Die geniale Rebellin - Agnes Imhof - E-Book
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Agnes Imhof

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Beschreibung

Ada Lovelace: Ikone der Wissenschaft, visionäre Mathematikerin, leidenschaftliche Liebende England, 1833. Die sechzehnjährige Ada soll nach einer skandalösen Affäre endlich gesellschaftsfähig werden. Doch sie ist rebellisch, und ihr Lebenshunger so unstillbar wie ihre Wissbegier. In London gibt es in diesen Tagen nur ein Gesprächsthema: eine Maschine des genialen Charles Babbage, die rechnen kann! Ada ist fasziniert von dem schrankgroßen Wunderwerk. Leidenschaftlich versucht sie, bei Babbage Unterricht zu bekommen, doch vorerst vergeblich. Ada ist zutiefst enttäuscht, aber dann lernt sie Lord William King kennen. Auch ihn fasziniert die Wissenschaft – und mehr noch die schöne Ada … Ein spannender historischer Roman über die außergewöhnliche Frau, die als erste Programmiererin die Zukunft erfand. Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Mit den historischen Romanen unsere Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten!Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autorinnen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com, AdobeStock und Richard Jenkins Photography

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Hampstead, 12. Mai 1824

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Nachwort

Originaltexte in der Reihenfolge ihres Erscheinens

Zitatnachweis

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Lass mich, von Lust, von Schmerz getrieben, Noch einmal leben! Wieder lieben!

Lord Byron

1

Hampstead, 12. Mai 1824

Das verhüllte Bild hing links an der Wand. Eine Eichentreppe dominierte die Eingangshalle, rechts und links davon zweigten Türen ab. Jetzt war alles verlassen, nur der Geruch nach Bohnerwachs kitzelte in der Nase. Durch die hohen Sprossenfenster fielen Lichtstreifen, in denen Staub tanzte. Ada wusste, dass sich hinter dem grünsamtenen Vorhang das Gesicht ihres Vaters verbarg. Immer wieder schnappte sie Fetzen von Gesprächen auf, die bei ihrem Anblick sofort verstummten. Um ein finsteres Schloss in Schottland ging es dabei, wo der Vater zügellose Orgien feierte (was auch immer das bedeuten mochte) und aus Totenschädeln trank. Um dunkle Geheimnisse, ferne Länder, Korsaren und Dämonen. Womöglich war er sogar selbst ein Pirat, jedenfalls war er so grausam, dass Mamma ihn mit der neugeborenen Ada vor acht Jahren hatte verlassen müssen. Aber auch hinreißend schön, und das machte seinen Anblick gefährlich. Deshalb maskierte man das Porträt. Doch Namen konnte man nicht maskieren.

Lord Byron.

Wie er wohl aussah? Es gab so viele Arten von Schönheit: Die, bei der alles perfekt und hell war. Dann die markante Schönheit, bei der ein Makel das Gesicht erst interessant machte. Und schließlich die düstere Schönheit, die ihren Reiz aus einer verborgenen Finsternis zog, wie bei einem Dämon. Ada wusste, dass der Vater Gedichte schrieb, aber Mamma sah es nicht gern, wenn sie sie las. Stattdessen ließ sie Ada in Mathematik unterrichten, als Heilkur. Denn Poesie war Leidenschaft, und Leidenschaft war die Wurzel der Bosheit. Man musste sie um jeden Preis bekämpfen.

Als die Großmutter noch gelebt und auf Ada aufgepasst hatte, war sie nie ohne zwei Pistolen zu Bett gegangen, aus Angst, dass Lord Byron Ada entführen lassen würde. Aber jetzt war er weit weg in Griechenland, und es war ja nur ein Bild. Das Bedürfnis, den Schleier zu heben, war so stark, dass Ada nicht widerstehen konnte. Als ob das ganze Universum seine Geheimnisse hinter dem grünen Samt verbergen würde. Ada stellte sich auf die Zehenspitzen in ihren adretten Schnürstiefelchen. Mühsam erreichte sie den Zipfel des Tuchs und versuchte, die Maske des Bildes zu lüften.

Sie war zu klein. Es fiel gerade genug Licht unter das Tuch, dass sie Kleidung in dunklen Farben erkennen konnte.

Ada blickte sich um. Mamma war noch oben. Vorhin war ein Bote gekommen, und die Nachricht schien wichtig gewesen zu sein. Ihre Stimme war nicht zu hören. Lautlos schlich sich Ada in die kleine Abstellkammer, wo das Fußbänkchen stand, mit dem sich die Wirtschafterin manchmal behalf, um beim Putzen an schwer erreichbare Stellen zu kommen. Sie nahm es und schleppte es in die Halle, kletterte hinauf und wollte das Tuch heben.

»Miss Ada!«

Eliza Briggs. Die Nanny. Ada fuhr zusammen und riss dabei versehentlich den grünen Samt herunter.

Doch ehe sie die Gunst des Augenblicks nutzen konnte, legte sich eine Hand auf ihre Augen. Ein furchtbares Gezeter erfüllte die Halle, eilige Schritte hasteten die Treppe herunter, und Ada nahm ein modernes Parfüm wahr, das von Lady Annabella Noel-Byron. Mamma.

»Hat sie es gesehen?«, hörte sie sie kreischen. Die sonst so kühle metallische Stimme klang schrill.

Briggs hielt noch immer die Hand auf Adas Augen und verneinte. Mamma stieß ein paar Beschimpfungen aus, und endlich ließ die Nanny Ada los. Aufatmend wollte sie Luft holen, da landete die Hand ihrer Mutter in ihrem Gesicht.

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du das Bild nicht anzusehen hast!«, schrie sie. »Habe ich dir nicht wieder und wieder gesagt, wie gefährlich es ist?«

Ada schossen die Tränen in die Augen. »Das sagst du immer!«, schrie sie zurück. »Immer ist alles verboten!« Sie schielte noch einmal nach dem Bild, aber der Vorhang war wieder darübergehängt worden.

»Du bist das zügellose Balg eines zügellosen Vaters!«, kreischte Mamma. »Rücksichtslos und egoistisch! Warum nur musste ich mit dir gestraft werden!«

Briggs packte Ada an den Schultern. »So spricht man nicht mit seiner Mutter, Ada! Ich erwarte, dass du dich sofort entschuldigst.«

Ada atmete heftig und flach. Ein paar Sekunden musste sie sich ganz auf ihren Atem konzentrieren. Sie hatte das Gefühl, vor lauter Wut gleich ohnmächtig zu werden. Es ist nicht gerecht, dachte sie, dass ich es bin, die sich entschuldigen soll. »Verzeihung«, sagte sie gepresst. Ihr war noch immer nicht klar, was so schlimm daran war, das Bild ihres Vaters sehen zu wollen.

»Ab mit dir, hoch auf dein Zimmer. Liegekur! Ich will dich den Rest des Tages nicht mehr hier sehen!«

Ada starrte sie an. Dann gehorchte sie wortlos.

»Sie hat sein Temperament«, hörte sie Briggs flüstern, als sie die Eichentreppe hinaufstieg, deren siebte Stufe wie jedes Mal unter ihren Füßen knirschte. »Er hielt sich auch nie an Vorschriften.«

Und dann Mamma: »Es ist gekommen, wie ich befürchtet hatte. Wir müssen diese schrecklichen Anlagen niederzwingen. Koste es, was es wolle.«

 

Ada schloss die Tür hinter sich und legte sich auf das Holzbett. Gähnend streckte sich Mistress Puff auf der Fensterbank. Adas Perserkatze war ihr Ein und Alles.

»Hallo, Puff«, meinte Ada. »Da bin ich mal wieder.«

Anfangs hatte man ihr für gutes Benehmen Kärtchen gegeben, die man ihr bei schlechtem wieder entzog. Viele Kärtchen bedeuteten eine kleine Belohnung, wenige eine Strafe. Aber seit Ada einmal vor Wut eine Holzleiste zerbissen und eine überforderte Gouvernante namens Miss Lamont ihren Hut hatte nehmen müssen, war man zu mehr Strenge übergegangen.

Nach ein paar Minuten kamen die Schmerzen. Sie pochten in der gesamten linken Hälfte ihres Kopfs und ließen Punkte vor ihren Augen flimmern. Ada hatte das Gefühl, nichts mehr zu sehen. Aber sie wagte nicht, aufzustehen. Wenn sie nicht reglos liegen blieb, schnürte man ihr die Hände in schwarze Beutel. Sie begann, sich in imaginäre Landschaften zu träumen, stellte sich vor, sie könne fliegen. Über eine Moorlandschaft, wild, stürmisch, magisch. Wo sich ein Fluss in unübersichtliche Höhlen stürzte, um in ein sonnenloses Meer zu fallen. Gebiete voller Gefahren für den Geist und die Moral, wo das unersättliche Denken sich verlieren durfte. Wo Zahlen nicht die Gouvernanten ihrer Fantasie waren, sondern Feen und Kobolde, lockende Irrlichter, die sie in ferne, unbekannte Zauberreiche entführten.

Unten hörte sie noch immer die aufgebrachten Stimmen. Sie bemühte sich, so still und steif zu liegen wie nur irgend möglich. Dabei sehnte sie sich nach einer Berührung. Einer Umarmung wie von Tante Augusta. Das Gefühl eines anderen Körpers, der sie wärmte, ihr Trost gab. Aber Tante Augusta durfte nur noch selten kommen, weil sie schlechten Einfluss auf Ada hatte. Denn Augusta war die Schwester ihres Vaters.

»Augusta Ada!«

Briggs trat herein, gefolgt von Mamma. Lady Annabella Noel-Byron hatte das italienische Wort für »Mama« selbst eingeführt. Es war mondän, und so hörte man gleich, dass sie ihrer Tochter eine gute Ausbildung zuteilwerden ließ. Mamma war etwas über dreißig, nicht schön und nicht hässlich, mit rotblondem Haar, rundem Gesicht mit schmalen Lippen und kühlen blauen Augen. Ada mit ihren braunen Locken war beinahe ihr genaues Gegenteil. In der Gegenwart ihrer Mutter fühlte sie sich, als würde ein Teil ihres Lebens aus ihr fliehen und sie zu einer Puppe machen. Ihre eigenen Gefühle und Gedanken zogen sich an einen sicheren Ort zurück, tief in ihr Inneres, wo niemand herankam, nicht einmal Ada selbst. Und ließen sie als leere Hülle zurück.

»Lord Byron ist verstorben«, sagte Mamma. Es klang sachlich, als spräche sie von einem Fremden. »Das war die Nachricht, die vorhin kam. Vor ein paar Wochen, am 19. April.«

Aus irgendeinem Grund schnürte es Ada den Hals zu. Der Vater ist böse, sagte sie sich. Sie müsste froh sein, dass er tot war. Aber es gelang ihr nicht. Sie begann zu weinen.

»Warum weint das Kind denn?«, fragte Briggs ungeduldig. »Sie kannte ihn doch gar nicht.«

»Es ist meinetwegen«, erwiderte Mamma. »Aber das musst du nicht. Hörst du? Schluss damit.« Sie reichte ihrer Tochter ein schwarzes Samttuch, in das etwas eingeschlagen war.

Ada wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht. Sie setzte sich auf und faltete das Tuch auf. Ein Ring lag darin, eine gefasste dunkle Haarlocke und die Miniatur eines Textes.

»Das kam vor wenigen Wochen von ihm. Den Ring trug er als Talisman. Eine Locke seines Haars. Und eine Miniatur seines Gedichts Mädchen von Athen. Dein Porträt, das ich ihm habe schicken lassen, hat ihm große Freude gemacht. Er wollte, dass du auch etwas von ihm hast.« Mamma erhob sich. »Nun leg dich wieder hin. Ich lasse dir Bescheid geben, wenn du aufstehen darfst.«

Kaum war sie allein, richtete sich Ada auf, um den Inhalt des Tuchs noch einmal zu betrachten. Das erste und einzige Geschenk, das ihr Vater ihr je gemacht hatte.

Ada presste Ring und Locke an sich, als könnten sie ihr die Wärme einer menschlichen Umarmung geben, die sie so sehr ersehnte.

2

Mamma, du wirst staunen. Ich bin schon eine richtige Expertin für Flugologie«, erklärte Ada, während sie die große Flügeltür öffnete. Für ihre dreizehn Jahre war sie mager, aber groß, und ihr dunkelbraunes Haar war ordentlich zu einem Knoten gewunden. Überall standen die Fenster offen. Wie in einem der Jane-Austen-Romane, die Mamma so liebte, duftete es betörend nach frischem Grün und tausend Blüten. In Adas Fluglabor – einer kleinen Turnhalle in einem hellen Raum des Herrenhauses Bifrons bei Canterbury – hingen Seile von den Wänden, und in den Ecken türmten sich die Papierabfälle. Adas ganzer Stolz hing in der Mitte von einem der Seile herab: ein Flügelpaar aus zusammengeklebten Papierstücken mit gut zwei Metern Spannbreite.

Ada schwang sich mit einem Satz hinauf und steckte die Arme hinein. Mithilfe des von der Decke hängenden Seils schwang sie hin und her, schwebte durch den Raum. Sie liebte das Gefühl der Freiheit in den Seilen. Das berauschende Gefühl, nicht aufzuhalten zu sein, gierig nach ständig neuen Horizonten. Nach dem, wovon man nur hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln wagte: einem Leben, wild und wuchernd wie unberührter Urwald auf unerforschten Inseln am Rande der Welt, wo ihr nichts die Luft nahm. Fliegen bedeutete, über die Begrenzungen der Natur zu siegen. Tun zu können, was für einen nicht vorgesehen war, mit nichts als dem eigenen Verstand.

»In den Wochen, die du so krank warst, hat sich viel verändert«, rief Ada von oben herab, während sie sich in immer wildere Schwingungen versetzte. »Puff klettert neuerdings immer aufs Dach zum Kamin, und sie kommt nicht ins Haus, wenn sie nicht ihr feinstes Heringsfilet bekommt. Sogar meine kleinen Patenkinder, ihre Jungen, haben das schon gelernt.« Sie zog die Arme aus den Flügeln und sprang mit einem Satz wieder auf den Boden, der Mamma pikiert zusammenzucken ließ.

»Wenn ich größer bin, möchte ich ein dampfbetriebenes Flugpferd bauen, mit dem könnte ich richtig fliegen! Was denkst du?« Sie hoffte so sehr darauf, Mamma zu gefallen. Doch je glühender sie sich für etwas begeisterte, desto mehr Sorgen schien sich ihre Mutter zu machen.

Lady Annabella tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Stirn. »Hm.«

Eine halbe Stunde später hörte Ada, wie sie zu Miss Stamp sagte: »Ada ist die Zeit ohne meine Fürsorge nicht gut bekommen. Sie wirkt überspannt.«

»Mit Verlaub, Lady Byron, sie ist glücklich mit ihren Flugversuchen«, erwiderte Stamp. Sie hielt sich erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie schnell Lamont und einige andere glücklose Gouvernanten vor ihr ihren Hut genommen hatten. »Und sie ist doch noch ein Kind.«

»Ich weiß. Und im Allgemeinen bin ich mit Ihrer Arbeit auch recht zufrieden. Sie haben diese unselige Fantasie gut im Griff. Dennoch, die Gefahr ist bei Weitem nicht gebannt. Ich werde meinem Freund, dem alten Mr Frend, schreiben, er soll sich ihrer annehmen. Vielleicht kann er ihr Geometrieunterricht geben. Seine Tochter Sophia ist ebenfalls klug, aber er meint, das könne man bekämpfen. Soll er zeigen, was er kann.«

 

Mr Frend war ein älterer Herr, der bald darauf mit seiner Tochter Sophia einzog. Ada hatte sich gefreut, ein anderes Mädchen kennenzulernen. Sophia war älter als sie, aber wenn sie ebenfalls klug war, würde sie in ihr vielleicht eine Freundin finden. Allerdings stellte sie schnell fest, dass Sophia nicht fürs Fliegen zu haben war.

Da auch Mamma nicht viel davon hielt, beschloss Ada, sich auf anderen Planeten nach neuen Welten umzusehen. Sie besorgte sich eine Sternkarte, und Mr Frend, der eigentlich der Geometrie wegen gekommen war, sah sich alsbald mit der Aufgabe konfrontiert, den Astronomen zu geben. Als sie im Schulzimmer darüber sprach, ferne Planeten mit Fluggeräten zu erkunden, stand Sophia auf. »Wenn Gott gewollt hätte, dass wir zu anderen Planeten fliegen, wären wir längst dort. Du solltest bei dem bleiben, was man uns lehrt, nicht ständig Neues ausprobieren. Das ist gefährlich, es sind schon Mädchen an geistiger Überanstrengung gestorben.«

Sie legte Ada eine Liste auf deren Pult. »Ach, und ich soll dich fragen, ob du schon die Liste mit den Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern auswendig kannst.«

Ada verdrehte die Augen. Es gab so viel Lesenswertes, aber Mamma schien nur die Lektüre von Pflichten und frommen Geistlichen zu interessieren. Ächzend blickte sie nach der Biografie des Pfarrers John Barclay, die im Regal stand. Sein spektakulärstes Lebensereignis hatte darin bestanden, in Sack und Asche gekleidet durch Aberdeen zu laufen.

Zum Teufel mit Mamma und ihrer Jane-Austen-Welt, wo es nur um Cottagegärten und den richtigen Ehemann ging! Warum lasen die Heldinnen in diesen Büchern keine Astronomiebücher, warum erlebten sie keine wilden Abenteuer mit Piraten in exotischen Ländern? Hatten sie nie das unwiderstehliche Bedürfnis, ein verbotenes Bild zu entschleiern? Immer bei dem Bekannten bleiben, das war wie eine einzelne Farbe aus einem Regenbogen zu reißen und nie das Ganze zu sehen.

Kaum entließ Mr Frend sie, rannte Ada hinaus in den Garten. Seit ein paar Tagen graste nebenan ein Pony, und Puff schien sich über den Familienzuwachs zu freuen. Sie schoss wie ein geölter Blitz durch den Rasen, machte Sprünge und warf sich auf den Rücken. Ada liebte es, sie durchs hohe Gras zu jagen, und dieses Mal rannte sogar das Pony mit. Es duftete nach Herbst, der Holunder hatte dicke schwarze Beeren, und das Donnern der kleinen Hufe erschütterte den Boden. Ada ließ sich ins Gras fallen, und die Katze begann, ihre Hand zu jagen und spielerisch zu beißen.

»Mistress Puff!« Ada lachte und angelte nach ihrem verrutschten Haarband, um die Locken wieder zu bändigen. »Du bist eine wilde, ungebärdige Person, ich werde dringend eine Gouvernante für dich benötigen! Und sei froh, wenn sie so nett und verständnisvoll ist wie Miss Stamp.«

 

Lord Byrons Tod hatte Lady Annabella von der Sorge befreit, er könne doch noch irgendwann versuchen, seine Tochter zu entführen. Endlich durfte Ada reisen. Sie besuchten Italien und die Schweiz, und sie erhielt ihren ersten richtigen Gesangsunterricht. Im Frühjahr 1829 erkrankte Ada an Masern und musste mehrere Wochen das Bett hüten. Als sie endlich wieder aufstehen durfte, drohte sie vor Tatendrang zu platzen.

»Wann kann ich denn nun endlich Reiten lernen?«, fragte Ada. Sie stand an der Ottomane, auf der Mamma dekorativ in ihrem eleganten blauen Kleid lag. Natürlich nicht in ihrem Schlafzimmer, dort hätte ja niemand ihr Leid gesehen, sondern im Salon. Die Läden der großen Sprossenfenster waren geschlossen, und es roch nach Essig und dem Zeug, das in Mammas Riechfläschchen war. Ada sehnte sich danach, reiten zu können, über Wiesen und Felder zu sprengen, über Bäche zu setzen. Es musste ein Gefühl sein wie zu fliegen, ein Gefühl von Freiheit, von Leben. Der Gedanke, sich einem Pferd auf Gedeih und Verderb anzuvertrauen, zwölf Zentner wilder Kraft, jagte ein angenehmes Kribbeln durch ihren Körper.

»Hör auf, mich zu bedrängen«, erwiderte Mamma. »Du bist überspannt.«

»Aber …«

»Es reicht!« Lady Annabella richtete sich auf. »Zuerst das Fluglabor. Dann die Sternkarte. Danach hast du ein Planetarium gebaut. Und jetzt auch noch Reiten! Damit sollte man nicht zu früh anfangen, es ist gefährlich und schadet der Wirbelsäule. Außerdem siehst du doch, dass ich Kopfschmerzen habe. Hast du denn gar kein Empfinden für andere?«

Ada schluckte. Sie sehnte sich so sehr danach, einmal nur auf dem Rücken des Ponys sitzen zu dürfen. »Ich brauche doch nur deine Erlaubnis, Mamma. Du musst gar nichts tun. Stamp hat einen Sattel gefunden, sie legt ihn auf das Pony und passt auf. Bitte!«

»Bitte? Höre ich da etwa Leidenschaft?« Lady Annabella zog sich das nasse kalte Handtuch von der Stirn, richtete sich etwas auf und fasste ihre Tochter scharf ins Auge. »Du weißt, dass das die Wurzel allen Übels ist. Du musst dagegen ankämpfen. Geh auf dein Zimmer.«

Ada spürte die Wut so stark, dass sie nichts mehr dagegen tun konnte. Es brach aus ihr hervor. »Ich will nicht auf mein Zimmer!«, schrie sie ihre Mutter an. »Warum ist alles falsch, was schön ist? Ich will verdammt noch mal reiten!«

Lady Annabella wurde wachsbleich. »Hast du geflucht? Auf dein Zimmer, Liegekur, sofort!«

»Zur Hölle damit, und wenn schon! Ich will nicht liegen, ich will reiten! Stamp hilft mir.«

»Charlotte Stamp wird uns verlassen«, entgegnete Mamma kalt. »Sie heiratet. Kein Wunder. Ein so ungebärdiges Kind zu erziehen ist eine echte Last.«

Ada wurde schwarz vor Augen. Ihre Beine gaben nach. Die überschäumende, alles überwältigende Wut wich einer plötzlichen Schwäche, die ihren ganzen Körper ergriff. Eine tödliche Kälte breitete sich in ihr aus. Das Gefühl für die Wirklichkeit verschwamm, die Welt um sie herum wurde undeutlich wie hinter einer regengepeitschten Fensterscheibe. Sie verlor sich selbst. Spürte ihren Körper nicht mehr, als wäre sie gleichzeitig da und nicht da. Tot, aber noch nicht völlig verschwunden, sondern eingeschlossen in einer geisterhaften Existenz, in der sie alles sehen, aber keinen Kontakt aufnehmen konnte. Ein Albtraum. Sein und gleichzeitig Nichtsein. Alles, was sie ausmachte, war verschwunden – weg, hinter einer Milchglasscheibe, unwirklich. Fremd. Wie ein Trugbild, das außerhalb von ihr stand und das sie mit teilnahmslosem Interesse betrachtete.

 

Eine Stunde später lag sie in ihrem Bett. Gefühllos, taub. Stumm. Alles war verschwommen, die Welt, ihre Gefühle, ihr Ich. Man hatte den Arzt gerufen – er sah allerdings zuerst nach Mamma, denn die Szene, die Ada gemacht hatte, hatte ihre Kopfschmerzen verschlimmert. Ada nahm es zur Kenntnis, aber es prallte an ihr ab wie an einer Walnussschale.

»Hysterie«, sagte der Arzt, als er endlich auch an Adas Bett stand. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte, ihn zu erkennen, aber alles war auf einmal unscharf. Dort, wo vermutlich sein Bart wuchs, war ein verschwommener Fleck. Sie roch Essig und irgendetwas Süßliches, vielleicht das opiumhaltige Laudanum, das er erwähnt hatte. Den Geruch getragener Kleidung.

»Deine Mutter sagt, dass deine Wirbelsäule schwach sei. Die Masern können Lähmungen auslösen, aber da es so plötzlich kam, denke ich, es ist die Hysterie. Du musst liegen.«

Liegen.

Die Lebendigkeit, die Ada in den letzten Monaten in Bifrons gespürt hatte, verflog wie eine leise Musik. Wieder blieb sie zurück als kraftlose Hülle.

»Ich kann nichts sehen. Wie soll ich denn so lesen?«

»Lesen wird wohl nicht mehr gehen«, meinte der Arzt. »Und laufen und reiten auch nicht. Du wirst vermutlich ans Bett gefesselt bleiben.«

Ada spürte Tränen über ihr Gesicht laufen. »Wie lange?«, flüsterte sie. »Für immer?«

3

In den nächsten Monaten war Adas Welt der Blick an die Decke. Halb blind konnte sie sie nur verschwommen erkennen, und so unscharf wie ihr Gesichtsfeld war auch das Leben. Irgendwann wurde es dunkel, dann wieder hell. Dunkel. Hell. Die Zeit, als sie ein wildes, abenteuerlustiges Kind gewesen war, kam ihr vor wie ein Traum. Irgendwann war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob es wirklich Erinnerungen waren oder nur eine Einbildung ihres überspannten Kopfs.

Vielleicht wäre es besser, zu sterben.

Aber etwas in ihr wollte nicht sterben.

Anfangs hatte sie versucht, sich aufzurichten, aber Mamma hatte es verboten. Ihre Wirbelsäule sei zu schwach. Wegen der Sehschwierigkeiten konnte sie kaum lesen und schreiben. Wenn sie doch einen Brief verfassen sollte, tat sie es zittrig und schwach, mit Bleistift. Tinte hätte das Bettzeug beschmutzt.

Je weniger Ada unternahm, desto größer wurde auch ihre Scheu, sich neuen Abenteuern auszusetzen. Sonderbar, dass die Angst nicht weniger wurde, wenn man sich zurückzog, sondern eher mehr. Nicht einmal reiten wollte sie.

Es war wie die Liegekur – mehr Strafe als Erholung. Weggeschlossen. Dahinvegetierend in ihren vier Wänden, ein Schutz, schlimmer als die Krankheit. Die Bilder, wie sie strahlend in ihrem Labor in den Flugseilen hing, mit dem Pony über die Weide rannte und Puff hinterherlief, wurden immer unwirklicher. Im Winter, wenn es kalt war, sprang Puff auf ihr Bett, aber wenn es draußen schön war, sah Ada sie tagelang nicht. Vielleicht würden Puff und ihre Jungen sie vergessen. Ihre Patenkinder.

Ada öffnete die Augen. Das durfte nicht geschehen.

Im ersten Moment verschwamm noch alles wie durch eine zu starke Brille. Mühsam richtete sie sich auf und stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Sie roch das Öl, mit dem man ihre Stirn massierte, wenn sie wieder Schmerzen hatte. Das Laudanum. Spürte die Kälte ihrer Glieder, die kaum noch bewegt wurden. Früher war ihr nie so kalt gewesen.

Adas Rücken war es nicht mehr gewöhnt, aufrecht zu sitzen. Aber das musste er. Der Rollstuhl stand neben dem Bett, sie sah ihn wie durch einen Schleier. Vielleicht konnte sie ihn erreichen. Vorsichtig schubste sie das Kissen weg.

Ihr wurde schwindlig, und sie wäre fast umgefallen. Sie zitterte vor Kälte. Aber sie blieb sitzen. Ada bewegte die Hände und schlug die Decke zurück. Sie schlang die Arme um die Beine und stellte das erste auf den Boden, dann das zweite.

Vorsichtig zog sie den Rollstuhl zu sich heran. Ganz langsam beugte sie sich nach vorn, verlagerte das Gewicht auf die Beine. Nicht so viel, dass sie alles hätten tragen müssen, nur ein wenig. Sie knickten nicht weg.

Triumphierend stellte Ada die Füße ab. Sie konnte sogar die Kälte und die Bodendielen unter ihren nackten Sohlen spüren. Mit beiden Händen stützte sie sich am Rollstuhl ab und schaffte es, sich hineinfallen zu lassen.

Vorsichtig versuchte sie, die Beine anzuheben. Erst das eine. Dann das andere. Es bewegte sich nichts. Vielleicht die Zehen.

Wütend schlug Ada mit der Faust auf die Armlehne. Sie wollte die Niederlage nicht hinnehmen. Mit einem Ruck versuchte sie aufzustehen – und stürzte.

Die Wut war so stark, dass sie einen Schrei ausstieß und mit beiden Fäusten auf den Boden hämmerte.

Eine Hitzewallung durchlief sie. Das Bild wurde klar.

Sie riss die Augen auf und hob den Kopf. Mit einem Schlag sah sie, so deutlich wie früher. Als wäre sie nie halb blind gewesen. Sie sah den Bettpfosten. Die hölzernen Räder des Rollstuhls neben ihrem Gesicht. Die Kommode, das Bild über dem Bett. Die Zeichnung von Puff, die Mamma kürzlich gemacht hatte.

Schritte ertönten. Selina Doyle, eine Freundin ihrer Mutter, die öfter Gouvernantenpflichten erfüllte, stand in der Tür.

»Ada! Um Himmels willen!« Sie lief zu ihr und hob sie auf.

Adas Blick trübte sich wieder.

»Ich konnte sehen, Miss Doyle!«, rief sie aufgeregt. »Gerade eben noch. Ich konnte sehen!«

 

Obwohl sie danach wieder ins Bett gebracht wurde, hatte das Erlebnis Adas Lebensmut neu geweckt. Was, wenn sie nicht dauerhaft halb blind blieb? Wenn sie vielleicht eines Tages sogar wieder laufen konnte?

Wie auch immer, im Liegen würde sie es nicht lernen. Also übte sie heimlich, ohne dass Mamma und deren Furien von Freundinnen es bemerkten. Am nächsten Tag versuchte sie noch einmal aufzustehen. Ihre Beine knickten weg, doch auf das Bett gestützt zwang sie ihren Körper, aufrecht zu bleiben.

Sie fiel wieder auf die Matratze. Auf dem Gesicht spürte sie den Geruch der frisch gewaschenen Laken, einen Geruch, den sie vielleicht für den Rest ihres Lebens hassen würde. Spürte Leinen auf ihrem Gesicht. Die Kälte schüttelte sie, und ihre Augen tränten. Aber um ihre Lippen spielte ein triumphierendes Lächeln. Es war eine halbe Sekunde gewesen. Doch ihre Beine hatten sie getragen.

 

Als Briggs kam, um sie zur Toilette zu fahren, befahl Ada ihr zu warten. Sie ließ sich nicht aus dem Bett heben, sondern richtete sich mühsam auf und setzte mit beiden Händen ein Bein nach dem anderen auf den Boden. Dankbar zog sie den Schal um die Schultern, den die Nanny ihr umlegte.

»Bist du verrückt?«, rief Mamma, die soeben hereinsah. »Briggs, setzen Sie sie in den Stuhl, sie wird doch stürzen!«

Adas Kräfte verließen sie, und sie konnte sich gerade noch rechtzeitig abfangen.

Den Rest des Tages lag sie. Ihre Lippen zitterten vor Kälte, waren taub und gefühllos. Sie versuchte zu rechnen. Zu singen. Diese zittrige Stimme, die jetzt aus ihrer Kehle kam, fühlte sich nicht an wie ihre. Sie stellte sich vor, wie die Arien auf der Bühne klangen. Beinahe konnte sie das Orchester hören. Sehen, wie sich die fantastischen Kostüme auf einer erleuchteten Bühne bewegten. Wenn sie sich erinnerte, wie die Musik im Körper schwang, hatte sie weniger Angst, sich zu verlieren. Und je sicherer sie sich war, in ihrem Körper zu sein, desto freier konnte ihr Geist schweifen. Das Wellenmeer des Klangs trug sie in Räume jenseits der dreidimensionalen Welt von Euklid. Ihre Imagination verwandelte Töne in Zahlen und Zahlen in funkelnde Kristalle.

Am Abend kam Mamma und meinte: »Ich habe mit Dr. Mayo gesprochen. Er meint, es könne dir nicht schaden, wenn du vorsichtig versuchst aufzustehen.« Sie winkte, und Briggs trat herein. In der Hand hielt sie zwei Krücken.

Langsam begann Ada, sich ins Leben zurückzukämpfen. Ihre Augen spielten verrückt, an manchen Tagen sah sie fast normal, an anderen fast gar nichts. Genauso die Beine. An guten Tagen schaffte sie es allein zum Rollstuhl. Dann wieder kam sie nicht einmal in die sitzende Position. Manchmal liefen ihr Tränen übers Gesicht, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Mal fror sie so sehr, dass es sie schüttelte, mal war sie beinahe taub. Und immer über ihr die Zimmerdecke, weiß und leer. Wenn das alles war, was sie vom Leben noch erwarten konnte, wäre es wirklich besser, zu sterben. Selbst ein Strafgefangener konnte wenigstens lesen. Ihr blieb keine Wahl. Es musste anders werden.

Ada beschloss, sich nicht mehr auf den Rollstuhl zu verlassen. Sie wollte die Krücken ausprobieren. Am besten heimlich, dann konnte sie Mamma überraschen.

Langsam kehrte das Gefühl in ihre Beine zurück. Inzwischen konnte sie sie vorsichtig über den Bettrand schieben, und je mehr sie sie bewegte, desto leichter fiel es ihr. Schemenhaft sah sie die länglichen Silhouetten der Krücken am Bett. Ihre Hände tasteten nach den Griffen, schlossen sich darum.

Holz, schoss es ihr durch den Kopf. Holz wie am Gatter der Ponykoppel. Wie die Tür zum Fluglabor. Sie richtete sich auf. Ihre eiskalten, nackten Zehen berührten den Boden, dann die Ballen, dann die Fersen. Sie verlagerte ihr Gewicht, stützte sich mit den Krücken ab.

Sie stand!

Ada keuchte aufgeregt. Ihre Zehen schmerzten vor Kälte, im linken Fuß kribbelte etwas, aber sie kümmerte sich nicht darum. Vorsichtig bewegte sie die eine Krücke und zog den Fuß nach. Dann die andere. Ein Schritt. Dann noch einer. Ein dritter.

Am liebsten hätte Ada ein Triumphgeheul ausgestoßen.

Die Übungen fanden heimlich statt, weil Mamma nach wie vor nur eine halbe Stunde Sitzen täglich gestattete. Ada nutzte sie, um mit Miss Doyle Deutsch zu lernen. Ihr eigener Unterricht war im letzten Jahr vernachlässigt worden, und wenn sie sich dem von Miss Doyle anschloss, hatte sie wenigstens etwas Abwechslung. Zwar lernte die Ärmste langsam, aber da Ada immer noch Tage hatte, an denen sie kaum etwas sah, machte es das wett.

Es dauerte fast drei Jahre. Drei Jahre im Bett, nur kurz unterbrochen von kleinen Gängen an Krücken, in einer engen Husarenjacke, die ihren geschwächten Körper stützen sollte. Einige Minuten ans Klavier, ein paar Stücke, dann wieder ins Bett. Adas kindliche braune Locken wichen allmählich glattem dunkelbraunem, fast schwarzem Haar, das zu ihrem hellen Teint einen reizvollen Kontrast bildete.

Lady Annabella hatte schon wieder ein neues Haus, dieses Mal in Ealing, ein paar Kilometer westlich von London. Fordhook war ein modernes Gebäude mit schlichten klassischen Formen. Alles atmete Ordnung und Sachlichkeit – die weißen Möbel mit den hellen Polstern, die akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken, die Beete, in denen die Rosen in Reih und Glied standen. Ada sah nicht viel davon, weil sie noch immer die meiste Zeit im Haus verbrachte, aber die Veränderung schien etwas zu bewirken. Sie machte schnellere Fortschritte. Mamma ließ einen Phrenologen kommen: Dr. Deville, ein hageres älteres Männchen, das übel nach Tabak und Laudanum roch. Vermutlich einer der zahllosen Prediger, Ärzte und Philanthropen, die sie umkreisten wie Planeten die Sonne.

»Verrückt ist sie nicht«, meinte Deville, nachdem er Adas Kopf einer ausgiebigen Prüfung unterzogen und ihn genau vermessen hatte. »Aufgrund der Kopfform und allem anderen schließe ich, dass Miss Byron über einen ausgesprochen bemerkenswerten Intellekt verfügt. Besonders stark dürfte der Kunst- und Bausinn ausgeprägt sein. Des Weiteren vermute ich eine starke und rege Fantasie.«

Mamma räusperte sich. »Danke, Doktor. Wir wollen daraus aber nicht schließen, dass unsere Ada zur Poesie neigen würde. Ihre wahre Stärke ist dann wohl die Mathematik, die Geometrie erfordert bekanntlich einen ausgeprägten Kunst- und Bausinn. Und vielleicht, ergänzend, die Musik.«

Nach Weihnachten beschloss Ada, ihrer Mutter ihre Fortschritte zu präsentieren. Am Abend nach dem Dinner legte sie die Krücken weg.

Vorsichtig bewegte sie den ersten Fuß, dann den zweiten. Sie hatte sich vorgenommen, nur vom Esszimmer zum Klavier im Salon zu gehen. Mühsam stützte sie sich an der holzgetäfelten Wand ab, an der Empirekommode, dann an der mit heller Seide bezogenen Ottomane. Endlich erreichte sie den Klaviersessel und ließ sich aufatmend darauf sinken.

»Das war nicht übel«, sagte Mamma, als Ada sie erwartungsvoll ansah. »Vielleicht könntest du nächste Woche einmal eine Probestunde auf einem Pferd nehmen. Dr. Deville sagt, es sei gut gegen die Hysterie.«

 

Als Ada an ihren Krücken auf dem Hof stand, schlug ihr Herz wie verrückt. Nervös strich sie an ihrem Reitrock herab und zupfte immer wieder an dem kleinen Zylinder auf ihrem Kopf. Sie kam sich verkleidet vor, als wäre ihr Körper noch immer kein wirklicher Teil ihrer selbst. Die Füße steckten in niedrigen Reitstiefeln, und ihre Mutter hatte ihr auch eine Gerte gekauft. Nicht, dass Ada vorhatte, sie zu benutzen. Doch offenbar brauchte man sie zum Reiten im Damensattel.

Früher habe ich doch nie Angst vor Pferden gehabt, dachte Ada, während sie sich nervös auf die Lippen biss. Ihr war schon wieder kalt, obwohl der Frühling nahte. Die Reitschule lag ganz in der Nähe. Nach den Jahren im Haus hatte Ada das Gefühl, in der weitläufigen Anlage mit ihren verschlungenen Wegen und zahllosen niedrigen, reetgedeckten Backsteingebäuden verloren zu gehen.

Hufschlag ertönte, der Stallbursche führte eine Fuchsstute mit breiter Blesse auf den Platz vor dem Hauptgebäude. Ruhig folgte sie ihm und blickte neugierig in Adas Richtung.

Der Stallbursche stellte das Treppchen auf, das er in der anderen Hand getragen hatte, damit Ada in den Damensattel steigen konnte.

»Das schafft sie noch nicht«, erklärte Mamma, die bei der Kutsche wartete. »Sie müssen sie in den Sattel heben.«

Ada spürte ein paar kräftige Hände um ihre Taille, und ehe sie protestieren konnte, saß sie im Sattel. Es kam ihr turmhoch vor. Ängstlich klammerte sie sich am Sattelhorn fest und atmete den strengen Ledergeruch ein. Das Pferd war muskulös und verströmte einen warmen Duft, angenehm, aber auch wild.

Der Stallbursche befestigte eine Leine am Zaumzeug und reichte sie samt einer langen Peitsche an den Reitlehrer. Ein älterer Herr mit Zylinder und einem grauen, nach vorn gebürsteten voluminösen Backenbart, in eleganter Hose und Stiefeln wie auf einer Fuchsjagd. »Miss Ada Byron?«

Ada nickte mit zusammengepressten Lippen.

»Erfreut. Thomas Goodman ist mein Name.« Er bemerkte Adas Unsicherheit und lächelte. »Keine Sorge, junge Dame. Ich habe sie an der Longe. Ganz gleich, was Sie tun, das Pferd ist unter Kontrolle.«

Kraft unter Kontrolle. War es nicht genau das, was sie lernen wollte?

Als das Tier sich in Bewegung setzte und mit ihr im Sattel langsam auf den Reitplatz ging, hielt sie sich ängstlich fest. Es schwankte so stark. Und dieser Geruch war betäubend.

»Bleiben Sie einfach ruhig sitzen«, riet Goodman. »Spüren Sie die Bewegung. Werden Sie ein Teil davon.«

Er ging langsam in die Mitte des kreisrunden Sandplatzes und lockerte dabei die Leine ein wenig, an der das Pferd lief. Es beschrieb nun einen Kreis um ihn herum.

»Das ist Empress. Früher war sie lebhaft, aber jetzt ist sie alt und äußerst erfahren. Und absolut gutmütig. Egal, was Sie tun, sie verzeiht Ihnen alles.«

Ada klammerte sich fest. Alles verzeihen? Das war unmöglich. Es gab kaum einen Fehler, der verzeihlich gewesen wäre.

»Ich lasse sie erst einmal nur im Kreis gehen. So gewöhnen Sie sich an das Gefühl. Man hat mir gesagt, dass Sie bisher Angst vor dem Reiten hatten.«

Ada nickte mit zusammengepressten Lippen, doch allmählich begann sie, sich selbst im Rhythmus des Pferdes zu bewegen. Sie spürte, wie durch die Bewegung ihres eigenen Körpers ihr Sitz nicht unsicherer wurde, sondern sicherer. Als wäre die Kraft des Tieres auf einmal weniger bedrohlich.

»Gut so. Das machen Sie wunderbar.«

Das sagt er jeder seiner Schülerinnen, dachte Ada, aber trotzdem tat es ihr gut. Sie konnte sich sogar ein wenig umsehen, obwohl sie sich immer noch am Sattel festhielt. Die Backsteinbauten des Haupthauses und der Stallungen, die großen Scheunentore, weiter hinten die Koppeln hinter einer Reihe junger Pappeln. Friedlich weideten die Pferde dort, ein Fohlen sprang um die Mutterstute. Adas verkrampftes Gesicht lockerte sich zu einem Lächeln.

Der Abstand zum Boden kam ihr nun nicht mehr ganz so groß vor – eine optische Täuschung, dachte sie – und auch das Schwanken nicht mehr so beängstigend. Es fühlte sich sogar schön an. Ein wenig wie Schweben.

Die Zeit verging schnell, und als der Stallbursche sie wieder vom Pferd hob, bedauerte sie es sogar ein wenig. Sie ließ ihre Hand über das glatte Fell gleiten. Der Muskel darunter zuckte leicht. Jetzt, da das Tier sich bewegt hatte, roch es noch stärker, weil das Fell warm war. Lebendig. Die Stute schnoberte über ihren Ärmel, es kitzelte.

 

Die neue Bewegungsfreiheit beflügelte Ada mehr, als sie anfangs gedacht hatte. Zu ihrer eigenen Überraschung verflog ihre Angst, wenn sie sich aufs Pferd setzte, von Mal zu Mal schneller. Schon in der zweiten Stunde wagte sie an der Longe einen ersten Trab. Es schüttelte sie durch, als säße sie auf einem Dampfkolben. Goodman erklärte ihr, wie sie sich nicht ängstlich von den Stößen wegschleudern lassen, sondern sich tief in den Sattel setzen sollte, um die Tritte abzumildern. Als Ada es versuchte, spürte sie die Stöße noch immer, aber zu ihrer Überraschung war es viel sanfter so. Ein Triumphgefühl durchströmte sie, und sie fühlte sich stark in ihrem Reitkleid und dem kleinen Zylinder. Ihr Haar, gebändigt in zwei Zöpfen, die hinter dem Ohr zu einer Schlinge hochgesteckt waren, wippte um ihr erhitztes Gesicht, und strahlend richtete sie sich auf. Sie fühlte sich stark und schön.

»Das sieht doch schon ganz gut aus«, meinte ihre Mutter, die am Zaun zusah. »Vielleicht können wir im Sommer endlich wieder nach Brighton fahren. Es war ja nicht auszuhalten.«

 

Brighton war zauberhaft.

Der weite Sandstrand mit dem eindrucksvollen Pier erstreckte sich weit in den Abendhimmel. Elegante Paare flanierten am Strand und auf der Promenade, Reiter trabten an der Kutsche vorbei. Am Strand standen große Gasthäuser, viel eleganter und schöner als die einfachen Unterkünfte, in denen man sonst auf Reisen unterkam. Der Adel traf gewöhnlich erst im Herbst ein, wenn die Themse in London anfing zu stinken, aber die Stadt war in Mode. Vor allem wegen des Meerwassers, das gesund sein sollte. Man sah, dass es einmal ein Fischerdorf gewesen war. Noch immer flickten die Männer in ihren bunten Hemden und weiten blauen Hosen am Strand ihre Netze. Lady Annabella mietete sich und Ada im Hotel Albion House ein. Der Seewind pfiff um die Mauern, die niedrigen Decken und Balken ächzten. Verwunschen lag es inmitten eines Gartens voller Rosen, Hortensien und Sommerflieder. Die Möbel in den Zimmern waren mit Samt bezogen, die Vorhänge an den kleinen Sprossenfenstern dunkelrot und etwas ausgebleicht.

Ada bekam Gitarrenunterricht, und jetzt, da sie wieder aufrecht stand, kam auch ihre Stimme zurück. Ihre Seele, die so lange eingeschnürt gewesen war, durfte wieder für ein paar Augenblicke atmen, weinen. Die Maske, die man Ada in den letzten Jahren vor ihr Gesicht geschnürt hatte, fiel und gab frei, was sie wirklich war. Ihre Stimme. Ihre Gefühle, denen niemand mehr sagte, dass sie eigentlich ganz anders seien.

Es fand sich dort auch eine Reitschule, aber als Ada am zweiten Tag wiederkam, erwartete sie eine Überraschung.

»Ich werde die Longe weglassen«, meinte der Reitlehrer, Mr Johnson, kaum hatte Ada ihre Krücken ans Gatter gelehnt und war schwerfällig in den Sattel der braunen Stute geklettert. Es war stürmisch, und dunkle Wolken trieben vom Meer herüber. Eine frische Brise kühlte Adas Gesicht und drohte ihr ständig den Reitzylinder vom Kopf zu reißen. »Sie brauchen mich längst nicht mehr.« Er löste den Strick und nickte Ada zu. »Nur zu. Sie kann nicht weglaufen, der Platz ist eingezäunt. Und selbst wenn sie könnte, täte sie es nicht.«

Ada ließ ihren zweifelnden Blick über das sandige Geviert schweifen. Weiß gestrichene Zäune hegten sie ein, dahinter erstreckten sich die Weiden mit fettem Gras und den weiter entfernten Wäldern. Alles atmete Sicherheit. Ada hob die behandschuhten Finger und griff nach den Zügeln. Vorsichtig drückte sie die Hacken an den Pferdebauch und half auf der anderen Seite mit der Gerte leicht nach.

Die Stute setzte sich in Bewegung, langsam, ruhig, ohne Hast. Adas Unsicherheit verflog, und sie setzte sich fester in den Sattel. Allmählich stellte sich das Gefühl wieder ein, als liefe sie noch an der Longe. Über ihr ballten sich die Sturmwolken zu einem himmlischen Publikum, bliesen ihr den Seewind ins Gesicht. Gleich würde Mamma oder eine ihrer allgegenwärtigen Freundinnen am Gatter stehen und sie nach Hause bringen wollen, damit sie sich keine Erkältung holte. Aber Ada tat der Wind gut.

»Schön«, hörte sie Johnson sagen. »Sobald Sie sich sicher fühlen, lassen Sie sie antraben.«

Ada ließ die Stute eine ganze Weile im Kreis gehen. Sie war froh, dass er sie nicht drängte. Allmählich fühlte sie sich wieder freier. Ihre Schultern lockerten sich, und sie begann, es zu genießen. Einen Moment schloss sie die Augen, um den Wind auf ihrem Gesicht zu spüren. Die Bewegungen des Pferdes unter ihr.

Vorsichtig trieb sie die Stute an.

Das Tier spitzte die Ohren. Dann fiel es in einen langsamen, wiegenden Trab.

Ein Triumphgefühl durchflutete Ada. Es war mit nichts zu vergleichen. Die Kraft des Pferdes erschreckte sie nicht mehr, sondern schien sich mit ihrer eigenen zu vereinen. Die Wirklichkeit wurde greifbarer. Sicherer.

Ada trieb das Pferd etwas stärker an. Der leichte Wind in ihrem Gesicht, in ihrem Haar, die Geschwindigkeit, die ruhige Kraft dieses gewaltigen Tieres waren unfassbar schön. Die dunklen Wolken ließen einen gleißenden Sonnenstrahl passieren.

»Ausgezeichnet. So, und nun machen Sie sich schwer und parieren durch.«

Ada verlagerte ihr Gewicht, um die Stute zu bremsen, und sofort verlangsamte sich der Trab und wurde zu einem ruhigen Schritt.

»Sehen Sie?«, meinte Mr Johnson. »Ich wusste, dass Sie es können.«

Ada übte, so oft und so lange es ging. Wenn sie nicht im Stall sein konnte, versuchte sie, im Hotel an ihrer Haltung und ihrem Sitz zu arbeiten. Zum ersten Mal seit so langer Zeit hatte sie keine Angst mehr, wieder plötzlich zusammenzubrechen.

Nach vier Wochen empfing sie Mr Johnson eines Morgens mit einem zweiten Pferd an der Hand, einem lebhaften Rappen. Wie üblich trug er einen eleganten Reitanzug, und sein buschiger grauer Chincurtain lugte unter dem Zylinder hervor – die modische Barttracht, bei der der Backenbart unter dem Kinn zusammenwuchs.

»Heute werden wir einmal nicht auf dem Platz bleiben«, meinte Johnson. »Was halten Sie von einem Ausritt an den Strand?«

Überrascht blickte Ada in das Gesicht mit den wasserblauen Augen und der verwitterten Haut. So ganz sicher war sie nicht, ob sie sich das zutraute, aber die Neugierde siegte.

Nervös klammerten sich ihre Finger um die Zügel, als sie im Sattel saß und er beide Pferde auf den Pfad in Richtung Strand führte.

Außerhalb der schützenden Klinkermauern kam ihr das Feld weit vor, die Straße unendlich. Mr Johnson schwang sich in den Sattel. »Bleiben Sie einfach hinter mir. Butterfly läuft ihrem Stallgenossen nach, das würde sie selbst ohne Sie tun.«

Ada war auf sich allein gestellt. Langsam lenkte sie ihre Stute hinter ihm auf den Pfad. Anfangs konzentrierte sie sich noch vollends aufs Reiten, sodass sie von der Welt um sich herum kaum etwas wahrnahm. Aber bald merkte sie, dass die Stute tatsächlich ihrem Stallgenossen nachlief. Ganz behutsam trat sie auf, ging mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten. Als ob sie ganz genau wüsste, wie sich Ada fühlte. Als ob sie ihr sagen wollte, dass sie bei ihr sicher sei.

Ada begann, ihre Umgebung wahrzunehmen. Ein Schmetterling flog, sie folgte ihm kurz mit den Augen. Ein Windstoß fegte ein paar Blüten vorbei, und die Luft duftete süß und schwer. Sie ließen die Häuser der Stadt hinter sich und steuerten auf den Strand zu. Weiß und schimmernd wie das Innere einer Muschel lag der weite Bogen vor ihnen. Hin und wieder sah man kleine fensterlose Kutschen halb im Wasser stehen, die von Familien als Badewagen genutzt wurden. Paare flanierten oben an der Promenade. Der Sand dämpfte das Geräusch der Hufe, und die salzige Seeluft wehte den Geruch von Freiheit herüber.

»Nun, was denken Sie, Miss Ada?«, meinte Johnson. »Wollen wir einen kleinen Galopp am Strand wagen?«

Adas alte Angst meldete sich. Aber dann richtete sie sich auf und erwiderte: »Auf jeden Fall.«

Er wirkte beinahe überrascht, dass sie sich darauf einließ. »Also gut. Dann geben Sie die Galopphilfen und bleiben hinter mir.«

Er nickte ihr zu und galoppierte los.

Ada holte tief Atem. Dann trieb sie ihre Stute an.

Mit einem Sprung setzte Butterfly ihrem Stallgenossen nach.

Der Wind peitschte Adas Gesicht und riss ihr eine Haarsträhne aus der Frisur. Ihr Körper wurde eins mit der Bewegung des Pferdes. Donnernd fegten die Hufe über den schweren Boden, ließen Sand aufspritzen und schleuderten ihn seitlich weg. Die Geschwindigkeit berauschte Ada. Sie hörte eine Stimme schreien, war es ihre eigene? Das Leben durchströmte sie so stark, dass es kaum auszuhalten war. Sie fühlte sich, als wäre sie es, die sechshundert Kilo pure Kraft über den Sand jagte.

Mamma ritt nie schnell. Sie achtete immer darauf, wie andere sie sehen konnten. Niemals übertreiben. Alles war kontrolliert. Ohne Risiko. Ohne Lust.

Ada warf die Zügel auf den Hals des Pferdes. Sie feuerte das Tier zu noch wilderem Galopp an, raste an ihrem Lehrer vorbei, schrie das überschäumende Leben aus sich heraus. Es strömte durch sie hindurch wie eine Welle, eine alles verschlingende, riesige Welle.

Leben.

4

Brighton hatte Ada das Gefühl gegeben, neu geboren zu sein, und sie war traurig, als es im Herbst wieder nach Fordhook zurückging. Umso mehr, als die Byron-Familie wieder einmal einen Skandal provozierte: Adas Cousine Georgina, die Tochter von Tante Augusta, lag noch im Wochenbett, als ihr Gatte Henry mit ihrer jüngeren Schwester nach Frankreich durchbrannte. Mamma japste vor heiligem Zorn nach Luft wie ein Hecht auf dem Fischmarkt. »Augusta ist viel zu weich, da sieht man, was bei dieser Disziplinlosigkeit herauskommt!«

In der adretten Jane-Austen-Welt der Fordhook’schen Cottagegärten hatte das Monster der Byron’schen Zügellosigkeit keine Chance. Dafür sorgten schon Mammas Freundinnen, denen die Aufsicht über Adas Keuschheit oblag und die es vermutlich sogar geschafft hätten, Frankensteins Monster eine Mönchskutte anzuziehen: Neben Miss Doyle waren es vor allem Mary Montgomery und Frances Carr, die Ada heimlich die »Furien« nannte.

Seit sie wieder in Fordhook waren, verliefen die Tage eintönig. Manchmal stellte Ada die Möbel in ihrem Schlafzimmer um, nur damit sich etwas änderte. Sie hätte alles getan, um zu verhindern, dass sich diese Hölle des teilnahmslosen Dahinvegetierens wiederholte. Noch immer ging sie an Krücken, aber von Tag zu Tag fühlte sie sich sicherer auf den Beinen, und die Pfunde, die sie während des langen Liegens zugelegt hatte, schrumpften.

Im Winter wurde ein Lehrer für Kurzschrift eingestellt, damit sie beim häuslichen Unterricht schneller mitschreiben könnte. Mr Turner kam immer nach dem Dinner für eine halbe Stunde, um Ada in dem kleinen getäfelten Raum zu unterrichten. Das Katheder roch nach dem Öl, mit dem es poliert wurde, und die schweren Vorhänge an den Fenstern ließen gerade genug Licht zum Arbeiten herein.

»Nun, Miss Ada? Fertig?«

Ada reichte ihm die Arbeit, und William Turner überflog die Aufgaben.

»Ausgezeichnet.« Er blickte auf und lächelte ihr über den Rand seiner Brille hinweg zu. Ada erwiderte das Lächeln. Mr Turner war jung, gar nicht so viel älter als sie selbst. Er trug einen schlichten schwarzen Rock, und seine dunklen Locken waren über Schläfen und Wangen ins Gesicht gekämmt. Ob seine Haut sich in der Sonne auch leicht rötete und seine Augen im Tageslicht noch so braun wären?

»Sie lernen sehr schnell«, meinte er. »Eine intellektuelle Begabung, wie man sie selten sieht, selbst bei Männern. Bemerkenswert.«

»Ist das ein Kompliment?«

Er räusperte sich und begann wieder zu diktieren. Aber Ada bemerkte sehr wohl, dass er ihr unter seinen dichten Wimpern heimliche Blicke zuwarf.

Eine sonderbare Wärme überlief sie.

In den nächsten Tagen fiel ihr auf, dass William Turner errötete, wenn sie ihn ansah. Dass er sie verstohlen musterte, wenn er dachte, sie merke es nicht. Ada kannte so etwas nur aus den Romanen von Jane Austen. Es interessierte sie, mehr darüber herauszufinden. Und schließlich hatte Mamma in letzter Zeit öfter darüber gesprochen, dass man Ada allmählich in die Gesellschaft einführen und einen Verlobten für sie finden müsse.

»Wie ist es eigentlich, verlobt zu sein?«, fragte sie die Wirtschafterin, als sie in der Küche das Abendessen bestellte.

Die zuckte die Achseln und ließ sich ächzend auf einen der beiden wackligen Stühle an dem Tisch sinken, wo die Diener aßen. In dem schweren Büfettschrank hinter ihr türmten sich Steingutteller und -tassen, und auf dem Herd standen riesige Kupfertöpfe. Die Wirtschafterin strich ihr hochgeschlossenes schwarzes Kleid mit der weißen Schürze glatt. »Ich war nie verheiratet. Dienstboten bleiben ehelos.«

»Merkt man es, wenn ein Mann …?« Wie nannte man das?

Die Wirtschafterin lachte, dass ihr voluminöser Busen unter der Schürze zitterte und der graue Haarknoten unter der Haube tanzte. »Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Das merkt man schon.«

Ada entschloss sich herauszufinden, ob William Turner Anzeichen von Verrücktheit nach ihr zeigte. Das Einfachste wäre, durch eine äußerliche Veränderung ein wie auch immer geartetes auffälliges Verhalten zu provozieren. Also blieb das bequeme, aber schon etwas abgetragene schlichte blaue Schulkleid am nächsten Tag in der Truhe. Wie man es ihr beigebracht hatte, bürstete sie ihr langes dunkles Haar mit hundert Bürstenstrichen, bis es ein glänzender Seidenvorhang war. Dann scheitelte sie es in der Mitte, knotete es auf dem Oberkopf und ließ ein paar Strähnen herausfallen, die sie mit Papilloten in Form gebracht hatte. Sie zog das hübsche weiße Kleid an, das den Oberkörper betonte. Wenn man einen Parameter veränderte und sich dann ein anderes Ergebnis zeigte, wäre das ein Hinweis. So war es in der Mathematik. Der Gedanke beflügelte sie förmlich, und so ganz klar war ihr nicht, ob es die mathematische Neugierde war oder der Gedanke, dass sich vielleicht ein Mann für sie interessierte. Jane Austen gegen die Logik.

Als Mr Turner zum Unterricht erschien, verzog er keine Miene. Er begann zu diktieren, aber es war nicht zu übersehen, dass er immer wieder herübersah. Er hat es bemerkt, dachte Ada. Es machte sie wacher, und sie fühlte sich auf einmal selbstsicherer. William Turner erschien ihr plötzlich anziehender als in den Monaten davor. Er war schlank, das war ihr noch nie aufgefallen. Und er hatte so hübsche dunkle Augen unter seinen starken, gerade gezeichneten Brauen. Ein sonderbares Hochgefühl durchlief Ada, und sie wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich für sie interessierte, oder an den Möglichkeiten, die Wirkung dieser Gefühle genauer zu analysieren. Sie musste es tun, ohne dass die Furien es mitbekamen. Die grässlichen Weiber passten auf wie die Schießhunde, und wenn Ada selbst nichts Verwerfliches tat, dann erfanden sie etwas. Doch es war das Risiko wert. Ihrer Mutter konnte sie nie gefallen, was sie auch tat. Bei Männern schien das viel leichter zu sein.

In der nächsten Unterrichtsstunde fragte sie, ob sie ein Gedicht von Lord Byron stenografieren könnten.

Mr Turner blickte überrascht auf, beinahe erschrocken. Dann sah er sie auf eine sonderbare Art an, die Adas Blut schneller durch die Adern fließen ließ.

»Das wurde mir verboten. Ihre Mutter sagt, es würde Ihren Charakter verderben.«

»Und Sie? Was denken Sie?« Ein Gespräch über ihren Vater schien ihr das Einfachste. Sie wusste nicht, wie man mit Männern herumtändelte, wie auch, nach drei Jahren Bettlägerigkeit?

William Turner atmete tief ein. »Ich denke, dass Lord Byron der größte Dichter unserer Zeit war. Seine Verse sind Musik.«

»Warum verderben sie mich dann?« Ada wartete, und als keine Antwort kam, stand sie auf, legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn an. »Er war mein Vater, Mr Turner. Und ich weiß nichts über ihn. Wie war er?«

Er blickte aus dem Fenster, aber es wirkte, als täte er das nur, um sie nicht ansehen zu müssen. Sein Körper unter dem schwarzen Rock war warm und pulsierte kaum spürbar.

»Er hatte Talent«, sagte er endlich. »Leidenschaft. Schönheit. Aber er war auch hemmungslos und zynisch. Er rebellierte gegen Stand und Etikette, Moral und Sitte. Was er wollte, nahm er sich, und danach warf er es gedankenlos weg. Er war gierig nach dem Leben. Und es war wie ein Fluch, der auf ihm lag, dass er alles, was er so sehnsüchtig erstrebte, zerstörte, sobald er es besaß. Die Liebe. Das Leben. Sich selbst.«

Ada hatte noch nie von jemandem so sprechen hören. William Turners Stimme zitterte ganz leicht, als wäre er selbst einer von denen, die so kopflos von der süßen, trügerischen Verführung dieser Verse hingerissen wurden.

»Na dann«, meinte sie scherzhaft, »lassen wir es besser, bevor ich noch anfange, aus Totenschädeln zu trinken.«

Turner unterdrückte ein Grinsen.

»Können Sie sich meine Mutter bei so etwas vorstellen?«, meinte sie.

Jetzt brach er doch in Lachen aus.

In diesem Moment ging die Tür auf. Frances Carr, eine der drei Furien, stand im Zimmer.

Als Ada nach dem Unterricht zu ihrer Mutter gerufen wurde, ahnte sie schon, was der Anlass war.

»William Turner ist ein einfacher Mann«, erklärte Lady Annabella. Sie saß in ihrem Sessel, aufrecht wie ein Soldat. In ihrem pastellblauen Kleid wirkte sie jung, ihr Haar war noch immer rotblond, nur der fein geschwungene Mund war angespannt. Ein Bild zwischen Üppigkeit und Strenge, so wie die in Reihen gezogenen, noch winterkahlen Rosen draußen im Garten. »Du stammst aus einer Familie von Stand. Ich hoffe, du bist dir dessen bewusst, dass es keine Verbindung zwischen zwei so verschiedenen Menschen geben kann.«

Ada setzte sich auf die Bank mit den anmutig geschwungenen Beinen. »Du musst dir keine Sorgen machen, Mamma.« Sie hatte sich zurechtgelegt, was sie sagen würde. Artig blickte sie nach unten und strich ihr knöchellanges Kleid über den Schnürstiefeln glatt. Verstohlen wagte sie einen Blick auf die zartgrauen Mauern im Hintergrund, von denen der Gärtner das Efeu regelmäßig abriss. »Aber nur so aus Neugierde – warum eigentlich nicht?«

Ihre Mutter hob die Brauen über den kühlen Augen und stand auf. »Adlige Familien heiraten nicht in solche ohne Titel ein. Es ist unter ihrer Würde.«

»Aber was bedeutet schon ein Titel? Es ist ein Stück Papier, weiter nichts. Wenn ich heute in ein Land gehen würde, wo man mich nicht kennt, wüsste niemand, dass ich aus einer edlen Familie komme.«

Lady Annabellas Hand krampfte sich fester um die Armlehne, man sah es nur an den weißen Knöcheln. »Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen, und das werde ich tun.«

Beschützen!, dachte Ada und bemühte sich, ihre plötzliche Wut nicht zu zeigen. Wovor, vor dem Leben?

»Dein Vater hatte ein verderbliches Temperament, das ihm und anderen Unglück gebracht hat. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es nicht auch dich ins Unglück stürzt. Du weißt, was mit Mädchen passiert, die ihre Unschuld verlieren. Wenn ich den Eindruck habe, dass zwischen dir und Turner mehr ist als nur das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin, werfe ich ihn hinaus. So, und nun ab auf dein Zimmer. Arrest bis morgen früh.« Sie winkte ihrer Tochter zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war.

Ada senkte den Kopf und nickte. Allerdings begab sie sich nicht sofort auf ihr Zimmer.

Vorher schrieb sie eine Notiz an William Turner. Dann rief sie den Jungen, der hin und wieder bei Botengängen oder kleineren Arbeiten aushalf, schmutzig, barfuß, das Haar von undefinierbarer Farbe. Sie drückte ihm den Zettel und etwas Geld in die Hand und trug ihm auf, ihn Mr Turner auszuhändigen. Er wohnte nur ein paar Meilen entfernt und würde die Nachricht schnell erhalten.

Als sie sich am Abend überlegte, was sie anziehen sollte, war sich Ada noch immer nicht sicher. Sie wusste, dass Männer manche Dinge von Frauen wollten. Aber was genau, darüber schwiegen sich ihre Mutter und ihre Gouvernanten aus. Sie hatte gehört, dass sich manche verdorbenen Frauen im Nachtkleid mit Verehrern trafen, das wagte sie dann doch nicht. Sie entschied sich für das hübsche weiße Seidenkleid. Von Weitem wirkte es ohnehin beinahe wie ein Nachtkleid.

Ada durchlief ein Prickeln, als sie in Korsett und Unterröckchen vor dem schweren Himmelbett stand, auf das sie das Kleid gebreitet hatte. Die einzige Kerze verbreitete kaum Helligkeit, aber sie wagte nicht, den Leuchter anzuzünden, weil man das Licht draußen auf dem Flur sehen könnte. Es war verrückt, was sie da tat.

Aber eben auch so unglaublich abwechslungsreich.

Sie machte sich ein wenig hübsch, kniff sich in die Wangen und die Lippen und legte ihr Haar in einen hohen Knoten, aus dem einzelne Strähnen fielen. Über der Brust lag ein Seidentuch, und zum Schluss schlüpfte sie in ihre adretten Schuhe mit Absatz.

Sie blickte auf die Uhr. Viertel vor zwölf.

War es unvorsichtig? Sicher war es das.

Noch konnte sie einfach hierbleiben. Nichts tun, ihn warten lassen und ihm am Morgen sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte. Aber dann würde das sonderbare Prickeln in ihrem Körper vergehen. Das Gefühl, ganz in der Wirklichkeit zu sein. Dann würde sie wieder wie durch eine Glasscheibe vom Leben abgesondert sein. Wieder wie betäubt oder hinter dicken Wolltüchern die immer gleichen Tage erleben. So wie die Jahre im Bett.

Zehn Minuten vor zwölf.

Mamma hätte so etwas nie getan. Lady Annabella wählte stets den sicheren Weg. Sie wusste immer ganz genau, was zu tun war, und sie hielt sich keine Sekunde mit überflüssigen Träumen auf. Aber Ada war nicht ihre Mutter.

Wenn bei einem Waldspaziergang vor ihr zwei Wege lagen, einer breit und eben, der andere zugewachsen und wild, nahm Ada immer den wilden. Wenn ein Bach über den einen Weg strömte, über den anderen nicht, dann watete sie durch den Bach.

Fünf Minuten vor zwölf.

War ihr Vater auch einer von denen gewesen, die durch den Bach wateten? Die wilde Träume hatten und sich lieber durch das Unterholz kämpften, um danach mit aufgeschlagenen Knien und Schrammen im Gesicht nach Hause zu kommen, als den sicheren, langweiligeren Weg zu gehen?

Er war gierig nach dem Leben. Und es war wie ein Fluch, der auf ihm lag, dass er alles, was er so sehnsüchtig erstrebte, zerstörte, sobald er es besaß. Die Liebe. Das Leben. Sich selbst.

Drei Minuten vor zwölf. Ada schlich sich auf den Gang und drückte die Zimmertür hinter sich mit einem leisen Klicken ins Schloss.

Während sie durch die dunklen Flure lief, verflog der Kopfschmerz, der sie vorhin geplagt hatte. Es war, als wäre sie auf einmal wacher, präsenter.

Sie spürte den Duft des Holzbodens, roch den Firnisgeruch, der von den Bildern ausging. Sie hörte das leichte Klopfen des Windes an den Fensterläden, spürte die Dielen unter ihren Füßen.

Es kam ihr vor, als hätte sie die ganze Zeit bisher nur darauf gewartet, endlich einen Moment wie diesen erleben zu dürfen. Selbst wenn sie überzeugt gewesen wäre, einen Fehler zu machen, wäre sie jetzt nicht mehr umgekehrt. Das Gefühl, das sie durchflutete, war berauschend, und um nichts in der Welt hätte sie es wieder aufgeben wollen.

In den hohen Gängen von Fordhook kam sie sich verloren vor. Geisterhaft wehten ein paar Vorhänge, und die Truhe am Ende des Gangs warf einen schweren, dunklen Schatten. Sonderbar, dass sie problemlos ohne Krücken und ohne Hinken laufen konnte.

Ada trat ins Freie, und tatsächlich sah sie William Turner am Gartenhäuschen stehen. Ein Schatten in einem Reisemantel, mit einem eleganten Hut vor den sorgsam gestutzten Hecken. Sie erreichte ihn, und er zog sie an sich und küsste sie.

Das Gefühl war so stark, dass Ada schwindlig wurde. Wann hatte sie das letzte Mal jemand in die Arme genommen? Es musste Jahre her sein. In ihren Kreisen berührte man sich nicht, wenn es nicht unumgänglich war. Das leichte Prickeln war so schön, ein Gefühl irgendwo zwischen Angst und Genuss, vielleicht eine verrückte Kombination von beidem. Es war so anders als das immer gleiche Leben, das sie hier führte, riss sie aus dem einschläfernden Nebel der Gewohnheit ins Leben. In ein Leben, in dem mit einem Schlag die Farben tiefer waren, die Gerüche intensiver. Er zog sie ins Gartenhaus, und sie legte die Arme um ihn und versuchte, es genauso zu machen wie er.

Es war eine Art Wahnsinn, dachte sie, während sie seine Küsse erwiderte, den Kopf in den Nacken legte, während er ihren Hals und ihre Schultern mit Küssen bedeckte. Ein sonderbarer Wahnsinn, der den Atem schwer machte, den Körper wärmte und ein Pochen hervorrief, ein Wahnsinn, der den Verstand umnebelte und einen Dinge tun ließ, die verboten waren. William Turners Hände glitten über ihren Körper, zogen das Seidentuch von ihrem Ausschnitt und berührten ihre Haut. Seine Lippen folgten ihnen, und der sonderbare Wahnsinn schwirrte in ihrem Kopf.

Seine Hände rutschten über ihre Hüften auf die Schenkel und wieder nach oben. Er drängte sie zu dem Tisch, auf dem der Gärtner seine Jungpflanzen eintopfte, und setzte sie sanft darauf. Dann öffnete er die Knöpfe an seiner Weste, streifte sie ab und zog das Hemd über den Kopf. Es war das erste Mal, dass Ada einen Männerkörper nackt sah – oder jedenfalls einen Teil davon. Ein ungewohnter, fremder Anblick. Neu, dachte sie atemlos, während sie ihre Handflächen über seine Brust gleiten ließ. Er roch anders als Frauen, seine Haut hatte einen leichten Duft nach Pferden.

William Turners Lippen wanderten nach unten. Adas Körper summte und fühlte sich lebendiger an denn je. Als ob das Leben mit einem Mal aus ihr hervorschießen würde, ein Leben, von dem sie gar nichts gewusst hatte. Es war ein Gefühl, wie wenn sie eine komplizierte Gleichung plötzlich durchschaute, dieselbe Hitze, dieselbe schlagartige Wachheit. Ein Glücksgefühl, das in ihrem Kopf wirbelte, das sie übermütig und besessen zugleich machte. So ganz wusste sie gar nicht, warum. Aber spielte das eine Rolle?