Die Geschichte von Blue - Solomonica de Winter - E-Book

Die Geschichte von Blue E-Book

Solomonica de Winter

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Beschreibung

Welch ein Talent: Die erst 17-jährige Solomonica de Winter erzählt Die Geschichte von Blue, die ihren Vater früh verloren hat, deren Mutter in ihrer eigenen Welt lebt und die sich in einen Menschen verliebt, der vom gleichen Buch besessen ist wie sie: dem ›Zauberer von Oz‹. Wie Dorothy im Buch macht sie sich auf, um jenseits des Regenbogens wieder eine Art Zuhause zu finden – und den Mörder ihres Vaters. Ein Roman mit doppeltem Boden, Drive, Chuzpe und einer völlig eigenen Poesie.

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Seitenzahl: 281

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Solomonica de Winter

Die Geschichtevon Blue

Roman

Aus dem Amerikanischen vonAnna-Nina Kroll

Titel des amerikanischen Originals:

›Over the Rainbow‹

Copyright ©2014 by Solomonica de Winter

Die deutsche Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Tim Marrs, ›Migration‹ (Ausschnitt)

Copyright ©Tim Marrs

Geese photograph: Michael Mill

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24334 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60445 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Teil 1

[7] Mein Name ist Blue. Nicht blau wie ein Rock oder ein Türkis, nicht blau wie Blaubeeren und nicht blau wie Nagellack. Sondern blau wie salzige Tränen, blau wie eine winzige Blaumeise. Blau wie der Wind, das Meer, der Regenbogen. Das Dunkelblau in den aufziehenden grauen Wolken vor einem Gewitter. Das ist das Blau, nach dem ich benannt bin. Das ist mein Blau.

Mein zweiter Vorname ist Vanity. Meine Eltern haben mir diesen Namen gegeben, für sie war Eitelkeit das Einzige, das die Welt heutzutage noch zusammenhält. Ohne Eitelkeit, meinten sie, würden wir in Verzweiflung und Angst voreinander leben, und erst recht vor uns selbst. Ohne Eitelkeit würden sich die Leute zu Hause verkriechen und sich vor ihrem eigenen Spiegelbild fürchten. Meine Eltern hielten Eitelkeit nicht unbedingt für eine positive Eigenschaft, aber sie waren von ihr fasziniert. Davon, wie etwas das Denken eines Menschen so einnehmen kann, dass er sich davon betören lässt, sich in das Streben nach Perfektion verliebt.

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ein ausdrucksloses Gesicht. Haut so weiß wie ein Blatt Papier, mit Augäpfeln. Lange Strähnen wachsen mir oben aus dem Schädel.

[8] Ich bin nicht eitel. Was andere über mich denken, ist mir egal.

Sie fragen, wann ich beschlossen habe, diesen Mann zu töten. Ich weiß ganz genau, wann ich diese Entscheidung getroffen habe. Sie fragen mich, warum ich beschlossen habe, ihn zu töten. Auch das weiß ich. Sie fragen mich, wann ich aufgehört habe zu sprechen. Sie fragen mich, warum ich aufgehört habe zu sprechen. Ich habe meine Gründe, Herr Doktor. Die erkläre ich Ihnen später. Ich werde Ihnen alles erklären. Aber das kann ich nicht einfach so.

[9] 1

Ich hielt mir die Ohren zu, weil das Dröhnen des Busses meinen Kopf verstopfte. Daisy drehte sich um und sah mich an. Sie starrte auf meine Hände. Ich blickte auf den dreckigen Boden des Busses, der von zu vielen Füßen getreten worden war. Zu viele Gerüche von zu vielen Menschen stachen mir gleichzeitig in die Nase. Zu viele verängstigte Seelen hatten auf diesen Bänken gesessen.

»Lass das sein«, murmelte Daisy fahrig und sah wieder aus dem Fenster. Ich nahm die Hände herunter. Als der Bus an der nächsten Haltestelle hielt, ließ mich das schrille Quietschen der Bremsen frösteln. Ich schloss die Finger um das Buch in meinem Schoß. Ein dunkelhäutiger Mann mit Hut und Anzug starrte mich an. Ich starrte zurück. Seine dunklen Augen waren wie schwarze Tunnel. Ich fragte mich, wohin sie wohl führten. Er runzelte die Stirn, dann versteckte er sich hinter seiner Zeitung. Ich sah erst weg, als Daisy mir eine Ewigkeit später sagte, ich solle meinen Koffer nehmen und aussteigen. Ich kletterte aus dem Bus. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mülleimer, der anscheinend seit Wochen nicht geleert worden war. Die Häuser rundherum waren grau. Mir fiel ein hohes Gebäude zwischen all den grauen, rechteckigen Klötzen auf. Es musste einmal rosa gewesen sein, [10] aber jetzt hatte es die Farbe von totem Fleisch. Hinter eingeworfenen Fensterscheiben flatterten Vorhänge im Wind, und ich stellte mir vor, wie jemand in einem dieser kaputten Fenster auftauchen und mir zuwinken würde. Ich mochte verlassene Gebäude.

»Blue, wir haben jetzt keine Zeit für einen Ausflug in deine Welt, okay?«, sagte Daisy und packte mich am Arm. Sie zerrte mich auf dem Gehweg hinter sich her, so dass ich fast rennen musste, um mit ihr mitzuhalten. Ihr Griff brannte sich in mein Handgelenk. Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst. Wenn mich jemand anfasst, sickert nämlich etwas von seiner Seele durch meine Poren, bohrt sich durch meine Adern und so weiter. Und ich hasse es, andere Seelen zu spüren; ich hasse es, weil ich mich erst mal um meine eigene Seele kümmern muss.

»Ich hab dich tausendmal gerufen. Jetzt haben wir schon wieder Rot! Ich hab keine Lust mehr, diese Koffer durch die Gegend zu schleppen. Sobald wir im Hotel sind, kannst du machen, was du willst.«

Daisy hatte strähniges und meist ungewaschenes Haar. Ihre Wangen waren eingefallen und die Augen sehr groß und glasig. Sie sah mindestens zehn Jahre älter aus, als sie in Wirklichkeit war, und wie das komplette Gegenteil von mir. Ich selbst habe langes, dunkles Haar. Meine Augen sind wie die einer Krähe, ich kann ganze Räume und Plätze auf einmal überblicken. Ich war die Tochter, von der Daisy sich wünschte, sie wäre nie geboren worden. Ich war der Schorf auf ihrem Knie, der hätte abheilen können, wenn sie nur aufgehört hätte, immer wieder daran herumzufummeln, bis das Blut kam.

[11] Ich lebte mit Daisy, meinem Buch und der Vorstellung im Hinterkopf, die Welt wäre gut, ja, Blue, die Welt ist gut. Aber es ist schwer, Hoffnung zu finden, wenn sie sich schon so viele Male versteckt hat.

Wir gingen weiter. Noch mehr verlassene Gebäude, viel mehr als früher, bevor wir von hier weggegangen waren. Daisy ging schnell und zog mich am Handgelenk mit. Ich erkannte Geschäfte und Bänke und bestimmte Bäume und Straßenlaternen. Weil ich alles sehen kann. Ich spreche eigentlich nicht darüber. Es ist mein Geheimnis. Aber da Sie mein Arzt sind, bin ich wohl dazu verpflichtet, Ihnen meine Geheimnisse zu verraten. Ich werde Sie Ihnen nicht alle verraten. Aber genug, damit Sie sich wundern.

Zum Beispiel, dass ich im Dunkeln und wie ein Blinder mit geschlossenen Augen sehen kann. Ich kann durch alles hindurchsehen. Ich kann durch Menschen und durch Augen, durch den Himmel und durch Köpfe sehen. Ich weiß, wer Gott ist. Ich habe ihn gesehen. Ich weiß, wer Satan ist. Ihn habe ich auch gesehen. Beide boten mir Tee an. Glauben Sie nicht, ich wäre verrückt! Das bin ich nicht. Ich kann beweisen, dass ich sie gesehen habe. Satan fragte mich nämlich, ob ich Zucker wolle. Warum sollte ich so was erfinden, hm? Warum? Gott fragte mich jedenfalls nicht nach Zucker und Milch. Er gab mir einfach eine Tasse Tee, und das war’s.

Als wir am Hotel ankamen, ließ Daisy mein Handgelenk los. Ein großes Schild mit der Aufschrift PALACEHOTEL hieß uns willkommen. Ich musste vorgehen, wie immer. Daisy hatte Angst, ich würde kehrtmachen und [12] weglaufen, wenn sie einen Raum oder ein Gebäude vor mir betrat.

Der Teppichboden war sandfarben. Der dicke Mann hinter der braunen Rezeptionstheke sah nicht auf. Als wir näher kamen, hob er langsam den Blick. Ich wusste, dass er keine Lust hatte. Ich sah es.

»McGregor, ich habe angerufen«, sagte Daisy.

Der Mann kratzte sich am Kinn und fragte: »Wie?«

»McGregor.«

Er überflog eine Liste, dann nickte er leicht.

»Alles klar«, sagte er. »Macht zweihundertfünfzig.«

»Am Telefon haben Sie zweihundert gesagt.«

»Sie wollten ein Zimmer mit Bad. Das macht fünfzig extra.«

»Muss ich sofort bezahlen?«

»Ja. Nur Barzahlung. Hotelrichtlinien.«

»Das war es dann wohl mit dem Essen für diese Woche«, murmelte Daisy, während sie die Scheine einzeln aus ihrer Tasche zog. Er holte einen Schlüssel vom Schlüsselbrett.

»Nummer achtundzwanzig. Treppe hoch, Ende des Gangs. Paar Regeln: Machen Sie nicht alles kaputt. Bringen Sie niemanden um und verstecken die Leiche hinterm Duschvorhang. Wenn mit dem Zimmer was nicht in Ordnung ist, melden Sie sich bei mir. Verstanden?«

Ich sah Daisy an. Ich las in ihren Augen, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte, aber dann sagte sie einfach »okay« und nahm ihre Koffer, ehe dem Mann noch mehr einfallen konnte. Ich ging hinter ihr her nach oben und den Gang entlang. Die niedrigen Decken schienen [13] näher zu kommen, und die Lampen hingen so tief, dass mich ihr Licht blendete.

Daisy setzte ihre Koffer ab und schloss die Tür auf. Der Teppich war hier oben genauso sandfarben wie unten. Die Wände waren weiß. An eine Wand geschoben, stand eine schmale Couch. Ich stellte meinen Koffer ab und ließ den fremden, stillen Raum auf mich wirken. Die rosa Badewanne gefiel mir besonders. Der Spiegel war von gelben Glühbirnen umrahmt wie in den glamourösen Fünfzigern. Hinter dem Duschvorhang lag keine Leiche. Ich ging zum Fenster und sah auf die Straße hinaus.

Dann setzte ich mich auf die Couch und starrte ins Nichts. Wie ein Kätzchen drückte ich mein Buch fest an die Brust. Mein Buch.

Ich weiß, Sie glauben, ich wäre besessen gewesen, Doktor. Ich weiß, dass Sie alle glauben, ich wäre von meinem Buch besessen gewesen. Aber da liegen Sie falsch. Es ist nicht einfach irgendein Buch, nicht irgendeine Geschichte, nichts, was irgendjemand einfach so zum Spaß geschrieben hat. Wagen Sie es nicht, mir das zu erzählen. Denn sonst töte ich auch Sie. Sie alle. Mein Buch ist echt, mit echten Menschen und Wesen, echten Bäumen, echten Blumen. Wenn Sie die Augen fest genug schließen, können Sie sie durch den Buchdeckel riechen. Ich bin nicht besessen, haben Sie das verstanden? Wenn Sie sehen könnten, wie die Leute in dieser Stadt wirklich sind – ich weiß es, weil ich durch sie hindurchsehen kann –, dann wäre Ihnen klar, dass nicht ich diejenige [14] bin, die jemanden wie Sie braucht, einen Arzt. Es gibt da draußen Leute, die sind noch viel böser und gemeiner als die Ratten auf der Straße.

Den Rest des Tages verbrachten wir auf dem Zimmer. Daisy sah fern, und ich saß auf der Couch und hing meinen Gedanken nach. Ich ließ die Beine baumeln, meine zwei blassen Wachsstümpfe. Daisy kaufte uns je einen Riesenbecher Slush-Eis, von denen ein Kind eine Woche lang hätte leben können. Das Eis färbte meinen Mund blau. Ich streckte die Zunge heraus und sah sie mir im Spiegel an. Das war für mich die coolste Sache der Welt. Ich stand zehn Minuten lang da, ließ wie ein Hund die Zunge aus dem Mund hängen und klappte ihn erst wieder zu, als Daisy so genervt war, dass sie mir ein Kissen an den Kopf warf.

[15] 2

Die Laken rochen nach Leiche, als wir am nächsten Tag aufwachten. Die Sonne fiel durch die dünnen Vorhänge, und die Luft roch schwach nach Zigarrenrauch. Ich mag Hotelzimmer nicht. Diese rastlose Atmosphäre, das Wissen, dass man den Ort einen Tag, fünf Tage, eine Woche später wieder verlässt. Man spürt, wie die Himmelsmächte in Stellung gehen und die Tage herunterzählen, die man noch bleiben darf. Das einzig Gute an Hotels ist, dass man durch die langen Flure rennen und so tun kann, als wäre man ein Oberbonze in seiner Villa.

Irgendwann zogen wir uns an und aßen trockene Cornflakes aus der Schachtel.

»So«, sagte Daisy plötzlich, »Zeit, zur Arbeit zu gehen. Anthony hat mir einen Job in seiner Werkstatt organisiert.« Sie stellte die Cornflakes-Schachtel ab, stand auf und zog sich die Schuhe an.

Ich ging hinter ihr her, und sie schloss die Tür ab. Daisy brauchte etwas, bis sie die richtige Straße gefunden hatte, doch schließlich bog sie nach links ab. Ich ging die ganze Zeit langsam hinter ihr her und beobachtete meine Füße dabei; wenn ich die Augen zusammenkniff, sahen sie aus wie zwei schwarze Käfer, die panisch vor und [16] zurück krabbelten. Ich merkte, wie der Abstand zu Daisy schrumpfte, wie sie langsamer wurde, damit ich sie einholte. Sie schob mich an und forderte mich auf, schneller zu gehen.

»Wenn wir ankommen, zieh nicht so ein Gesicht – bitte. Sei nett. Versuch nicht wieder, jedem dein Buch zu zeigen. Versuch, gut auszusehen. Die dürfen nicht wissen, wie verrückt du in Wirklichkeit bist. Mach einfach keine große Sache draus.«

Ich fragte mich, wann Daisy wohl das letzte Mal gelächelt hatte.

Man kann Kinder nicht dressieren. Sie sind keine Hunde, denen man Stöckchenholen beibringen kann. Kinder sind wie Löwenwelpen, Tigerjunge, sie brüllen und sie beißen. Wer versucht, sie zu zähmen, macht sich zum Narren. Es ist mein Buch. Wenn ich es lesen will, tue ich das. Sie wissen doch, die Menschen haben immer etwas, an dem sie besonders hängen, Herr Doktor. Frauen haben ihre Diamantringe und Halsketten, und Männer haben ihre schicken Anzüge und Autos. Und Sie wissen doch auch, dass niemand anders diese Ringe tragen oder die Autos fahren darf. Für mich ist es eben das Buch. Wenn irgendjemand anders auch nur ein Wort daraus liest, steche ich ihn ab. Erbarmungslos. Tut mir leid. Ich will jetzt gar nicht so brutal wirken. Normalerweise bin ich ganz sanft.

Wir bogen um eine Ecke, und da war die Werkstatt. Stechender Benzingeruch schwebte über dem ganzen Bau. [17] Ich hasse den Geruch von Benzin, ich bekomme Kopfschmerzen davon, und er erinnert mich an den scharfen Geruch von Zwiebeln beim Schneiden. Wir betraten den Laden. An den knallgelben Wänden hingen bunte Bilder von alten Autos, und hinter einer Glasscheibe wurden in einer großen, dunklen Garage glänzende Autos repariert. Licht fiel durch die Dachfenster wie von Engeln geschickte Goldstrahlen, die uns daran erinnern sollten, dass es in der Welt mehr gab als Motoröl, platte Reifen und zwanzig verschiedene Arten von Schrauben. Ehe wir auch nur ein Wort zu dem Mann am Eingang sagen konnten, kam ein großer, braungebrannter Mann herein.

Anthony. Seine Augen wirkten wie zwei Tassen heißer Schokolade. Lächelnd kam er auf uns zu. Ich war verwirrt, weil er ohne ersichtlichen Grund lächelte.

»Hey, wow! Ich bin so froh, euch endlich wiederzusehen!«, rief er.

Er küsste Daisy auf beide Wangen und fragte, wie es ihr gehe.

»Hey, Blue! Und wie geht’s dir?«

Er breitete die Arme aus, das bedeutete wohl, dass ich ihn umarmen musste. Ich mochte Umarmungen nicht. Aber ich spürte Daisys spitzen Finger im Rücken, also ging ich hin und umarmte ihn. Seine Arme waren warm, wie ein Bett beim Aufwachen. Ich fühlte mich besser. Ich entschied, dass diese spezielle Umarmung doch nicht so schlimm war.

»Meine Güte, du bist ganz schön groß geworden. Ich habe euch beide vermisst. Wie fühlt sich das an, wieder in der alten Gegend zu sein, Blue?«

[18] Ich sah ihn an, schweigend.

Daisy legte mir die Hand auf die Schulter. »Sie, ähm… Sie spricht immer noch nicht«, sagte sie hastig und blickte beschämt zu Boden. Ich merkte, wie Anthonys Lächeln langsam verblasste.

»Oh. Das… das macht doch nichts, Daisy. Macht gar nichts. Wir reden später drüber. Also, dann kommt mal mit«, sagte er. Wir folgten ihm in die Werkstatt auf der anderen Seite der Glasscheibe. Es lief Musik, Männer trugen Gerätschaften umher oder lagen halb versteckt mal unter ramponierten, mal unter glänzenden, neuen Autos und summten zur Musik. Ihre Beine ragten unter den Autos hervor, als wären sie Kinder, die ihre Bettdecken zu weit hochgezogen hatten. Als sie Daisy und mich entdeckten, warfen sie sich vielsagende Blicke zu. Sie wussten Bescheid.

Wir betraten ein anderes Gebäude, vermutlich Anthonys Büro. Daisy wies mich an, bei der Couch zu warten. Also setzte ich mich mit meinem Buch unter dem Arm auf den Boden und starrte in die dunkelste Ecke im Raum. Das mache ich oft. Wenn wir mit meiner alten Schule in Florida im Museum waren, sah ich auch immer nur in irgendwelche Ecken, selbst wenn direkt vor meiner Nase ein phantastisches Meisterwerk hing. Auf Biologieexkursionen sah ich mir lieber die Spiegelung der Bäume in den Bächen an als die Bäume selbst. In der Spiegelung sind die Bäume wunderschöne Wesen, die erzittern, wenn das Wasser sich kräuselt, und ausgelassen mit den Wellen tanzen, wenn eine Brise über die Oberfläche geht. Im Sonnenlicht glitzern und glänzen sie wie Diamanten.

[19] Ich hörte Daisy meinen Namen rufen.

»Blue, Anthony möchte kurz mit dir sprechen. Ich warte so lange draußen.«

Ich blickte ihr forschend ins Gesicht, mein Buch immer noch unter dem Arm. Sie seufzte und ging hinaus.

Ich starrte Anthony an.

»Also«, sagte er und räusperte sich. »Tja… Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Vor, äh… der ganzen Sache mit Ollie, hat er mir einen Briefumschlag für dich gegeben. Wenn sein Plan aufgegangen wäre, hätte ich ihm den Umschlag zurückgeben sollen. Aber er… Na ja, der Plan ging schief, und ich sollte dir den Umschlag geben, wenn die Zeit reif wäre. Jetzt, nach fünf Jahren, glaube ich, ist es an der Zeit. Also, hier.«

Er hielt mir einen weißen, leicht angegilbten Umschlag hin, auf dem mein Name stand. Ich stand auf, und er überreichte ihn mir feierlich. Ich erkannte Ollies Handschrift, sie wirkte unordentlich und gehetzt. Als hätte er meinen Namen hastig hingekritzelt. Die Ecken des Umschlags waren ein wenig abgewetzt, auf der Rückseite war sogar ein Kaffeefleck, aber ich fand ihn trotzdem schön. So schön. Ich machte ihn nicht auf.

[20] 3

Auch auf dem Rückweg zum Hotel ließ ich den Umschlag zu. Ich hatte das Gefühl, die Welt würde eine andere, sobald ich diesen Brief las, als wäre er die schriftliche Ankündigung einer bevorstehenden Veränderung.

Daisy hielt den Blick die ganze Zeit auf den Umschlag gerichtet, selbst als sie an mir vorbeiging und sich auf die Couch fallen ließ. Ich setzte mich an den Schreibtisch in der Ecke und starrte den Umschlag in meinen Händen an. Ich wollte ihn nicht öffnen. Ich wollte nicht weinen und der Welt verraten, dass ich schwach war.

»Machst du ihn jetzt auf oder nicht? Mein Gott!«, meckerte Daisy und stellte den Fernseher an. Wie konnte der Inhalt eines Briefumschlags eine so versteinernde Wirkung haben? Wie konnte es sein, dass ein simples Gekritzel Wörter ergab und Gefühle auslöste, die einen zum Lachen und zum Weinen brachten? Ich wollte nicht, dass meine Gefühle wie auf Knopfdruck ausgelöst wurden. Ich wollte weder lachen noch weinen. Es bedurfte einer genauestens berechneten Menge an Kraft, um meine Gefühlsergüsse mit einem Damm zu stoppen. Nicht das kleinste Kräuseln auf dem Wasser, nicht eine einzige Welle. Ich wusste, dieser Brief würde den Damm brechen lassen und die Wassermassen freisetzen.

[21] »Komm schon! Mach ihn auf!«, rief Daisy. Ich atmete tief durch. Halte den Fluss auf. Trockne ihn aus. Langsam riss ich den Umschlag auf, zog den Brief vorsichtig heraus und faltete ihn auseinander. Die Seiten waren dicht mit Ollies Handschrift, seinen Buchstaben und Wörtern und Sätzen bedeckt.

Liebe Blue,

ich weiß nicht, wo du bist, wenn du das hier liest. Ich weiß nicht, ob du fröhlich oder traurig oder wütend bist. Ich weiß nicht, ob du das hier lesen willst. Aber wenn es tatsächlich so weit kommt, dann ist mein Plan nicht aufgegangen. Ich weiß nicht, was heute geschehen wird. Ich schreibe dir für den Fall, dass alles schiefgeht. Bitte weine nicht wochenlang, und frage dich nicht, wie es dazu kommen konnte. Es ist nun mal passiert. Vergiss mich nur nicht.

Unser Geld ist sehr knapp. Du weißt, dass die Wohnung und das Restaurant sehr teuer waren. Das Geschäft ging gut, aber es war schwierig, es auch am Laufen zu halten. Viele Firmen verließen die Stadt, gingen pleite. Es kamen immer weniger Gäste in den Mittagspausen. Eine Zeitlang ging es gut, aber irgendwann wurde es wirklich brenzlig. Ich musste etwas unternehmen, oder alles würde den Bach runtergehen. Deshalb lieh ich mir Geld. Ich lieh es mir von James. Ein Kumpel hatte ihn mir empfohlen. Es war die schnellste Lösung und die einfachste, und die Zeit lief mir davon, darum suchte ich gar nicht erst nach Alternativen. James sagte, die Zinsen seien minimal, darüber solle [22] ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Er versprach mir, dass alles gut werden würde. Und er hatte recht. Nachdem er mir das Geld geliehen hatte, ging es bergauf. Das Geschäft lief etwas besser, und wir konnten davon leben. Aber nach ein paar Monaten erklärte mir James, er werde die Zinsen erhöhen, weil das Geld noch nicht zurückgezahlt war. Ich hatte das Geld nicht. Nicht genug jedenfalls. Er erhöhte die Zinsen auf 4000Dollar im Monat, einfach so. Ich saß in der Falle und geriet in Panik. Ich konnte das Geld immer noch nicht zurückzahlen, und der Stapel unbezahlter Rechnungen wuchs und wuchs. Nach etwa vier Monaten bot James mir einen sogenannten Kompromiss an. Wenn ich ihm unser Restaurant überschriebe, müsste ich meine Schulden nicht zurückzahlen. Ich müsste nur das Restaurant aufgeben. Aber wie konnte ich? Ich hätte meine Arbeit verloren! Ich hätte alles verloren! Alles, von dem ich immer geträumt und für das ich immer gelebt hatte! Das konnte ich nicht. Daisy wollte, dass ich es tue, sie zwang mich fast. »Tu es! Mach es! Er wird dich umbringen, ich schwöre dir, er wird dich umbringen! Gib ihm einfach das Restaurant, bring es hinter dich!« Aber ich konnte nicht. Also lehnte ich das Angebot ab. Da fing James an, mir zu drohen. Er verfolgte mich auf dem Heimweg und bedrängte mich in dunklen Gassen. Ich hatte panische Angst, aber ich wusste noch immer nicht, was ich tun sollte. Zu allem Überfluss starb dann auch noch Grandma, erinnerst du dich? Ich musste ein paarmal weg, um ihre Beerdigung zu organisieren. Ich hatte [23] gehofft, sie würde uns ein bisschen Geld hinterlassen, aber sie hinterließ nichts als Schulden. Ich musste mir sogar noch mehr Geld leihen, um ihre Beerdigung bezahlen zu können.

Ich habe einen Plan. Deine Mutter wird ein paar Sachen aus Grandmas Haus holen. Dann gebe ich dir eins meiner Bücher, mein absolutes Lieblingsbuch als Kind, als Zeichen dafür, dass mit mir alles in Ordnung ist, es ist etwas, das mir sehr viel bedeutet. Dann fahre ich zu einer kleinen Bank außerhalb der Stadt und raube sie aus. Ich stehle alles. Das ganze Geld, das ich James schulde, damit ich wieder leben kann. Ich kann nicht schlafen, kann nicht essen. Ich muss das Geld irgendwie beschaffen.

Aber bevor ich das alles tun kann, muss ich diesen Brief für dich zu Ende schreiben. Die Uhr tickt. Die Jalousien sind heruntergelassen, die Tür verschlossen, und ich sitze in meinem Zimmer, wo mich niemand sehen kann. Ich bin ein Feigling. Ich habe Angst, Blue. Ich will dich nicht alleinlassen. Ich werde es vermissen, dir dein Abendessen zu kochen. Ich werde es vermissen, dir in die Augen und dich lächeln zu sehen. Ich will nicht aufhören zu schreiben.

Aber ich muss jetzt los.

Dein Vater

Ollie

Ich wollte mir das Herz aus der Brust und in Fetzen reißen und es hier liegenlassen. Aber das tat ich nicht. Stattdessen wartete ich auf das Brechen des Damms in [24] meinem Kopf. Ich wartete darauf, dass das Wasser stieg und stob. Ich starrte auf die Wörter und las sie immer und immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, das Hirn würde mir aus dem Schädel kreiseln. Dann endlich spürte ich die Risse durch den Damm knacken. Ich atmete schneller. J-A-M-E-S. Fünf Buchstaben. Es lief mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich diesen Namen las. Ich las ihn wieder. Immer und immer wieder. Ich formte ihn wieder und wieder mit den Lippen. Ich drückte mit der Fingerspitze darauf. James. Langsam wuchs ein Gedanke in mir und schlang sich um mein Herz. Anfangs war er ganz undeutlich. Er floss durch meine Adern, kroch in meine Lunge. Als ich seinen Namen aussprach, hinterließ er einen ekligen Geschmack auf meiner Zunge. Dann spürte ich es. Zorn. Innerlich hatte ich einen Tobsuchtsanfall. Nichts davon ließ ich nach außen dringen. Aber in meinem Inneren spürte ich eine unbändige Wut. James.

Und dann war es so weit. Der Damm barst. Und Ladies und Gentlemen und insbesondere Sie, Herr Doktor: Der Fluss fing nicht einfach so an zu fließen. Es war mehr als das. Er wurde ein reißender Strom, der in den Ozean mündete und ihn zum Brodeln brachte. Wellen, meterhoch, durchbrachen den Damm. Das Wasser färbte sich grau. Schmutzige Flaschen, Unrat und Scherben wurden aus der Tiefe emporgespült. Möwen mit öligem Gefieder kreischten über den Wellen, das Wasser schlug gnadenlos gegen meinen Schädel. Die Gischt prickelte auf meinem weichen Hirn wie der weiße Speichel eines tollwütigen Hundes. James.

[25] 4

Bevor ich weitermache, Herr Doktor, sollte ich Ihnen wahrscheinlich mehr über meinen Vater erzählen. Und über Daisy, wie sie einmal war. Über mein Leben, wie es einmal war. Über mein Buch.

Wir lebten ganz in der Nähe des falschen Teils der Stadt, den nur diejenigen kennen, die auch dort leben. Frierende Mädchen an Straßenecken, schwarz gekleidete Jungen, die mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen in dunklen Gassen stehen. Dreckblinde Fenster. Speckige Türklingeln. Erbrochenes auf der Straße. Lichtschalter in den Wohnungen, die schwarz sind von all den Fingern, die sie berührt haben. Wenn jemand sich in diese Gegend verirrt, kurbelt er sofort die Autofenster hoch und stellt das Radio ab. Glücklicherweise lebten wir gerade noch auf der sicheren Seite, wo Kinder wie ich noch allein zur Schule gehen konnten, während nur ein paar Blocks weiter Kriminelle durch die Straßen zogen.

Damals waren Zigaretten ein Gottesgeschenk, und wer irgendeine Art von Schmuck trug, galt automatisch als reich. Ich besaß keinen Schmuck, aber ich hatte ein Seidenband, das ich durch einen Stein mit Loch gefädelt [26] hatte – und das war meine Halskette. Ich hatte Dreck unter den Fingernägeln und dürre Beinchen.

Das Restaurant meines Vaters lag in der Crimson Street. Es hieß The Olive Place. Daisy kellnerte, mein Vater war der Koch, der beste Koch der Welt. Er hatte bei der Arbeit immer ein Lächeln im Gesicht. Er wollte, dass jedes seiner Gerichte perfekt schmeckte.

Daisy und er arbeiteten sehr hart. Von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr in der Nacht, sieben Tage die Woche. Ollies Augen leuchteten jedes Mal, wenn er einen Gast beim berühmten ersten Bissen beobachtete. Er machte die Runde, plauderte mit den Gästen. Die kleinen Mädchen zwickte er in die Wange und sagte ihnen, sie würden mit jedem Mal hübscher, den jungen Männern klopfte er auf die Schulter und wollte wissen, ob sie schon eine Freundin hätten. Oft füllte er ihre Gläser nach, ohne es zu berechnen. Einfach, weil es ihn glücklich machte, andere Menschen glücklich zu sehen. Mein Daddy war ein guter Mann; mein Daddy hatte ein gutes Herz. Ich beobachtete ihn oft bei der Arbeit. Die Küche war seine Oase in der Wüste. Es war, als wäre er dort ein anderer Mensch. Ich las die Unschuld in seinen Augen, obwohl er vor lauter Sorgen, die er mir nicht erzählte (nicht erzählen konnte), einen ganz versteinerten Ausdruck im Gesicht hatte. Zu Hause war unsere Familie angespannt, hoffnungslos, zerrissen vor Stress; im Restaurant waren wir ganz, heil.

»Weiter geht’s, Darling!«, rief er immer, wenn er einen neuen Teller für Daisy auf die Theke stellte. Von Zeit zu Zeit drehte er sich beim Kochen um und lächelte mir [27] zu. Er sprang von Pfanne zu Pfanne und sang mit lauter Stimme. Kostete hier ein bisschen, probierte dort einen kleinen Schluck, um sicherzugehen, dass auch ja alles, was seine Küche verließ, köstlich schmeckte. Daisy brachte die Teller zum Tisch und schrieb niemals eine Bestellung falsch auf. Sie wischte den Boden, putzte die Fenster und achtete darauf, dass die Bilder alle gerade hingen und die Tische alle korrekt mit der Gabel und Serviette links und dem Messer rechts vom Teller gedeckt waren.

Als ich älter wurde und mir die Welt zusammenzureimen begann, überraschte es mich nicht, dass wir finanzielle Probleme hatten. Ich wurde sozusagen mit dem Wissen geboren, dass Geld für uns nie leicht verdient sein würde. Was ich nicht gewohnt war, war der Anblick meiner Familie beim Abstieg in die Bedrängnis der Armut, die Anspannung, die sich breitmachte, als der Vermieter die Miete erhöhte; diese Anspannung in mir war so greifbar, dass ich sie mit den Zähnen durchbeißen konnte.

Wir mussten Daisys Auto verkaufen. Jeden Tag kamen meine Eltern erschöpfter nach Hause, Daisy brach vor Stress und Frustration sogar oft in Tränen aus. Ich beobachtete Ollie beim Abendessen, wie er auf die unbezahlten Rechnungen starrte, die sich immer höher stapelten. Da meine Eltern sich keinen Babysitter mehr leisten konnten, schlief ich ein paar Mal in der Woche bei Anthony. Wir verstanden uns richtig gut. Ich kannte ihn, seit ich ganz klein war. Ich durfte immer lange aufbleiben, und wir bestellten oft Pizza. Manchmal backten wir [28] Kekse, weil er wusste, dass mich das glücklich machte. Glücklich. Glück ist ein komisches Wort, wenn man gar nichts mehr spürt. Wie eine versunkene Insel, eine vergessene Welt, die einmal eine Bedeutung hatte.

Eines Tages saß ich an meinen Hausaufgaben, und Anthony sah fern, als es auf einmal an der Tür klopfte. Anthony öffnete, und ich versteckte mich hinter seinem Rücken, wie Toto hinter Dorothy, nachdem das Haus gelandet ist und sie die Tür zum ersten Mal öffnet.

Es war mein Vater, er stand einfach da, keuchend und mit weit aufgerissenen Augen. Er blickte immer wieder hinter sich. Schließlich umarmte er Anthony ohne ein Wort. Selbst ich konnte sehen, dass das keine lockere Begrüßung zwischen Freunden war. Ollie schien Anthony etwas mitteilen zu wollen. Heute, rückblickend, weiß ich, dass er stumm um Hilfe rief. Wie eine vertrocknete Pflanze, die sich in den Boden krallt und verzweifelt hofft, nicht sterben zu müssen.

Ich hatte Ollie seit zwei Tagen nicht gesehen. Er ließ Anthony los, hob mich hoch und wirbelte mich herum.

»Mein kleiner Engel«, sagte er. »Meine kleine Prinzessin.«

Er trug schwarze Kleidung und eine schwarze Beanie-Mütze. Er griff in seinen Rucksack und zog ein Buch daraus hervor.

»Das habe ich als Kind fast jeden Tag gelesen. Du liest doch gern etwas über fremde Welten. Die Welt dieses Buches wird deine eigene Welt verändern. Es ist schon ein bisschen abgenutzt, aber das macht nichts. Vielleicht [29] gefällt es dir ja auch. Es ist ein sehr bekanntes Buch«, erklärte er mir.

Er reichte es mir. Ich starrte es an. Dieser Moment war der Anfang von etwas Übernatürlichem, Herr Doktor. Vielleicht ist es der Auslöser für meinen Wahnsinn gewesen oder die Rüstung, die mich dagegen schützt. Wie auch immer, ich werde Ihnen nicht verraten, wie das Buch heißt. Noch nicht. Ollie sagte, ich solle mich ins Wohnzimmer setzen und das Buch lesen, während er Anthony in die Küche zog und die Tür hinter sich zumachte. Das war für mich nichts Neues, denn wenn Anthony kam, murmelten sie oft verschwörerisch oder gingen in einen anderen Raum, um hinter verschlossener Tür weiterzureden.

Etwa zehn Minuten später kamen sie zurück. Ollie kam zu mir, und ich bemerkte den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen, ich sah, wie sich seine Mundwinkel krampfhaft nach oben ziehen wollten und er sie dann doch hängen ließ, weil es die Mühe nicht wert war. Er seufzte – ein langer Seufzer, der die unheimliche Stille durchbrach, den ich aber nicht deuten konnte. Ollie legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir in die Augen. Bis heute fühle ich seine Hände auf meinen Schultern. Er küsste mich sanft auf beide Wangen. Die Macht der Liebe zwischen Vater und Tochter ist unermesslich, wie ich inzwischen weiß.

»Du wirst immer mein Baby bleiben. Hab dich lieb«, flüsterte er und strich mir mit dem Daumen über die Wange. In seinem Augenwinkel, nur für mich sichtbar, funkelte eine winzige Träne. Weder Anthony noch James, [30] noch der Wachmann in der Bank hätten sie sehen können. Nur ich. Ich war sein Baby, ich war ein Teil von ihm.

»Hab dich auch lieb, Daddy«, erwiderte ich. Er zog die Wohnungstür hinter sich zu. Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen.

Später, beim Abendessen, las ich noch immer in dem Buch, während ich mir achtlos Kartoffelbrei in den Mund löffelte. Den ganzen Abend legte ich es nicht zur Seite. Während Anthony fernsah, las ich weiter. Als er mich ins Bett brachte, las ich noch immer. Als ich mit dem Buch auf der Brust einschlief, träumte ich von der Geschichte.

Sie werden es nicht verstehen. Sie werden es nicht verstehen, bis Sie das Buch gelesen haben. Sie müssen wissen, Sie müssen verstehen, dass das Buch in meinem Inneren heranwuchs wie eine Rose, die ihre Dornen in meine Knochen schlug und mein Herz in ihren Blütenblättern einschloss.

Am nächsten Morgen öffnete Anthony vorsichtig die Tür und kam in mein Zimmer. Er versuchte leise zu sein, aber der knarzende Holzboden verriet ihn und weckte mich. Seine Augen waren rot und verquollen und wirkten, als wären sie schon lange wach. Meine hingegen öffneten sich gerade erst, und die helle Morgensonne floss sofort durch mich hindurch. Das Buch lag noch auf meiner Brust. Es bewegte sich mit ihr auf und ab. Als wäre es selbst ein Lebewesen.

[31] »Komm hoch, Blue.«

Ich setzte mich auf. Getrocknete Tränen klebten auf seinen Wangen. Er seufzte.

»Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«

»Was denn?«

Er senkte den Kopf und fing an zu weinen. Seine Schultern zuckten, und er rang nach Luft. Ich war verwirrt, und eine schreckliche, würgende Angst machte sich in mir breit. Ich hatte Anthony noch nie weinen sehen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sein Gesicht war verzerrt, um den Mund und die Augen herum gruben sich tiefe, dunkle Falten. Die Tränen liefen ihm jetzt übers Gesicht. Er versuchte gar nicht, sie wegzuwischen.

»Blue, hör zu. Ollie… Ollie wird heute Abend nicht nach Hause kommen. Ihm ist e-e-etwas passiert. O Gott…«, flüsterte er. »I-ich… Es tut mir so leid. Es tut mir leid. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten. Er… Er ist jetzt im Himmel und wird auf Daisy und dich herabschauen, so dass du keine Angst haben musst, hörst du?« Seine Stimme zitterte.

»Was… Was ist denn passiert?«, flüsterte ich.

»Ich… ich glaube, es ist am besten, wenn ich –«

»Was ist passiert? WAS IST MIT MEINEM DADDY PASSIERT?!«, schrie ich plötzlich.