkte, dass wir in einer schattigen Gasse zwischen den Wohnhäusern standen, welche eng gedrängt die Flanken des Burgbergs bedeckten. Die gekalkten Wände waren vergilbt, die hölzernen Balken der Dachfirste und die Rahmen der Fenster rissig, doch wirkte dies nicht wie der finstere Hort von Unholden. An einigen Mauern rankte wilder Wein, an den Fundamenten zeigten sich farbige Blüten. Zwischen zwei Fassaden mit blätternder Tünche zwängte sich eine steile Treppe empor, an deren Ende es freundlich und warm schimmerte: ein ockergelbes Häuschen, eng an den grauen Felsen gedrängt, von dessen Dachgiebel ausgehend eine Verkleidung aus altersschwarzen Brettern den ersten Stock verhüllte,wie ein Schuppenpanzer oder hölzerner Vorhang. Zwei ebenso hohe Anbauten an den Flanken besaßen einen rostroten Anstrich mit einigen hellen Schecken aus bloßem Kalkputz. Die Läden der Fenster standen offen. Der blassblaue Himmel spiegelte auf dem Glas zwischen den Sprossen. All das wirkte anheimelnd und reizend, gar durchaus einladend.
Ich musste ungläubig gezwinkert haben, denn Mukhtar sagte:
„Habt Ihr geglaubt, ich würde in einem öden Haus mein ewiges Leben fristen?“
„Das Kastell in Stambul ...“
„... war nicht meine Wohnstatt. Ich erzählte Euch von meinem Domizil in Beschiktasch ...“
„Mir war damals nicht nach Plauderei.“
„Dann ist jetzt Gelegenheit, denn Ihr seid mein Gast. Ihr müsst Euch nähren.“