Im Zelt - Wigald Boning - E-Book
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Im Zelt E-Book

Wigald Boning

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Beschreibung

Das verrückteste Campingexperiment aller Zeiten. Zelten – da denkt man an Sommerurlaub, romantische Abende am See, an Lagerfeuer, Luftmatratzen und Grillwürstchen. Vielleicht noch an Mücken. Was aber, wenn das Zelt zum Schlafplatz im Alltag wird? Und zwar über Herbst und Winter hinweg, bei Wind und Wetter, über 200 Nächte am Stück? Wigald Boning probiert es aus. Er sagt Matratze und Federbett ade und schläft draußen: auf Campingplätzen und in Flussbetten, auf Häuserdächern und Balkonen, am Strand und auf Parkbänken. Was er dabei erlebt und welcher Traum dabei in Erfüllung geht, erzählt er in diesem Buch.

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Seitenzahl: 304

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Wigald Boning

Im Zelt

Von einem, der auszog, um draußen zu schlafen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das verrückteste Campingexperiment aller Zeiten.

 

Über Wigald Boning

Für Karl-August Tapken

1 Idee

Hitze. Entsetzliche Hitze. Der heißeste Tag des Jahres. Ich lungerte im schattigen Innenhof jenes Münchener Hauses herum, in dem ich wohne, schleppte mich dann in der Hoffnung auf größere Abkühlung zurück in die Wohnung, entledigte mich schließlich nach stummen Schwitzestunden meiner Kleidung und duschte kalt. Die Erfrischung hielt nicht lange vor; wie auf einer Herdplatte verdampfte das kühle Nass auf meiner Haut, und nach weniger als einem Viertelstündchen fühlte ich mich wieder maladiös überhitzt.

Diese Hundstage sind nichts für mich. Bereits als semmelblonder Bub konnte ich den Hochsommer nicht verknusen, sehnte mich in kühle Gründe und war äußerst anfällig für Sonnenstiche. Im Alter von zehn Jahren begann ich damit, heiße Nächte nicht in meinem Kinderzimmer, sondern auf der Terrasse meines Elternhauses zu verbringen, bei besonders hohen Temperaturen auch gerne ohne Unterlage, auf dem blanken Waschbeton. Als junger Erwachsener verstieg ich mich zu der Behauptung, in einem vorigen Leben ein Shetland-Pony gewesen zu sein: gedrungen, robust und kälteunempfindlich. Nachdem dieses launige Bekenntnis meine Zuhörer erheiterte, pflegte ich die Pony-Legende in meinen persönlichen Anekdotenfundus ein und erzählte sie immer häufiger, bis ich vergaß, dass ich sie mir nur ausgedacht hatte, und sie fester Bestandteil meines Selbstbilds wurde.

Jetzt schrieben wir den August 2015, und die Quecksilbersäulen touchierten die Vierzig-Grad-Marke, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob die modernen Thermometer überhaupt noch auf Quecksilberbasis arbeiten, wegen der Giftigkeit des Schwermetalls. Ist das ungesunde Element nicht schon vor langer Zeit aus dem Messverkehr gezogen worden? Über diese Frage grübelte ich eine Weile nach, bis die Grübelei einem ziellosen Gebrüte wich; meine Augenlider verdeckten die Pupillen zur Hälfte, und ich schnappte müd’ nach frischer Luft.

Am Spätnachmittag stellte ich mich erneut unter die kalte Dusche, und unter dem frischen Strahl sprang ein Linderungsgedanke ins erhitzte Hirn: Wie wär’s, wenn ich zur Isar radelte, um die kommende Nacht an ihrem Ufer zu verbringen? Das Wasser der Isar ist auch im Sommer gebirgsfrisch, und an ein Ein- oder gar Durchschlafen im heimischen Bett war bei dieser Witterung nicht zu denken. Ich erinnerte mich an meine Waschbetonnächte als kleiner Wigald, damals, in der Reihenhaussiedlung in Oldenburg, entstieg erquickt und von plötzlichem Tatendurst ergriffen der Dusche, packte Schlafsack und Isomatte ein und radelte los.

Beißender Grilldunst hing über dem Isartal; Tausende tummelten sich an den kiesigen Gestaden und suchten ihr Heil im Hopfensaft. Ich hielt die Luft an und rollte auf meinem Klapprad durch die Steak-Schwaden, den Rucksack geschultert. Es dauerte lange, bis ich einen geeigneten Schlafplatz fand: Satte sieben Kilometer südlich vom Stadtzentrum, hinter der Großhesseloher Brücke, erspähte ich im Flussbett eine Kiesbank. Mit leichtem Herzklopfen stieg ich vom Rad. Abenteuerlust ergriff mich. Das Eiland war an die dreißig Meter lang, acht Meter breit und ragte kaum zwei Handhöhen aus dem munter sprudelnden Fluss heraus. Nur einige ausgekohlte Feuerstellen wiesen darauf hin, dass sich schon Menschen auf der Insel aufgehalten hatten. Ich stand am Ufer und versuchte, den Schlafplatz in spe zu evaluieren. Offenbar konnte die Insel durch eine Furt erreicht werden, ich würde also immerhin nicht zu Bett schwimmen müssen. Auf Erfahrungen bei der Beurteilung von Schlafinseln konnte ich allerdings nicht zurückgreifen; weder war ich bei den Pfadfindern noch bei der Bundeswehr gewesen. Ob der Wasserspiegel über Nacht ansteigen konnte, sodass ich Gefahr lief, im Schlaf davongeschwemmt und via Donau ins Schwarze Meer gespült zu werden? Andererseits erschien mir die Insellage besonders sicher: Böse Buben, dachte ich mir, würden kaum die Mühe auf sich nehmen, den knietiefen Fluss zu durchstiefeln, um mich auszurauben. Auch Ordnungshüter würden mich auf der Kiesbank in Ruhe lassen, denn dass mein Vorhaben eventuell nicht ganz legal sein könnte, hielt ich für durchaus möglich – wir sind immerhin in Deutschland.

Meine nachmittägliche Jammerlappigkeit war forschem Entdeckergeist gewichen, und als ich in der Unterbux mein Klapprad durchs Wasser schob und den unbeschuhten Fuß aufs namenlose Eiland setzte, fühlte ich mich wie James Cook im Moment der Entdeckung Australiens. Leider hatte ich keinen Wimpel dabei, den ich zur Inbesitznahme hätte aufstellen können; ersatzweise entfaltete ich den Ständer meines Klapprades, parkte es possessiv am höchsten Punkt der Insel und erklärte mich gönnerhaft zu ihrem Gouverneur. Dann entrollte ich die mitgebrachte Isoliermatte, ein billiges Modell aus dem letzten Jahrtausend, das ich im Keller gefunden hatte, und drapierte den Schlafsack obendrauf.

Drei ältere Damen schipperten in einem Gummiboot vorbei, in Richtung Innenstadt. Auf dem Bugwulst hatte die älteste gleichsam als Galionsfigur Platz genommen, die zwote hielt den Luftkahn auf Kurs, die dritte bewachte die Ladung, nämlich einen Kasten Bier. «Ist’s noch weit bis zum Tierpark?», fragten die drei Leichtmatronen im Vorübertreiben, und ich rief zurück: «Noch ein Kilometer! Bei der dritten Brücke rechts anlegen!» Mit artigem Dank verschwand das Boot flussabwärts – dies war mein erster und letzter Sozialkontakt auf «meiner» Insel.

Güldenes Dämmerlicht verlieh der Szenerie ausgeprägte Märchenhaftigkeit; Steinfliegenschwärme schwirrten zwischen den bewaldeten Steilufern umher, vereinzelt sprangen kapitale Salmoniden aus der Flut. Von beiden Ufern drang Musik an mein Ohr: Im Biergarten der Waldwirtschaft am Sollner Ufer spielte an diesem Samstag eine Jazzkapelle, von der Perlacher Seite wehten die Bee Gees herüber. Night Fever, Night Fever! Die Doppelbeschallung begleitete mich bis tief in die Nacht. Dies war eine meiner ersten Lektionen: Wer draußen übernachtet, hört Nachtigallen trapsen – mindestens. Manchmal wird’s auch ganz schön laut, und samstags wird gefeiert; zum Thema Schall und Schutz komme ich später noch ausführlich.

Es wehte ein laues Lüftchen, die Füße hielt ich ins Wasser – schon jetzt war ich begeistert von meiner Idee, der Hitze hierher zu entfliehen.

Als es dunkel war, bestaunte ich die Beleuchtung der Großhesseloher Brücke, einer kühnen Stahlkonstruktion hoch über der Isar, auf der die Eisenbahnen zwischen München und dem Tegernsee verkehren. Die eleganten Scheinwürfe der Leuchtkörper am Gleis bezauberten mich. Noch ergreifender schien aber der volle Mond über meinem Kopf, den ich ausgiebig betrachtete, in Rückenlage, meinen Fahrradhelm als Kopfkissen untergelegt. Erst zur Geisterstunde schlüpfte ich in den Schlafsack und schloss die Augen. Mit wohligem Rekeln quittierte ich das Rauschen des Flusses, die frische Nachtluft, die letzten Musikfetzen von den Partymeilen des Münchener Südens und sank in jenen flachen Schlaf, der gelungene Premierennächte auszuzeichnen pflegt: Tief ist er nicht, wohl aber erquickend. Wie sagte Friedrich Schiller? «Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne». Oder war’s Hermann Hesse? Ich komme mit diesen Zitaten immer ein wenig durcheinander, zumal bei Schlafmangel. Bitte sehen Sie’s mir nach, wenn ich im Verlauf meines Berichtes die Weisheiten nicht immer korrekt ihren Urhebern zuzuordnen weiß – denn über einen Mangel an Schlaf konnte ich mich in den letzten Monaten fürwahr nicht beklagen. Manchmal war ich so müde, dass ich mitten im Satz einschlie…

Am nächsten Morgen erwachte ich in einem Zustand überbordender Euphorie. Ich war Insulaner, Herr über einen kiesigen Keil, umtost von Alpenwasser. Der Morgen war frischer als an den Tagen zuvor, und ich fühlte mich im Vollbesitz jenes Gutes, nach dem heutzutage alle Welt jagt: Glück. Genau, dieses Kleeblatt- und Schornsteinfeger-Ding, «The Pursuit of Happiness», wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt. «Draußen zu schlafen macht glücklich!», fabulierte ich mit fester Stimme, um sogleich innezuhalten. Stimmt das überhaupt? Oder bilde ich mir das ein, schwabbelsinnig, weil ich gestern zu viel Sonne abbekommen habe?

Ich stand an der Nordküste der Boning-Insel und dachte nach. Es war Sonntag, sieben Uhr, das Isartal menschenleer. War Draußenschlafen tatsächlich der Heilige Gral, das Geheimnis des Glücks? Und wie könnte man diese Frage gesichert beantworten? Spontan zeichneten sich die Umrisse eines Experiments ab. Nicht nur eine Nacht müsste man draußen verbringen, sondern mehrere. Je mehr, desto besser, denn erst ein Langzeitexperiment liefert verlässliche Daten. Mit einer Mischung aus kindlicher Neugier und wissenschaftlichem Ernst begutachtete ich meine Lebenssituation: Ich lebte alleine und seit einiger Zeit ungebunden; niemand würde mich also vermissen, wenn ich meine Nächte in einem Schlaflabor am Busen der Natur zubrächte. Mein Kalender war zum Bersten gefüllt, mit Live-Auftritten, Dreharbeiten, Fernsehshows; ich war als Schauspieler am Berliner Schlossparktheater engagiert und hatte mir fest vorgenommen, so oft wie möglich meine Zwillinge zu besuchen, die bei ihrer Mutter im Allgäu lebten und sich aufs Abitur vorbereiteten. Ich würde also kaum «aussteigen» können, die Brocken hinwerfen oder ein Sabbatical einlegen, nein, das Draußenschlafen müsste in mein reiselustiges, reiselastiges Leben eingebaut werden.

«Frisch gewagt ist halb gewonnen». Horaz? Tick, Trick und Track? Nein, das tapfere Schneiderlein sagte dies. Ich packte meine Siebensachen, schob mein Klapprad durch die Isar und radelte zurück in Richtung Innenstadt. Auf dem Weg reifte der Entschluss, ab sofort mein Schlafzimmer zu meiden. Bis auf weiteres wollte ich mich einer einzigen Regel unterwerfen, die da lautete: Geschlafen wird draußen – komme, was wolle.

Wie weit würde ich’s bringen? Was bedeutet «Langzeitexperiment» in einem solchen Fall? Sollte es bis in den Herbst hinein dauern? Bis in den Winter? Den nächsten Frühling? Würde ich erkranken, und wenn ja: an was? Würde mein Rücken rebellieren? Was mache ich bei Regen, bei grimmiger Kälte, was, wenn ich erst im Dunkeln auf Schlafplatzsuche gehen kann? Wie aufwendig ist das Experiment? Ist die Sache gar lebensgefährlich? Darf man sich überhaupt draußen hinlegen und schlafen? Wird man womöglich ausgeraubt? Bin ich mit meinen bald fünfzig Jahren überhaupt noch physisch in der Lage zu einem solchen Selbstversuch?

Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich an jenem Sonntag im August 2015. Schnell war klar: Ich würde ein wetterfestes Zelt brauchen, das klein genug sein würde, um auf allen Reisen mitgenommen zu werden, ferner allerlei Zubehör, etwa eine Isomatte zum Aufblasen, damit die Bandscheibe nicht bereits in der ersten Woche aus der Façon springt. Mit derlei Ausrüstungsfragen hatte ich mich seit vielen Jahren nicht mehr beschäftigt. Ich hatte in meinem ganzen Leben sowieso nie länger als drei Nächte hintereinander draußen übernachtet, stets mit dem Resultat äußerster Zerschlagenheit. Vor dem Hintergrund dieser Camper-Historie mischte sich eine gewisse Bange in meine Forscherlaune. Gut möglich, dass ich bereits in der dritten Nacht die berühmten Motten kriegte und husch, husch ins Bettchen flüchtete. Um diese Gefahr zu verringern, beschloss ich, es mir so bequem wie irgend möglich zu machen und auf weitere Kasteiungen zu verzichten.

Zu Hause angekommen, startete ich flugs eine kleine Umfrage unter meinen Sportlerfreunden: Welches Ein-Personen-Zelt, welche Luftmatratze hat sich bewährt? Carsten Schneehage, erfahrener Ausdauersportler, der bereits allerlei Wettkämpfe im Wildcamper-Dorado Skandinavien absolviert hat, empfahl als Wetterschutz ein «Hilleberg Akto» – das habe sich in schwedischen Outdoor-Kreisen bewährt. Andere Fachleute in meinem Bekanntenkreis stritten engagiert für die Anschaffung eines «Vaude Taurus» und nannten tausenderlei Details als Gründe, von denen jeder einzelne geeignet war, eine mehrstündige Internetdebatte vom Zaun zu brechen. Sodann brachten unterschiedliche Lobby-Gruppen Matratzen der Firmen «Expeed» und «Mammut» in Stellung, um sich wiederum ruck, zuck über die Vor- und Nachteile dieser Produkte in die Haare zu geraten. Ganz offenbar standen diese Ausrüstungsgegenstände für unterschiedliche Herangehensweisen, ja, Weltanschauungen, war das Ringen der Zelte ein Menschheitsthema, dessen philosophische Brisanz mir bis dato entgangen war. Die Ansichten von Hegel, Fichte, Marx und Schopenhauer mögen zu Diskussionen unter den jeweiligen Anhängern geführt haben, aber in Anbetracht des ewigen Zwists zwischen Hilleberg, Vaude, Expeed und Mammut waren dies nur Bagatell-Dispute. Wer hätte das gedacht.

Abends fuhr ich erneut zu «meiner» Insel. Hundert Meter flussabwärts hatte sich ein Herr in seinen besten Jahren am Ufer eingerichtet, dessen opulente Ausrüstung ich interessiert beäugte: ein geräumiges Kanadier-Boot lag auf dem Kies, Seesäcke, Korbflaschen und Tonnen davor, ein großes Holzfeuer loderte himmelwärts, über dem der Trapper in Tarnfleck armlange Fleischspieße briet. Zwischen zwei Bäumen hatte er eine Zeltbahn gespannt, eine mobile Dusche eingerichtet, und separate Bottiche zum Geschirrspülen und für die Körperpflege warteten mit Frischwasser befüllt auf ihre Einsätze. Den gesamten Hausstand des offenbar alleinstehenden Herrn schätzte ich auf ein bis zwei Tonnen – ohne die Schaschlikspieße. Das wirkte alles hochprofessionell, aber nein: So sah mein Traum vom Glück nicht aus. Ich wollte, musste in der Lage sein, meine Habe in einem Rucksack durch die Welt zu transportieren. Ob dies langfristig möglich war? Keine Ahnung.

Leise Zweifel an meinem Vorhaben begleiteten mich in meine zweite Nacht unter freiem Himmel, die angenehmerweise etwas kühler ausfiel als die vorherige. Also schloss ich den Reißverschluss früher, inspizierte erneut den prallen Mond und seine glasigen Krater und tippte anschließend einen Tagebucheintrag auf meinem Wischfon, den ich sogleich in die sozialen Netzwerke weitergab. «Ich poste, also bin ich», wie René Descartes sagte, gilt auch und gerade in Wildnis & Wissenschaft, denn die Menschheit lässt sich bekanntlich kaum beglücken, wenn man den Schlüssel zum Glück verbirgt oder verbaselt. Also: Hinaus in die digitale Welt mit meinem Unternehmen! Recht bald jedoch war der Akku des Fernsprechgerätes leer, was bereits am zweiten Tag meines großen Experiments zu einer wichtigen Erkenntnis führte: Der Geist ist willig, aber der Akku ist schwach. Das Wirken des modernen Forschungsreisenden auf abgelegenen Inseln wird heutzutage weniger durch eingeborene Menschenfresser bedroht als durch den Mangel an Akkulaufzeit – eine Beobachtung, die ich in den kommenden Wochen und Monaten noch oft machen sollte, nämlich: nahezu täglich.

Doch ich will nicht dramatisieren; auch diese zweite Nacht überlebte ich ohne besondere Vorkommnisse. Dies war sogar die zentrale Erkenntnis des anbrechenden Montagmorgens: Es ist nichts Wildes, Wirres, Schlafraubendes passiert, auch unter freiem Himmel kommt es nicht zwangsläufig zu Zeter und Mordio. Nicht immer ringen Bee Gees mit Jazzstandards, nicht immer drohen ältere Jungfern auf Gummibooten anzulanden. Manch Nacht verläuft völlig störungsfrei. Und mit dieser Erkenntnis radelte ich am nächsten Morgen wieder heim und frühstückte, um mich danach zum Expeditionsausrüstungsfachgeschäft in der Nachbarschaft zu begeben, wo ich mir meine Grundausstattung für den kommenden Lebensabschnitt besorgte.

2 Ausrüstung

Der junge Fachverkäufer im Kaufhaus für Frischluftfreunde kannte sich aus. Er hatte sowohl «Hilleberg Akto» wie auch «Vaude Taurus» vorrätig. «Beide Zelte lassen sich gut in einem Wanderrucksack verstauen und sind ähnlich schwer, nämlich schlappe zwei Kilogramm», erläuterte er. «Der wesentliche Vorteil des Hilleberg: Es trotzt jedem Wetter, bietet dem Wind nur wenig Angriffsfläche und ist absolut wintertauglich. Das Taurus wiederum bietet zur Not nicht nur einer, sondern zwei Personen Platz, wobei sich diese beiden Personen sehr gut kennen sollten», zwinkerte der Fachverkäufer. Da mir in meinem Freundeskreis niemand einfiel, dem ich zutraute, das Experiment gemeinsam mit mir durchzuführen, entschied ich mich für das Hilleberg. «Ist Ihnen die rote Farbe recht?», fragte der Fachverkäufer, und mir kam nicht sofort in den Sinn, welche Bedeutung die Farbe eines Zeltes hat. Ich nickte ahnungslos, und erst in der Praxis lernte ich: Wer gerne unentdeckt in der Natur zelten möchte, ist mit Tannengrün oder Tarnfleck eindeutig besser bedient. Im Notfall wiederum wird ein rotes Zelt besser gesehen, etwa wenn man im Eismeer auf einer Eisscholle sein Zelt aufbaut, abdriftet und vom Hubschrauber aus gesehen werden will. Wobei dieses Beispiel nicht wirklich überzeugt, denn einerseits ist im Eismeer auch ein grünes Zelt unübersehbar, und zum anderen sind Notfälle durch abbrechende Eisschollen in Mitteleuropa äußerst selten. Als Fotomotiv, auch das habe ich inzwischen gelernt, ist ein rotes Zelt besser geeignet, zumal vor grünem Hintergrund. Komplementärfarben beißen sich, und diese Bisse machen Fotos lebendig. Doch wie gesagt: Derlei Aspekte kamen mir damals nicht in den Sinn.

Passend zum Hilleberg erwarb ich einen «Footprint», so nennt der Anglizismenhuber eine Plane zum Unters-Zelt-Legen. So ’ne Zusatzplane soll vor Feuchtigkeit und Durchstichen schützen, etwa von spitzen Steinen im Boden. Ob so was wirklich notwendig ist, kann ich nicht sagen. Man schleppt mehr Gewicht durch die Gegend, aber die Lebensdauer des Zeltbodens wird durch einen Footprint wenigstens nicht verkürzt – so viel ist sicher. Außerdem erhält die sogenannte Apsis, also der überdachte Bereich außerhalb des Innenzeltes, auf diese Weise einen Fußboden, und das dort abgestellte Reisegepäck bleibt – zumindest von unten – trocken.

Warum ich mir überhaupt ein teures Expeditionszelt zulegte und kein preisgünstiges Modell, etwa ein Wurfzelt aus dem Non-food-Segment der Stehcafés? Ja, Wurfzelte sind tatsächlich bestechend schnell aufgebaut. Allerdings sind sie nicht wirklich wetterfest, und zusammengepackt passen sie in keinen Rucksack. Bei mir jedoch muss alles rucksacktauglich sein, damit ich meine Habe auf dem Rücken transportieren kann und die Hände frei habe für die schönen Dinge des Lebens: stricken, streicheln, Klavier spielen, um nur jene Fingerfertigkeiten zu nennen, die mit «Sch» beginnen.

Nach der Zeltberatung ging ich in die Isoliermattenabteilung und besorgte mir eine extrem leichte Luftmatratze der Firma Expeed. Auch bei dieser Anschaffung war für mich das Packmaß entscheidend. So wintertauglich wie nötig, so klein und leicht wie möglich sollte meine Schlafstatt sein. Ja, die «Wintertauglichkeit» war mir bereits jetzt, am dritten Tag meines Experiments, wichtig – in meinem Hinterstübchen waberten Überwinterungsphantasien. «Wennschon, dennschon», wie Friedrich Gottlieb Klopstock zu sagen pflegte.

Am Spätnachmittag radelte ich aufs Neue die Isar aufwärts zur Boning-Insel, um meine Anschaffungen auszuprobieren. Mit äußerster Akribie wählte ich den Bauplatz aus, auf einer Anhöhe nahe dem Nordufer, drei Meter vom rauschenden Fluss entfernt. Ich entfernte alle Glasscherben und Holzpartikel, plättete den Kieselgrund und konnte bereits an diesem Zelt-Premierentag konstatieren, dass die Auswahl eines Zeltplatzes ein kreativer Akt ist, eine künstlerische Tätigkeit. Dass neben der Blickrichtung aus dem Zelt heraus mit all ihren ästhetischen Implikationen auch praktische Erwägungen notwendig sind, etwa die Windrichtung, war mir damals weniger klar.

Ein wesentlicher Vorteil an Kleinzelten ist die Übersichtlichkeit der Baustelle. Neulinge und handwerklich unbegabte Bauherren haben weit bessere Korrekturmöglichkeiten, als wenn sie, sagen wir mal, ein Einfamilienhaus aus dem Boden stampfen. Ruck, zuck ist beim Kleinzelt im Falle eines Irrtums der Footprint neu verlegt, sind dessen Abspannleinen straff gezurrt. Problematisch wird der Aufbau des Zeltes erst bei völliger Dunkelheit, zumal bei Regen oder bei starkem Konzentrationsmangel, etwa nach vielen schlaflosen Nächten hintereinander. Aber dazu kommen wir später. Vorerst war die Hitzewelle vorbei, es herrschte moderates Sommerwetter, ohne Regen, ich war mopsfidel und puppenlustig.

Als das Zelt aufgebaut war, betrachtete ich stolz meinen Neubau, aktivierte die Fotofunktion meines Wischfons, positionierte dieses auf dem Lenker meines Klapprades und ließ den Selbstauslöser jenes Bild knipsen, das den Einband des vorliegenden Druckwerkes ziert. Ganz hinten erkennt man übrigens die Großhesseloher Eisenbahnbrücke und vorne, in meinem Gesicht, die vollkommene Befriedigung desjenigen, der von einem großen Ziel erfüllt ist und weiß, was er zu tun hat.

Richtfest! Aus der Fahrradflasche gönnte ich mir einen guten Schluck, dann wandte ich mich der Innenarchitektur zu. Ich entfaltete die Luftmatratze, blies sie auf und legte sie ins gelbe Innenzelt. Obendrauf der Schlafsack, Gepäck in die Apsis – fertig ist die Laube.

Test, test, one, two. Hui, ist das Hilleberg klein. Lag ich auf dem Rücken, maß der Raum zwischen Nasenspitze und Innenzeltwand kaum eine Elle, und nur am höchsten Punkt, in der Mitte des Wohnraums, konnte man sitzen, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Eine weitere Erkenntnis: Für Platzangsthasen sind Einmannzelte nichts.

Ich wähnte mich spontan in einem Walmagen, und so taufte ich denn auch mein Refugium zärtlich auf diesen Namen. Mein Walmagen und sein Mageninhalt, also ich, wir wurden schnell zu einer Einheit, und bald gesellte sich zum Gefühl der Enge jenes der Geborgenheit. Temple Grandin kam mir in den Sinn, jene autistische Wissenschaftlerin, die Viehhaltungsmethoden erforschte. Rinder werden in sogenannte Pressmaschinen gepfercht, etwa zum Zwecke medizinischer Untersuchungen. Man könnte meinen, dass die Tiere hierauf panisch reagieren, aber das Gegenteil ist der Fall: Sie werden ganz ruhig, ähnlich wie bei einer Massage. Temple Grandin baute sich aus einem Kompressor und einer Sperrholzstruktur eine eigene Pressmaschine, um ihre peinigenden Wutausbrüche zu lindern. Bis heute nutzt sie ihre sogenannte Squeeze Machine.

Nun liegt man im Hilleberg nicht wirklich fixiert, aber die Vorstellung, wie Jonas von einem Wal verschluckt worden zu sein, gefiel mir vom ersten Moment an – zumal ich mich, aufgewachsen in einem bescheidenen Reihenhaus, in großbürgerlichen Zimmerfluchten schon immer verloren gefühlt habe.

Einige Wochen später legte ich mir übrigens auch noch das «Vaude Taurus» zu, und zwar in Dunkelgrün. Drei Gründe gab’s für diesen Zukauf: Erstens lässt sich ein Taurus auch aufbauen, ohne dass man ein Dutzend Heringe ins Erdreich treibt. Die Grundkonstruktion ist fast selbsttragend, und mit ein paar Schaschlikspießen lassen sich die Abspannleinen auch auf gepflasterten Böden befestigen. Zweitens wollte ich auf eventuelle Übernachtungsgäste vorbereitet sein (man weiß ja nie), und drittens gab es schon bald Orte, an denen ich ein Zelt stehen lassen wollte, um nicht täglich auf- und abbauen zu müssen, etwa daheim im Hinterhof. Das Taurus verhält sich zum Hilleberg wie ein Pottwal- zu einem Buckelwalmagen. Um zu zweit im Taurus zu übernachten, empfiehlt sich übrigens eine ganz spezielle Luftmatratze, die Expeed Comfort Duo. Sie ist wintertauglich und passt, wenn man die hinteren Ecken hochklappt, perfekt ins Zelt. Nachteil der dicken Doppelmatratze ist ihr Packmaß: Zusammengerollt entsteht ein Zylinder, der an den Unterschenkel eines Elefanten erinnert und nur mühsam in einen Maxi-Rucksack passt.

Bitte denken Sie nicht, ich sei so ’ne Art Lobbyist und dieses Buch eine Werbebroschüre für Outdoor-Equipment. Ich habe auch den letzten Zeltnagel ohne Nachlass von meinem eigenen Geld bezahlt und bin daher ein völlig unabhängiger Kritiker. So gelungen ich die Expeed Duo finde, so unangenehm waren zum Beispiel meine Erfahrungen mit der kleinen Expeed. Nach einigen Wochen platzte mit lautem Knall eine der Nähte, welche die einzelnen Luftwürste voneinander trennen. Der Schaden breitete sich aus, die Segmentierung verschwand komplett, und es entstand ein aufgeblähter Luftsack, der an eine übergroße Pizza Calzone erinnerte. Haben Sie schon mal auf einer Pizza Calzone übernachtet? Finger weg von diesem Modell! Als Ersatz besorgte ich mir ein vergleichbares Modell von der Firma «Mammut», das bis heute brav seinen Dienst verrichtet.

Wo wir gerade beim Thema Ausrüstung sind: Als sehr hilfreich haben sich tatsächlich Schaschlikspieße erwiesen, zum Zeltfixieren auf Pflasterungen, außerdem breite Spezialheringe für Sand- und Schneeböden. Eine gute Anschaffung war auch eine kaum hundert Gramm leichte Klappmatte, die ich im Winter als Universalmöbel einsetzte, zum Draußensitzen oder als Dornenschutz unter der eigentlichen Isomatte.

Von großer Bedeutung ist der Schlafsack. Mit dem ersten Frost besorgte ich mir ein wintertaugliches Daunenmodell, dessen Anschaffung ich nie bereut habe. Ohne Zweifel entscheidet die Qualität des Schlafsacks über Wohl und Wehe des Draußenschläfers. Gegenüber Kunstfaser lässt sich Daune wesentlich mehr komprimieren, was für Rucksackreisen entscheidend ist. Als Fachmann, der ich heute, nach meinem Experiment, zweifellos bin, empfehle ich dem interessierten Nachahmer einen Drei-Jahreszeiten-Schlafsack und einen Biwaksack als zusätzlichen Kälteschutz. Aber Obacht! Dieser Biwaksack sollte aus atmungsaktivem Material bestehen, etwa aus Gore-Tex. Alte Bundeswehr-Biwaksäcke sind perfekt, man findet sie günstig auf Zweite-Hand-Plattformen in Internet. Ein guter Biwaksack ist natürlich auch ein wunderbarer Wetterschutz, dabei platzsparender als ein Zelt. Privatsphäre bietet er natürlich nicht – im Zelt ist man immerhin vor den Blicken der Mitmenschen geschützt.

Was gehört noch zur Grundausstattung? Beleuchtung. Ganz am Anfang verwendete ich hierfür eine einfache Stirnlampe, später gönnte ich mir eine batteriebetriebene Lampe, die ich am Zelthimmel befestigte. Im Gegensatz zur Stirnlampe leuchtete sie den Walmagen gleichmäßiger aus, was die Wohnlichkeit deutlich erhöht. Für den Außenstehenden wirkt dies wie eine Petitesse, im spartanischen Alltag eines Walmagenbewohners schaffen derlei Details einen angenehmen Anflug von Wohnlichkeit und erhöhen die Lebensqualität. Gerade für denjenigen, der sein Haus auf dem Rücken mit sich herumträgt, gilt: Schöner Wohnen ist Trumpf! Als sinnvoll hat sich auch eine Taschenlampe mit Stromerzeugungskurbel erwiesen. Eine halbe Minute Kurbeln ermöglicht eine halbe Stunde Erleuchtung und kann eine Batterielaterne ersetzen. Weniger gute Erfahrung machte ich mit Solarstrom. Eine Freundin mit Industriebeziehungen beschenkte mich mit einem Solarkollektor, auseinandergeklappt doppeltes iPad-Format. Vielleicht bin ich zu doof oder zu ungeduldig oder hatte Pech mit dem Wetter, jedenfalls schien die Sonne kaum je so stark, dass der erzeugte Strom auch nur für ein Telefonat gereicht hätte, von der Tagebuchführung per Wischfon ganz zu schweigen. Überhaupt könnte ich in diesem Kapitel Hunderte Artikel nennen, die meinen Praxistest nicht überstanden und nun bei mir daheim im Kellerfach liegen. Hierzu gehören z.B. auch Wärmeelemente, Taschenöfen, Knicklichter, aufblasbare Möbel etc.

Als Rucksack erwarb ich ein schwarzes Monstrum. Vorgabe: Er sollte so groß wie möglich sein, aber doch so klein, dass er bei Flugreisen anstandslos als Gepäck akzeptiert wird. In der Praxis befestigte ich an seiner Außenseite zusammengeklappte Tretroller, was den Rucksack zum (ohne Aufpreis transportierten) Sperrgepäck machte.

Was fehlt noch? Wiederverwendbare Kabelbinder, um z.B. den Tretroller am Rucksack zu sichern. Ohrenstöpsel. Feuchte Tücher. Ersatzbatterien beziehungsweise Zusatzakkus fürs Handy.

Last, but not least möchte ich meinen Reichweitenverlängerer erwähnen. Mit diesem Begriff bezeichnet man in der Luftfahrt einen verschließbaren Plastikzylinder vom Format eines Kölschglases, an dessen Unterseite sich ein elastischer Gummisack anschließt. Diese sinnige Konstruktion hat mir unzählige nächtliche Toilettengänge erspart. Als preisgünstige Alternative bieten sich leere Getränkeflaschen an. Vorsicht bei Apfelsaftflaschen. Sie ahnen gewiss, warum.

Meine üppige Utensilienliste verdeutlicht, dass man das einfache Leben an der frischen Luft auch als Hochamt des Konsums zelebrieren kann. Kritik an meiner Materialfülle ist womöglich berechtigt; wer auf radikale Askese Wert legt, eifert vielleicht besser nicht mir nach, sondern dem antiken Kyniker Antisthenes, der weder Zelt noch Schlafsack, sondern lediglich einen doppelt umgeschlagenen Mantel, einen Stock und eine Umhängetasche besaß. Da er die Nächte in seinem Mantel verbrachte, gilt Antisthenes als der Erfinder des Trekking-Tourismus.

3 Hundertwasser

Nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, telefonierte ich mit meiner Managerin Steffi. «Wie? Du willst nur noch draußen schlafen? Im Zelt? Für längere Zeit? Aber ich darf doch weiter ins Hotel, oder?», fragte sie mit deutlich hörbarer Besorgnis in der Stimme. «Selbstverständlich», beschwichtigte ich, «niemand muss draußen schlafen, außer ich. Besser gesagt: Ich WILL draußen schlafen.» Stille in der Leitung. «Es ist ein Experiment.» Wieder Stille. «Ich will wissen, wie sich das anfühlt.» Lange, geradezu dröhnende Stille. Dann meinte ich am anderen Ende der Leitung ein Kopfschütteln zu erahnen, gefolgt von einem auffällig langgezogenen «Oooookay», wie man es gegenüber Begriffsstutzigen verwendet, mit denen es sich nicht zu diskutieren lohnt. Wieder blockierte erdrückende Stille die Telefonleitung, und nach langen, bangen Sekunden hörte ich die äußerst kleinlaut formulierte Frage: «Ist das nicht gefährlich?» – «Gefährlich? Wie meinst du das?» – «Da draußen herrschen Mord und Totschlag!», konstatierte Steffi mit Grabesstimme; ein tremolierendes Zittern verriet ihre ehrliche Panik, und ich wunderte mich, dass ich das zurückliegende Wochenende weitgehend angstfrei verbracht hatte. Wortreich versuchte ich meine Managerin zu beruhigen. Wir arbeiten bereits seit 2004 miteinander, haben einige Höhen und Tiefen erlebt, aber nie hatte ich Steffi so besorgt kennengelernt. Hatte sie recht? Spielte ich mit meiner körperlichen Unversehrtheit? Wetzten gedungene Straßenmörder bereits ihre Messer, stand ich mit einem Bein im Grab? Der kalte Hauch des Todes huschte über meinen Rücken, auf meinen Unterarmen erschien Gänsehaut. Ich erschrak ob meiner bisherigen Sorglosigkeit, wankte kurz, ehe ich von meiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machte und Steffi anwies, bis auf weiteres kein Hotelzimmer mehr für mich zu buchen. In nächster Zeit betraf dies vor allem die Veranstalter meiner Diavorträge zum Thema «Butterbrot und Läusespray – Was Einkaufszettel über uns verraten». Statt eines Hotelzimmers solle man mir lieber einen schönen Zeltplatz besorgen oder, falls es keine «schönen» Zeltplätze in der Nähe des Veranstaltungsortes gibt, wenigstens einen «originellen» – ohne selbst genau zu wissen, was das sein könnte.

Bisher bewegte mich vor meinen Live-Auftritten vor allem die Frage, wie wohl das Publikum auf meinen Vortrag reagieren würde, auch ob die Halle voll ist, wie gut die Technik funktioniert, das kleine Einmaleins des Showgeschäftsmannes eben. Ab sofort galt es, sich im großen Einmaleins zurechtzufinden: Wo schlafe ich? Hat der Veranstalter einen kreativen Vorschlag? Gibt es einen Campingplatz in der Nähe?

Die Reaktionen der Veranstalter waren unterschiedlich: Manche Theater haben Pauschalverträge mit bestimmten Hotels, in die alle Auftretenden einquartiert werden, und empfanden mein Ansinnen als lästigen Sonderwunsch, als schikanöse Extrawurst, die sich der verwöhnte Herr Künstler da braten lassen wollte. Andere Veranstalter sprudelten sogleich allerlei Ideen hervor. Ich nehme mal vorweg, dass lediglich an einem einzigen Ort gar kein Zeltplatz gefunden werden konnte, nämlich in Mannheim. Zelten in Mannheim sei unmöglich, versicherte der Betreiber jenes Kinos, in dem ich im Spätherbst meinen Einkaufszettelvortrag hielt. Der Campingplatz habe geschlossen und anderswo zu zelten sei grundsätzlich verboten – Ende der Diskussion. Ich zuckte mit den Schultern, stieg nach dem Auftritt in den letzten Zug und übernachtete daheim in München, auf dem zu diesem Zeitpunkt bereits bewährten Gitterrost.

Was ich mit «Gitterrost» meine? Zu der von mir in München bewohnten Bleibe gehört ein winziger Gartenanteil im Innenhof, der eigentlich nur aus einem Lichtschacht besteht beziehungsweise dessen Abdeckung, nämlich dem besagten Gitterrost. Mit diesem, nun ja, ungewöhnlichen Freizeitgrundstück hatte ich bisher nur wenig anzufangen gewusst: Gartenmöbel wirkten auf dem Schacht wenig repräsentativ, neigten zu Kippelei, und nicht wenige Besucher hatte Beklommenheit beim Blick durchs Gitter in die Tiefe ereilt. Schließlich hatte ich das Zwergengrundstück gar nicht mehr genutzt – bis ich eben in den letzten Augusttagen 2015 entdeckte, dass mein Taurus passgenau auf diesem Gitterrost Platz fand. Nun finden dessen Heringe weder auf den Metallstreben noch in den Luftlöchern dazwischen Halt. Zunächst band ich die Abspannleinen des Zeltes also ohne Heringe am Gitter fest, später entdeckte ich die Vorzüge jener Klettbänder, mit denen man normalerweise Skier zusammenbindet.

Gegenüber einem herkömmlichen Zeltplatz verfügt ein Gitterrost mit darunterliegendem Lichtschacht über erhebliche Vorteile: Regenwasser kann sich nicht am und im Zelt sammeln, sondern läuft ab, um nicht zu sagen: durch. Zudem verfügt Luft über eine geringere Wärmeleitfähigkeit als eine herkömmliche Zeltwiese, sie isoliert gleichsam. Auf meinem Gitterrost befindet sich also unterm Zelt eine drei Meter starke Isolierschicht. Kein Wunder, dass ich in den Dutzenden an diesem Platz verbrachten Nächten nicht ein einziges Mal gefroren habe – und auch heute, da ich das eigentliche Experiment beendet habe und ich diesen Bericht verfasse, steht weiterhin das grüne Taurus überm Schacht, jederzeit bereit, mir Asyl zu gewähren, wenn’s mir drinnen zu stickig wird.

Einen meiner ersten Auftritte unter den neuen Bedingungen absolvierte ich auf einem Kulturfestival in Braunschweig. Es war ein Sonntag im Spätsommer, ich reiste per Bahn an und wanderte, meinen Hausstand auf dem Rücken tragend, in eine nahe Parkanlage, zu jenem ausgewachsenen Zirkuszelt, in dem ich auftreten sollte. Das Zelt war rot, und als ich mein ebenso rotes Hilleberg neben dem Bühneneingang errichtet hatte, sah es so aus, als habe das Zirkuszelt Nachwuchs bekommen und sich zur sehr großen Mutter ein sehr kleines Zeltbaby gesellt. Ich war begeistert von dem anrührenden Bild, legte mich ins Babyzelt und verbrachte die Zeit bis zum Auftritt mit der Lektüre der Sonntagszeitung. Übrigens war dies das erste und das letzte Mal, dass ich mich für eine so großformatige Lektüre ins Zelt begab – die notwendigen Falttechniken erforderten gar zu viel handwerkliches Geschick.

Die eigentliche Künstlergarderobe betrat ich nur kurz, nutzte die dortige Steckdose zur Akkuladung und verkroch mich anschließend wieder im Walmagen. In der Nacht begann es zu stürmen, und fast wäre ich von einem Bauzaun erschlagen worden, in dessen Schatten ich mich eingerichtet hatte. Mit lautem Rums! traf er eine Abspannleine und riss mich aus dem Schlaf.

Nun habe ich durchaus ein gewisses Faible für originelle Todesursachen, aber noch peinigt mich keineswegs Lebensmüdigkeit. Ganz im Gegenteil: Nichts erfrischt mich so sehr wie markante Ziele, etwa jenes, der zementierten Welt ade zu sagen.

Hier erfuhr ich also das erste Mal auf die etwas brachiale Art, dass Zeltaufbau nicht nur unter kreativ-künstlerischen Aspekten zu geschehen hat, und fortan mied ich Bauzäune ebenso wie morsche Masten, Mauern und Maulbeerbäume – eben alles, was mich im Schlaf erschlagen könnte.

Zeltplätze in unmittelbarer Bühnennähe waren natürlich besonders praktisch. In Gera hielt ich meinen Einkaufszettelvortrag im ehemaligen Kreiskulturhaus. Dieses befindet sich am Rande der Innenstadt, und von der Bühne gelangt man seitlich in eine kleine Grünanlage, in deren Mitte sich ein überwuchertes Ernst-Thälmann-Denkmal befindet. Eigentlich bin ich ja politisch eher liberal eingestellt, aber dennoch freute ich mich wie ein Jungpionier bei der Jugendweihe, als ich mein rotes Zelt zu Füßen des Arbeiterführers errichtete. Die verbleibende Zeit vorm Auftritt verbrachte ich, indem ich Hunderte Doppelporträts knipste: Thälmann und mein Zelt. Überhaupt habe ich das vergleichsweise seltene Genre der Zeltfotografie im vergangenen Jahr um einige tausend Bilder bereichert: die sogenannten Zelfis.

Als Thälmanns Nachbar in Gera benutzte ich die Waschräume des Theaters bereits in der Auftrittspause zum Zähneputzen, damit ich noch während des Schlussapplauses die Zeltluke hinter mir verschließen konnte. Die Nacht verlief dann unruhig. Es war Wochenende, und eine Horde Halbstarker folgte dem Kampfruf «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» und versammelte sich in meiner unmittelbaren Nähe zum Zechen und Krakeelen. Ich verhielt mich marxmäuschenstill und hoffte, von etwaigen Belästigungen verschont zu bleiben. Nachdem der letzte Schreihals seinen Magen vor meinen Abspannleinen entleert hatte, zog Ruhe ein.

Ein besonderer Höhepunkt war mein Gastspiel im Theater in der «Grünen Zitadelle» in Magdeburg. Die Grüne Zitadelle ist der letzte verwirklichte Bau des Wiener Architekten Friedensreich Hundertwasser. In Magdeburg wurde seinerzeit heftig diskutiert, ob das verspielte Gebäude wohl zum Stadtbild passen würde – aus heutiger Sicht eher unverständlich, denn die Grüne Zitadelle ist inzwischen neben dem Dom die wichtigste Sehenswürdigkeit der anhaltinischen Hauptstadt. Im Inneren befinden sich neben dem Theater Cafés, Restaurants, Läden und Privatwohnungen. Die Leute vom Theater riefen wegen mir eine Eigentümerversammlung ein und baten darum, mich im Dachgarten mein Zelt aufschlagen zu lassen. Nach ausführlicher Debatte erhielt ich die Erlaubnis, unter der Bedingung, meine Heringe nicht tiefer als vierzig Zentimeter in die obere Erdschicht einzuführen, was ich persönlich allerdings sowieso für technisch unmöglich halte, da der gemeine Zeltnagel kaum mehr als fünfzehn Zentimeter misst.

Mit heißem Herzen betrat ich am Nachmittag die luftige Landschaft, fünf Stockwerke über der Magdeburger Innenstadt. Wellige Wiesen erinnern an das Teletubbies-Szenenbild, es gibt Obstgärten, Kleingebirge und einen lauschigen Pavillon. Der Theaterleiter überließ mir einen Schlüssel zum Dachgarten, und eine angeheuerte Fotografin schoss Zelfis für die lokale Presse. Zur Komplettierung meines Glücks hatte das Theater sogar eine Grillschale, Holzkohle und eine Kraxe voller Koteletts besorgt. Auch nach diesem Auftritt verschwand ich mit Höchstgeschwindigkeit, bestieg den Fahrstuhl und fuhr hinauf in die Magdeburger Nacht. Auf Ohrenhöhe mit der berühmten Glocke des Magdeburger Doms, auf Augenhöhe mit den explodierenden Raketen eines Festfeuerwerks, blieb ich auch in dieser Nacht schlaflos. Auf dem Dach der Grünen Zitadelle lernte ich jedoch, dass es Schlafplätze gibt, an denen einzuschlafen blanker Frevel wäre. Als Camper war ich nicht mehr nur Besucher, nein, ich wurde Teil des Hundertwasser’schen Kunstwerks. Dass ich in der Hauschronik als erster Dachschläfer der Grünen Zitadelle vermerkt wurde, war und ist mir eine große Ehre. Ach ja; gegrillt habe ich dort oben übrigens nicht; vor lauter Euphorie war mir der Appetit vergangen.

Der Veranstalter in Landau/Pfalz hatte sich mit einem befreundeten Bademeister verständigt und quartierte mich im Freigelände eines Schwimmbads ein. Es war inzwischen Ende November geworden, und hinter den beschlagenen Scheiben sah ich Dutzende Kinder, die mir beim Aufbau meines Zeltes zuschauten. Am Morgen nach meinem Auftritt spendierte mir das Badepersonal einen Kaffee und ließ mich noch vor Betriebsbeginn ein Stündchen Bahnen ziehen.

Bisweilen wurde mir auch der Privatgarten des Theaterleiters zum Übernachten angeboten, etwa bei meinem Gastspiel im Kulturbahnhof Eschweiler. Mein Aufenthalt bei diesen äußerst liebenswürdigen Leuten blieb mir vor allem wegen ihrer Deut