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Ben Shattuck über eine geheime Liebe, die Jahrzehnte später wieder zum Klingen kommt – verfilmt mit Paul Mescal and Josh O'Connor Die Geschichte einer geheimen Liebe, die einen Sommer lang währt – und die ein Leben lang als die »eigentliche Liebe« nachklingt: Im Schatten des Ersten Weltkriegs lernen sich Lionel und David, zwei Musikstudenten, in einer verrauchten Bar im ländlichen Maine kennen und werden Freunde. Nach dem Krieg wandern sie im Sommer durch die Wälder New Englands, um Volkslieder zu sammeln, die sie auf Wachszylinder aufnehmen. Aus unerklärlichen Gründen bricht der Kontakt ab. Als Jahrzehnte später eine Frau beim Aufräumen eines Dachbodens die Wachszylinder findet, erklingt ihre Liebe noch einmal aufs Neue. Ben Shattuck ist eine literarische Entdeckung – ein Wortmagier, der in der Tradition von Joy Williams und John Cheever die Rätsel der menschlichen Seele erkundet.
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Seitenzahl: 93
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Geschichte einer geheimen Liebe, die einen Sommer lang währt — und die ein Leben lang als die »eigentliche Liebe« nachklingt: Im Schatten des Ersten Weltkriegs lernen sich Lionel und David, zwei Musikstudenten, in einer verrauchten Bar im ländlichen Maine kennen und werden Freunde. Nach dem Krieg wandern sie im Sommer durch die Wälder New Englands, um Volkslieder zu sammeln, die sie auf Wachszylinder aufnehmen. Aus unerklärlichen Gründen bricht der Kontakt ab. Als Jahrzehnte später eine Frau beim Aufräumen eines Dachbodens die Wachszylinder findet, erklingt ihre Liebe noch einmal aufs Neue.Ben Shattuck ist eine literarische Entdeckung — ein Wortmagier, der in der Tradition von Joy Williams und John Cheever die Rätsel der menschlichen Seele erkundet.
Ben Shattuck
Die Geschichte des Klangs
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Hanser
Ich war siebzehn, als ich David kennenlernte, damals, 1916. Inzwischen lege ich nicht mehr viel Wert darauf, meine Jahre zu zählen. Es ist April 1984 in Cambridge, Massachusetts. Vor dem Fenster an meinem Schreibtisch schweben seit Tagen kleine weiße Bäusche vorbei, zweifellos irgendwelche Samen, die auf dem Bürgersteig liegen bleiben wie erster Schnee.
Mein Arzt hat mir geraten, diese Geschichte aufzuschreiben, als Mittel gegen die Schlaflosigkeit, die angefangen hat, als ich ein Paket von einer mir unbekannten Person bekam, einen Karton mit fünfundzwanzig Wachswalzen für Phonographen, aufgegeben in Brunswick, Maine. Auf einem mit Klebeband befestigten Zettel stand: Ich habe Sie im Fernsehen gesehen und bewundere Ihre Arbeit. Das hier gehört Ihnen. Ich habe es gefunden, als ich das Haus, das wir gekauft haben, ausgeräumt habe. Ich habe drei Bücher über amerikanische Folkmusik geschrieben — sie waren einigermaßen erfolgreich, daher die Fernsehinterviews —, aber nie über jenen Sommer mit David. Also dann.
Ich sah ihn zum ersten Mal im Herbst nach meinem ersten Semester am New England Conservatory, als ich mit Freunden in einer Kneipe war. Er saß am anderen Ende des Raums am Klavier. Ich weiß noch, dass ich beobachtete, wie sein Hemd am Rücken Falten schlug und sich straffte.
»Und du? Was sagst du dazu?«, fragte mein Freund Sam und stieß mich an.
Ich hatte seine Frage nicht gehört.
»Was siehst du da?«, sagte er und drehte sich um.
»Ich kenne das Lied«, sagte ich. Es war »A Dead Winter’s Night«, mein Vater in Kentucky hatte es auf der Geige gespielt. Ein ruhiges Stück, das Tempo so langsam »wie einer im Sitzen atmet«, sagte er immer. Eine alte englische Ballade aus dem Lake District, wie ich später herausfand, über einen Mann und eine Frau, die gemeinsam vor ihren Familien davongelaufen sind und sich im Wald verirrt haben. Wenn ich jetzt daran denke, erinnere ich mich, wie ich im Sommer auf der Veranda lag, Motten umschwirrten die Laterne, mein Vater klopfte den Takt mit dem Fuß — das Scharren von Schuhleder auf Holz. In den Bäumen zirpten die Zikaden und nähten die Nacht zusammen. Mein Bruder saß auch dabei.
»Entschuldige«, sagte ich zu Sam.
Ich schob mich zwischen den anderen Gästen hindurch zum Klavier und sah David zu. Er hatte die Augen geschlossen und bemerkte mich anfangs nicht. Zigarette im Mund. Das dunkle Haar nach hinten gekämmt. Beim Refrain warf er den Kopf zurück. Ich betrachtete seine Hände.
»Wo hast du das gelernt?«, fragte ich ihn, als das Stück zu Ende war.
»Oh«, sagte er und sah auf. »In irgendeinem Sumpf in Kentucky.« Er schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. Eine tiefe Stimme. Die Worte zu schnell gesprochen. Er spielte mit einer Hand einen C-Akkord und griff mit der anderen nach seinem Glas auf dem Boden.
»Ich bin aus Kentucky«, sagte ich. Die Hand auf den Tasten hielt inne. Er sah wieder zu mir auf.
»Oh, hm, tut mir leid.« Er streckte die Hand aus. »David.«
»Lionel«, sagte ich.
»Was studierst du?«
An dem Abend waren so gut wie alle in der Kneipe Studenten vom Konservatorium.
»Gesang«, sagte ich.
»Tja, fa-la-la. Ich Komposition. Das hier« — er spielte die Melodie noch einmal — »ist ein Hobby. Das mache ich im Sommer. Um an die frische Luft zu kommen. Ich sammle Songs.«
Von der anderen Seite des Raums signalisierten meine Freunde mir, dass sie weiterziehen wollten. Ich winkte ihnen, sie sollten ohne mich gehen.
»Bist du mal in Harrow gewesen?«, fragte ich ihn. »Da bin ich aufgewachsen.«
»Harrow. Vor zwei Jahren im Sommer. Himmelblauer Aussichtsturm in der Ortsmitte.«
Er fand diesen Zufall anscheinend nicht besonders überraschend, und so reagierte ich ebenfalls nicht. Am Konservatorium waren damals nicht viele aus den Südstaaten und absolut keiner aus Harrow, einem Städtchen mit zweitausend Einwohnern zwischen den Flüssen Cold und Solemn. (Ich war in Boston, weil meine Stimme der Musiklehrerin aufgefallen war. Sie hatte einem Freund in Lexington geschrieben, der auf dem Konservatorium gewesen war, und der war nach Harrow gekommen und hatte mir ein Stipendium verschafft.) Aber hier war David, der auf einer seiner Sammeltouren in meiner Heimatstadt gewesen war. Vielleicht hatten wir uns sogar schon mal gesehen. Ich erinnere mich, dass ich Heimweh gehabt hatte.
»Da hab ich einen Reel gelernt«, sagte er. »›Maids of Killary‹, glaube ich.«
»Den kenne ich. Kennst du ›Seed of the Plough‹?«
»Sollte ich?«, sagte er.
Ich sagte, das habe meine Mutter immer gesungen.
»Na dann — lass hören.«
»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
»Welche Tonart?«, sagte er und spielte in absteigender Folge einen Akkord nach dem anderen. Er rückte auf der Klavierbank nach vorn. »Welche Tonart?«, wiederholte er und spielte ein A.
Er hob die Augenbrauen. Ich bemerkte einen Streifen auf seiner Oberlippe, eine Narbe, einen blassroten Strich, den er, wie ich später erfuhr, seinem Vater verdankte.
»Ich glaube, dafür gibt’s keine Klavierbegleitung«, sagte ich.
»Die Bühne gehört dir.« Er schob die Bank zurück, zog die nächste Zigarette aus der Tasche, griff nach der Kerze auf dem Klavier und hielt sie hinter vorgehaltener Hand ans Gesicht. Wartete.
Als ich den Ton benannte, den meine Mutter jeden Morgen hustete, sagte man mir, ich hätte das absolute Gehör. Wenn am anderen Ende des Feldes ein Hund bellte, konnte ich die Begleitung dazu singen. Ich war die Stimmgabel für die Fiddle meines Vaters: Ich stand neben ihm und sang ein A, während er an den Wirbeln drückte und drehte. Anfangs dachte ich, jeder könnte Töne sehen. Sie haben Gestalt und Farbe: Ein D ist ein wackliger Kreis, dunkelviolett wie Heidelbeeren. Ich glich meinen Ton mit dem ab, was ich sah, und gab ihm die richtige Stärke. Als ich dreizehn war, bekamen Töne auch einen Geschmack. Wenn mein Vater ein unsauberes H-moll spielte, war mein Mund von einer wachsartigen Bitterkeit erfüllt. Aber ein perfektes C, und ich schmeckte süße Kirschen. Bei einem D Milch.
Ich sang für David.
Ich hatte immer das Gefühl, dass das, was aus meiner Kehle und meinem Mund kam, gar nicht mir gehörte, dass ich nicht etwas erschuf, sondern stahl. Dieser Körper gehörte zwar mir — das Auf und Ab des Zwerchfells, der Druck in der Kehle, die Lippen und die Zunge, die den Ton formten —, doch das, was ihn verließ, was in meinem Schädel erklang, bis er nicht mehr ein Körperteil, sondern eine Glocke zu sein schien, was meine Trommelfelle und die Nasenhöhle erbeben ließ, gehörte nicht mir. Es war eher wie der Ton, den der Wind über einem Flaschenhals macht. Oder vielmehr wie ein Echo der Stimme, die aus meinem Mund kam. Eine Wiederholung. So kann ich jetzt nicht mehr singen — und es fehlt mir. Jetzt kriege ich nur noch ein lahmes Vibrato zustande, ein leierndes Gebrumm, von dem mir keiner sagt, dass es nichts taugt.
Als der letzte Ton verklang, verblasste das Gelb, und ich schmeckte feuchtes Holz.
»Wo zum Teufel hast du das gelernt?«, fragte David.
Ich zuckte die Schultern.
»Wenn ich so eine Stimme hätte, würde ich meine Zeit nicht in einer Schule verplempern«, sagte er.
Als er aufstand, um sich ein Bier zu holen, sah ich, dass er größer war als alle anderen im Raum.
Wir blieben bis zum Morgengrauen. Er spielte Klavier, ich sang.
Ich konnte ein zweigestrichenes D summen, aber ich hatte noch nie jemanden mit einem solchen Gedächtnis kennengelernt. Später merkte ich, dass er an die tausend Songs im Kopf hatte und eine Melodie nur einmal hören musste, um sie Ton für Ton wiederholen zu können. In jener Nacht — er legte den Kopf schräg, steckte sich einen Finger ins Ohr und summte ein, zwei Töne, um in den Song zu finden — verspielte er sich erst, als er sturzbetrunken war.
»Ich geb dir noch ein Bier aus«, sagte ich, blieb aber neben dem Klavier stehen. In den staubigen Fenstern der Kneipe war graues Morgenlicht.
»Ja«, sagte er. »Wegen dir hab ich die Nacht durchgemacht. Du bist mir was schuldig.«
»Was immer du willst«, sagte ich und sah ihn an.
»Nein. Ich bin müde. Es ist Morgen. Ich geh ins Bett. Ich wohne gegenüber. Bring mich hin.«
Seine Wohnung war kahl: nur ein Bett, ein Klavier und ein Stuhl. Auf dem Boden schmutzige Teller und Gläser, außerdem jede Menge Noten. Kein Tisch. Ich bat ihn um ein Glas Wasser, denn der Raum drehte sich um mich. Er brachte ein Glas aus der Küche und sagte, es sei das einzige saubere. Dann nahm er einen großen Schluck und spie das Wasser in einem dünnen, hohen Strahl zu mir. Ich öffnete den Mund, um es aufzufangen. Er fuhr damit fort, bis das Glas leer und ich nass war, und es gelang mir, ein paar Schlucke zu erwischen. Er stellte das Glas auf den Boden, kam zu mir, nahm mir die Brille ab, faltete sie zusammen und legte sie auf die Fensterbank. Er zog mir das nasse Hemd aus und führte mich zum Bett.
Ich erwachte mit Kopfschmerzen, als die Sonne hoch am Himmel stand und David fort war, und der Raum drehte sich noch immer. Ich war nicht zum ersten Mal betrunken gewesen, aber noch nie so. Ich kroch aus dem Bett und sah auf dem Boden einen Zettel: Bis nächste Woche. Ich trank Wasser aus dem Hahn, füllte das Glas und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich auf den Stuhl setzte und trank, bis das Glas leer war. Dann kroch ich wieder ins Bett und unter die Decke. Als ich kurz vor Sonnenuntergang wieder aufwachte, war er noch immer nicht da, und so zog ich mich an, faltete den Zettel zusammen, steckte ihn ein und ging.