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Geschichte mit allen Sinnen erleben. Wie roch eine Kathedrale im 16. Jahrhundert? Nach Weihrauch und Wachs? Nach Schweiß und feuchtem Stein? Wendy Wauters nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit – nicht über Daten und Fakten, sondern über Gerüche, Geräusche und Geschichten. "Die Gerüche der Kathedrale" ist ein sinnliches Geschichtsbuch, das die Leserinnen und Leser mitten ins Herz des mittelalterlichen Antwerpen versetzt. Die Kathedrale war kein stiller Ort der Andacht, sondern ein lebendiger, oft chaotischer Raum: Marktplatz, Pilgerziel, Ort der Heilung und des Aberglaubens. Wauters erzählt von Menschen, die dort lebten, beteten, handelten – und von den Düften, die ihre Welt prägten. Mit einem 48-seitigen, vierfarbigen Bildteil ist der Band hochwertig ausgestattet und ist somit das ideale Geschenk für historisch Interessierte mit Sinn für das Besondere Dieses Buch ist ein Erlebnis für alle, die Geschichte nicht nur verstehen, sondern spüren wollen. Pressestimmen zur Originalausgabe: "Ein Buch, das einen völlig neuen Blick auf mittelalterliche Kirchen eröffnet. Überraschend, klug und atmosphärisch." – Meerlezen.nl "Wauters gibt den Unsichtbaren der Geschichte eine Stimme." – Antwerpen Leest "Faszinierend und fundiert. Ein Meisterwerk der populären Geschichtsschreibung." – VOLZIN
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Wendy Wauters
Die Gerüche der Kathedrale
Vom Leben im Herzen des mittelalterlichen Antwerpen
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Flanders Literature herausgegeben. www.flandersliterature.be
Originally published in 2023 by Lannoo
© 2023, Lannoo Publishers
www.lannoo.com
wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH
Für die deutschsprachige Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Titel der Originalausgabe: Wendy Wauters: De geuren van de kathedraal. De overweldigende 16de eeuw in Antwerpen
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Einbandabbildung: Hendrik van Steenwyck der Ältere und Jan Brueghel der Ältere, Innenansicht der Liebfrauenkathedrale. Budapest, Museum der Bildenden Künste
Fachlektorat: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden
E-PUB-Konvertierung: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
ISBN Print: 978-3-534-61064-8
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61068-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61090-7
Für alle Florisse dieser Welt
Ach, meine Seele ist ganz Klang
In dieser Zeit der Farbenlust;
Klang, der sich in die Höhe rankt
Im Zaubergarten voller Duft.
Paul van Ostaijen, aus Music-Hall (1916)
Inhalt
Eine subjektiv gefärbte Geschichte
Die Perle an der Schelde
1 Lebensgefährliche Luft
2 Gestank des Todes
3 In Schmach und Schande
4 Schöne Prozessionen, schmutzige Pilger
5 Selig machende Gefühlsregungen
6 Ein süß duftender Paradiesgarten
7 Pest, wieder einmal
8 Den Blicken entzogen
9 Veränderung und Verankerung
10 Die höchsten Regionen
11 Du sollst hören
12 Sehen heißt glauben
13 Ein nie gesehenes Schauspiel
14 Sprachlos
15 Mit verblümten Worten
16 Mehr als die Summe der Teile
17 Paradies auf Erden
Alles hin!
Epilog: Als der Staub sich gelegt hat
Dank
Anmerkungen zu Quellen und Literatur
Zeittafel
Antwerpener Festkalender
Bibliografie
Abbildungsnachweis
Fortführende Abbildungen
Über die Autorin
Eine subjektiv gefärbte Geschichte
1521 pries Albrecht Dürer staunend das außergewöhnliche Können der Musiker in der Antwerpener Liebfrauenkathedrale. In seinem Reisetagebuch erwähnte der Künstler außerdem, das Gebäude sei »übergroß, also das man viel ampt auf einmal darinnen singt, das keins das andere jrt [stört]«. Dagegen beklagte sich einige Jahrzehnte später, 1548 oder 1549, ein Geistlicher aus der Stadt über die unangenehme Klanglandschaft in der Kathedrale, die er auf das »Umherspazieren in der Kathedrale während der Predigt und der Gottesdienste« zurückführte, »was hier so schlimm ist, dass manche Fremde, die es sehen, darum weinen«. Der Antwerpener Jesuit Papebrochius wiederum notierte in seinem umfangreichen Geschichtswerk: »Wegen der Gewohnheit, täglich die Gräber zu öffnen, um Leichname hineinzulegen«, sei es in der Kathedrale »beinahe immer gefährlich für jene, die sich […] nicht gut fühlen; so sehr sogar, dass viele weniger kräftige Leute einen Widerwillen gegen den Besuch der Pfarrkirchen hegen, vor allem schwangere Frauen«.
Diese und zahlreiche andere Bemerkungen mehr oder weniger bekannter Individuen, die während der Blütezeit Antwerpens in der Kathedrale umherspazierten, spielen in diesem Buch eine wichtige Rolle. Ihre Darstellungen widersprechen sich häufig und sind zwangsläufig durch persönliche Erfahrungen gefärbt, doch gerade diese Mischung unterschiedlicher Stimmen macht das Erlebnis des Kirchenraums greifbar. Unsere heutige Vorstellung von der Kirche als Ort stiller religiöser Einkehr entspricht nämlich nicht der bewegten spätmittelalterlichen Realität. Kirchen waren damals ein geschäftiger Treffpunkt für Leute jeden Schlages, die das Gebäude aus den unterschiedlichsten Gründen aufsuchten.
Diese verlorene Wirklichkeit hat der in Antwerpen lebende Künstler Pieter Bruegel der Ältere auf mitreißende Weise festgehalten. Sein 1559 entstandenes Gemälde Der Kampf zwischen Karneval und Fasten ist vor allem ein Gewimmel von Szenen aus dem Alltagsleben. Und die sind nicht nur von derber Komik, sondern auch in hohem Grade realistisch. Zum Beispiel sieht man eine Reihe schwarz gekleideter Frauen durchs Kirchenportal ins Freie schreiten. Eine von ihnen wirft eine Handvoll Münzen zu einem verwischten Schatten auf dem Boden hinunter: Ursprünglich lagen dort zwei schlafende, in schmutzige Lumpen gekleidete Kinder, die irgendwann im Lauf der Geschichte übermalt wurden. Direkt dahinter, neben dem Portal, sitzt ein Mann an einem Tischchen und wartet darauf, dass einer der vorbeikommenden Gläubigen das kleine Reliquiar auf dem Tisch küssen möchte. An den Säulen im Halbdunkel hinter dem Portal erkennt man in weiße Tücher gehüllte Heiligenskulpturen. Ihr gespensterhaftes Aussehen zeigt an, dass gerade Fastenzeit ist. Zwischen den Säulen spendet ein Priester im offenen Beichtstuhl und in Hörweite aller den reuigen Gemeindemitgliedern ein Aschenkreuz. An der Seite des Kirchengebäudes strömen weitere Gläubige auf den Platz heraus, von denen manche Stühle oder Hocker auf Kopf und Schultern tragen. Wer in der Kathedrale weder Bank noch Stuhl mietete oder kaufte, brachte nämlich besser eine eigene Sitzgelegenheit mit.
Die Gerüche der Kathedrale gibt allen Antwerpener Kirchenbesuchern eine Stimme, vom prunkvoll herausgeputzten Edelmann bis zum knauserigen Feinbäcker, vom obrigkeitstreuen Geistlichen bis zum misstrauischen Hafenarbeiter. Vor allem aber all den Namenlosen, die selten Gehör finden.
Was mich während meiner Recherchen am meisten berührt hat, sind die großen Übereinstimmungen zwischen mir selbst – oder heutigen Menschen allgemein – und diesen historisch so fernen Stadtbewohnern. Ihre Sorgen und Sehnsüchte entspringen Ängsten, die unseren Ängsten um uns selbst und unsere Liebsten sehr ähnlich sind. Im Angesicht von Krankheit und Tod suchen wir alle nach Halt, unabhängig von der Epoche, in die wir hineingeboren sind, wohl aber geformt von der Kultur, in der wir aufwachsen. In weiteren 500 Jahren wird man auch auf unsere Gewohnheiten mit einigem Befremden zurückblicken.
Beim Schreiben dieses Buches war es deshalb nie meine Absicht, mich über die religiösen Überzeugungen und die Vorstellungswelt der spätmittelalterlichen Kirchenbesucher lustig zu machen. Schließlich bleibe ich in meinem Bemühen, ein farbiges Bild des Lebens in der Kathedrale und um sie herum zu zeichnen, um es in den Worten Marcel Prousts zu sagen, für immer eine neugierige Dilettantin:
Nehmen wir für einen Augenblick an, der Katholizismus wäre seit Jahrhunderten erloschen, die Tradition seines Kultes verloren. Als unverständlich gewordene Denkmäler eines vergessenen Glaubens überdauern allein die Kathedralen, zwecklos und stumm. Eines Tages gelingt es den Gelehrten, die Zeremonien zu rekonstruieren, die man dort einst zelebrierte, für die man diese Kathedralen gebaut hatte, und ohne die man in ihnen nur noch den toten Buchstaben fand; verführt vom Traum, jenen großen, verstummten Schiffen einen Augenblick lang das Leben wiederzugeben, wollen dann die Künstler für eine Stunde das Schauspiel des geheimnisvollen Dramas wiederherstellen, das sich in ihnen abspielte, inmitten der Gesänge und der Düfte […] Karawanen von Snobs ziehen in die heilige Stadt […] und einmal im Jahr empfinden sie die Gemütsbewegung, die sie einst in Bayreuth und in Orange gesucht haben: das Kunstwerk in dem Rahmen zu genießen, der ihm gebaut wurde. Unglücklicherweise können sie […] nur Neugierige sein, »dilettanti«, was sie auch anstellen, in ihnen wohnt nicht die Seele von einst.
Die Perle an der Schelde
Machtwechsel
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Anders als Antwerpener Kneipengänger spätabends gern mit stolzgeschwellter Brust behaupten, stand die Wiege des europäischen Handelsgeistes nicht in der Stadt an der Schelde. Im Laufe des Mittelalters wurden mehrere Städte für einige Zeit zum pulsierenden Herzen des Welthandels. Doch immer wieder führten politische Konflikte, Kriege und Naturereignisse zu einem Wechsel in dieser Vormachtstellung. Bevor Antwerpen zur vollen Blüte kam, lag der wirtschaftliche Schwerpunkt im neunzig Kilometer entfernten Brügge. Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert hatten sich die unternehmungslustigen Einwohner der Stadt zu bedeutenden Akteuren auf dem Weltmarkt entwickelt. Dank eines breiten Meeresarms, des Zwin, war Brügge ein Tor zur Welt. Aus allen Himmelsrichtungen liefen schwer beladene Karavellen und Koggen Brügge an. Tonnenschwere Frachten wurden in Vorhäfen wie Sluis, Sint Anna ter Muiden, Hoeke, Monnikerede und Damme auf kleine Binnenschiffe umgeladen, die unaufhörlich zwischen den Seehäfen und dem Stadtzentrum Brügges unterwegs waren. (Abb. 1)
Pero Tafur, ein andalusischer Edelmann und Weltreisender, traute seinen Augen kaum. Seinem Bericht zufolge liefen an besonders betriebsamen Tagen mehr als 700 Schiffe Sluis an, den bekanntesten Vorhafen. Er glaubte, dass der Umfang der internationalen Handelsschifffahrt in Brügge in den 1430er-Jahren sogar Venedig in den Schatten stellte. Dabei war nicht nur der unmittelbare Zugang zum Meer ein Trumpf, sondern auch das Hinterland. Norditalienische oder süddeutsche Kaufleute, die Seehandel betrieben, hätten freie Auswahl zwischen zahlreichen Küstenstädten als Lade- oder Löschhäfen gehabt, entschieden sich aber für Brügge. Was diese Stadt so außergewöhnlich attraktiv machte, war der Umstand, dass dort eine hohe Nachfrage nach Luxusgütern mit einem ebenso großen Angebot daran zusammentrafen. Zum Beispiel hatte der europäische Hofadel eine Vorliebe für Kleidung aus Brüsseler Tuchen. Gent, Ypern und Brügge selbst waren weltberühmt für die Herstellung von Tuchen, die aus englischer Wolle gewebt wurden. Und sowohl der Import von Wolle aus England als auch der größte Teil des Tuchexports liefen natürlich über Brügge.
Umgekehrt war auch im Binnenland der Hunger nach ausländischem Luxus unstillbar. Besucher überboten sich in Superlativen, wenn sie den aufwendigen Lebensstil der lokalen Elite in Worte zu fassen versuchten. Pero bemerkte, dass »jeder, der Geld hat und es ausgeben möchte, allein in dieser Stadt alles findet, was die Welt hervorbringt«. Er sah Orangen und Zitronen aus Kastilien, die wie frisch gepflückt aussahen, Obst und Wein aus Griechenland, Gewürze aus Alexandria und der Levante, Pelze vom Schwarzen Meer. Voller Hochachtung zog er den Schluss, es gebe keinen einzigen Erdteil, dessen beste Waren man in Brügge nicht finde.
Ein Zusammentreffen verschiedener Umstände ließ diese wirtschaftliche Vormachtstellung dann langsam, aber sicher von Brügge auf Antwerpen übergehen.
Seit Jahr und Tag mussten die Einwohner Brügges Unsummen ausgeben, um die Versandung ihrer Lebensader, des Zwin, aufzuhalten. Während seines Aufenthalts in Sluis beobachtete Pero, dass große Seeschiffe bei Niedrigwasser bis zu sechs Stunden auf einer der vielen Sandbänke festlagen. Ungefähr ein halbes Jahrhundert zuvor, in den Jahren 1374/75, hatten mehrere Sturmfluten dafür gesorgt, dass die Westerschelde für Schiffe mit größerem Tiefgang befahrbar geworden war, sodass sie nun auch Antwerpen erreichen konnten. Und doch waren es vor allem politische Konflikte der letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, die Antwerpen einen entscheidenden Vorteil verschafften.
Unter der Herrschaft des tyrannischen Herzogs Karl des Kühnen aus dem Hause Burgund hatten Kriege die Bevölkerung seiner »niederen Lande«, die damals Flandern, Brabant, Luxemburg, Holland und weitere Gebiete umfassten, mehr und mehr erschöpft. Karls hartnäckiger Konflikt mit dem französischen König Ludwig XI. hatte nicht nur ein wechselseitiges Handelsembargo zur Folge – für Brügge eine Katastrophe –, der französische König unternahm auch den Versuch, die Niederlande auszuhungern. All dies zog sich sieben Jahre bis zum plötzlichen Tod des Herzogs hin. Am 5. Januar 1477 kam Karl bei einer Schlacht gegen die Lothringer und eidgenössische Söldner bei Nancy ums Leben, als er wieder einmal ein neues Gebiet zu erobern versuchte. Gleich darauf brachen in den Niederlanden vielerorts Unruhen aus. Die geplagte Bevölkerung wandte sich offen gegen den herzoglichen Zentralismus und stellte die Machtverhältnisse allgemein infrage – so auch in Antwerpen, wo der Aufruhr allerdings im Vergleich zu den übrigen Gebieten recht schnell zum Erliegen kam. Immerhin gelang es den Aufständischen, in dem entstandenen Machtvakuum weitgehende Privilegien zu erkämpfen, doch die Unzufriedenheit sollte noch lange gären.
Währenddessen setzte der französische König den Kampf fort, nun gegen Maria von Burgund, Karls neunzehnjährige Tochter und neue Herrscherin der Niederlande. Als fünf Jahre später auch Maria nach einem unglücklichen Sturz vom Pferd starb, entstand ein neuer Anlass zu Unruhen. Marias Gatte Maximilian, österreichischer Erzherzog und der älteste Sohn Friedrichs III., des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, beanspruchte die politische Macht als Stellvertreter für seinen damals dreijährigen Sohn und rechtmäßigen burgundischen Thronfolger Philipp (den Schönen). Das wurde zum Auslöser einer Revolte in der Grafschaft Flandern und im Süden des Herzogtums Brabant, deren Städte die Autorität Maximilians nicht anerkannten und einen Regentschaftsrat für die Niederlande einsetzten.
Die beiden Parteien bekämpften sich erbittert. Von Frankreich offen unterstützt, beharrten die Städte auf Selbstverwaltung; auf diesen Schlag ins Gesicht reagierte Maximilian, indem er Flandern mit einem Heer deutscher Söldner heimsuchte. Bei einem vorgeblichen Gelegenheitsbesuch wollte er das scheinbar unschlüssige Brügge auf seine Seite ziehen, ob friedlich oder mit Gewalt. Doch er hatte die Stimmung völlig falsch eingeschätzt, denn nirgends sollte der Konflikt so eskalieren wie dort. Als Maximilian, inzwischen römisch-deutscher König, die Stadt 1487 aufsuchte, um mit den Vertretern sämtlicher niederländischer Provinzen, den Generalstaaten, zusammenzukommen, wurde er von den in die Enge getriebenen Bürgern Brügges festgesetzt und mehr als dreieinhalb Monate gefangen gehalten. Und das war noch nicht alles. Voller Abscheu schilderte der Biograf eines Maximilian treu ergebenen Feldherrn, wie weit die Verräter gingen: »[…] alle Tag prachten sie seiner regenten und obristen einen fur sein majestat auf den platz, legten in offentlich auf die flaischpank oder marterpank in angesicht des konigs und so sie die also ein guete weil gepeinigt und gemartert hetten, schlugen si in die heübter ab.«
Europa hielt den Atem an. Als die Nachricht den kaiserlichen Hof erreichte, setzte Friedrich III. eine überlegene Streitmacht in Richtung Brügge in Marsch. Den Einwohnern blieb kaum etwas anderes übrig, als Maximilian freizulassen, bevor der Krieg ihre Stadt erreichte. Allerdings durfte der Fürst erst gehen, nachdem er sämtliche Privilegien Flanderns und damit praktisch die politische Autonomie des Gebiets offiziell bestätigt hatte. Unmittelbar nach seiner Freilassung schlug er jedoch mit aller Härte zurück, entzog die unter Zwang zugestandenen Privilegien und forderte die ausländischen Kaufleute dazu auf, ihren Handel in das obrigkeitstreue Antwerpen zu verlegen. Zwar brauchten die Händler dem nicht unbedingt Folge zu leisten, aber Antwerpen war um einiges friedlicher und das Klima somit für Geschäfte günstiger als in Brügge.
Während also umliegende Gebiete politische Gewalt und drastische Veränderungen erlebten, hatte Antwerpen seinen kommerziellen Eroberungszug fortsetzen können. Das war unter anderem den Jahrmärkten zu verdanken, deren Bedeutung seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stetig zunahm. Zweimal im Jahr fand ein großer Markt mitten im Zentrum statt, außerdem zwei weitere in Bergen op Zoom, einer Brabanter Hafenstadt 35 Kilometer weiter nördlich. Nach einer nächtlichen Zeremonie, dem »Einblasen« des Marktes vom Antwerpener Rathaus aus, wurde am vorletzten Sonntag vor Pfingsten der Pfingstmarkt (sinksenmarkt) eröffnet und gut zwei Monate später, am zweiten Sonntag nach dem 15. August, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, der sogenannte bamismarkt, ursprünglich baafsmismarkt (Bavo-Messen-Markt) nach dem heiligen Bavo von Gent. Die Jahrmärkte übten große Anziehungskraft auf in- und ausländische Kaufleute aus. »Man kann sich nichts wünschen, was hier nicht im Überfluss zu finden wäre«, seufzte der staunende Pero. »Wer die ganze christliche Welt oder ihren größten Teil an einem Ort versammelt sehen will, muss hierhin kommen.« Sogar für englische Tuche war Antwerpen ein bedeutender Absatzmarkt, während ihr Verkauf in Brügge aus Konkurrenzgründen auf erheblichen Widerstand stieß.
Auf allen Plätzen der Stadt wimmelte es von Kauflustigen. Ihre Beliebtheit verdankten die Märkte nicht zuletzt einer außergewöhnlichen Freizügigkeit, die für die Zeit ihrer Dauer galt. Jeder konnte ungehindert die Landesgrenzen überqueren, ohne dass Forderungen von Gläubigern ihn aufzuhalten vermochten. Auch der florentinische Kaufmann Lodovico Guicciardini, der sich 1541 als Zwanzigjähriger in der Scheldestadt niederließ und bis zu seinem Tod im Jahr 1589 bleiben sollte, schrieb den Erfolg der Jahrmärkte der Freihandelspolitik zu, die es jedermann erlaubte, nach Antwerpen zu kommen und sich dort aufzuhalten: »Danach kehren sie mit ihren Gütern in völliger Sicherheit nach Hause zurück, ohne dass jemand sie während der ganzen Reise wegen irgendeiner Schuld aufhalten oder was auch immer von ihnen fordern darf.«
Der Groenkerkhof, der »Grüne Kirchhof« an der Liebfrauenkirche, wurde für einige Wochen zum festen Standplatz der Kürschner, Handschuhmacher und meerseniers (Einzelhändler, Kleinhändler oder Krämer). Die Bauhütte (fabrica ecclesiae), die sich um den materiellen Zustand der Kirche kümmerte, empfing mit offenen Armen die Einkünfte aus der Vermietung dieser Standplätze, obwohl beliebte Märkte unweigerlich auch viel Gesindel und Trunkenbolde anlockten. Bereits 1468 hatte Karl der Kühne genug von »üblen Sünden und Ehebruch und anderen Missetaten«, zu denen es bei diesen Gelegenheiten rings um die Kathedrale kam. Er entschied, dass die Verkäufer ihre Stände auch außerhalb des kirchlichen Areals aufstellen durften, ohne dass die Bauhütte auf die entsprechenden Einnahmen verzichten musste.
Ursprünglich dauerten die Jahrmärkte vier Wochen, zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber schon anderthalb Monate oder länger, bis sie schließlich zu einem »ewigen Markt« wurden.
Kurz und gut, Antwerpen erfüllte alle Voraussetzungen, um zur neuen kommerziellen Großmacht zu werden: Es war der ideale Standort für den Handel zu Lande und zur See, unterhielt gute Beziehungen zu den regierenden Mächten und hatte als internationaler Absatzmarkt eine solide wirtschaftliche Basis. Und so konnte Antwerpen Brügge gegen Ende des 15. Jahrhunderts entthronen. Weniger als hundert Jahre später sollte es sogar zum wichtigsten und reichsten Handelszentrum ganz Westeuropas werden. Bis zu 500 Schiffe machten täglich im Hafen fest oder liefen aus, und Woche für Woche rumpelten 10 000 mit Handelsgütern beladene Fuhrwerke aus der Stadt heraus und über die Landstraßen zu Bestimmungsorten in ganz Europa. (Abb. 3)
Dieses rasante Wachstum verschlug sogar den Einzelhändlern den Atem. Im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts beklagten sie den enormen Leistungsdruck, unter dem sie standen, weil jedermann von ihnen erwartete, dass sie jederzeit alles vorrätig hätten: »Es ist eine allgemeine Redensart unter den Kaufleuten, wenn in Ypern, in Gent, in Brügge, in Brüssel, in Middelburg et cetera Markt ist: Lasst uns nach Antwerpen gehen, dort ist immer Markt, da finden wir alles, es ist nicht nötig, diese kleinen Märkte aufzusuchen.« Die Antwerpener Einzelhändler sahen sich deshalb gezwungen, kostspielige Reisen in »alle Länder und Städte« zu unternehmen, um etwa herausragende Produkte der dortigen Gold- und Silberschmiedekunst aufzutreiben, damit ihrer eigenen Stadt der ausgezeichnete Ruf als internationaler Handelsplatz erhalten blieb. (Abb. 6)
Groß, größer, am größten
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Sowohl in ökonomischer als auch in demografischer und sozialer Hinsicht platzte Antwerpen aus allen Nähten. Die Bevölkerungszahl, der Wohlstand und die Bautätigkeit nahmen um die Mitte des 16. Jahrhunderts exponentiell zu. 1446 zählte die Scheldestadt gerade einmal 31 000 Seelen, doch ihre Anzahl sollte stetig steigen. Besonders nach 1526, als die Stadt 55 000 Einwohner hatte, setzte ein spektakuläres Bevölkerungswachstum ein. In den Jahren 1542/43 lag die Einwohnerzahl bereits bei etwa 84 000, und um 1568 war die Schwelle von 100 000 überschritten. Damit waren sämtliche Vor- und Nachteile einer schnell wachsenden Stadt verbunden. Die Armut nahm zu, ebenso die Kluft zwischen Arm und Reich und die damit einhergehende Polarisierung. Der Zustrom von Bauern aus der Umgebung und von fremden Kaufleuten wirkte sich auf die bestehenden familiären Netzwerke aus, und es wurde viel einfacher, in der Masse zu verschwinden.
All die neuen Stadtbewohner mussten auch Wohnraum finden. Innerhalb der Stadtmauern kam es zu einem Wildwuchs neuer Straßen und Viertel. Schlaue Grundbesitzer unterteilten ihre Bleichwiesen und Baumgärten in neue, von Häusern gesäumte Straßen. Zählte Antwerpen innerhalb der Stadtmauern gegen Ende des 15. Jahrhunderts nur 124 Straßen, so waren es 1549 bereits 212 – ein überaus beachtlicher Zuwachs für ein halbes Jahrhundert. Diese räumlichen Veränderungen vollzogen sich spontan und unkontrolliert; erst 1582 schrieb man den Grundbesitzern vor, zunächst die Stadt um Erlaubnis zu fragen, wenn sie eine Straße anlegen wollten. Innerhalb des städtischen Gewirrs ballten sich die Handwerker nach Berufen getrennt in bestimmten Vierteln. So fanden die Brauer ihre Heimat rings um den Brouwersvliet, während die Silberschmiede sich in der Zilversmidstraat beim Grote Markt versammelten. Zahlreiche heutige Straßennamen verweisen noch auf die einstigen Bewohner.
Nicht alle waren glücklich über diese rasante Veränderung der städtischen Struktur. Schon im 16. Jahrhundert war die Klage zu hören, dass früher alles besser gewesen sei. Im Frühjahr 1566 schickten die Bewohner des Viertels rund um den Eiermarkt eine handgeschriebene Eingabe an den Magistrat, die im Grunde ein Hilferuf war. Voller Bedauern hätten sie mitansehen müssen, wie sich ihr geliebtes Stadtviertel in den letzten dreißig Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert habe, was dem neuen Wohlstand zu verdanken sei, dem neuen Handel, dem neuen … »Doch Gedeihen führt nicht notwendigerweise zu Eintracht«, schrieben sie. Denn wo war der Gemeinschaftssinn geblieben? Früher, in der »alten Zeit«, hätten sich die Bewohner jedes Jahr einmal »aus nachbarschaftlicher Liebe und Freundschaft« versammelt, um sich des Beisammenseins zu erfreuen, eine Mahlzeit miteinander zu teilen und ein Holzvogelschießen zu veranstalten. Gewiss, bei dieser Betätigung konnte schon einmal jemand zu Schaden kommen, wenn ein Pfeil einen unachtsamen Passanten traf, aber nichts und niemand ist vollkommen.
Kriege, »schwere Zeiten und Teuerung« hätten jedoch alles verdorben, und um 1530 war diese wunderbare Tradition verschwunden. Wenn nun auch doppelt so viele Menschen wie früher in Antwerpen leben mochten, die Verbundenheit hatte darunter anscheinend nur gelitten. Je mehr Menschen durch die Straßen hasteten, desto größer die Anonymität. Die Bewohner des Eiermarkt-Viertels hofften deshalb inständig, dass der Magistrat die Wichtigkeit dieses Problems erkannte. Es würde schon eine große Hilfe sein, wenn die Stadt ihnen kostenlos ein Grundstück überlassen würde, das sie als Versammlungsort und Übungsgelände nutzen konnten. Doch leider ist nur der Tod umsonst; wertvolles Bauland wurde nicht einfach verschenkt. Immerhin erhielten die Anwohner von der Stadt einen Zuschuss; ihre nostalgische, aus lauter edlen Beweggründen vorgetragene Bitte war nicht auf gänzlich taube Ohren gestoßen.
Glaubt, was ihr wollt, nur bitte nicht zu laut
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Das Antwerpen des 16. Jahrhunderts war in fünf Pfarrgemeinden mit eigenen Pfarrkirchen unterteilt. (Abb. 4) Theoretisch musste jeder, der innerhalb der Grenzen einer Pfarrgemeinde wohnte, in seiner Pfarrkirche heiraten, seine Kinder taufen lassen, an Sonn- und Feiertagen der Messe beiwohnen, mindestens einmal im Jahr die Kommunion empfangen und sich schließlich in oder bei der Kirche beerdigen lassen. Zu einer Pfarrgemeinde konnten in unbegrenzter Zahl Kirchen, Bruderschafts-, Armenhaus- und Hospitalkapellen gehören, aber an der Spitze der Hierarchie stand grundsätzlich die Pfarrkirche. Im Gegensatz zu den anderen kirchlichen Einrichtungen war ihr die Berechtigung zu Taufen, Eheschließungen und Begräbnissen vorbehalten. Diese drei sakralen Handlungen durften nur in der Pfarrkirche stattfinden, weshalb auch nur sie in den Genuss der sich daraus ergebenden Einkünfte kam, ein Vorrecht, das mit Zähnen und Klauen verteidigt wurde. Nicht nur, weil es religiöse Tradition war, sondern auch aus einem sozialen Drang zur Revierverteidigung heraus wurden die Grenzen einer Pfarrgemeinde sogar jedes Jahr aufs Neue symbolisch bekräftigt, indem man sie in einer Prozession abschritt.
Jede Pfarrgemeinde war ein einzigartiger Schmelztiegel unterschiedlicher Viertel und sozialer Klassen. Die reichsten Viertel lagen in der Liebfrauengemeinde, deren Pfarrkirche die Kathedrale selbst war, und der Gemeinde Sankt Jakob. Diese beiden Gemeinden hatten die meisten Mitglieder und deshalb auch die größten Kirchen. Den Gemeinden Sankt Georg (Sint-Joris) und Sankt Andreas gehörten vor allem weniger wohlhabende Stadtbewohner an. Die soziale Zusammensetzung von Sankt Walburga war wegen der Lage der Gemeinde unmittelbar an der Schelde von besonderer Art. Die finanzkräftige Gruppe der Brauer profitierte vom direkten Zugang zum benötigten Wasser, aber auch für arme Immigranten war die Gegend wegen des verfügbaren Baulands attraktiv. Die Kirche der heiligen Walburga war außerdem Treffpunkt für Seeleute, die Gott für ihre glückliche Heimkehr dankten, was mit der Kontaktaufnahme zu Prostituierten einherging, die sich im Eingangsbereich der Kirche herumtrieben. Die Kirchenvorsteher, ein Kollegium aus Geistlichen und Laien, das die tägliche Sorge für die Kirche wahrnahm (Instandhaltung und Ausschmückung), drückten beide Augen zu, schließlich war ein fröhlicher Seemann in der Regel auch ein opferfreudiger Seemann.
Es kam vor, dass der Magistrat ein soziales Experiment durchführte, um den Ruf eines Viertels zu verbessern. Im Jahr 1446 wurde den Minderbrüdern, einer militanten Ordensgemeinschaft, die materiellen Besitz strikt ablehnte, ein Haus im Kauwenberg zugewiesen. Dieses unruhige Viertel in der reichen Pfarrgemeinde Sankt Jakob war von Landstreichern, Bettlern und Prostituierten bevölkert. Der Magistrat erhoffte sich von der Anwesenheit der Brüder eine disziplinierende Wirkung, doch das Gegenteil trat ein. Nach drei ruhelosen Jahren wurde den Minderbrüdern endlich gestattet, wieder wegzuziehen, nachdem die Situation im Viertel für sie unerträglich geworden war. Bordellbesitzer, Kupplerinnen und Prostituierte hatten mit ihrem Geschrei, nächtlichen Ausschweifungen und unzüchtigen Gesängen die Nachtruhe und die Gottesdienste der Brüder gestört. Der Tiefpunkt war eine versuchte Brandstiftung, die aus Sicht der Brüder verübt worden war, weil dieses »engstirnig national fühlende« Volk sie nach Jahren noch als Fremde betrachtete. Dass sie selbst im Ruf standen, opportunistische, aufdringliche, überhebliche, weltfremde Moralapostel zu sein, könnte allerdings auch etwas damit zu tun gehabt haben …
Fünf Pfarrkirchen für eine der größten Städte Europas, das war wenig. Brügge hatte sechs Pfarrgemeinden, Gent und Lille sieben. Und in London gab es 1590 nicht weniger als 114 Pfarrgemeinden. Antwerpen war im Ausland zu Recht als Freistatt für Andersdenkende bekannt. Englische Flüchtlinge wie die Protestantin Rose Hickman suchten und fanden in den 1550er-Jahren in Antwerpen eine sichere Zuflucht, »nicht, weil hier mehr Glaubensfreiheit herrschte, sondern weil es keine Pfarrkirchen gab, nur eine Kathedrale«. Damit meinte Hickman, dass der Gemeinschaftsaspekt, der für Pfarrkirchen so charakteristisch ist, hier zu fehlen schien. Sie fügte hinzu: »Obwohl hier die Messe gefeiert wurde, war es nicht leicht herauszufinden, wer zur Kirche ging und wer nicht.« Die Ursache des fehlenden Gemeinschaftsgefühls lag ihrer Ansicht nach also in einer zu geringen Anzahl von Pfarrgemeinden für eine zu hohe Anzahl von Gläubigen.
Und sogar diese wenigen Pfarrgemeinden neben der Liebfrauengemeinde waren nicht ohne Widerstand geschaffen worden. Das lag vor allem an der Selbstsucht des Kapitels der Liebfrauenkirche, also ihrer leitenden geistlichen Körperschaft. Vor 1477 hatte Antwerpen sage und schreibe eine einzige Pfarrkirche! Allein das Kapitel, das die geistliche Arbeit der kirchlichen Institutionen in der Stadt überwachte, war befugt, die Gründung neuer Pfarrgemeinden zu genehmigen. Aus Angst vor einem Rückgang der eigenen Einkünfte tat es jedoch alles, um die Gründung weiterer Gemeinden zu verhindern – je mehr Gemeinden, desto geringere Einnahmen aus Begräbnissen, Taufen und Eheschließungen.
Viele Stadtbewohner, die jede Woche bei Wind und Wetter den Weg zu ihrer Kirche machen mussten und dort viel zu wenige Seelsorger für die große Zahl der Gemeindemitglieder antrafen, waren mit dieser Situation höchst unzufrieden. Die wiederholte Forderung nach neuen Pfarrgemeinden kam deshalb von unten. Im Jahr 1477 beklagten sich die Bewohner der Viertel um die Georgskirche, die Walburgakirche und die Jakobskapelle wie schon oft zuvor beim Kapitel der Liebfrauenkirche. Diesmal war das politische Klima allerdings günstig für sie, denn in der äußerst unruhigen Stimmung nach dem Tod Karls des Kühnen hielt das Kapitel etwas mehr Nachgiebigkeit für ratsam. Die Jakobskapelle wurde zur Pfarrkirche erhoben, und auch die Georgskirche erhielt vollständige Rechte. Zunächst weigerte sich das Kapitel noch, auch Sankt Walburga zur Pfarrkirche zu erheben, doch nachdem sich Bewohner des Viertels in einem Schreiben an den Papst in scharfem Ton darüber beklagt hatten, musste es einlenken. 1529 war das Schicksal den Gläubigen erneut günstig gesinnt, und die Sankt-Andreas-Kirche vervollständigte als vierte neue Pfarrkirche die Liste.
Bis zum heutigen Tag ist es bei diesen fünf Pfarrgemeinden geblieben. Der spanische Statthalter der Niederlande Luís de Zuñiga y Requesens unternahm während seiner Statthalterschaft in den Jahren 1573–1576 den Versuch, in Antwerpen weitere sieben oder acht neue Pfarrgemeinden zu gründen, musste jedoch wegen mangelnder Unterstützung durch die lokale Geistlichkeit das Handtuch werfen.
Das 16. Jahrhundert war für die Niederlande eine Achterbahnfahrt religiöser Unruhen. Die große Frage war, welche Form des Glaubens denn nun die richtige sei. Traditionsverbundene Gläubige lehnten entschieden alles ab, was die hergebrachte Ordnung infrage stellte. Reformfreudige Gläubige wehrten sich mindestens ebenso heftig, wenn sie ihre Glaubensfreiheit eingeschränkt sahen. Die Bewegung dieser Neuerer, die von den kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten der Einfachheit halber als Ketzer abgestempelt wurden, verband Anhänger unterschiedlicher Strömungen, von denen Lutheraner, Calvinisten und Täufer die bekanntesten sind. Gemeinsam war ihnen die Sehnsucht nach Erneuerung (reformatio) der Kirche, doch inhaltlich waren ihre Vorstellungen von Grund auf verschieden.
Martin Luther hatte in jungen Jahren als Prediger in Wittenberg festgestellt, dass Gläubige für die Befreiung von Sündenstrafen lieber Ablassbriefe kauften, als zu beichten. 1517 wandte er sich sowohl in Predigten als auch in Druckschriften entschieden gegen die Missbräuche des Ablasshandels, und von da an eskalierte der Konflikt zwischen ihm und der Kirche. Die wechselseitigen Angriffe nahmen an Schärfe zu, und am 3. Januar 1521 sprach Papst Leo X. den Bannfluch über Luther aus. Das verfehlte seinen Zweck; die lutherische Bewegung hatte bereits Fuß gefasst.
Viel radikaler war die Bewegung der Täufer oder Anabaptisten, die in der gleichen Zeit aufkam. Sie lehnten die Kindertaufe ab; die Voraussetzung für eine Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft war ihrer Ansicht nach eine bewusste Entscheidung des Gläubigen, und als neugeborenes Kind war man zu einer solchen Entscheidung nun einmal nicht fähig. Die Obrigkeit betrachtete diese Strömung bald als gefährlich, und die Täufer wurden rigoros und grausam verfolgt.
Die dritte einflussreiche Strömung ging auf die Lehren des französisch-schweizerischen Theologen Johannes Calvin zurück. Nach einem traumatischen Erlebnis im Jahr 1531, als die Familie am Sterbebett des exkommunizierten Vaters um ein kirchliches Begräbnis betteln musste, wandte Calvin sich mehr und mehr vom traditionellen Christentum ab. Fünf Jahre später machte er seine Auffassungen öffentlich in der Schrift Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae religionis), die ursprünglich als Katechismus und Anleitung zum Lesen der Bibel gedacht war. Auch diese Bewegung hatte bereits zu Lebzeiten ihres Gründers zahlreiche Anhänger.
Luther und Calvin sind sich nie begegnet, und die Unterschiede zwischen ihren Lehren sind unvergleichlich viel größer als die Übereinstimmungen. So glaubte Calvin an die Prädestination im Sinne einer göttlichen Vorherbestimmung des Menschen entweder zum Heil oder zum Verderben, was letztlich bedeutet, dass der Mensch keinen Einfluss auf sein Schicksal hat. Luther widersprach dem entschieden; seiner Auffassung nach hat der Mensch durchaus Einfluss darauf, ob er errettet wird oder nicht, unter anderem durch gewissenhaftes Bibelstudium. Während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bewegte sich die Mehrheit der Bevölkerung relativ flexibel innerhalb des Spektrums von Glaubensrichtungen: Es waren neugierige, unbeständige, opportunistische, umherirrende Gläubige. Für das Gros der Stadtbewohner bedeutete das Infragestellen von Traditionen nicht unbedingt einen Bruch mit der eigenen Kirche. Es war eher so, dass eine Auffrischung oder Erneuerung von Traditionen sehr gut zur Mentalität einer neuen, wagemutigen Generation passte.
Kaiser Karl V., Maximilians Enkel, ging während seiner Herrschaft rigoros gegen alles vor, was die Ordnung störte. Außer seinem prominent vorstehenden Kinn und häufig offen stehenden Mund, Ergebnis von dynastischer Endogamie über Generationen hinweg, erwähnen alle Biografen seine außergewöhnliche Frömmigkeit. (Abb. 5) Schon in seiner Jugendzeit wohnte Karl mindestens zweimal täglich der Messe bei, und so verwundert es kaum, dass er alle reformatorischen Lehren entschieden ablehnte. Am 8. Mai 1521, knapp vier Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers berühmten Thesen, in denen er zahlreiche Missstände in der katholischen Kirche anprangerte, erließ der 21-jährige Kaiser das unerbittliche Wormser Edikt, mit dem alle lutherischen Schriften verboten und damit letztlich dem Scheiterhaufen überantwortet wurden.
Es folgten zahllose Erlasse von Landesherren und Magistraten zur Durchsetzung der kaiserlichen Anordnungen. Doch in Antwerpen hielt sich der Eifer alles in allem in Grenzen. Nicht einmal die besonders traditionsverbundenen Geistlichen waren unbedingt für ein so rigoroses Vorgehen. Mochte die erzkatholische Antwerpener Lehrerin Anna Bijns unermüdlich und lautstark verkünden, dass man am besten auch gleich die Autoren der verbotenen Schriften dem Feuer übergeben solle, äußerte doch zur gleichen Zeit der sanftmütige Theologe Nicolaes Cleynaerts tiefe Besorgnis über ebendiesen Fanatismus. Und der Magistrat beabsichtigte keinesfalls, von sich aus ein solches Schauspiel zu veranstalten.
Die erste Bücherverbrennung »door bevel des keysers« fand statt, als Kaiser Karl anlässlich der Grundsteinlegung für den neuen Hochchor der Liebfrauenkirche in Antwerpen eingetroffen war. Am 13. Juli 1521 wurde der Grote Markt zur Bühne für das triste Schauspiel der Verbrennung von 400 Büchern auf einem Scheiterhaufen. Zur zweiten öffentlichen Bücherverbrennung kam es, als der Kaiser ein knappes Jahr später erneut Antwerpen besuchte. Damals ließ er »alle lutherischen Bücher verbrennen, derer man habhaft werden konnte oder von denen man wusste, dass jemand sie in Besitz hatte«. Anschließend wurden die Eigentümer der Bücher gezwungen, ihrer »Irrlehre« öffentlich abzuschwören. Doch abgesehen von diesen kaiserlichen Besuchen blieben der Scheldestadt biblioklastische Feuersbrünste weitgehend erspart.
Als der Kaiser 1550 das berüchtigte »Blutgesetz« (bloedplakkaat) erließ, das die Verbreitung und den Besitz ketzerischer Bücher, die Teilnahme an ketzerischen Versammlungen, das Predigen ketzerischer Lehren und die Beherbergung von Ketzern mit der Todesstrafe belegte, zog Antwerpen eine Grenze: Die Stadt weigerte sich, das Gesetz anzuwenden. Neben einem starken Hang zur Autonomie war die Furcht vor den möglichen ökonomischen Auswirkungen solch drastischer Maßnahmen ausschlaggebend. Der Finanzmarkt war auf die Anwesenheit der vielen ausländischen Kaufleute angewiesen, die man auf keinen Fall mit intoleranter Religionspolitik vergraulen wollte. Nicht nur in England – wo unter der Schreckensherrschaft von »Bloody« Mary Tudor 283 Protestanten auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren – genoss Antwerpen den Ruf einer Freistatt, auch in Venedig war die Scheldestadt als die grande libertade bekannt. Die Verfolgung von Ketzern blieb in lokaler Verantwortung, zumindest bis zum verhängnisvollen Bildersturm von 1566, als ein Mob aus radikalen Anhängern reformatorischer Strömungen, Plünderern und Mitläufern die Kirchen verwüstete.
Die städtischen und kirchlichen Obrigkeiten reagierten allerdings immer dann mit aller Härte, wenn abweichende Glaubensäußerungen zu allgemeinen Unruhen zu führen drohten. Doch sogar in solchen Fällen stießen ihre Maßnahmen auf Widerstand. 1525 kam es zur ersten Hinrichtung wegen Ketzerei: Der ehemalige Augustinermönch und Prediger Nicolaas aus Ypern wurde in der Schelde ertränkt. Der Protest dagegen war so heftig, dass er in Kämpfe zwischen »einigen Böswilligen« und den vereidigten Männern aus Bürgerwehr, Gilden und Zünften ausartete, die zur Beaufsichtigung der Exekution abgestellt waren.
Insgesamt wurden in Antwerpen während der 37-jährigen Herrschaft Karls V. vier Lutheraner und 28 Täufer hingerichtet. Solange die Anhänger reformatorischer Bewegungen es innerhalb des großzügigen Spielraums nicht zu bunt trieben, war die Gefahr eines vorzeitigen, gewaltsamen Endes also relativ gering.
Religiöse Uneinigkeit war übrigens kein neues Phänomen. Lange bevor die Ausbreitung reformatorischer Lehren zu den ersten Konflikten führte, trug die Antwerpener Geistlichkeit unter sich einen erbitterten Streit um das wahre Christentum aus. Priester, Prediger und Mönche propagierten den gottgefälligen Lebenswandel allesamt mit solcher Leidenschaft, dass nicht der geringste Zweifel hinsichtlich der Wahrheit ihrer Worte bestehen konnte. Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Minderbrüder indes nicht nur mit den Antwerpener Prostituierten spinnefeind, sondern lagen auch mit den Geistlichen der Liebfrauenkirche über Kreuz. So verkündete beispielsweise im Jahr 1459 ein Minderbruder lautstark von der Kanzel, die Seelsorger der Kathedrale dürften die Einnahmen aus den Opferschalen zwar für ihren Lebensunterhalt nutzen, nicht aber für die Anschaffung von Pferden oder prunkvoller Kleidung. Der aufstachelnde Ton und die belehrende Haltung der Brüder fanden vor allem unter eher konservativen Gläubigen Beifall, während andere die Mönche selbst als aufdringliche, privilegierte Unruhestifter empfanden. Befeuert durch die Verbreitung reformatorischer Lehren, erreichten die religiösen Streitigkeiten im Lauf des 16. Jahrhunderts den Siedepunkt. Noch in der Zeit zunehmender Auseinandersetzungen mit den Lutheranern schafften es die Minderbrüder, sogar den konservativen Magistrat gegen sich aufzubringen. 1521 erteilte ein Magistratsmitglied einem der Brüder den Rat, doch einfach nur das Evangelium zu verkünden, statt aufrührerische Stimmungen zu schüren. Daraufhin bestieg der Bruder die Kanzel und brüllte der Menge zu, er sei aufgefordert worden, »das Evangelium zu predigen; doch das könnt ihr von euren Priestern hören, auch wenn sie am Vortag mit einer wahren Hure geschlafen haben«.
Im Spätmittelalter war der Lebenswandel von Priestern, Mönchen und ihren Anverwandten ein dankbares Ziel für Spott, sei es innerhalb oder außerhalb ihrer eigenen Kreise. Der habgierige oder wollüstige Geistliche war ein allgemein verbreitetes Klischee, das sich schon lange vor den ersten reformatorischen Bestrebungen eingebürgert hatte. In der Wahrnehmung der meisten Gläubigen waren Geistliche eine wirtschaftlich privilegierte Gruppe und kamen noch dazu in den Genuss zahlloser Freiheiten. Im Lauf seines Lebens brachte Desiderius Erasmus von Rotterdam, ein reformgesinnter Priester und kritischer Vielschreiber, in seinen Schriften immer wieder die zahlreichen Missstände in der Römischen Kirche und der Welt allgemein zur Sprache. Wie er glaubte, störten die Bürger sich maßlos an den öffentlichen Streitereien der Geistlichen; sie wünschten sich, dass die Geistlichen zunächst untereinander zu einer Verständigung kämen und erst danach ihr Urteil der Allgemeinheit verkündeten. Nach einer von zahllosen Reibereien zwischen den Antwerpener Minderbrüdern und den Pfarrgeistlichen schrieb Erasmus an einen Gegner:
Könntet ihr doch einmal das Murren von Frauen und auch Männern hören: »Kommen wir dafür in die Kirche, dass wir hören, weswegen dieser oder jener einem anderen zürnt? Wir lassen unsere häuslichen Pflichten im Stich und lernen in der Kirche, dem Ruf unseres Nächsten zu schaden.«
Vor dem Hintergrund einer schnell wachsenden, mündigen Metropole und der ebenso folgenreichen Ausbreitung des Buchdrucks wurden die Schlammschlachten immer heftiger. Die Meinungen gingen auch darüber auseinander, auf welchem Weg den Gläubigen die Wahrheit verkündet werden dürfe. Die Minderbrüder, immer auf Belehrung aus, erwiesen sich als Meister des gedruckten Wortes. Unter ihren wohlwollenden Blicken wurden zahlreiche Schriften zur religiösen Unterweisung in der Volkssprache gedruckt.
Im siebzig Kilometer entfernten Kuringen dagegen klagte der Kaplan Christiaan Munters in seinem Tagebuch über die Gefahren des Buchdrucks. Der 31-jährige konservative Geistliche verherrlichte blinde Folgsamkeit und tadelte lesende Gläubige. In einem Eintrag aus dem Jahr 1535 behauptete er, jemand habe eine unschuldige Frau zum Lesen verführt. Der Unbekannte habe ihr nicht nur in unwahrscheinlich kurzer Zeit das Lesen beigebracht, sondern sie außerdem mit einem Stapel lutherischer Bücher nach Hause geschickt. Daraufhin habe sich ihr Ehemann in heller Aufregung an den Dorfpfarrer gewandt, und nachdem die Frau gebeichtet hatte, sei der Schaden glücklicherweise wieder behoben gewesen: Sie habe wie zuvor keinen Buchstaben lesen können.
In Wirklichkeit trug besonders das gesprochene Wort, von nüchternen Berichten bis zu spannenden Sagen und Wundererzählungen, zur Verbreitung religiöser Gedanken aller Art bei. Unterhaltsam ausgeschmückte Anekdoten, aber auch konstruierte Geschichten und das, was man heute fake news nennen würde, wurden ständig in Umlauf gebracht, in der Regel mit einer klaren politischen oder sozialen Absicht. Sie fanden ihren Weg in alle Schichten der Bevölkerung, sei es über offizielle oder informelle Kanäle, städtische Ausrufer, Volksprediger oder Bänkelsänger.
Als die ersten lutherischen Bücher den Antwerpener Markt überschwemmten, strömten katholische Fanatiker auf die Straßen, um ihre Version der Wahrheit möglichst noch lauter zu verkünden. Regelmäßig erreichten den Magistrat Klagen über durchgedrehte Prediger, die zum großen Verdruss der Einwohner die Plätze der Stadt heimsuchten. Und nicht anders als heute waren Gasthäuser als Orte des Austauschs der unterschiedlichsten Ideen beliebt. Während man speiste und trank, wurden nebenbei Geschäfte besprochen, öffentliche Versteigerungen von Immobilien zu ihrem rechtskräftigen Abschluss gebracht und glutvolle Predigten fortgesetzt. Erasmus, wer sonst, klagte, das aufwieglerische Gerede der Prediger gehe einfach weiter, wenn die Kirchenbesucher nach dem Gottesdienst mit ihnen zusammen in der Herberge landeten.
Der Fingerabdruck einer Stadt
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In einer von blühendem Handel, Bauwut, Migrationsströmen und Uneinigkeit geprägten Stadt wurde Stein für Stein eine der größten Kathedralen Europas erbaut. Ihre Geschichte als Pfarrkirche geht auf den Anfang des 12. Jahrhunderts zurück, als sie nur eine kleine romanische Kirche war. Im Rhythmus des Bevölkerungswachstums wurde sie regelmäßig vergrößert, bis um 1352 der Bau der »neuen« gotischen Kirche begann.
Anders als heute wurde über die Fortführung und Finanzierung eines solch megalomanen Bauprojekts Jahr für Jahr entschieden. Es gab keinen langfristigen Plan, in dem alles von A bis Z vorgezeichnet war, weshalb bis zur Fertigstellung mittelalterlicher Kirchen häufig mehrere Jahrhunderte vergingen. So war es auch im Fall der Liebfrauenkathedrale, die – um historisch korrekt zu sein – bis zu ihrer Erhebung zur Kathedrale im Jahr 1559 die Liebfrauenkirche war. In jenem Jahr besiegelte Papst Paul IV. die Bulle Super universas, mit der die nicht mehr zeitgemäßen Grenzen der Bistümer in den vor Kurzem der spanischen Linie der Habsburger zugefallenen Niederlanden neu gezogen wurden. Neue, kleinere Bistümer wurden gegründet, angepasst an die damaligen Sprach- und Territorialgrenzen, sodass die Bischöfe leichter über die religiösen Angelegenheiten ihres Gebiets wachen konnten. Eines der neuen Bistümer war Antwerpen, das bis dahin zum weiträumigen Bistum Cambrai gehört hatte. Dies bedeutete gleichzeitig die Erhebung der Liebfrauenkirche zur Kathedrale, zur Domkirche des Bistums. Das Liebfrauenkapitel, das in der Pfarrgemeinde seit Jahrhunderten allein das Sagen hatte und Wert auf seine Autonomie legte, reagierte mit Widerwillen auf diese Veränderung.
Das schrittweise, organische Wachstum des gotischen Kirchengebäudes brachte es mit sich, dass zahlreiche Änderungen am ursprünglichen Grundriss vorgenommen wurden. Im 14. Jahrhundert hielt man noch eine dreischiffige Kirche für ausreichend, hundert Jahre später waren es bereits sieben Schiffe. Weil der Bau einer Kirche so langsam voranging, wurde jedes Gotteshaus im Lauf der Zeit zu einem unverwechselbaren Fingerabdruck des Ortes und der Gemeinschaft, in der es entstand. Die Änderungen im Bauplan der Kathedrale und die Verschmelzung architektonischer Stile sind deshalb stille Zeugen der Entwicklung einer rasant expandierenden Stadtgesellschaft.
Die heutige Kathedrale, die im Wesentlichen fertiggestellt war, als das Bauprojekt um 1521 abgebrochen wurde, hat mit 117 Metern die Länge eines Fußballfeldes, das siebenschiffige Langhaus ist 55 Meter breit, und das Mittelschiff hat eine Höhe von 27 Metern, was etwa einem neunstöckigen Haus entspricht. Insgesamt bietet das Bauwerk theoretisch Platz für 25 000 Gläubige. Von den Mauern und Pfeilern abgesehen, sind jedoch fast keine originalen Bestandteile erhalten geblieben – vor allem die Besetzung der Stadt durch Truppen der französischen Revolutionsarmee im Jahr 1794 wurde dem Kircheninterieur zum Verhängnis. Sogar die heutigen Bodenfliesen stammen aus der nicht weit entfernten, im 19. Jahrhundert abgerissenen Sankt-Michaels-Abtei.
Innerhalb der Kathedrale gab es einen der Pfarrgemeinde vorbehaltenen Teil, der eine Einheit für sich bildete, eigenen Kirchenvorstehern unterstand und einen eigenen Altar besaß. Eine Kirche in der Kirche gewissermaßen. 1454 entschied der damalige Kirchbaumeister Herman de Waghemaker, den bisher in einer Seitenkapelle angesiedelten Gemeindebereich von dort wegzuverlegen, war der Raum doch viel zu klein geworden für die wachsende Zahl der Gemeindemitglieder. Die Pfarrfunktion erfüllte von nun an das äußerste südliche Seitenschiff, die sogenannte Notkirche. (Abb. 2) Das ist der Grund dafür, dass dieses Seitenschiff breiter ausgefallen ist als die anderen. Zum Pfarrbereich gehörten eine Kanzel, eine eigene Sakristei und ein Taufbecken. Den wenigen erhaltenen Dokumenten zufolge wurden dort in den Jahren 1564–1566 durchschnittlich drei Taufen pro Tag vollzogen. Wie dieser Teil der Kirche ausgesehen hat, lässt ein Kircheninterieur des Antwerpener Malers Peeter Neeffs wenigstens erahnen. Von der spätmittelalterlichen Einrichtung ist auf dem Gemälde von 1610 zwar kaum noch etwas zu erkennen, aber es gewährt immerhin als eines von wenigen Bildern einen Blick in das südliche Seitenschiff. Sowohl der neue barocke Altar der Pfarrgemeinde als auch die gotische Kanzel und die Armentafel, an der Lebensmittel und Kleidung verteilt wurden, sind abgebildet. Die Kanzel wurde sogar noch bis zur öffentlichen Versteigerung im Jahr 1798 genutzt. Die kleinen Heiligenskulpturen, die beim Bildersturm von 1566 durch Axtschläge schwer beschädigt wurden, blieben als stille Erinnerung an diese blinde Raserei erhalten.
Die vielen Nebenaltäre nahmen den größten Teil der Kathedrale ein. Dass sie von der Mitte des 15. Jahrhunderts an wie Pilze aus dem Boden schossen, war der Hauptgrund für die zahlreichen Erweiterungen des ursprünglichen Bauplans. In der Regel bekamen sie einen Platz vor einem Pfeiler, konnten aber auch an einer Wand oder in einer Seitenkapelle stehen. Ihre frühesten Eigentümer waren Stadtbewohner, die eine Kaplanei errichteten. Eine Kaplanei war eine Stiftung von einer oder mehreren Privatpersonen – die ungefähr zu einem Drittel der Geistlichkeit angehörten – zur Erlangung des Seelenheils oder als auferlegte Buße nach einer Gewalttat. Mit dem gestifteten Geld ließ man einen Nebenaltar bauen oder erwarb einen Anteil an einem bestehenden. Ein Kaplan wurde eingestellt, der an festgelegten Wochentagen eine Messe zu lesen hatte.
Hier ein paar Zahlen, damit man sich eine Vorstellung von der Masse der Altäre machen kann, die im Lauf des Spätmittelalters einen Platz in der Kathedrale eroberten: Zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und 1477 wurden in der Kathedrale mindestens 84 Kaplaneien an 31 verschiedenen Altären gestiftet. Außerdem zählte Antwerpen mindestens 52 Bruderschaften, also von der Kirche gegründete oder anerkannte religiöse Vereinigungen, von denen 32 (nicht immer gleichzeitig) ihren eigenen Altar in der Kathedrale hatten. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts beteiligten sich schließlich auch noch die Gilden und Zünfte an dem Wettbewerb. Dass immer mehr Gilden- und Zunftaltäre gestiftet wurden, lag zum Teil daran, dass der Magistrat immer mehr Körperschaften als offizielle Vertreter bestimmter Berufsgruppen anerkannte. Und wie hätten die Gilden und Zünfte ihren Status als neue soziale und ökonomische Macht besser betonen können als mit einem prestigeträchtigen Nebenaltar in der Kathedrale? Nicht nur der Grundriss, sondern auch das Interieur spiegelte somit die gesellschaftlichen Entwicklungen wider. Nebenaltäre wurden von Bürgern und Körperschaften finanziert, die in einem bestimmten Moment der Geschichte die nötigen Mittel und die Gelegenheit dazu hatten. Sowohl ihre Anwesenheit in einer Kirche als auch die kostbare Ausstattung ihrer Altäre sagen sehr viel über die sozioökonomische Realität einer Stadt aus.
1 Lebensgefährliche Luft
Frühjahr 1481
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Sonntag, sieben Uhr morgens. Die Sonne konnte jeden Moment aufgehen. Alle standen, der Priester und sein Weihrauch schwenkendes Gefolge schritten schon zum Altar der Pfarrgemeinde, die Klänge der Messe füllten den Raum. Als Erster wurde der Priester, dann der Altar und schließlich die Gottesdienstbesucher mit der sonntäglichen Menge an geweihtem Wasser besprengt, während die Sänger den Wechselgesang Asperges me (»Besprenge mich«) vortrugen. So konnten alle Anwesenden spirituell gereinigt mit der Messfeier beginnen und das allerheiligste Sakrament (die erhobene Hostie und den erhobenen Kelch) schauen.
Manche Gemeindemitglieder hatten ihre sonntägliche Pflicht bereits in der Frühmesse erfüllt, nachdem sie um halb sechs auf dem Weg zur Kathedrale der klirrenden Kälte getrotzt hatten. Doch die meisten besuchten die Hauptmesse, die bis etwa acht Uhr dauerte. An einem normalen Sonntag wäre die Kathedrale gedrängt voll gewesen, und die Gottesdienstbesucher wären noch etwas länger geblieben, um die erste Predigt zu hören, die gleich nach der Messe begann. Die Frömmsten wären anschließend der kleinen Prozession von Geistlichen gefolgt, die um neun Uhr auf einem festgelegten Weg durch das Kirchengebäude zog. Danach konnte man das Hochamt der Geistlichen hören, das für die Gottesdienstbesucher nicht sichtbar im abgetrennten Hochchor zelebriert wurde, oder an den sonntäglichen Messfeiern der Kaplaneien, Gilden und Bruderschaften an einem der vielen Nebenaltäre teilnehmen. Außerdem wurde nachmittags eine zweite und sogar eine dritte Predigt gehalten, sodass wirklich alle Gemeindemitglieder in den Genuss spiritueller Weisheiten kommen konnten. An liturgischen Feiern, Predigten und gemeinschaftlichen Ritualen herrschte an den Sonntagen gewiss kein Mangel.
Doch dies war kein normaler Sonntag. 1481 war in Antwerpen die Pest ausgebrochen.
Wie die Heringe im Fass
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Die Niederlande waren bis weit über ihre Grenzen hinaus für ihre gut besuchten Kirchen bekannt. Fremde zeigten sich außerordentlich beeindruckt von der Menge der Kirchgänger, die dem Land den Ruf besonderer Frömmigkeit eintrugen, nicht nur im 15. Jahrhundert, sondern auch später noch. So notierte der süditalienische Geistliche Antonio de Beatis, der im Gefolge des kulturbeflissenen Kardinals Luigi d’Aragona in den Jahren 1517/18 Europa bereiste, in seinem Reisetagebuch, die Kirchen in den Niederlanden seien jeden Tag aufs Neue voll. Ein halbes Jahrhundert später berichtete ein venezianischer Gesandter, dass in den Kirchen an fast jedem Sonntag Almosen verteilt und Prozessionen abgehalten wurden. Und was die Teilnahme am Gottesdienst anging, sah man seiner Ansicht nach nirgendwo mehr Frömmigkeit als hier.
Doch zu Zeiten der Pest war die Situation eine völlig andere. Wie in fast allen europäischen Städten kam es auch in Antwerpen regelmäßig zu Pestausbrüchen. Die schwersten waren allen noch frisch im Gedächtnis, besonders die Jahre 1436–1439 und 1456–1459 waren katastrophal gewesen. 1481 brach erneut eine solch unheilvolle Zeit an, und diese Pestepidemie sollte bis 1485 wüten. In solchen Zeiten der Todesangst und des Chaos griffen die Einwohner der Stadt zu allen nur erdenklichen medizinischen und religiösen Hilfsmitteln. Zum Beispiel behauptet die Chronijc der Stadt Antwerpen, eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Kompilation älterer Chroniken, dass man im Jahr 1487 den Schwarzen Tod vertrieben habe, indem man zum Fest des allerheiligsten Namens Jesu gedruckte Andachtsbildchen an sämtliche Haustüren hängte. Es handelte sich um Darstellungen mit dem IHS-Monogramm, das auf die griechische Abkürzung des Namens Jesu zurückgeht. (Abb. 8) In der Regel wurden kleine papierene Andachtsbildchen dieser Art als geweihte Schluckbildchen von kranken Gläubigen heruntergeschluckt, um sich gegen Unheil zu schützen. Aber auch an die Eingangstür des Hauses geheftet wurde ihnen nachgesagt, die Pest fernhalten zu können.
Außerdem war die Teilnahme an Prozessionen ein bewährtes Mittel gegen einen plötzlichen Tod und anderes Unglück. Zahllose Einwohner Antwerpens zogen in unsicheren, angstvollen Zeiten in der Hoffnung auf spirituellen Schutz für Leib und Leben durch die Straßen. Ob eine Prozession ihren Zweck erfüllen würde, maß man teilweise sogar daran, wie oft sie veranstaltet wurde. Als im Jahr 1524 die Lebensmittelpreise immer weiter stiegen und Epidemien das Land heimsuchten, erließ Margarete von Österreich, Tochter Maximilians I. und Statthalterin der habsburgischen Niederlande, die Anordnung, dass die Stadtbewohner zwei Monate lang mindestens einmal pro Woche an einer Prozession teilzunehmen hatten, »um den Zorn und Ingrimm unseres Schöpfers und Erzeugers Jesus gegen uns zu besänftigen, und für das Wohlergehen und Glück der kaiserlichen Majestät und seiner Verbündeten«.
So verwundert es kaum, dass Altäre, die den bekanntesten Pestheiligen wie Rochus und Sebastian geweiht wurden, wie Pilze aus dem Boden schossen. Diese Heiligen erfüllten die spezielle Aufgabe von Beschützern gegen den Schwarzen Tod, weil bestimmte Ereignisse ihres Lebens mit der Krankheit in Verbindung gebracht wurden.
Der Glaube an religiöse Abwehrmittel gegen Krankheit und gegen die Pest im Besonderen war also stark und fest verwurzelt. Dennoch: Während eines Pestausbruchs am Sonntag im Seitenschiff der Kathedrale aneinandergedrängt wie die Heringe im Fass der Pfarrmesse beizuwohnen, war schon reichlich viel verlangt.
Gewiss, der für die Messfeiern der Pfarrgemeinde bestimmte Teil der Liebfrauenkirche war unvergleichlich viel größer als früher, als es noch die kleine Seitenkapelle beim Hochchor gewesen war. Und 1477 waren die Kirchen Sankt Georg, Sankt Walburga und Sankt Jakob zu Pfarrkirchen erhoben worden, wodurch sich die Masse der Antwerpener Gottesdienstbesucher wenigstens etwas verteilte. Außerdem hatten sich die Stadtbewohner das Geld für ihren neuen liturgischen Raum in der Kathedrale buchstäblich vom Mund abgespart: In den Jahren 1454–1460 hatte die Stadt mit einer Sondersteuer auf Weizen die gesamte Einwohnerschaft zur Kasse gebeten. Deshalb empfanden viele Gemeindemitglieder, als sie 1469 zum ersten Mal am neuen Ort einer Sonntagsmesse beiwohnen konnten, die Kirche als »ihre« Kathedrale. Eine Kathedrale, die noch dazu immer schöner wurde. 1481 wurde der große neue Altar der Pfarrgemeinde geweiht, und fünf Jahre später sollte ein prachtvolles steinernes Retabel das Ganze vervollständigen.
Doch selbst in dem großen neuen Raum herrschte an normalen Sonntagen Geschiebe und Gedränge. Grob geschätzt war in der Westhälfte der Kathedrale, also dem Langhaus inklusive sämtlicher Seitenschiffe, Platz für etwa 12 000 Menschen. Die Anzahl der Gläubigen, die zusammen der Pfarrmesse beiwohnen konnten, dürfte also über ein paar Tausend nicht hinausgegangen sein. Zu dieser Zeit wohnten jedoch bereits zehnmal so viele Menschen innerhalb der Stadtwälle, um die 40 000, und es wurden immer mehr. 1526 kamen schon ungefähr 55 000 Einwohner Antwerpens auf damals vier Pfarrkirchen, und um 1568 lebten allein innerhalb der Grenzen des Liebfrauen-Pfarrbezirks über 30 000 Einwohner. Die anderen Pfarrkirchen waren von ebensolcher Übervölkerung betroffen. Mehr als 20 000 Einwohner entfielen auf die Jakobskirche und jeweils über 10 000 auf Sankt Walburga, Sankt Georg und Sankt Andreas. Dabei sind die ausländischen Händler und Seeleute, die Reisenden und Pilger noch gar nicht mitgerechnet.
Schon rein physisch war es also unmöglich, die gesamte Pfarrgemeinde im selben Moment in ihrer Pfarrkirche zusammenzubringen. Freilich waren da noch die an Zahl zunehmenden Privatmessen der Kaplaneien, Bruderschaften, Gilden und Zünfte, denen die Gläubigen beiwohnen konnten. Von einer gemeinsamen Messfeier aller Gemeindemitglieder vor dem Hauptaltar »ihrer« Kirche konnte folglich keine Rede sein. Schon im 15. Jahrhundert war es vielmehr gang und gäbe, seine sonntägliche Pflicht in einer Kirche eigener Wahl und sogar durch eine Messe eigener Wahl zu erfüllen.
Körpersäfte im Ungleichgewicht
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Zurück zum Pestausbruch von 1481. Nicht ohne Grund befürchteten Kirchenbesucher das Schlimmste, wenn sie sich in die bekanntermaßen schlecht belüftete und überfüllte Liebfrauenkirche wagten. Das undurchdringliche Geruchsdickicht bestand aus allerlei Ausdünstungen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Ursprungs, die sich miteinander verbanden oder um Aufmerksamkeit wetteiferten. Während des Mittelalters und auch später noch klagten Stadtbewohner unablässig über die fehlende Luftzirkulation in dieser Art von geschlossenen öffentlichen Räumen. So schrieb der Antwerpener Jesuit Papebrochius noch Ende des 17. Jahrhunderts, es sei wünschenswert, »dass man in der Kathedrale hier und dort die Fenster öffnen könnte, um bei gutem Wetter saubere Luft hereinzulassen«. Dabei ging es ihm und anderen Beschwerdeführern nicht nur darum, frischen Wind durch das Gebäude wehen zu lassen: Das körperliche Wohlergehen der Kirchenbesucher stand auf dem Spiel! Man verstand Luft als eine ortsgebundene Mischung aus Rauch, Schwefel sowie wässrigen, flüchtigen, fetten und salzhaltigen Dämpfen, die der Erde entströmte. Und ein Mangel an Luftzirkulation galt allgemein als ebenso gefährlich wie stehendes Wasser.
Nach den damaligen medizinischen Vorstellungen bildete faulendes organisches Material in Luft und Wasser krank machende Dämpfe, sogenannte Miasmen, die für Krankheiten und Epidemien verantwortlich waren, weil sie zu den Hauptverursachern eines Ungleichgewichts der vier Körpersäfte gehörten. Alles Lebendige, das unter den Himmelssphären kriechend und wimmelnd, fliegend oder schwimmend die Erde bevölkerte, enthielt eine sorgsam ausbalancierte Mischung von Schleim, Blut, gelber und schwarzer Galle. Bis heute sprechen wir von cholerischen Charakteren (mit einem Zuviel an gelber Galle) und Menschen vom melancholischen, phlegmatischen oder sanguinischen Typus (mit einem Übermaß an schwarzer Galle, Schleim oder Blut).
Dies geht auf die Säftelehre oder Humoralpathologie zurück, die Menschen nach dem jeweils dominierenden Körpersaft (humor) einteilte. Es war die Schule des griechischen Arztes Hippokrates, die im 4. Jahrhundert vor Christus sowohl die Miasmenlehre als auch die Humoralpathologie ausarbeitete, und beide blieben bis zum späten 16. Jahrhundert in beinahe unveränderter Form anerkannt. Die Miasmenlehre hielt sich sogar noch länger, bis im späten 19. Jahrhundert die Wissenschaftler Robert Koch und Louis Pasteur nachweisen konnten, dass Krankheiten nicht von faulenden Luftpartikeln, sondern von Bakterien und Viren verursacht werden.
Doch so weit war man im Spätmittelalter noch lange nicht. Für die Stadtbewohner jener Zeit bedeuteten Krankheiten des Körpers oder des Geistes, dass die Körpersäfte nicht im Gleichgewicht waren. Wenn man einen Arzt konsultierte, bestand dessen wichtigste Aufgabe darin, einem toxischen Ungleichgewicht vorzubeugen oder es zu beseitigen: durch Aderlass, künstlich herbeigeführte Vereiterungen, Verabreichung von Brechmitteln, Einläufe, Bäder oder Diäten. Den richtigen Moment für den Beginn der Behandlung musste er auf der Grundlage der jeweiligen Position von Sonne und Mond im Tierkreis und des Lebensalters des Patienten genau berechnen. Die Theorie hinter diesem medizinischen und astrologischen Wissen war hauptsächlich einem kleinen Kreis von Gelehrten bekannt, den doctores medicinae, die ein Studium an einer Universität absolviert hatten, außerdem Chirurgen und Barbieren, die über die erforderlichen praktischen Fähigkeiten verfügten. Dank einer bunten Mischung schriftlicher und mündlicher Überlieferungen war man aber in allen Schichten der Bevölkerung mit den Grundprinzipien vertraut. Im Grunde wusste also jeder Stadtbewohner über die (angenommene) Funktionsweise des eigenen Körpers und somit auch über die Gefahren übler Ausdünstungen Bescheid.
Eine beliebte Informationsquelle war ein in der Volkssprache verfasstes Büchlein, das als »Schäferkalender« bekannt war. Es präsentierte das medizinische Wissen der Zeit, als würde es auf der praktischen Erfahrung von Hirten beruhen und nicht auf gelehrten Theorien von Philosophen und Ärzten. Charakteristisch für Druckwerke dieser Art sind Illustrationen mit dem Tierkreismann oder Aderlassmann. Es handelt sich dabei um eine stilisierte menschliche Figur, bei der jeder Körperteil einem Tierkreiszeichen zugeordnet ist. So wurde auf anschauliche Weise dargestellt, wann welche Körperteile behandelt werden durften und wann nicht. In einem der wenigen erhaltenen Exemplare aus dem 16. Jahrhundert, dem in Antwerpen gedruckten Büchlein Der schaepherders kalengier, ist ein solcher Tierkreismann abgebildet. (Abb. 7) Aus dem Diagramm ist zum Beispiel ersichtlich, dass das Sternbild Widder (Aries) in Verbindung mit dem Kopf steht und dass es demzufolge nicht ratsam ist, einen Patienten in der Zeit vom 21. März bis zum 20. April in diesem Bereich zur Ader zu lassen. Die eklektische Verbindung von menschlichem Körper und Kosmos kommt wunderbar in den begleitenden Erklärungen zum Ausdruck:
Aries ist ein warmes und trockenes gutes Zeichen und regiert den Kopf. Und wenn der Mond in diesem Zeichen ist, soll man den Kopf mit keinem Eisen berühren [zum Aderlass] noch die Ohren oder die Hauptader sollst du lassen, noch den Bart scheren, aber es steht dir frei zu baden.
Anleitungen wie diese unterrichteten die Leser verblüffend detailreich darüber, wie man sich zu verhalten hatte, um mit möglichst wenig Schaden durchs Leben zu gehen. Ähnliches boten in vereinfachter Form und leicht verständlicher Sprache auch die Almanache, große Kalenderblätter, die man zu Hause an die Wand hängen konnte. Sie versorgten zahllose Familien mit allerlei nützlichen astrologischen und medizinischen Informationen, von Wettervorhersagen und den Sonnen- und Mondzyklen über die für Aderlässe oder für das Schneiden von Haaren und Nägeln geeigneten Tage bis hin zu kirchlichen Feiertagen und wichtigen Märkten. Kurz und gut: Der Kosmos war ein Medizinschrank, und Gott war der Apotheker. »Denn Gott hat die Kräfte von Kräutern, Steinen und aller anderen Kreaturen nicht umsonst geschaffen«, heißt es in dem Ende des 15. Jahrhunderts in Venedig gedruckten Fasciculus medicinae, einem der einflussreichsten medizinischen Traktate Europas.
Körper und Geist waren im Denken des Spätmittelalters eng miteinander verflochten und bildeten ein Ganzes. War der Körper krank, hatte das Auswirkungen auf das geistige (also auch religiöse) Wohlergehen und umgekehrt. Weil ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnte, war man der Auffassung, dass medizinische und religiöse Mittel einander ergänzten. Traktate über die Pest, Predigten und Katechismen bedienten sich deshalb der gleichen Sprache zur Unterweisung der Bevölkerung. Eine Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert über »geheime« heilkräftige Mittel (ein sogenanntes secreetboek) empfahl in jedem sechsten Rezept geweihtes Wasser als heilsame Ingredienz. Auch Gebete zu verrichten, Psalmen zu rezitieren oder eine Messe über einem Gegenstand lesen zu lassen gehörte zu diesem pseudomedizinischen Repertoire. Die Geschichte lehrt, dass Menschen besonders in Zeiten von Epidemien dazu neigten, all ihre Hoffnung in die heilende Kraft des Glaubens zu setzen. 1490 zum Beispiel wurde ein an den Pestheiligen Sankt Sebastian gerichtetes Gebet vollständig zwischen den medizinischen und diätetischen Ratschlägen des Antwerpener Traktats Opus insigne de peste abgedruckt. Und noch während der Coronapandemie des Jahres 2020 verkauften sich »heilkräftige« Steine und Tees so gut wie nie zuvor.
Ein Schutzschild aus guter Luft
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Einmal an einem Feiertag – ob es nun ein Sonntag oder anderer Tag war, erinnere ich mich nicht mehr – glaubte eine Frau in der Kirche von Aldgate auf einer Kirchenbank voller Menschen plötzlich einen üblen Geruch wahrzunehmen; sofort bildete sie sich ein, die Pest sei in der Bank, flüstert ihre Wahrnehmung oder ihren Verdacht der Nachbarin zu, erhebt sich und verlässt die Bank; es griff sofort auf die nächsten über und dann auf weitere, und alle von ihnen und von den zwei oder drei Nachbarbänken standen auf und verließen die Kirche, obwohl niemand wusste, was ihn störte oder von wem es kam.
Das füllte plötzlich eines jeden Mund mit diesem oder jenem Präparat, wie es die alten Weiber empfahlen und einigen vielleicht die Ärzte verordnet hatten, um der Ansteckung durch den Atem anderer vorzubeugen; dergestalt, dass, wenn man eine einigermaßen gut besuchte Kirche betrat, ein solches Gemisch von Gerüchen herrschte, das viel stärker, wenn vielleicht auch nicht so heilsam war, wie wenn man in einen Apotheker- oder Drogistenladen kam. Mit einem Wort, die ganze Kirche war wie ein Riechfläschchen; in dieser Ecke gab es alle Parfüms, in jener Spezereien, Balsamkräuter und eine Vielfalt von Drogen und Kräutern, in einer anderen Salze und Spirituosen, wie gerade jeder zu seinem Schutze damit versehen war.
Diese Passage aus Daniel Defoes fiktivem Dokumentarbericht Die Pest in London über die verheerende Pestepidemie von 1664/65 beschreibt die üppige Duftlandschaft einer Pfarrkirche während einer Epidemie. Sie spielt fast zwei Jahrhunderte nach der Antwerpener Pestepidemie der Jahre 1481–1485 und ist dennoch repräsentativ für das, was man in mittelalterlichen Kirchen wie der Liebfrauenkirche erleben konnte. Schließlich war die Miasmenlehre auch im 17. Jahrhundert noch allgemein anerkannt.
Immerhin verrät Defoes Erzählung, dass es für die Menschen ein Fünkchen Hoffnung gab: Man war Miasmen und somit Epidemien nicht hilflos ausgeliefert, sondern konnte sich durchaus gegen sie schützen. Schlechte, muffige, gefährliche Luft konnte durch gute, wohlriechende Luft ferngehalten werden. Gute Gerüche überdeckten also nicht einfach nur den Gestank von Krankheit und Tod, sondern sorgten in erster Linie dafür, dass man nicht erkrankte, weil gefährliche Bestandteile der Luft nicht an einen herankamen. So gab man auch Patienten die Möglichkeit, zu genesen, indem man die schädliche Luft in ihrer Umgebung mit wohlriechender vertrieb. Wie man die Luftqualität verbessern konnte, war deshalb wichtiges praktisches Wissen, das durch beliebte Gesundheits- und Haushaltsratgeber verbreitet wurde. Eine häufig angewandte Methode war Fumigation (Ausräuchern), das Verbrennen aromatischer Kräuter auf öffentlichen Plätzen, auf den Straßen und in den Häusern. Man trug aber auch Säckchen mit Kräutern bei sich oder parfümierte ausgiebig seinen Körper, um schlechte Luft zu vertreiben. Sogar die Haltung von Vögeln im Haus wurde empfohlen, weil angeblich ihr Flügelschlag die Luft in Bewegung hielt.
Ein beliebter Haushaltsratgeber war Een nieuwe tractaet ghenaemt dat Batement van recepten (Ein neues Traktat genannt das Lustspiel der Rezepte) aus dem Jahr 1549. Es enthielt Anleitungen zur Herstellung von Duftstoffen, die vor der Pest schützen sollten. Die Kräutermischung oder das Teigkügelchen tat man in einen Duftstoffbehälter, Bisamapfel oder auch Pomander genannt, meist ein kugelförmiges Schmuckstück, das man aufklappen konnte. Pomander ist eine Verballhornung des französischen pomme d’ambre, Ambrakügelchen. (Abb. 9) Bisamäpfel gab es in allen möglichen Formen und Größen, von einem einfachen Behältnis aus billigem Metall bis zum prunkvollen silbernen Juwel. Auch die Duftvarianten waren zahllos und die Ingredienzen variabel, je nach den finanziellen Möglichkeiten des Käufers.
Eines der Rezepte schrieb folgende Zutaten vor: eine halbe Unze feines, gereinigtes Labdanum (ein wohlriechendes Harz), drei Unzen Storax (ein würzig duftendes Harz, meist vom Orientalischen Amberbaum), feine Calamintha (Wald-Bergminze), fünf Drachmen Myrrhe, eine Drachme Gewürznelke, Saft von Baldrian, feines mucelgiaet
