Die Geschichte der Fußleiste und ihre Bedeutung für das Abendland - Wigald Boning - E-Book

Die Geschichte der Fußleiste und ihre Bedeutung für das Abendland E-Book

Wigald Boning

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Beschreibung

Die in diesem Buch versammelten wissenschaftlichen Studien eint ein gemeinsames Ziel: den Gipfel der Erkenntnis zu erreichen. Diesem Gipfel kann man sich auf ganz unterschiedlichen Denkwegen nähern; Generationen von Philosophen und Propheten haben Pisten bis an den Fuß des Bergmassivs herangeführt, Wissenschaftler aller Disziplinen Wegweiser aufgestellt. Wigald Boning nutzt auf seinem Weg zum Gipfel jene Trampelpfade, die bisher von der Wissenschaft vernachlässigt wurden. So erfährt man hier einiges über die politische Aussagekraft von Blasenpflastern, den Einfluss der Fußleiste auf die Französische Revolution, wie man eine anständige Sekte gründet, was Mimikry mit Spaghettieis zu tun hat und warum Plattdeutsch zur neuen Wissenschaftssprache Nr. 1 aufsteigen wird. Also: Schuhe geschnürt, Rucksack geschultert, und auf geht's!

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Seitenzahl: 267

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Wigald Boning

Die Geschichte der Fußleiste und ihre Bedeutung für das Abendland

und andere wissenschaftliche Studien

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

VorwortBotanische Spaziergänge über die Kölner Domplatte und den Potsdamer PlatzDas Blasenpflaster als politisches BekenntnisDie Geschichte der Fußleiste und ihre Bedeutung für das AbendlandAssel, Bückling, Tse-Tse-Fliege – Prominenz im TierreichDa! – Ein Leitfaden für SektengründerKleine Frisurenkunde künstlerisch begabter StaatsmännerDie Kuckucksuhr im Wandel der ZeitHerzinfarktprävention bei WellensittichenDie Weisheit albanischer RedensartenDas kosmologische IgelballmodellDer «Mund der Wahrheit» aus zahnmedizinischer SichtIlja Rogoff und mein UropaDie Spaghetti- Eis-AnomalieEin Tag im Leben meines SchlafanzugsWaschbeton und WäschespinneMutmaßungen über SchönheitSlipsbinnen in’t Weltruum – Niederdeutsch als WissenschaftsspracheAuf dem Gipfel der Erkenntnis
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Vorwort

«Bitte gehen Sie weiter! Hier gibt es nichts zu sehen!»

Fußgängerstau am Mount Everest ist heutzutage gang und gäbe. Bei brauchbarem Kletterwetter geht’s auf dessen Gipfel zu wie bei Aldi, wenn frische Klapprechner verkloppt werden. Auch Amazonas und Antarktis werden nicht mehr mit Einsamkeitsgarantie bereist; in der Wüste Gobi sind die ersten Gewerbegebiete bereits ausgewiesen, und Mars und Mond kann man bald bei Google Street View betrachten, jede Wette. Wer original Terra incognita betreten will, muss neue Wege gehen.

Die in diesem Buch versammelten wissenschaftlichen Studien eint ein gemeinsames Ziel, nämlich: die höchsten Sphären des menschlichen Geistes, den Gipfel der Erkenntnis zu erreichen. Diesem Gipfel kann man sich auf ganz unterschiedlichen Denkwegen nähern; Generationen von Philosophen und Propheten haben Pisten bis an den Fuß des Bergmassivs herangeführt, Wissenschaftler aller Disziplinen Wegweiser aufgestellt. Leider enden alle diese Wege früher oder später im Nichts, und so ist es selbst den kühnsten Draufdenkern nur selten gelungen, auch nur in die Nähe der Baumgrenze zu gelangen – wenn überhaupt.

Haben Sie, lieber Leser, nicht auch schon manches Mal damit geliebäugelt, diesen Gipfel der Erkenntnis zu erklimmen? Von dort oben muss man einen erzexquisiten Panoramablick haben, hinab in die Täler der Ahnungslosigkeit. Und im Flimmerlicht des Horizonts lässt sich vielleicht sogar unsere Zukunft erspähen. Nichts wie rauf.

Schön, dass Sie sich entschlossen haben, mich zu begleiten. Mein Plan: Wir halten uns nicht an die bekannten Routen, sondern nutzen jene Trampelpfade, die bisher von der Wissenschaft vernachlässigt wurden.

Wie bei jeder Bergtour sind gelegentliche Irrwege nicht auszuschließen; dann und wann wird es den Anschein haben, als führe die Reise nicht geradewegs in höchste Höhen, sondern in das dornige Gestrüpp der Abseitigkeit. Vorab bitte ich Sie um Nachsicht und Geduld; ich verspreche Ihnen, Sie nicht allzu lange im Gestrüpp liegen zu lassen. Wird das Dickicht zu düster, der Grund zu schlammig, klopfen wir uns gemeinsam den Dreck aus den Kleidern und setzen frohgemut an anderer Stelle zum Gipfelsturm an. Merke: Der zu ersteigende Berg, das menschliche Wissen, ist kein Fudschijama, kein gleichförmiger Kegel, sondern eine karstige, schluchtenreiche Halde, die, so sagt man, ihr Volumen Jahr für Jahr verdoppelt. Während ich dies schreibe, stelle ich mir einen gigantischen Bagger vor, der just in diesem Moment wieder eine happige Ladung wissenschaftlichen Fortschritts über den Hügel kübelt. Die Gefahr, während des Aufstiegs von einer Info-Lawine erschlagen zu werden, ist somit durchaus gegeben; bitte lesen Sie dieses Buch nur mit äußerster Vorsicht und gut gefrühstückt. Für Notfälle halten Sie bitte eine Trillerpfeife parat.

Recherchehalber habe ich Dutzende Ortstermine absolviert, meine EDV-Anlage zum Qualmen gebracht, wildfremde Fachleute mit Fragen belästigt und die verstaubten Randregale meiner Hausbibliothek konsultiert. In seinem Essay «Vom raschen und zögernden Sprechen» schrieb Michel de Montaigne den erhellenden Satz: «Manche Arbeiten riechen nach Lampe.» Stimmt; darum habe ich bei der Niederschrift auf Quellenangaben und Literaturverweise verzichtet. Insofern wagen wir unsere Bergtour ohne Seilsicherung. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Mut und heißen Dank für Ihr Vertrauen.

Wohlan, beginnen wir im Flachland.

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Botanische Spaziergänge über die Kölner Domplatte und den Potsdamer Platz

Erste Etappe. Statt Begrüßungscocktail möchte ich Ihnen ein Sträußchen an die Hutkrempe heften. Lasst Blumen sprechen, behauptet die beliebte Binsenweisheit, denn Blumen sagen mehr als tausend Worte. Doch was, wenn die Stimme der Vegetation zart ist, heiser, kaum zu hören?

Betritt der Laie von Westen her die Kölner Domplatte, jenen Bereich der Fußgängerzone, welcher das bekannte Wahrzeichen der Stadt umgibt, so stößt dieser (also der Laie, nicht der Fußgängerzonenbereich) zumeist zwei Seufzer aus. Den ersten aufgrund der atemberaubenden Wucht des gotischen Gotteshauses, und den zweiten wegen der vollständigen Versiegelung des gesamten Areals; dieser Platz, so scheint es, ist eine der lebensfeindlichsten Betonwüsten Mitteleuropas. Für den Botaniker jedoch ist auch die Domplatte ein mehr oder weniger vielfältiger Lebensraum, nämlich ein sogenanntes «Siedlungsbiotop», geprägt aus Spontanbewuchs, Splittergrün und floralen Dekorationselementen. Widmen wir uns zunächst dem Platanenhain am Nordwesteck des Platzes. Neun Bäume der Gattung Platanus stehen hier in Bierträgeranordnung; jedes Baumindividuum ist mit einer ringförmigen Ziegeleinfassung versehen, welche die Baumscheibe vom Bodenbelag trennt, einem Kleinsteinpflaster im Reihenverband. Die Platane ist die einzige Gattung in der Familie der Platanengewächse, quasi ein Einzelkind der Evolution. Da ihre Borke fortlaufend abblättert und ein unregelmäßiges, aus gelb- und grünlichen Farbarealen bestehendes Muster hinterlässt, umweht diesen Baum eine gewisse militärische Theatralik. Ein Einzelkind mit Hautproblemen, das sich in Camouflage kleidet, au weia. Unwillkürlich sucht man die Baumkrone nach Waffen ab; ein Amoklauf auf der Domplatte – das hat uns gerade noch gefehlt.

Bei den Domplattenplatanen handelt es sich um eine Kreuzung aus amerikanischer und morgenländischer Platane, die seit 1650 gepflanzt wird und «ahornblättrige» oder «London-Platane» genannt wird. Der Vorteil dieses Hybridbaums ist die ausgeprägte Frosthärte im Vergleich zum morgenländischen Elternteil. Eieiei, das klingt alles nach Bushido – und dann stehen die Finsterlinge auch noch zu neunt im Eck! Kein Wunder, dass die Bänke unter den Bäumen leer sind, als ich mich im September 2010 zum Ortstermin auf der Domplatte einfinde. Übrigens entdecke ich in den Baumkronen zwar keine Waffen im Sinne des Waffengesetzes, dennoch sind Platanen keineswegs ungefährlich. Beim Zerfall ihrer Früchte gelangen nämlich erhebliche Mengen feiner Härchen in die Luft, welche bei sensiblen Passanten Heuschnupfen hervorrufen können. Darüber hinaus lösen sich beim Laubaustrieb mikroskopisch kleine Partikel, die auch in den Atmungsorganen von Nicht-Allergikern Reizungen verursachen; der Lungenfacharzt spricht vom sogenannten «Platanenhusten». Zudem sind ältere Platanen in Nordrhein-Westfalen von einem Pilz bedroht, der die Äste absterben lässt, woraufhin diese dem Domplattler mit etwas Pech auf den Kopp fallen können. Irgendwann liegt der erste Tourist tot vorm Dom, und ganz Köln rätselt dann hustend, wie es so weit kommen konnte – über die notwendigen Konsequenzen, die meine Risikoanalyse nahelegt, sollte das Ordnungsamt beizeiten nachdenken.

Die Stämme der potenziellen Schlagbäume sind von jungem Efeu umrankt, dem einzigen in Europa heimischen Wurzelkletterer. Dessen Blätter sind ein probates Mittel gegen Bronchitis; wer also von Platanenhustenattacken geplagt wird, sollte sich einfach ein paar Efeublätter abreißen, daraus einen Tee kochen und befreit aufatmen. Doch Obacht! Überdosierungen gilt es zu vermeiden, da sämtliche Pflanzenteile des immergrünen Haftwurzlers das tückische Triterpensaponin sowie das hinterlistige Falcarinol enthalten, zwei Gifte, die mittels Durchfall und Erbrechen, Kopfschmerz und Krämpfen, ja sogar Schock und Atemstillstand auch den heitersten Kölnbesuch ins Unangenehme abdriften lassen können. Übrigens, ein kleiner Tipp für alle Pillenverächter unter den Dombesuchern: Wenn wir dem «Contrafeyt Kreuterbuch» des Universalgelehrten Otto Brunfels aus dem Jahre 1532 glauben, taugt die toxische Wirkung des Efeus auch zur Empfängnisverhütung.

Aufgrund seiner Anschmiegsamkeit ist der Efeu seit der Antike ein Sinnbild für Freundschaft und Treue, außerdem war er sowohl im alten Ägypten wie auch in Griechenland und Rom den Weingöttern beigeordnet und darum Symbol der Heiterkeit. Andererseits sollen die frühen Christen ihre Verstorbenen auf Efeu gebettet haben, als Verweis auf das ewige Leben. Von dieser Sitte zeugen noch heute viele efeuumrankte Grabsteine, auch wenn der Ursprung der Ruhestattbegrünung in Vergessenheit geraten ist. Indem die Gärtner auf der Domplatte also Totschläger in Tarnfleck mit freundlichem Kuschelkraut kombinierten, schufen sie ein Sinnbild für die Dualität von Husten und Heilkraft, Gut und Böse, Himmel und Hölle – welch würdiges Gegenüber für ein Gotteshaus.

Die Ritzen des Kleinsteinpflasterverbandes, der die neun Platanen umgibt, sind, und jetzt wird’s gar volkstümlich, von Deutschem Weidelgras besiedelt, das wegen seiner Vorliebe für stickstoffreiche Böden sehr wuchsfreudig auf die tägliche Düngung mit Zigarettenasche, Kinderpipi, Wurstbrotrest und Taubenkot reagiert. In ausreichend breiten Fugen siedeln auch Spitz- und Breitwegerich sowie Löwenzahn. Der Wegerich, dessen Trittfestigkeit schon im Namen angedeutet ist, war schon im Altertum als Heilpflanze bekannt, und in Shakespeares «Romeo und Julia» heißt es gleich im ersten Akt: «Ein Blatt vom Wegerich dient dazu vortrefflich.» – «Ei, sag, wozu?» – «Für dein zerbrochnes Bein.» Warum? Bitter- und Gerbstoffe sowie das Glycolid Ascubin wirken entzündungshemmend und fördern die Wundheilung. Wessen Füße also nach einem langen Einkaufsbummel durch die Kölner Innenstadt schmerzen, der kann hier, am Nordwesteck der Domplatte, die Schuhe ausziehen und die maladen Treter mit Wegerichblättern belegen. Wer gleichzeitig von Hunger gepeinigt wird, sollte wissen: Aus den jungen Blatttrieben des Löwenzahns lässt sich ein delikater Salat zubereiten, und die gelben Blüten ergeben eingekocht einen schmackhaften Brotaufstrich. Die Wurzel wiederum kann geröstet und gemahlen als koffeinfreier Ersatzkaffee genossen werden. Übrigens ist Muckefuck ’ne echte kölsche Jung, handelt es sich doch bei diesem Namen für das klassische Nachkriegsgetränk um eine Eindeutschung des französischen «Mocca faux», die während der Annektierung des Rheinlandes unter Napoleon gebräuchlich wurde.

Schließlich lässt sich Löwenzahn als preisgünstige Alternative zum Kautschukbaum verwenden. An der Gummiproduktion auf Pusteblumenbasis wird derzeit mit Hochdruck geforscht, wobei jedoch als Ausgangspflanze der Russische Löwenzahn unserer Domplatten-Butterblume überlegen zu sein scheint. Die Erwähnung des Löwenzahns als zukünftiger Gummilieferant mag an dieser Stelle etwas weit führen, da wir aber schon den Efeu als Verhütungsmittel diskutierten, soll ordnungshalber auch das Pusteblumenkondom Erwähnung finden.

Der freie Platz zwischen Platanenhain und dem Westportal des Doms ist weit vegetationsärmer. Durchschnittlich wird jede der Granitplatten täglich von 20 000 Besuchern betreten, wodurch sogar substrattreue Granitspezialisten wie die Hochgebirgs-Krustenflechten der Gattungen Aspicilia und Lecanora auf Besiedelungsversuche von vorneherein verzichten. Nicht nur die Bodenplatten, sondern auch die schmalen Zwischenräume sind augenscheinlich vegetationsfrei. Zur Trittpolitur gesellt sich die wuchshemmende Wirkung der von den Pflastermalern verwendeten Farbstoffe. Die Straßenmalerei wurde erstmals im Italien des 16. Jahrhunderts praktiziert und geht auf religiöse Prozessionen zurück, in deren Rahmen Bodenbeläge mit Mariendarstellungen verziert wurden; in Italien heißen die Pflastermaler darum noch heute «Madonnari». Die Kölner Domplatte hat für die Straßenmalerei in etwa jene Bedeutung, die Wimbledon im Tennis genießt; mehr Kreide pro Quadratmeter wird weltweit wohl kaum angerührt, aufgetragen, bewundert, vom Regen gelöst und in die Fugen gespült. Die verwendeten Farbstoffe bestehen in der Regel aus Magnesiumoxid, Tapetenkleister und verschiedenen Farbpigmenten. Die meisten Pigmente gelten als gesundheitlich unbedenklich, wobei ich dennoch mit gestrecktem Zeigefinger und gehobener Augenbraue anmerken möchte, dass bei der Spaltung von Tätowierpigmenten durch Laserlicht krebserregende Stoffe entstehen können. Aber ruhig Blut, liebe Pflanzenfreunde, die wenigsten Pflastermaler verwenden teure Tätowierpigmente wie C. I. Red 22, und Laserlichtbestrahlung von Domplattentätowierungen sind meines Wissens nach bisher weder dokumentiert noch in Planung.

Theoretisch funktioniert Farbe als natürlicher Synthesehemmer; eine ausreichend dicke Schicht Blau oder Rot hindert das Blattgrün an seiner Arbeit. Unklar ist jedoch, ob Pflastermalfarben darum als Herbizide in Garten und Landwirtschaft eingesetzt werden sollten. Klar ist wiederum, dass gerade in jenen Domplattenbereichen, in denen der Boden regelmäßig Kreide frisst, kein pflanzliches Leben stattfindet.

Erst im unmittelbaren Übergang zum Kölner Dom lässt sich ein kleines Biotop erspähen, nämlich die kaum einen Zentimeter breite Abschlussfuge zwischen Domplatte und Kirchenwand. Neben diversen Süßgräsern fühlt sich hier der Vogelknöterich wohl, Kulturbegleiter seit der Jungsteinzeit. Interessant ist sein außergewöhnlich hoher Anteil an Kieselsäure: Bis zu ein Prozent der Gesamtpflanze besteht aus dem zuverlässigen Nagel-, Haar- und Knochenstärker, und so lässt dieses Knöterichvorkommen abrupt an die Gebeine der Heiligen Drei Könige denken, die sich bekanntlich seit 1164 im Kölner Dom befinden. Bei der letzten Öffnung des Dreikönigsschreins anlässlich der 700-Jahr-Feier im Jahr 1864 wurden in der Reliquienlade neben allerhand Kniescheiben und Schulterblättern drei schadhafte Unterkiefer entdeckt, wobei der kleinste einem etwa 12-jährigen Kind zugeordnet werden konnte. Laut Protokoll steckten in der Kauleiste des Jungen zwei Zähne. Hypothetisch könnte der Zahnmangel mit einem Defizit an Kieselsäure in Zusammenhang stehen, da der Vogelknöterich in unseren Breitengraden häufig, in der orientalischen Zone, also in der Heimat der Heiligen Drei Könige, jedoch seltener vorkommt. Als die Gebeine in Köln eintrafen, waren kräuterheilkundlich Hopfen und Malz bereits verloren. Falsche Zeit, falscher Ort. Oder wie sang Dorthe Kollo 1968? «Wärst du doch in Düsseldorf geblieben».

An der Domwand betteln, passend zu den beißerarmen Unterkiefern, Mauer-Drehzahnmoos und Landkartenflechten um meine Aufmerksamkeit – oder ist es doch nur eine Wand-Gelbflechte? Bei den Moospolstern könnte es sich natürlich auch um Verstecktkapseliges Spalthütchen handeln, wobei diese gipfelfrüchtigen Laubmoose eigentlich an Gebirge gekoppelt sind. Hm. Wäre natürlich möglich, dass die Spalthütchen das Gotteshaus für Hochgebirge halten, zumal diese kaum wissen werden, dass sie sich hier in der Kölner Bucht befinden. Sicher, sie könnten sich mal bei den Landkartenflechten nebenan erkundigen, aber wer weiß, ob diese im GPS-Zeitalter nicht auch ihres Orientierungsvermögens verlustig gegangen sind.

Betrachten wir nun die Südseite der Domplatte, an der umgehend die hohe Buchsbaumdichte auffällt. Der Bestand lässt sich in drei Einzelpopulationen gliedern: Am Südwestende des Platzes stehen zwei Exemplare vor der «Louis Vuitton»-Filiale, in Tonzubern, Kugeldurchmesser 45 cm, Rundschnitt, nordwärts anschließend zwei weitere Buchse, gleiche Größe, ebenfalls kugelförmige Krone, offenbar zum Geschäft der Firma «Chopard» gehörig, und, schließlich, den Nordeingang des «Le Méridien Dom Hotels» flankierend, drei weitere Bottichbewohner, allerdings geschnitten in Form eines Spitzkegels. Wandseitig sind die Bäumchen allesamt bräunlich verfärbt – eventuell macht ihnen die Abwärme der Schaufenster zu schaffen, oder deren nächtliche Beleuchtung sorgt für chronischen Jetlag. Die Kräuterapotheke, als welche sich die Domplatte auf unserer bisherigen Begehung präsentiert, wird durch die Buchsbaumreihe jedenfalls sinnvoll komplettiert: Bereits in der Antike war die Heilwirkung sämtlicher Pflanzenteile bei wiederkehrendem Fieber bekannt; als Malariamittel sind Buchsbaumpräparate dem Chinin vergleichbar.

In Deutschland sind Buchse übrigens nur an ausgewählten Standorten heimisch, nämlich im Buchswald Grenzach-Wyhlen nahe Lörrach sowie im Brodenbachtal an der Mosel. Buxus sempervirens gehört, zusammen mit dem Besenginster, zu den ganz wenigen heimischen Gehölzen, deren Samen von Ameisen verbreitet werden, und um die Fortpflanzungs-Hiwis anzulocken, sind die Samen mit stark riechenden Warzen bedeckt. Ich bezweifle, dass die den Buchsen entsteigenden Schreie nach Liebe erhört, will sagen: dass diese Düfte der Sehnsucht vom Krabbelvolk errochen werden; Pflanzkübel und Granitgrund wirken hier mindestens so empfängnisverhütend wie hochdosierter Efeu plus Löwenzahnkondom.

Ostwärts wird’s zunehmend mediterran: Den Eingang zur «Hermès»-Filiale bewachen zwei Pötte mit Hartlaubgewächsen, wahrscheinlich eine Kirschlorbeerzüchtung, dann geht’s ums Eck, und wir bewundern die verglaste Terrassenumhegung des Feinschmeckerlokals «Le Merou», in der sich kanarische Dattelpalmen und Bambusstauden ein Stelldichein geben. Die Dattelpalmen tragen zwar in unseren Breiten keine Früchte, aber indem man ihren Vegetationskegel anritzt und über Nacht auslaufen lässt, gewinnt man den delikaten Palmhonig. Als Baustoff ist diese Palme aufgrund ihres Zwergwuchses allerdings höchstens für Kaninchenställe geeignet. Der Bambus lässt sich weit vielseitiger verwenden: Das hellgelbe Fleisch der jungen Sprossen ist nahrhaft und bekömmlich, und auch das haferähnliche Bambuskorn ist essbar. Im Bauwesen ist das asiatische Großgras aufgrund seiner Elastizität den meisten Harthölzern überlegen, und Erdbeben werden von Bambusbauten sogar besser verkraftet als von Gebäuden aus Backstein. Kölner, aufgepasst! Zwar sind Erdbeben bei euch nicht eben häufig, jedoch hat der Einsturz des Stadtarchivs bewiesen, dass die Bauten der Domstadt derzeit nicht untergrundbahnbaugerecht sind. Ein Abriss jener Teile der Altstadt, die untertunnelt werden, und eine anschließende Neubebauung mit Bambushäusern werden hiermit ausdrücklich empfohlen. Sollte nach dieser Baumaßnahme noch Bambus überbleiben, lassen sich die Reste zu Hüten, Reusen und Blasrohren verarbeiten.

Zwischen Palmen und Bambus befindet sich neben einem alten Kaugummi, zwei Kronkorken, Taubnesseln und Klee auch ein Apfelgriebsch. Dies lässt vermuten, dass zukünftig auch Obstbäume die Domplattenflora bereichern könnten. Seit dem Mittelalter wird der biblische Baum der Erkenntnis zumeist als Apfelbaum dargestellt – was gäbe es Sinnigeres als den pflanzlichen Auslöser der Vertreibung aus dem Paradies in Sichtweite des Kölner Domes? Auch schön erschiene mir ein Schild mit der Aufschrift «Apfelpflücken verboten», auf dass der hungrige Tourist den Sündenfall nachvollziehen kann.

Bis es so weit ist, bleibt dem mittellosen Kölnbesucher nur der Rückgriff auf Löwenzahn, Bambus und Palmhonig, oder er bedient sich der rot blühenden Blumenrohrstauden in den Rabatten, welche die Domplatte zur Straße Am Hof sowie zum Römisch-Germanischen Museum hin abschließen. Die Rhizome des indischen Blumenrohres sind stärkereich und schmecken ein bisserl wie Süßkartoffeln; allerdings sollte man sie einige Stunden lang kochen, da sie sehr faserreich sind. In Asien werden die Blumenrohrknollen auch gerne zu Glasnudeln verarbeitet, was wiederum vortrefflich zu den Bambustrieben passen dürfte. Vergesellschaftet sind die Stärkelieferanten auf der Domplatte mit Tagetes, also der orangegelben Studentenblume. Diese wiederum wird kommerziell zur Gewinnung des Gelbpigments Lutein angebaut. Nicht nur wird dieses Carotinoid als Lebensmittelfarbstoff E161 b sowie als Futtermittelzusatz bei Hühnern zur Gelbfärbung des Eidotters eingesetzt, sondern es ist auch für die hiesigen Pflastermaler von Interesse: Mit dem vermehrten Einsatz des Rabattengelbs könnten die Kreidekünstler Kosten sparen; dies böte sich besonders bei Motiven an, die einen hohen Gelbanteil aufweisen, etwa dem Gesicht der Mona Lisa oder bei Vincent van Goghs Sonnenblumen.

Begeben wir uns nun vergleichshalber 500 km ostwärts, auf den Potsdamer Platz im Zentrum Berlins. Während die Kölner Domplatte ihre Stunde null mit dem Einmarsch der Amerikaner im März 1945 erlebte, markierte für den Potsdamer Platz der 12. November 1989 die letzte wirkmächtige Zeitenwende, denn an diesem Tag wurde hier ein Stück der Berliner Mauer aufgebrochen und ein provisorischer Grenzübergang eingerichtet. Inzwischen ist der Potsdamer Platz von ähnlichen Trittgesellschaften besiedelt wie der Boden des Platanenhains auf der Kölner Domplatte. Unter dem DB-Fahrradständer am Südrand der Bepflasterung lässt sich auch ein halbseitig zertretenes Hirtentäschel ausmachen. Während am Kölner Dom die Platane Baumart Nr. 1 ist, obliegt am Potsdamer Platz die Leitbaumfunktion der Linde, jedenfalls, wenn wir die Bepflanzung der Grünfläche zwischen Linkstraße und Gabriele-Tergit-Promenade großzügig in unseren Vergleich einfließen lassen. Gemeinhin wird ja die Linde als Baum der Göttin Freyja verehrt, in der germanischen Mythologie zuständig für Ehe und Liebe. Ob diese Beschwörung der Zweisamkeit einen Beitrag gegen die Überalterung unserer Gesellschaft zu leisten vermag? Ein kleiner Tipp an das Berliner Gartenbauamt: Im Allgäu, wo ich wohne, pflanzt man zur Fruchtbarkeitsprovokation Holundersträucher in die Nähe eines jeden Wohnhauses, und die Geburtenraten sind deutlich höher als in der Hauptstadt. 1996 zog ich höchstpersönlich nebst Frau in ein Haus mit Holunderturbo, und schwupp! wurden wir Eltern. Immerhin sind Lindenstämme hervorragend für die Bildhauerei geeignet, und als Blindholz und Absperrfurnier ist es auch für Telefontischchen, Holzpantoffeln und Kuckucksuhren erste Wahl. Außerdem werden aus Lindenholz Klaviertastaturen und Zündhölzer gefertigt; wer will, kann also aus einem Baum Pantoffeln, Uhrkarosserie und einen Klimperkasten basteln und nach Fertigstellung den ganzen Klimbim mit einem Streichholz vom selben Stamm in Brand setzen.

Köln wird von seinem Dom wie durch eine überlange Pfahlwurzel in der Geschichte verankert. Dieser Aufgabe widmet sich in Berlin die Nachbildung der Verkehrsampel von 1924, und was für die Domplatte das «Le Merou», ist für den Potsdamer Platz das «Mommseneck», auch bekannt als «Haus der 100 Biere». Die Terrasse vor dem Gerstensaftladen wird von Pflanzkästen begrenzt, in denen sich ein Großteil des floralen Lebens abspielt. Zwischen Lavendel und Petunien entdecke ich hier auch eine blühende Tollkirsche, bei der u.a. das enthemmende Scopolamin für Stammwürze sorgt. Stylingbewusste Römerinnen sollen vor 2000 Jahren reife Tollkirschen verzehrt haben, um ihre Pupillen zu weiten und so ihre Blicke betörender wirken zu lassen. Das «Haus der 100 Biere» jedenfalls untermauert per Kastenbepflanzung seine Schwippskompetenz.

Während die Domplatte ein durchaus akzeptables Angebot an pflanzlichen Nahrungsquellen präsentiert, liegt der Potsdamer Platz vorne, wenn es darum geht, zügig knülle zu werden. Sollte sich an dieser Stelle eine gewisse Enttäuschung bei allen Berlin-Fans mit gesundem Appetit breitmachen, so empfehle ich einen Abstecher ins angrenzende Sony-Center, dessen Innenhof aufgrund seines Glasdaches durch subtropisches Klima besticht. Bereits auf der zuleitenden Bellevuestraße grüßt eine dreikäsehohe Areca-Palme mit, wenn ich mich nicht verzählt habe, 549 Blättern. Direkt hinterm Eingang des Sony-Treibhauses bewirbt die Gaststätte «Kaisersaal» auf einer Falttafel «Fancy cakes» und «Kaiserschmarr’n» und lässt sich dabei von einem mageren Rhododendron assistieren. Seinen Kümmerwuchs verdankt der Tafelwächter einer bei Rhododendren häufigen Wucherung, den sogenannten Alpenrosen-Äpfeln, auch «Ohrläppchenkrankheit» genannt. Wir trösten den Rhododendron ein Weilchen und wenden uns dann den beiden Großpalmen zu, die in wuchtigen Eimern mittig nach Licht lechzen. Wie auf der Domplatte handelt es sich auch hier um Vertreter der Kanarischen Dattelpalme, allerdings gute zwei Meter höher. Der tägliche Ertrag an Palmhonig betrüge bei Pflanzen dieses Kalibers fünf bis zehn Liter Saft, allerdings nur über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten; danach sollte man der entsafteten Pflanze einige Jahre Ruhe gönnen. Ein Kehrmaschinist des Center-Managements, den ich frage, wann denn die Palmen das letzte Mal gemolken wurden, zuckt mit den Schultern und feudelt davon. Etwas ratlos wende ich mich der Gaststätte «Lindenbräu» zu, die ihr Tischkontingent mit feinem Sinn für Ironie per Thuja in Töpfen begrenzt. Die beliebten Friedhofsbäume stammen ursprünglich aus der Chicagoer Gegend und riechen angenehm nach Apfel, wenn man ihre Blattspitzen zwischen den Fingern zerreibt. Der benachbarte Gastronom (Tagesgericht: Eisbein mit Sauerkraut) bevorzugt hingegen Eiben als Einhegegrünzeug. Ah! Eiben haben einen besonderen Berlin-Bezug: Als 1851 das preußische Herrenhaus, heute Tagungsort des Bundesrates, errichtet werden sollte, setzte sich Friedrich Wilhelm IV. persönlich für den Erhalt zweier Eibenbäume im Garten ein, auf denen er bereits als Kind herumgeklettert war. Die Baupläne wurden entsprechend geändert; allerdings sind die Originaleiben heute nicht mehr erhalten. Nun ja. Sie, liebe Leser, werden jetzt vielleicht ob dieser etwas schlichten Geschichte Ihre kraniale Nasenwurzel runzeln, aber: Was soll ich machen? Es handelt sich, bitte glauben Sie mir, um DIE klassische Eiben-Anekdote, immer dann beizusteuern, wenn die immergrünen Hartholzlieferanten und die Stadt Berlin in einem Zusammenhang Erwähnung finden – also auch hier.

Übrigens, kleine On-top-Info für alle Baumbegeisterten: Verlässt man das Sony-Center über den Nordost-Ausgang in Richtung Bellevuestraße, so passiert man ein Spalier aus jungen Pappeln der Sorte «Populus Nigra Italica», die durch ihr steil nach oben wachsendes Geäst leicht bestimmbar sind. Diese Züchtung wurde von Napoleon Bonaparte in Auftrag gegeben, der sich einen schnellwüchsigen Schattenspender für seine Heerstraßen wünschte. Die «Italica»-Schwarzpappel gehört somit zu jenen Innovationen, welche auf die militärisch orientierte Wissenschaftsförderung Napoleons zurückgehen, ebenso wie Margarine und Konservendose. Dass ausgerechnet vor den Toren des Potsdamer Platzes pflanzlich an den großen Korsen erinnert wird, beweist das Geschichtsbewusstsein der Gartenarchitekten: Im Oktober 1806 ritt Napoleon an der Spitze seiner Truppen in die preußische Hauptstadt ein, nachdem Friedrich Wilhelm III. nebst Hof gen Königsberg ausgewichen war. Auf die kampflose Übergabe Berlins an die Franzosen geht der berühmte Satz «Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht» zurück. Und mit diesem Gedanken halte ich die Klappe, verlasse die Botanik, steige hinab in die Einkaufsarkaden und kaufe ein paar Blasenpflaster.

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Das Blasenpflaster als politisches Bekenntnis

Konsumgüterforschung ist eines meiner Steckenpferde. Bereits als Grundschüler habe ich viel Freizeit in Supermärkten verbracht und die Inhaltsbezeichnungen von Fruchtsaftgetränkegrundstoffen wie «Quench» mit jenen von «TriTop» verglichen. Die Produktvielfalt des Einzelhandels ist eine der großen Kulturleistungen des Menschengeschlechts; in jedem Regal offenbart sich – bei genauem Hinsehen – die ganze Bandbreite unserer gestalterischen Potenz, nicht zuletzt in philosophisch-politischer Hinsicht. Ich trage zu dick auf, meinen Sie? Von wegen.

Vor mir liegen vier Schachteln. Alle vier enthalten Blasenpflaster; ein Produkt, mit dem ich in den letzten Jahren sporadisch zu tun hatte, und zwar immer dann, wenn ich unter besonders heftigem Ohrenschmerz litt. Nein, Spaß beiseite, die Ruhe bleibt, natürlich helfen Blasenpflaster gegen Blasen, nicht jedoch gegen Ohrenschmerz. Oder etwa doch? Haben wir Blasfüßler eventuell bisher eine heimliche Subfunktion übersehen? Auch diese Frage gedenke ich nunmehr ein für alle Mal zu klären, und zwar im Rahmen des großen Blasenpflaster-Tests. Ich habe mir extra ein Wochenende frei genommen und meine Füße aufwendig präpariert: Nach den botanischen Spaziergängen 25 Kilometer sockenfreier Trimm-Trab in holländischen Holzschuhen, gestern dreingeberisch Pömpsalarm; meine Frau war so lieb, mir für einen Tag ihre rotesten Stöckelschuhe zu überlassen. Die Hochhackerei war natürlich für mich als herkömmlichen Heteromann bereits ein einprägsames Unterfangen; kleinmütig hatte ich mir vorgenommen, nur im Notfall die eigenen vier Wände zu verlassen, aber ausgerechnet gestern kam mir ein Eiltermin in die Quere: Um 17.20 Uhr rief die Zahnarztpraxis an und erkundigte sich, wo ich denn bliebe; ich hätte mich doch für fünf auf ein Stündchen professionelle Zahnreinigung angekündigt. Im ersten Moment liebäugelte ich mit der Wahrheit, nämlich, dass ich das komplette Wochenende mit einem Blasenpflaster-Test beschäftigt sein würde, aufgrund meiner vorfreudigen Euphorie den Termin jedoch verschlunzt hätte und im Übrigen den Tag auf Stöckelschuhen verbrächte. Es gibt jedoch einfache Wahrheiten, die kometengleich einen Schweif komplexer Sekundärfragen nach sich ziehen, die zu beantworten mir Lust und Laune fehlten. Also schmetterte ich ein «Komme sogleich» in den Hörer und stöckelte in Höchstgeschwindigkeit zu Dr. Sandmann, dessen Praxis sich praktischerweise bei mir direkt ums Eck befindet. Klingeln, Treppenhaus, Türöffner, kurz durch den Spalt linsen – aha, das Fräulein am Empfang fixiert den Monitor ihrer EDV-Anlage, also husch-husch ran an die Rezeption, damit die Theke mein Schuhwerk verdeckt. Eigentlich Quatsch, dieses verklemmte Versteckspiel, zumal das Klack-klack der Stilettos umso enttarnender wirkt, je zügiger man von Sichtschutz zu Sichtschutz hastet. Also: Schluss mit der Paranoia und so tun, wie wenn nichts wäre. Ins Wartezimmer musste ich nun nicht mehr, war ja quasi überreifes Bohrobst, wie man unter Zahnärzten so zu sagen pflegt, wobei ich ja nur zur Reinigung antanzte; der Bohrer hatte Ausgang. Was Frau Kurbjuweit von meinen Schuhen hielt, weiß ich nicht; sie gab sich wortkarg, und in ihrem Gesicht ließ sich keinerlei Schamreaktion ablesen, denn sie trug einen pfefferminzfarbenen Mundschutz. Ihre satttürkisblauen Augen waren während der Plaquerei betont konzentriert in meinen gesperrangelten Mund gerichtet. Keinerlei Zuckpupillen oder andere Auffälligkeiten. Ich horchte am Ultraschall vorbei in meine Füße hinein. Es spannte, pochte und quietschte – 1 a. Der gestrige Holzschuhsport hatte meinen Quanten bereits ordentlich zugesetzt, meine Testertravestie würde nun einen ausreichenden Blasenwurf perfektioniert haben. Noch einmal ausspülen, dann goodbye und klack-klack ab nach Hause.

Vor dem Zubettgehen führte ich einen eingehenden Geläufcheck durch. Schmerz erdwärts, geschwielte Zehenrandrötungen, und, als wertvolle Krönung: ein Heckleck mit Panoramablick aufs Fersenbein.

Kurz vorm Einschlafen ergriffen mich unter dem doch arg lästigen Klopfen meiner Selbstverletzungen gewisse Zweifel. Ob ich mich nicht doch besser für einen «großen Nosehair-Trimmer-Test» hätte entscheiden sollen? Nasenhaarrasierer haben mich schon immer fasziniert, im zollfreien Verkauf an Bord großer Flugzeuge bin ich schon oft drüber gestolpert, und immer habe ich mich gefragt, warum denn gerade im Luftverkehr Nosehair-Trimmer feilgeboten werden. Die füllerförmigen Zinkenschneider scheinen die Entsprechung des Tomatensaftes im Weißwarenbereich zu sein – Tomatensaft wird ja auch mit Vorliebe über den Wolken verzehrt. Wie? Sie können mit dem Wort «Weißwaren» nichts anfangen? Es handelt sich um einen Fachbegriff aus der Welt des Elektrofachhandels. Ich habe mal vor ein paar Jahren für die Firma «Bosch» auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin moderiert, im ersten Jahr, in dem eben nicht nur Hi-Fi-Geräte, fachsprachlich «Braunwaren», vorgestellt wurden, sondern auch Waschmaschinen, Brotschneider und Nosehair-Trimmer, eben sogenannte «Weißwaren». Jetzt wissen Sie Bescheid und können demnächst im Media Markt viel selbstbewusster auftreten. Warum nun Blasenpflaster? Gegen den Großen Nosehair-Trimmer-Test sprachen, um es ganz offen auszusprechen, Kostengründe. Ein Nosehair-Trimmer kostet mindestens zweistellig, und eine Handvoll Neutrimmer zu kaufen, nur um jeden dann testhalber einmal ins Nasenloch einzuführen, weil man ein privates Faible für die vergleichende Konsumgüterforschung hat – derlei Extravaganzen kommen mir nicht nur deka-, sondern sogar hektodent vor. Klar, man hätte die Trimmer danach allesamt lieben Mitmenschen zum Geburtstag schenken können, aber, Hand aufs Herz, verschenkt man gebrauchte Nasenhaarschneider? Nein. Gebrauchte Blasenpflaster natürlich auch nicht, das Preis-/Leistungsverhältnis ist jedoch wesentlich besser; man bekommt viel mehr Test fürs Geld – dies aber jetzt nur am äußersten Rande.

Jedenfalls schlief ich denn doch zügig ein, und nun sitze ich hier bar- und beulfüßig vor meinen vier Schachteln.

Beginnen wir mit dem ersten Eindruck. Aber mit welcher Schachtel anfangen? Natürlich mit jener ganz links. Dies bietet sich an, denn unter der Prägung des Lesens wandern unsere Augen bei der Bildbetrachtung normalerweise von links nach rechts. Ein Phänomen, das sich auch Hollywood zunutze macht; der Gute tritt immer von links ins Bild. Will sie jedoch den Zuschauer irritieren, so lässt die Regie von rechts antreten. Das Auge des Betrachters wird quasi gegen den Strich gebürstet. Bisweilen frage ich mich, wie denn so gedrehte Filme in Arabien rezeptiert werden; die arabische Schrift liest man immerhin von rechts nach links. Ist Hugh Grant dann immer der Böse? Bleibt Hollywood in Mekka auf ewig unverstanden? Oder handelt es sich um ein psychologisches Kinkerlitzchen, ohne Wirkung auf irgendwas?

Wie auch immer: linke Schachtel. Hansaplast. Eine Pappschachtel in Führerscheinformat, Dicke ein Zentimeter, in der pfefferminzgrünen Farbe des Mundschutzes von Frau Kurbjuweit. Das Grün verliert zur Schachtelmitte hin an Farbkraft und gebiert im Zentralbereich konsequentes Klinikkachelweiß, welches rechterseits die Darstellung eines Damenfußes unterlegt. Der Damenfuß ist augenscheinlich unbeblast; eine Hand ragt von oben durch den Farbverlauf ins Bild und belegt oberseitig den Fuß. Erster Eindruck: Diese Schachtelgestaltung hat Hand und Fuß. Links daneben ein Blasenpflaster, das sich aufgrund seiner Durchsichtigkeit kaum vom Hintergrund abhebt. Interessant: Die Darstellung des Pflasters ist ebenso groß wie die von Hand und Fuß. Dies legt verschiedene Deutungsmöglichkeiten nahe; entweder die in der Schachtel enthaltenen Pflaster sind ca. 40 Zentimeter lang, oder Hand und Fuß sind in Originalgröße abgebildet und gehören einem Zwergenmodel, oder der Schachtelkünstler kombinierte kühn zwei Maßstäbe. Meine Damen und Herren, Alice im Wunderland wird Ihnen präsentiert von: Hansaplast. Mal schauen, was der Begleittext hergibt. Oben/groß: «Blasen-Pflaster». Nanu! Schreibt man Blasenpflaster etwa mit Bindestrich? Ja lecko mio, da schau her! Sogleich den Duden konsultieren. «Blasenpflaster» hat keinen eigenen Eintrag, wohl aber «Pflaster», althochdeutsch Pflastar, lateinisch emplastrum gleich Wundpflaster. Aha! Wundpflaster ohne Bindestrich – was darauf hindeutet, dass Blasenpflaster ebenfalls ohne Strichbindung geschrieben wird, jedenfalls gemäß Duden. Natürlich kann Pappschachteln jeder beschriften, wie er will, es gibt ja kein Pappschachtelbeschriftungsgesetz. Wahrscheinlich geht’s um die Instant-Lesbarbarkeit, diese wird durch den Bindestrich erhöht, oder der Autor hat geschlunzt. Unter Zwergenfuß und Monsterpflaster lese ich: «Extra starke Klebkraft an den Füßen» – ein Hinweis, der bei mir ein gewisses Unbehagen auslöst. Steckt aber gewiss keine Intention hinter. Der Dichter ist ganz bestimmt weder Gruselfreak noch Sadist, sondern, viel besser: Werbetexter.

Ein Wort zur Marke: Paul Beiersdorf entwickelte gemeinsam mit dem Dermatologen Paul Gerson Unna 1882 die sogenannte «Guttapercha-Pflastermulle», bei der es sich mitnichten um einen madagassischen Maulwurf handelte, sondern eben um das erste selbstklebende Pflaster. Nach dessen Patentierung wurde die Beiersdorf-AG gegründet, die 1890 an Oscar Troplowitz verkauft wurde, den großen alten Mann der innovativen Kosmetik. Mit dem Drehhülsengehäuse revolutionierte er die Lippenpflege, und mit «Nivea» schmierte er sich porentief in das Bewusstsein der westlichen Zivilisation. Die ersten «Hansaplast»-Pflaster gingen aus der erfolgreichen «Leukoplast»-Baureihe hervor und klebten erstmals 1922. Hansaplast ist also ein echter Klassiker, und außerdem schwingt in dieser Marke etwas elegant Hansestädtisches mit: der Hafen, der Bürgersinn, das Bekenntnis zur Republik. Was steht auf dem Schild des Roland, des Riesen vorm Rathaus zu Bremen? «Vryheit do ik ju openbar», und überm Eingang zum Schütting, dem Haus der Kaufmannschaft, lesen wir: «Buten un binnen, wagen un winnen» – Solidität trifft im Hansestädtischen also auf Toleranz, Mut und globales Denken; kurz, auf der pochenden Blase pappt ein Pflaster von Welt.

Wenden wir uns nun der nächsten Schachtel zu. Wobei Schachtel kaum der treffende Begriff ist; es handelt sich eher um ein Schatüllchen, ein Plastiketui im Scheckkartenformat, von der Seite betrachtet einem Ferraribug ähnelnd, radikal aerodynamisiert. Verstehe, es handelt sich offenbar um Sportpflaster. Farbgestaltung satttürkis wie die Augen von Frau Kurbjuweit. Das Etui ist von einer rechteckigen Pappe zweidimensional ummantelt, oder, ums zu verdeutlichen: Stellen Sie sich einen sehr stark abstrahierten Krokodilschädel im Profil vor, der eine passgenau kieferkompatible Beute zwischen den Zähnen trägt. Das Auge des Krokodils wird vom markant hervorgehobenen «C» des Markennamens «Compeed» gebildet. Die Pappe soll das Produkt wahrscheinlich optisch vergrößern und auf Augenhöhe mit der verschachtelten Konkurrenz bringen. «Compeed» deutet ja bereits an, dass das kompetitive, das wettbewerbsorientierte Element bei diesen Blasenpflastern im Vordergrund steht.