Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan - Georgij Wladimow - E-Book

Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan E-Book

Georgij Wladimow

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Beschreibung

Der treue Hund Ruslan versteht die Welt nicht mehr, als das sibirische Gefangenenlager aufgelöst wird, wo er als Wachhund voller Eifer seine Pflicht erfüllte. Plötzlich hat man keine Verwendung mehr für ihn und jagt ihn davon. Aber Ruslan kann nicht vergessen, wozu man ihn abgerichtet hat, und will beweisen, daß auf ihn Verlaß ist. Diese hinreißend erzählte Geschichte von der Treue der dressierten Kreatur als Gleichnis des zum willenlosen Befehlsempfänger erzogenen Menschen ist ein Meisterwerk der russischen Literatur. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 292

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Georgij Wladimow

Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan

Aus dem Russischen von Tatiana Frickhinger-Garanin

FISCHER Digital

Inhalt

»Was haben Sie getan, [...]123456

»Was haben Sie getan, meine Herren?!« Maxim Gorki, Die Barbaren

1

Die ganze Nacht hatte draußen was geheult, die Laternen knarrend schaukeln lassen, an der Türklinke gerüttelt; aber gegen Morgen wurde es ruhiger, und der Herr kam. Er setzte sich auf den Hocker und rauchte – er wartete, daß Ruslan seine Suppe zu Ende aß. Der Herr hatte seine Maschinenpistole mitgebracht und an einen Haken in der Ecke der Box gehängt. Das bedeutete, daß endlich wieder Dienst bevorstand, und deswegen mußte ohne Zögern, doch auch nicht zu hastig, gegessen werden.

Und gerade heute war ihm ein so großer, vielversprechender Markknochen zugefallen, daß Ruslan ihn am liebsten sofort weggetragen und unter die Schlafdecke geschoben hätte, um ihn später, in Dunkelheit und Einsamkeit, so richtig zu zerbeißen. Aber in Gegenwart seines Herrn genierte er sich, etwas aus dem Napf zu ziehen, er riß nur sicherheitshalber das ganze Fleisch ab. Die Erfahrung sagte ihm, daß er bei seiner Rückkehr den Knochen möglicherweise nicht mehr vorfinden würde. Er leckte das Fett auf, schob dabei den Knochen behutsam mit der Nase beiseite und begann nun, den warmen Brei hinunterzuschlingen, wobei er die Klümpchen, die herabfielen, geschickt wieder auffing.

Der Herr rührte sich plötzlich und fragte ungeduldig: »Fertig?«

Im Aufstehen warf er den Zigarettenstummel weg, der in den Freßnapf fiel und zischte. So etwas war noch nie vorgekommen, aber Ruslan ließ sich nicht anmerken, daß ihn das erstaunte oder kränkte, sondern hob wie stets seinen Blick zum Herrn und bewegte kurz seine schwere Rute, zum Zeichen der Dankbarkeit für das Fressen und seiner Bereitschaft, es sogleich abzudienen. Er erlaubte es sich nicht, noch einmal den Knochen zu begutachten, sondern leckte nur kurz den Napf aus und war mit seiner Mahlzeit fertig.

»Also los, gehen wir!«

Der Herr hielt das Halsband hin, Ruslan streckte ihm bereitwillig den Kopf entgegen und bewegte dabei die Ohren als Antwort auf die Berührungen der Hände seines Herrn, die die Schnalle schlossen, kontrollierten, ob es ihm nicht zu eng sei, und dann den Karabinerhaken in den Ring schoben. Einen Teil der Leine wickelte sich der Herr um die Hand, und das Ende befestigte er am Gürtel – so waren sie während der Dienststunden fest miteinander verbunden und konnten sich nicht verlieren. Mit der freien Hand warf er die Maschinenpistole hoch, fing sie am Riemen auf und hängte sie sich mit dem Lauf nach unten über die Schulter. Und Ruslan nahm seinen gewohnten Platz ein – neben dem linken Bein seines Herrn.

Sie gingen durch den dämmrigen Korridor, auf den alle die mit dickem Maschendraht bespannten Boxentüren hinausführten. Durch den Draht glitzerten feuchte, schräg blickende Augen, die noch ungefütterten Hunde winselten, stießen mit ihren steilen Stirnen gegen den Maschendraht, am anderen Ende jaulte sogar einer vor brennendem Neid – und Ruslan empfand Stolz, daß er heute als erster zum Dienst hinausgeführt wurde.

Aber kaum war die Außentür geöffnet worden, als ein weißes, gleißend helles Licht seine Augen blendete und er mit zusammengekniffenen Augen knurrend zurücksprang.

»Na!« sagte der Herr und riß an der Leine. »Hast wohl zu lange rumgesessen, Miststück! Was bockste denn, hast noch keinen Schnee gesehn?«

Das war es also, was da nachts geheult hatte. Als eine flaumige Decke hatte es sich auf den menschenleeren Platz gelegt, auf die Dächer der Kaserne, der Vorratsschuppen und der Garage, auf die Bänke, um den Kasten für die Zigarettenstummel herum und als Hauben auf die Laternen. Wie oft hatte es das in seinem Leben schon gegeben, aber es war immer wieder sonderbar. Er wußte, daß die Herren »Schnee« dazu sagten, aber er sah nicht recht ein, daß so was überhaupt einen Namen haben mußte. Für Ruslan war es einfach »das Weiße«. Und dieses Weiße deckte alles zu, veränderte alles, was dem Auge und dem Geruchssinn wohlbekannt war; die Welt wurde leer und taub – und fast spurenlos. Nur eine einzige Fußspur war zu sehen; die führte von der Küche zur Schwelle der Hundebaracke und stammte von den Stiefeln des Herrn.

Im nächsten Augenblick drang Ruslan das Weiße in die Nüstern; er tauchte seine Schnauze bis zu den Augenbrauen hinein und pflügte eine Furche durch den Schnee, stopfte sich das ganze Maul voll. Nachdem er tüchtig geschnaubt hatte, bellte er ihm sogar etwas Übermütig-Fröhliches entgegen, das etwa bedeutete: »Was soll das, ich kenne dich!« Der Herr hielt ihn nicht zu kurz, er ließ die Leine in ihrer ganzen Länge aus, und mal blieb Ruslan zurück, mal rannte er vor – schon mit weißem Bart, weißen Wimpern, und er konnte sich nicht beruhigen, nicht satt atmen, nicht satt riechen.

Daher beging er eine kleine Unterlassungssünde: Er schaute nicht dorthin, wo er hinschauen sollte, wenn er zum Dienst geführt wurde. Aber irgend etwas machte ihn stutzig, er spitzte die Ohren und erstarrte. Eine unbestimmte Unruhe ergriff ihn. Rechts waren die von Rinde befreiten Pfähle und der Stacheldraht, dahinter ein ödes Feld und eine dunkle, zerklüftete Mauer von Wäldern und links wieder die gleichen Pfähle, Stacheldraht und ein Stück Feld mit darauf verstreuten Baracken, die so niedrig wie Kartoffelmieten waren, aus Baumstämmen, schon schwarz vor Alter. Und wie immer blickten sie ihn mit ihren reifbedeckten kleinen Fenstern so leer an, als hätten sie den weißen Star. Alles stand an seinem Platz, nichts hatte sich verschoben. Aber eine erstaunliche, eine unerhörte Stille hatte sich über die Welt gebreitet, die Schritte des Herrn versanken darin, als ginge er auf einer Filzdecke. Und merkwürdig: Niemand hinter diesen kleinen Fenstern hatte ein Guckloch in die Scheibe gehaucht, um zu schauen, was sich da draußen so tat (denn die Mehschen unterscheiden sich, was die Neugier betrifft, sonst durchaus nicht von den Hunden!), und die Baracken selbst sahen seltsam flach aus, als wären sie auf das Weiß gemalt, und gaben keinen Laut von sich. Als ob alle, die in ihnen gelebt, gelärmt und gestunken hatten, in einer Nacht gestorben wären.

Aber wenn sie wirklich alle gestorben wären, so hätte er das doch gespürt! Und wenn nicht er, dann die anderen Hunde – jemand hätte ganz bestimmt davon geträumt und hätte die Herren mit seinem Geheul aufgeweckt. »Dort sind sie nicht«, dachte Ruslan. »Wo sind sie nur hingekommen?« Aber er schämte sich sogleich für seinen Mangel an Scharfsinn. Sie waren nicht gestorben, sondern – geflohen. Er zitterte plötzlich vor Erregung, begann laut und heiß zu atmen; er wollte die Leine anspannen und den Herrn hinter sich herziehen, wie es an einigen seltenen, ungewöhnlichen Tagen geschehen war, als sie mehrere Werst immerzu gerannt waren und den Geflohenen dann endlich einholten. Kein einziges Mal war es vorgekommen, daß sie ihn nicht eingeholt hätten! Und dann fing erst der richtige Dienst an, das Schönste, was Ruslan je erlebt hatte.

Aber nicht alles sprach dafür, daß auch heute so etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Er kannte das Wort »Flucht«, unterschied sogar »Einzel-« und »Gruppenflucht«, doch an solchen Tagen gab es dann immer viel Lärm, nervöses Herumlaufen, die Herren brüllten sich aus irgendeinem Grund gegenseitig an, und auch die Hunde bekamen etwas ab und begannen, verwirrt und kopflos, untereinander eine Beißerei, die erst der Befehl zur Verfolgungsjagd beendete.

So eine Stille wie heute aber hatte er noch nie erlebt, und das gab Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen. Anscheinend waren alle Barackenbewohner geflüchtet, und die Herren waren in solcher Eile hinter ihnen her gehetzt, daß sie nicht einmal Zeit gefunden hatten, die Hunde mitzunehmen – als ob es ohne sie überhaupt eine Verfolgung geben konnte! Und deshalb mußten jetzt sie beide allein, der Herr und Ruslan, alle erwischen und zurücktreiben – die ganze übelriechende, wildgewordene Herde.

Er verspürte, wie mit der Kälte Unruhe und Furcht in seinen Bauch krochen, und rannte ein wenig vor, um in das Gesicht des Herrn zu schauen. Auch mit dem war etwas nicht in Ordnung: Er krümmte ganz entgegen seiner Gewohnheit den Rücken und blickte sich dabei finster um, und die Hand, die durch den Riemen der Maschinenpistole hindurchgesteckt war, hielt er nicht wie sonst immer, sondern steckte sie frierend in die Tasche des Uniformmantels. Ruslan glaubte, daß die Kälte auch den Bauch des Herrn zusammengezogen hatte, das wäre ja nicht weiter verwunderlich, weil ihnen heute so eine besondere Sache bevorstand. Er drückte sich an den Uniformmantel, rieb die Schulter an ihm – das bedeutete, daß er alles verstehe und zu allem bereit sei, sogar zu sterben. Ruslan hatte noch nie sterben müssen, aber er hatte gesehen, wie das Menschen und auch Hunde tun. Es gibt nichts Schrecklicheres, aber zusammen mit dem Herrn – das ist eine andere Sache, da wird er es aushalten. Doch der Herr hatte Ruslans Berührung gar nicht bemerkt und ihm nicht als Antwort, wie er es sonst immer tat, die Hand auf die Stirn gelegt, und das war schon ein sehr schlechtes Zeichen.

Plötzlich sah Ruslan etwas so Merkwürdiges, daß sich sein Nackenfell sträubte und aus seinem Hals knurrende Geräusche aufstiegen. Er zeichnete sich zwar nicht durch besonders gute Augen aus, aber er kannte diese Schwäche und bemühte sich ehrlich, sie durch Eifer und Spürsinn wettzumachen. Am Haupttor zum Lager fiel ihm also etwas auf, aber erst, als er mit dem Herrn die Pforte in die Vorzone passiert hatte. So seltsam sah das aus, daß man nicht wußte, was man davon halten sollte. Das Tor stand weit offen, seine verrosteten Angeln knarrten im Wind, und niemand rannte schreiend hin, um es zuzuschlagen. Damit nicht genug, auch das zweite Tor, das sich am anderen Ende der Vorzone befand und das nie gleichzeitig mit dem ersten geöffnet wurde, auch das stand offen. Dahinter führte ein breiter weißer Weg aus dem Lager, nicht abgegrenzt, nicht eingezäunt, bis zum dunklen Horizont, in die Wälder …

Und was war mit dem Wachtturm geschehen? Der war völlig erblindet – der eine Scheinwerfer lag unten, schon halb vom Schnee zugeweht, der andere hing lose an seinem Kabel und fletschte die Zähne seines zerbrochenen Glases. Irgendwohin waren auch sowohl der Fellmantel und die Ohrenklappenmütze als auch der schwarze, stets nach unten gerichtete MG-Lauf verschwunden. Das ausgeblichene rote Tuch über dem Tor war noch da, aber von jemandem in Fetzen gerissen worden, die nun häßlich herabhingen und im Wind flatterten. Zu diesem roten Tuch und dessen geheimnisvollen weißen Zeichen hatte Ruslan eine besondere Beziehung: Allzu deutlich hatte sich ihm das Bild eingeprägt, wie an dunklen Abenden nach der Arbeit, bei jedem Wetter – bei Kälte, im Schneesturm, im Platzregen – die Kolonne von Häftlingen, von den Herren und den Hunden flankiert, vor diesem Tuch stehenblieb, beide Scheinwerfer aufleuchteten und sich auf ihm mit ihren rauchigen Strahlen trafen. Es loderte in seiner ganzen Größe auf, nahm die gesamte Türöffnung ein. Unwillkürlich hoben die Männer ihre Köpfe, und ihre Augen schienen sich in diese blendendweißen Zeichen zu bohren. Ruslan war es nicht gegeben, ihre tiefe, verborgene Weisheit zu begreifen[1], aber auch ihm brannte es in den Augen, daß sie tränten, auch ihn überliefen Schauer, befiel zugleich Trauer und Entzücken, wovon ihm innerlich ganz schwach wurde.

Die Zerstörungen machten Ruslan aufs neue stutzig, er war erbost über die Frechheit der Geflohenen. Wie sicher mußten sie sein, daß man sie nicht mehr einholen würde! Und wie sie alles im voraus gewußt hatten! Daß der Neuschnee alle Spuren verwehen würde, und wie schwer es einem Hund fällt, in dieser Kälte seine Pflicht zu tun. Aber das Tollste war, daß sie ihren Plan nicht einmal besonders geheimgehalten hatten! Denn er konnte sich genau erinnern, wie in diesen ganzen letzten, unverständlichen Tagen, als die Hunde ohne den gewohnten Dienst an Langeweile litten und nur Ruslans Herr manchmal kam, ohne Maschinenpistole, um sie zu füttern und ihnen im Innenhof etwas Bewegung zu verschaffen – wie sich in dieser ganzen Zeit die Häftlinge betragen hatten: nämlich in höchstem Maße befremdend. Sie spazierten in Gruppen durch die ganze Wohnzone, quietschten auf ihren Mundharmonikas, grölten Lieder, und manchmal äfften sie sogar die Hundelaute nach, freilich ohne jede Ähnlichkeit, ohne Sinn und Verstand. Wie kam es nur, daß der Herr dies alles nicht bemerkte, wo doch buchstäblich alle Hunde spürten, daß etwas nicht in Ordnung war und aus wütender Verzweiflung an ihren Schlafdecken herumbissen!

Ruslan machte seinem Herrn keine Vorwürfe. Er war alt genug, um zu wissen: Die Herren irren sich manchmal. Aber sie dürfen das. Hunde und Häftlinge dürfen das nicht, sie müssen für ihre Fehler büßen und oft sogar für die Fehler der Herren geradestehen. Und da es nun mal so war, würde er auch die Schuld an diesem Fehler – er wußte es – mit seinem Herrn teilen und ihm helfen müssen, ihn wiedergutzumachen, was immer es kosten mochte. Der Gedanke, wie geschickt die Geflohenen den Herrn an der Nase herumgeführt hatten, spornte Ruslan zur Arbeit an, ließ die Wut in ihm wachsen, bis er so richtig böse geworden war. Seine Wut war stets von gelber Farbe. Der Himmel und der Schnee nahmen gelbe Farbe an, gelb wurden die Gesichter der Geflohenen, die sich im Weglaufen voller Entsetzen umwandten, als gelbe Lichtflecke blitzten die Schuhsohlen auf. Wie er das alles so lebendig vor sich sah, hielt er es nicht länger aus, stürzte mit wildschäumendem Gebell vorwärts, daß die breite, weißgegerbte Leine sich straff spannte, und zerrte den Herrn hinter sich her zum Tor hinaus.

»Was ist denn, was ist los, du Miststück?« Der Herr wäre beinahe hingefallen. Er zog Ruslan zu sich heran und wandte, um ihn zu beruhigen, seinen üblichen Trick an: Er riß ihn am Halsband hoch, so daß die Vorderbeine in der Luft hingen. Ruslan konnte nicht mal mehr knurren, sondern nur noch röcheln. »Wohin stürmste denn so, haste Angst, zu spät ins Paradies zu kommen? Da fehlen grad noch solche wie du.« Dann ließ er ihn los, löste den Karabinerhaken, die Leine wickelte er zusammen und schob sie in die Tasche. »So, jetzt kannste abhaun. Immer der Nase nach, wirst dich schon nicht verirren.«

Mit der Hand wies er auf das Feld, den weißen Weg entlang, und das konnte nur eines bedeuten: »Such, Ruslan!« So was verstand er auch ohne Kommando. Nur – er witterte keine Spur, nicht einmal die Andeutung einer Spur.

Er blickte beunruhigt, ja, der Verzweiflung nahe, zu seinem Herrn zurück und schnüffelte mit gesenktem Kopf, indem er den Schnee mit der Nase aufwühlte, den vorgeschriebenen Kreis ab. Es roch nach vertrockneten Gräsern, Fäulnis, Mäusen, Asche, aber nicht nach Menschen. Ohne stehenzubleiben, zog er einen zweiten Kreis, der etwas größer war. Wieder nichts! Sie waren hier vor so langer Zeit gegangen, daß es dumm gewesen wäre, auch nur zu versuchen, etwas Vernünftiges herauszuriechen. Und den Herrn zu täuschen, ihn aufs Geratewohl irgendwohin zu führen und dann einen hysterischen Anfall zu markieren, so zu tun, als ob der Herr selbst etwas falsch gemacht habe, ihn, Ruslan, aber dafür zur Rechenschaft ziehen wolle – solche Sachen erlaubte er sich nicht. Und der Herr hatte auch gar nichts falsch gemacht. Sie waren durch das Tor hindurchgegangen, das war absolut sicher, also mußte man vom Tor aus suchen. Allmählich verließen ihn die Kräfte, völlig ausgepumpt sackte er im tiefen Schnee zusammen. Er ließ die dampfende Zunge seitlich heraushängen, zwinkerte schuldbewußt, spielte matt mit den Ohren und gab ehrlich seine Ratlosigkeit zu.

Der Herr blickte ihn streng an und verzog ungut seine Lippen. In seinen so wunderschönen flachen Augennäpfchen, angefüllt mit trübem Blau, entdeckte Ruslan kein bißchen Mitgefühl, sondern nur Kälte und ein spöttisches Lächeln. Am liebsten hätte er sich flach auf dem Boden ausgestreckt, wäre auf dem Bauch gekrochen, obwohl er längst die ganze Nutzlosigkeit aller Gebärden des Flehens und Klagens kannte. Alles, was diese auf der ganzen Welt am meisten von ihm geliebten Augennäpfchen wollten, wurde auch durchgeführt, wie sehr man winseln und ihm die Stiefeln lecken mochte, die mit einer stinkenden, beißenden Schuhwichse eingeschmiert waren. Das hatte Ruslan irgendwann mal versucht; und einmal hatte er gesehen, wie ein Mensch es tat – doch es hatte dem Menschen nicht geholfen.

»Vielleicht noch etwas weiter?« fragte der Herr. »Oder gefällt es dir hier, so nahe am Haus?« Er blickte zurück auf das Tor und nahm langsam die Maschinenpistole von der Schulter. »Ist ja egal, es geht auch hier.«

Ruslan begann es zu schütteln, und ein unerwarteter Gähnanfall zerriß ihm fast die Kiefer, aber er bezwang sich und stand auf. Er hätte auch gar nicht anders gekonnt. Die schrecklichsten Dinge empfängt ein Tier stehend. Und er hatte schon begriffen, daß er an diesem weißen Tag an der Reihe war, daß die Entscheidung schon gefallen war – daß das, was nun kommen würde, nicht mehr zu umgehen war und daß man dafür niemandem die Schuld geben könne. Wer sollte denn schuld daran sein, daß auch er nicht mehr mitkam?

Er wußte genau, was geschieht, wenn einer nicht mehr mitkam, nicht mehr wußte, was los war. Da retteten keine früheren Verdienste. In seiner Erinnerung war das zum erstenmal Rex passiert, einem überaus erfahrenen und eifrigen Hund, einem Liebling der Herren, den Ruslan, jung wie er damals war, sehr beneidete. Der Tag seines Sturzes war ein ganz gewöhnlicher Tag, keiner der Hunde hatte eine Vorahnung gehabt: Wie gewöhnlich hatte man damals eine Kolonne von der Lagerwache in Empfang genommen, wie gewöhnlich waren alle durchgezählt und die üblichen Worte gesprochen worden. Aber dann, kaum waren sie durch das Tor, schrie plötzlich ein Häftling wild auf, als sei er gebissen worden, und lief davon. Der Wahnsinnige, wo hätte er sich denn im freien Feld verstecken sollen, und dann noch vor aller Augen? Er versteckte sich auch nirgendwo, sein Aufschrei war noch nicht verstummt, als die Maschinenpistolen aus drei, vier Läufen zu knattern anfingen und der MG-Schütze vom Wachtturm noch das Seinige dazugab. Ja, zu solchen Dummheiten sind die Zweibeiner manchmal fähig, wie unverständlich einem das auch vorkommen mag! Aber mit dieser Dummheit hatte der Wildgewordene dem Rex übel mitgespielt. Der hätte auf der Hut sein, alles voraussehen müssen, und wenn er das schon nicht getan, wenn er einen Fehler begangen hatte, so wäre es seine Pflicht gewesen, hinter dem Mann her zu rasen und ihn so schnell wie möglich zu Fall zu bringen. Statt dessen setzte sich Rex, von dem seltenen Schauspiel fasziniert, mit heraushängender Zunge hin und ließ es zu, daß noch drei andere aus der Kolonnenformation ausbrachen und, mit den Armen fuchtelnd, die Herren anschrien. Man trieb sie unverzüglich mit dem Gewehrkolben an ihre Plätze zurück, und die Hunde halfen dabei. Nur Rex nicht, der nahm nicht einmal daran teil! Der kam anscheinend nicht mehr mit, verstand nicht, was los war. Doch plötzlich stürzte er blindlings zu jenem Menschen auf dem Feld hin – der nicht einmal mehr röchelte! – und verbiß sich in seinen rechten Arm. Das sah furchtbar dumm aus, und obendrein knurrte Rex nicht dabei, sondern winselte kläglich. Sein Herr zerrte ihn weg und trat ihn vor aller Augen ziemlich fest mit dem Stiefel in den Bauch. An diesem Tag hatte man Rex noch die Kolonnenbegleitung anvertraut, aber seine Kameraden wußten Bescheid: Etwas Nichtwiedergutzumachendes war geschehen, und Rex selbst wußte das am allerbesten. Den ganzen Abend, nach dem Dienst, litt er unter seiner Schande. Er lag da wie ein Kranker, die Nase in eine Ecke der Box gesteckt, und rührte das Fressen nicht an. In der Nacht begann er zu heulen, daß alle Hunde vor schrecklichen Ahnungen fast verrückt wurden und keine Ruhe finden konnten. Am Morgen wurde er von seinem Herrn abgeholt, und wie sehr Rex auch winselte, wie er ihm auch die Stiefel leckte, es nützte nichts. Der Herr führte ihn auf das Feld hinter den Stacheldrahtzaun, alle hörten die kurze MG-Garbe, und Rex kam nicht mehr zurück. Nicht, daß er gleich für ewig verschwunden wäre – noch einige Tage spürte man in der Lagerzone seine Anwesenheit, die Hunde sahen unweit des Weges seine aufgedunsene Flanke, an der Raben herumhackten, und erinnerten sich an Rexens schrecklichen Fehler. Später blieb nicht mal mehr eine Spur von ihm. Seine Box wusch man mit Seife aus, der Napf und die Schlafdecke wurden ausgetauscht, ein neues Schild an der Tür angebracht, und der Neuling Amur zog ein, der seine ganze Zukunft noch vor sich hatte.

Früher oder später erging es allen so. Die einen verloren ihren Geruchssinn oder wurden im Alter blind, die anderen gewöhnten sich zu sehr an die, die sie bewachen sollten, und begannen, ihnen gegenüber Nachsicht zu üben, die dritten wurden nach langen Dienstjahren von einer furchtbaren Geistesverwirrung befallen, die sie den eigenen Herrn anknurren und anspringen ließ. Aber das Ende war immer das gleiche – alle gingen denselben Weg wie Rex; hinter den Stacheldraht. Man erinnerte sich nur an eine Ausnahme, daß ein Hund in der eigenen Box starb. Als Buran im Kampf gegen zwei Entflohene mit einem eisernen Rohr das Rückgrat gebrochen worden war, trugen ihn die Herren auf einem Uniformmantel aus dem Wald zurück, streichelten ihn und kraulten ihn hinter den Ohren, sagten: »Buran ist ein Guter, Buran ist ein braver Kerl, er hat sie aufgehalten, er hat sie geschnappt!« Sie wußten nicht, mit welcher Leckerei sie ihn trösten sollten. Und gegen Abend gaben sie ihm dann etwas Falsches, wovon er kurz darauf in Krämpfen starb.

Es war nun mal so, daß die Dienstzeit eines Hundes stets mit dem Tod durch die Hand seines Herrn endete, und während der acht Jahre, die er in der Lagerzone verbracht hatte, wurde Ruslan das Gefühl nicht los, daß dies auch ihm einmal bevorstünde. Es ängstigte ihn, verursachte ihm Alpträume, aus denen er von seinem eigenen unheimlichen Geheul erwachte, aber allmählich fand er sich mit dieser Vorstellung ab, er begriff, daß man diesem Tod zwar nicht entrinnen, ihn aber hinausschieben konnte, man mußte sich nur bemühen, sich mit allen Kräften bemühen. So begann ihm das Bevorstehende als natürlicher Abschluß seines Dienstes zu erscheinen, genauso natürlich, richtig und ehrenvoll wie der Dienst selbst. Denn trotz allem hätte sich kein Hund ein anderes Ende gewünscht – etwa, daß man ihn einfach zum Tor hinausjage und es ihm überlasse, um Almosen zu betteln wie jene räudigen Hofköter, die, von wer weiß woher, zur Abfallgrube des Lagers gelaufen kamen, um sich den Bauch mit ekelhaften Resten aus der Küche vollzuschlagen. Nein, auch Ruslan hätte so ein Ende nicht gewollt.

Deshalb kroch er jetzt nicht wehleidig herum, winselte nicht um Gnade, versuchte nicht zu fliehen. Wenn der Herr seine Augen gesehen hätte – seine durchaus nicht plinkernden gelben Augen, mit den klar umrissenen Abgründen der Pupillen, rabenschwarz wie die Mündung einer Waffe, dann hätte er in ihnen weder Wut noch Qual noch Flehen lesen können, sondern nur ergebene Erwartung. Aber der Herr blickte irgendwohin über ihn weg und richtete den Lauf der Maschinenpistole in den Himmel. Etwas, das hinter Ruslans Rücken vor sich ging, hinderte ihn am Schießen. Ruslan blickte sich um und erkannte, was es war. Er hatte es schon früher aus den Augenwinkeln gesehen, wohl mit halbem Ohr das Knattern und Rasseln gehört, sich aber nicht von der Suche nach einer Spur ablenken lassen.

Auf dem weißen Weg zum Lager bewegte sich ein Traktor. Er kroch so langsam voran, als wäre er schon seit hundert Jahren mit diesem verschneiten Feld und diesem weißlichen Himmelsgewölbe verbunden und Feld und Himmel ganz unvorstellbar ohne ihn. Von Ruß und Dampf umwölkt, zog er einen Schlittenanhänger und wackelte dabei mit seiner glubschäugigen, zähnefletschenden Fratze. Auf dem Schlitten schwankte etwas, das noch riesenhafter war als der Traktor und von himbeerroter Farbe. Als er näherkam, konnte man erkennen, daß es ein Güterwagen ohne Räder war, mit rostigen Trossen festgezurrt.

Ruslan knurrte leise und entfernte sich weiter vom Weg. Traktoren waren nichts Neues für ihn; sie fuhren Stämme vom Holzschlag fort, und er hatte mit ihnen keine guten Erfahrungen gemacht. Die schwarzen Auspuffgase nahmen ihm für längere Zeit sein Witterungsvermögen und machten ihn dadurch zum hilflosesten Geschöpf der Welt. Außerdem arbeiteten »Freie« auf den Traktoren, ein ihm fremdes und höchst eigenartiges Volk; sie spazierten überall ohne Bewachung umher und verhielten sich den Herren gegenüber ohne den nötigen Respekt. Den Weg in die Arbeitszone fanden sie von allein; die Häftlingskolonne zog erst in den Wald, wenn die Motoren der Freien dort bereits laut knatterten. Ein unangenehmes Volk!

Der Traktor schnaufte heran und blieb stehen, verstummte aber nicht, irgend etwas heulte in seinem Inneren entrüstet weiter, und durch diesen Lärm hindurch brüllte der Fahrer dem Herrn einen Gruß entgegen.

»Sei gegrüßt, Wologoder!«[2]

Das verblüffte Ruslan grenzenlos. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte nie zuvor jemand den Herrn so angeredet.

Schon allein der Anblick des Fahrers empörte Ruslan: diese purpurrote, fettglänzende Fresse mit einem dicklippigen Maul, das von einem Ohr zum andern grinste. Unter der Mütze heraus, die er vor dem Herrn nicht abgenommen hatte, quoll ein verklebter, hellblonder Haarschopf in die Stirn, für einen Lagerinsassen etwas Undenkbares. Und wie der es wagte, dem Herrn mit mehreren Fragen gleichzeitig zu kommen!

»Wartest du zufällig auf mich? Was, du verstehst nicht, was ich sage? Da hab ich ’nen Bauwagen angeschleppt, wo soll ich ’n das blöde Ding hinstellen? Oder biste etwa nicht der Chef hier? Kontrollierste die Ausweise? Ich hab nämlich meinen vergessen. Am Ende läßte mich dann nich wieder weg, was?«

Und er begann, ekelhaft herausfordernd zu wiehern, wobei er sich schwer auf die Traktortür lehnte und den in einem Filzstiefel steckenden Fuß auf die Raupenkette stellte. Der Herr reagierte weder auf das Wiehern noch auf die Frage, und Ruslan wußte, daß er es auch nicht tun würde. Diese Angewohnheit der Herren entzückte ihn jedesmal: Auf die Fragen eines Lagerinsassen antworteten sie erst nach einer Weile oder gar nicht, sie blickten ihn einfach nur an – kalt und spöttisch. Und es dauerte nicht lange, bis so ein Frager den Blick senkte und den Kopf zwischen die Schultern zog; bei manchem bedeckte sich das Gesicht sogar mit Schweiß. Dabei taten ihm die Herren ja nichts Böses an; aber ihr Schweigen und dieses Fixieren hatten die gleiche Wirkung wie eine vor die Nase gehaltene Faust oder das Klicken eines MPi-Schlosses. Zuerst schien es Ruslan, als seien die Herren mit dieser magischen Fähigkeit schon auf die Welt gekommen. Später bemerkte er, daß sie sich gegenseitig sehr wohl antworteten, und wenn der Große Herr sie was fragte, der, den sie »Gnosse-Haupmannbitte-fragn-zu-dürfn« nannten, dann antworteten sie sogar sehr schnell und legten dabei die Hände an die Hosennaht. Daher kam er auf den Gedanken, daß auch die Herren besonders geschult worden waren, wie sie sich gegenüber den Häftlingen zu benehmen haben – genauso wie die Hunde!

»Warum biste denn so trübsinnig?« fragte der Traktorfahrer. Er hatte nicht den Blick gesenkt, nicht den Kopf zwischen die Schultern gezogen, sein Gesicht hatte sich nicht mit Schweiß bedeckt, sondern nur ein bißchen Mitgefühl zum Ausdruck gebracht. »Schade, daß der Dienst hier vorbei ist, was? ’s kommt einem so vor, als ob man wieder von vorn anfangen muß, stimmt’s? Halb so schlimm, mach dir nix draus, wirst schon irgendwas finden. Aber geh nich ins Dorf, das rat ich dir. Haste vom Plenum gehört? Viel kriegste da nich zu futtern.«

»Fahr weiter«, sagte der Herr. »Du redest zuviel.«

Aber er gab dem Traktor den Weg nicht frei. Und die Maschinenpistole hielt er mit beiden Händen fest in Brusthöhe.

»Das stimmt«, gab der Fahrer zu. »So bin ich nun mal. Ich mag das … wenn die Zunge an den Zähnen kitzelt. Was soll man machen, wenn’s einen kitzelt?«

»Ich hätt sie dir schon noch geschmiert«, sagte der Herr, »daß sie dich nie mehr kitzeln kann.«

Der Fahrer brach wieder in sein wieherndes Gelächter aus.

»Bei dir stirbt man ja vor Lachen, Wologoder! Du siehst wirklich toll aus mit deiner Kanone. Haste wenigstens ein Erinnerungsfoto machen lassen? Sonst glaubt’s dir dein Mariechen nich und wird dich nich mehr lieben. Für diese Luder ist doch die Hauptsache, daß man eine Kanone hat, den Menschen, den sehn se doch gar nich.« Der Herr antwortete ihm nicht, und der Fahrer besann sich plötzlich: »Wo, sagst du, soll ich den hinstellen, den Wagen da?«

»Stell ihn hin, wo du willst. Was geht mich das an!«

»Na, du vertrittst doch hier die Obrigkeit.«

»Hack ihn zu Brennholz. Wozu hast du ihn überhaupt hergeschleift – könnt ihr nicht in Baracken wohnen?«

»In Baracken – nee! Lieber in Zelten.«

Der Herr zuckte ungeduldig mit der Schulter. »Ist eure Sache.«

Der Fahrer nickte, immer noch mit unverschämt strahlender Fresse, setzte sich wieder zurecht, aber plötzlich fiel sein Blick auf Ruslan. Es schien, als erinnere er sich an etwas; auf der Stirn spiegelte sich die Gedankenarbeit, das heißt, eine einzige klägliche Falte zeichnete sich ab.

»Was machste da eigentlich – willste den Hund liquidieren? Und ich hab zuerst gedacht: Der trainiert mit dem. Ich komm näher, schau hin – aber wozu trainiert er ihn denn noch? Wo’s doch Zeit für die Pension ist. Und du willst ihn also tatsächlich liquidieren … Vielleicht ist es ja nich nötig, und du läßt ihn uns? So ’n Hund ist doch teuer. Irgend was wird er schon bewachen – oder?«

»Der wird euch schon bewachen«, sagte der Herr. »Aber da wirst du keine Freude dran haben.«

Der Fahrer schaute Ruslan voll Respekt an. »Und wenn man ihn umerzieht?«

»Bei denen ’s ging, die hat man schon umerzogen.«

»Tja«, der Fahrer schüttelte traurig den Kopf. »Da hat man dir die mieseste Sache von der Welt anvertraut, Wologoder – Hunde zu erschießen. Na, das sind mir Methoden! Für treue Dienste – Abschiedsprämie neun Gramm[3]. Aber warum nur für ihn? Du, zum Beispiel, du hast doch auch gedient …«

Ihre Blicke trafen sich: unerbittlich, eisig der Blick des Herrn und übermütig, verrückt der des Fahrers. Der Traktor heulte auf und wurde von schwarzen Schwaden eingehüllt. Unwillig trat der Herr zur Seite. Aber der Traktor suchte sich einen anderen Weg aus. Nach einem Ruck wandte er seine Schnauze vom Tor ab, begann schräg über den unberührten Schnee weiterzukriechen und wühlte dabei mit seinen Ketten den Todesstreifen auf.

Die Wut, die ihn wie auf Befehl ergriffen hatte, ließ Ruslan mit einem Satz auf den Weg springen. Die Himbeerröte des Waggons und das Quietschen der Schlittenkufen, die die aufgerissene, schmutzige Spur des Traktors wieder feststampften, brachten ihn in Zorn, aber ganz deutlich sah er nur eines – den dicken Ellenbogen des Fahrers im Traktorfenster; er hatte Lust, sich in ihn zu verbeißen, ihn bis auf den Knochen durchzutrennen. Ruslan knurrte zornbebend, heulte auf, verlor Speichel und schielte flehend zum Herrn hinüber, erwartete und erbat von ihm das Kommando »Faß!« Gleich wird es ertönen, das Gesicht des Herrn ist schon ganz weiß geworden, und seine Zähne sind zusammengebissen, gleich wird man es hören, das rot aufflammende und gleichsam nicht aus dem Munde, sondern aus dem nach vorn geworfenen Arm herausfliegende: »Faß, Ruslan! Faß!«

Denn damit beginnt ja erst der richtige Dienst: der begeisterte Gehorsam, der ungestüme Anlauf, das irreführende Hakenschlagen – und der Feind rennt hin und her, er weiß nicht, soll er fliehen oder sich verteidigen. Und ehe er sich’s versieht, läßt ihn der entscheidende Sprung, mit den Pfoten auf die Brust, rücklings hinstürzen, und man fällt mit ihm, knurrt wild über seinem verzerrten Gesicht, aber man packt nur die Hand, die rechte, die meistens irgendwas umklammert, man hält sie und hört dabei, wie er schreit und um sich schlägt, man spürt, wie einem ein dickflüssiges, warmes, betäubendes Naß ins Maul fließt – bis der Herr einen mit aller Kraft am Halsband fortzerrt. Und erst dann spürt man alle Schläge und Wunden, die man selbst abbekommen hat …

Schon lange waren die Zeiten vorüber, daß er dafür ein Stückchen Fleisch oder Zwieback bekam, aber auch damals hatte er sie eher aus Höflichkeit angenommen denn als Belohnung; in solchen Augenblicken konnte er sowieso nichts runterkriegen. Und es war keine Belohnung, wenn man ihn später im Lager vor der düsteren Front dazu antrieb, noch ein wenig an dem Gefangenen zu reißen – denn der wehrte sich schon nicht mehr, sondern schrie nur manchmal kläglich auf, und Ruslan zerrte mehr an der Kleidung als am Körper. Die beste Belohnung für den Dienst war der Dienst selbst – merkwürdig, daß die Herren bei all ihrem Verstand dies nicht ganz begriffen und es nötig fanden, einen noch extra anzuspornen. Irgendwo am Rande seines Bewußtseins zeichnete sich schwarz vor gelbem Nebel auch das ab, was der Herr ihm anzutun beabsichtigte; er hatte es nicht vergessen, doch er wünschte sich, daß es erst später geschehen möge. Zuvor sollte es noch einmal zur Belohnung Dienst geben. Der Herr sollte ihm zum Schluß noch einmal »Faß!« befehlen – und er würde genügend Kraft und Mut besitzen, auf die knirschende Raupenkette zu springen, den Feind aus dem Fahrerhaus zu zerren, dieses Grinsen von seiner unverschämten Fresse zu wischen, das sogar der alles bezwingende Blick des Herrn nicht vertrieben hatte.

Die Ungeduld zog seine Kiefer zusammen, er schüttelte den Kopf und winselte, aber der Herr zögerte immer noch und rief nicht »Faß!« Und in dieser Zeit geschah das Schreckliche, Beschämende, das auf keinen Fall geschehen durfte. Die heiser bellende Traktorschnauze stieß gegen einen Pfahl, als wollte sie an ihm schnuppern, und heulte böse auf. Sie rührte sich nicht mehr von der Stelle, doch die Raupenketten bewegten sich immer weiter. Der Pfahl ächzte qualvoll; er schien Widerstand zu leisten, neigte sich aber schon langsam, wobei er seine Drähte spannte, und plötzlich zerbarst er mit Kanonendonner. Nur der Stacheldraht hinderte ihn noch, der ganzen Länge nach niederzubrechen. Die Schnauze aber wühlte störrisch weiter, und die Raupenketten drückten den Draht Reihe um Reihe unter sich, wanden ihn zu Schnüren zusammen, und dann rutschten quietschend die Kufen über sie hinweg. Als der Pfahl mit den Drähten hinter dem Traktor wieder zum Vorschein kam, lag er da wie ein Mensch, der auf den Rücken gefallen ist und mit ausgebreiteten Armen daliegt.

Jenseits des Stacheldrahts, in der Lagerzone, blieb der Traktor, nun ganz zufrieden knurrend, stehen. Der Fahrer stieg aus, um das Vollbrachte anzuschauen. Auch er war zufrieden und brüllte fröhlich zum Herrn herüber:

»Was würdest du ohne mich tun, Wologoder?! Lern was von mir, solange ich noch lebe. Oder willst du immer nur Hunde erschießen?«

Seine Brust in der offenen wattierten Jacke bot sich so bequem, so wunderbar frei für einen Schuß dar. Aber der Herr hatte die Maschinenpistole lässig unter den Arm geklemmt, eine Zigarettendose unter dem Uniformmantel hervorgeholt und geöffnet, dann mit einer Zigarette auf den Deckel geklopft. Er betrachtete die Zeichnung auf dem Deckel, die er selbst mit einer Schusterahle ausgestochen hatte, und schmunzelte. Er liebte es, auf seine Arbeit zu schauen, und schmunzelte immer dabei. Wenn er sie den anderen Herren zeigte, fielen die vor Gewieher fast um. Während er die Zigarettendose wieder wegsteckte, schaute er mit dem gleichen Lächeln zu, wie der Traktor sich seinen schrecklichen Weg weiterbahnte und dann am nächsten Pfahl arbeitete, der sich als etwas stärker erwies, so daß die Schnauze mehrmals Anlauf nehmen mußte.

Als auch der gefallen war, wandte der Herr sich endlich zu Ruslan um – als sehe er ihn heute zum erstenmal.

»Du bist noch hier, du Miststück? Ich hab dir doch gesagt – hau ab! Was hab ich dir gesagt?« Er streckte die Hand mit der glimmenden Zigarette wieder in Richtung zu den Wäldern aus. »Und daß ich dich nie mehr wiederseh, verstanden?«