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In sieben Jahren begegnet eine junge Studentin sieben Männern: dem Astrologen, dem Epileptiker, dem Philosophen, dem Priester, dem Physiker, dem Künstler und dem Psychiater. Sie begehrt an diesen Männern vor allem das Wissen, das sie befähigt, die Welt zu beurteilen. Sie versucht die Gesetze, die sie sich für ihr Leben gewählt haben, zu ergründen, sucht nach dem, was Halt in einer unsicheren Welt geben kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Connie Palmen
Roman
Aus dem Niederländischen von Barbara Heller Mit einem Nachwort von Teresa Präauer
Diogenes
Wenn ich falle, werde ich
weinen vor Glück
Samuel Beckett
Den Astrologen lernte ich im Sommer 1980 kennen. Es war an einem Freitag, dem Dreizehnten. Ich merke so was immer erst hinterher. Ein Freitag, der Dreizehnte kann verstreichen wie jeder andere Tag, aber wenn eins zum andern kommt und die Ereignisse sich häufen, scheinen Name und Zahl doch eine geheime Verbindung zu haben, und nur unsere eigene Überheblichkeit lässt uns die Fingerzeige des Schicksals in den Wind schlagen.
Seit Beginn meines Studiums arbeitete ich jeden Freitagnachmittag in einem modernen Antiquariat im Stadtteil De Pijp. Dort war wenig Betrieb, und ich konnte in Ruhe ein Buch lesen oder die Zeitungen durchblättern. Zeitungen lese ich nie, ich blättere nur darin herum. Für wirkliche Nachrichten genügen die Schlagzeilen, die Vorgeschichte dazu ist immer schon altbekannt.
Meist schrieb ich Briefe an alte Bekannte. So wie jetzt.
Es war ein warmer Tag. Der Zeitungsständer war draußen, die Tür stand offen. Jemand war lautlos eingetreten, ein kleiner, gedrungener Mann mit Vollbart und einer Halbbrille.
Es ärgerte mich, dass ich nicht wusste, wie lange er schon so dastand und mich mit schief gelegtem Kopf anstarrte, den Blick forschend über den Rand seiner Brille gerichtet, wobei das Weiß im Augapfel immer so unangenehm hervortritt.
So viel Weiß im Augapfel anderer Leute kann ich nicht haben.
Am Ausmaß meines Ärgers merkte ich zum ersten Mal an diesem Tag, dass ich schlecht gelaunt war und lieber niemanden sehen wollte. Ruhe, Zähne aufeinander, Schweigen.
Ich grüßte freundlich und beugte mich wieder über meinen Brief. Der Satz »Starr mich nicht so an, du Hornochse!« durfte in meinem Kopf auf keinen Fall zur monotonen Litanei ausarten. Wenn ich ihn immer wiederholte, schnitt ich mir nur ins eigene Fleisch, denn ich kann mich in große Emotionen hineinsteigern, ohne dass ein anderer es überhaupt merkt.
Ich las die letzten Sätze in meinem Brief und schrieb ohne Absatz dazu:
»Jetzt steht plötzlich ein Hornochse im Laden. Du kennst mich, Du weißt, dass ich mit Tieren nicht umgehen kann. Was soll ich mit einem Ochsen?«
Das half.
Er ging im Laden umher, mit einem merkwürdigen, fast schlurfenden Gang. Wenn man länger in einem Geschäft arbeitet, lernt man Leute unbemerkt beobachten. Man behält sie wie einen Schatten im Augenwinkel und registriert sehr schnell jede abweichende Bewegung.
Klauen wäre allerdings das Letzte, was ich ihm zugetraut hätte. Sein ganzer zögernder, schiefer Gang war viel eher der eines scheuen Tieres als der eines Menschen, der seinen Mut zusammennimmt, um zuzugreifen. Die Bücher sah er sich kaum an. Wenn er vor einem Regal oder einem Tisch stehen blieb, spürte ich, dass er nachdenklich prüfend zu mir hersah, als fragte er sich, wo er mich schon einmal gesehen hätte.
Mein Gedächtnis für Gesichter ist ausgezeichnet. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
Sobald man irgendwo Gefahr wittert, schaut man dem Feind am besten direkt ins Auge. Wendet man den Blick von etwas, das einen ängstigt, ab, wächst die Angst ins Unermessliche und dauert auch viel länger als nötig. Aber man macht es von Natur aus so. Es ist wie beim Motorradfahren. Als Sozius neigt man dazu, den Oberkörper in der Kurve aufzurichten und möglichst weit vom Asphalt weg zu stemmen. Dabei sollte man gerade mitgehen, sich in die Kurve legen, bis die Nase fast über die Fahrbahn fegt. Was einen ängstigt, muss man tun, es ist das Sicherste.
Ich schaute auf, geradewegs in sein Gesicht, und fragte, ob ich ihm behilflich sein könne. Die Frage brachte ihn ganz aus der Fassung. Unerwartet viel Bewegung kam in seinen Körper, und er schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, nein«, sagte er, als schnappe er nach Luft.
So viel Verlegenheit ist unerträglich; ich lächelte ihm kurz zu, damit er sich wieder beruhigte. Nur keine Aufregung, kusch, sitz, mein Freund!
Nervöse Menschen können plötzlich sehr aggressiv werden.
Ich wollte meinen Brief weiterschreiben.
»Na ja, vielleicht doch«, stammelte er. Er habe vor ein paar Wochen hier in der Gegend in irgendeiner Buchhandlung, er glaube, in dieser, wisse es aber nicht mehr genau, jedenfalls irgendwo in De Pijp, ein Buch über van Gogh in der Auslage gesehen, und nach diesem Buch sei er jetzt auf der Suche. Nicht etwa, weil er van Gogh besonders schätze, im Gegenteil, er wolle das Buch lesen, weil er selbst nicht verstehe, was er eigentlich gegen van Gogh habe.
Er sprach schnell, aber sehr leise. Es war ein atemloses Murmeln, mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Aber das kann ich fast nie.
»Falls wir es haben, steht es dort«, sagte ich und wies auf das Regal links von dem Tisch, an dem ich saß.
»Aha«, sagte er und schaute gutwillig in die angegebene Richtung. Dann warf er mir noch ein paar fragende Blicke zu und blieb unschlüssig stehen.
Was wollte er? Seine Geschichte hatte merkwürdig geklungen, aber schließlich kann man mit jedem x-Beliebigen stundenlang über das Für und Wider von van Gogh diskutieren, und dazu hatte ich keine Lust.
Mit gekrümmtem Rücken ging er an meinem Tisch vorbei. Ein trockener Geruch streifte mich. Er stand jetzt einen Meter von mir entfernt, das Gesicht dem Regal mit den Kunstbänden zugewandt.
»Schütze-Skorpion«, sagte er.
Stimmt.
Er war daran gewöhnt. Auf den ersten Blick stieß er auf eine Mauer des Widerstands, als sei etwas mit ihm nicht in Ordnung, etwas Komisches, nein, schlimmer, etwas Abstoßendes. Er war schließlich nicht blind. Er sah es genau. Er sah es an ihren Augen, ihren Gesichtszügen, den Muskeln um den Mund – alles war Ablehnung. Kaum sagte er den Leuten ihr Sternzeichen, veränderte sich ihre ganze Haltung. Es musste schon sehr seltsam zugehen, wenn jetzt nicht etwas in ihren Augen aufleuchtete und ein Hauch brennender Neugier die wache Härte des ersten Blicks verscheuchte.
Getroffen. Der Astrologe las die Bereitwilligkeit in meinem Gesicht, ließ den letzten Rest vorgetäuschten Kaufinteresses fahren und kam an meinen Tisch. Zugleich mit ihm erreichte mich ein kompakter Geruch, der Geruch eines verstaubten, ausgetrockneten Kadavers.
»Fünfundfünfzig?«, fragte er.
Ich nickte verblüfft und stellte ihm meinerseits die Frage, woher er das alles wisse, einfach so, aus dem Nichts. Er sagte, das sei kein Wissen, es sei eine Form des Sehens – die Farbe meiner Kleidung, die mondförmige Linie meines Gesichts, und »le petit grain de folie dans tes yeux«.
»Und das da«, sagte er und deutete auf den Tisch.
»Was?«
»Das Schreiben«, erwiderte er.
Wieder ein Volltreffer! Mag kommen, was will: Ich gebe klein bei und beschließe, Zeitung, Bücher und Brief sich selbst zu überlassen. Demonstrativ schiebe ich all das Papier beiseite, um dem Fremden zu zeigen, dass ich ihm so lange zuhören werde, bis ich alles weiß über diese Art des Sehens und Beurteilens, über das, was in den Sternen steht, über etwas, wovon ich will, dass es irgendwo geschrieben steht und sich als unentrinnbar erweist: die Beziehung zwischen mir – meinetwegen auch in meiner Eigenschaft als Schütze-Skorpion – und dem Schreiben.
Er hatte eine vollgestopfte Tasche aus billigem Material über der Schulter hängen. Er stellte sie auf den Boden und holte ein dickes Buch heraus. Das war ersichtlich schon häufiger aus zerknautschten Taschen hervorgeholt und benutzt worden. Der Leinenrücken war oben und unten eingerissen, und an verschiedenen Stellen steckten Zettel zwischen den Seiten.
»Dann wollen wir uns deinen Kram mal ansehen«, sagte er, nachdem ich ihm Ort und Stunde meiner Geburt genannt hatte. Er begann, mich zu amüsieren. Das fand ich hübsch gesagt: deinen Kram.
Er war in seinem Element und kompetent. Sein Gesicht hatte einen vergnügten, offenen Ausdruck angenommen, und das war auch besser so. Wenn jemand immer nur nickt, sich krümmt und duckt, geht einem binnen kürzester Zeit der Gesprächsstoff aus, und man langweilt sich so tödlich, dass es einen auch kaum noch rührt, wenn dieser Jemand beispielsweise sagt, man sei in einem früheren Leben Mata Hari persönlich gewesen, und dafür die überzeugendsten Beweise liefert.
Das Buch enthielt ausschließlich Tabellen. Er bat mich um ein Blatt Papier und einen Stift, blätterte vor und zurück, fuhr mit dem Finger die Tabellen entlang und notierte sich auf dem Papier eine Reihe von Zeichen. Ab und zu gab er mit leisem Ächzen ein »Oh, là, là« oder »Auweia« von sich und sah mich dabei verschmitzt an, als müsste ich ja wissen, worum es ging, als hätte ich ihm jahrelang eine Sünde verheimlicht, die er zu guter Letzt doch aufgespürt hatte.
Inzwischen waren ein paar Leute im Laden, und ich musste meine Aufmerksamkeit zwischen den Kunden und dem Mann vor mir teilen. Er hatte nur Augen für Zahlen und Zeichen, und diese Zahlen und Zeichen bedeuteten immer wieder etwas anderes, etwas, das mich betraf, etwas, das ihn stöhnen ließ, ihn überraschte, ihn Dinge sagen ließ wie: »Was für ein Horoskop!« und: »Schon wieder ein Dreieck!« Seine Bemerkungen versprachen eine Geschichte über mich, die ich gleich hören würde.
»Voilà, dein kosmisches Brandmal«, sagte er schließlich und hielt mir das vollgekritzelte Blatt vor die Nase.
Dies stand darauf:
Ich konnte nicht viel damit anfangen. Venus, Mars und den Mond erkannte ich zwar noch, aber was in aller Welt hatten sie zu bedeuten? Welche Zeichen hatten ihn zu seinen Ausrufen veranlasst und warum? Welche Worte hatte er jetzt im Kopf, und wie kamen sie dorthin?
Auf dem Papier stand meine Geschichte, aber in einem für mich unlesbaren Code. Das ist frustrierend.
Er war im Besitz eines Textes, der meinen Bauplan enthielt, mit meinen guten und meinen schlechten Eigenschaften, der sagte, ob ich zu großen Taten ausersehen war oder besser gleich einpacken konnte und den Albtraum des banalen Lebens endgültig zum Traum machen musste. Ich fühlte mich beraubt. Er besaß etwas, das mir gehörte, aber ich hatte keinen Zugang zu meiner eigenen Geschichte.
Enttäuscht, wenn auch vorsichtig, sagte ich, für mich sei das Geheimsprache, und bat ihn, dies alles in normale Sprache zu übersetzen, damit ich selbst, bitte schön, auch lesen könne, wer ich sei.
»Oh, là, là«, sagte er wieder und lachte wie jemand, der seine Vermutungen bestätigt findet. »Du bist aber ein anspruchsvolles Mädchen.«
»Und wo steht das geschrieben?«, fragte ich nach.
An eine Übersetzung in normale Sprache traute er sich nicht. Er hatte Gradzahlen und Aspekte aufgeschrieben, aber jeder Astrologe deutete die Stellung der Planeten zueinander wieder anders. Um mir entgegenzukommen, vermerkte er über und unter den Zeichen, wofür sie standen, welches der Mond war, welches die Sonne, mit welchen Symbolen die acht Planeten gekennzeichnet waren, wie die Aspekte hießen und welche Namen die zwölf Tierkreiszeichen hatten.
Von dem Augenblick an, da er das Buch mit den Tabellen in Händen hielt, hatte er sich mit ungenierter Direktheit an mich gewandt. Ich begann, mich zu fragen, wer er war, wo er herkam, was er so machte, wie alt er war und was er mit diesem van Gogh zu schaffen hatte.
Aber ich kenne mich. Bevor ich es merke, redet mein Gegenüber nur noch von sich selbst. Sonst versinke ich gern in den Geschichten anderer Leute, und es fällt mir ohnehin schwer, über mich zu reden, aber hier lag der Fall anders. Vor mir stand der Verfasser meiner eigenen Geschichte, ein Abgesandter der Götter, und ich brauchte nur noch zuzuhören. Meine Geschichte befand sich bei ihm, und ich würde sie zu hören kriegen, wenn es mir gelang, meine Neugierde auf sein Leben zu unterdrücken und auch die lächerliche Konvention zu zügeln, die sich interessiert nach dem werten Befinden erkundigt und danach, was die Sterne am Himmel oder das Leben auf Erden ihm für Brandmale aufgedrückt hatten.
Wissen, was man will, ist Macht, und Macht macht ehrlich. Es ging mir darum, meine Geschichte vor Ladenschluss auf den Tisch zu kriegen, danach würde ich weitersehen. Ich sagte ihm also, dass ich jetzt zwar »Sonne-Trigon-Mond« lesen könne, aber deswegen nicht schlauer sei als vorher, als ich nicht einmal das entziffern konnte.
»Du bist ein philosophischer Hurenengel«, sagte er und kicherte.
Ich bot ihm jetzt einen Stuhl an und fragte, ob er Lust auf eine Tasse Kaffee habe.
»Es ist ein sehr schönes Horoskop. Es klappert, es ist schwer und auch ein bisschen bizarr, aber au fond ist es sehr harmonisch. Es ist in Ordnung. Dein Horoskop steht ganz im Zeichen von Saturn, und Saturn ist kein einfacher Planet. Aber bei dir wird alles Unangenehme durch andere Planeten aufgefangen. Wenn Saturn ein Horoskop beherrscht, dann bringt das viel Schwermut mit sich. Es ist das Zeichen der Melancholiker. Aber du bist auf ziemlich ausgelassene Art melancholisch. Bei dir entspringt die Schwermut eher aus dem Besitz von Wissen und dem Gebrauch deines Verstandes als aus dem Okkulten, wie es bei Saturnmenschen meist der Fall ist. Deine Lust sitzt im Köpfchen, im Lernen. Leidenschaft ist bei dir Leidenschaft des Geistes. Das meine ich mit dem philosophischen Hurenengel. Du schacherst mit deinem kostbarsten Gut: Für ein bisschen Wissen verkaufst du deine Seele. Je häufiger du Gelegenheit hast, dein Gehirn auf vollen Touren laufen zu lassen, desto dankbarer und glücklicher bist du. Denken entspannt dich. Saturn liebt Ordnung, und du bist erst zufrieden, wenn du alles in ein Schema oder eine Struktur gebracht hast. Und wenn bei all dem Grübeln und Ordnen nur Melancholie herauskommt, dann nimmst du das in Kauf. Alles besser, als keinen Namen für die Dinge zu haben.
Es ist höchst bizarr, aber du hast keine einzige Opposition. Ich kenne eine Menge Horoskope, aber ein Horoskop ohne Oppositionen sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben. Vielleicht hab’ ich mich ja geirrt«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch den Bart, »das könnte sein. Ich werde zu Hause noch einmal nachsehen. Jeder Mensch hat mindestens eine Opposition, warum also du nicht? Und dabei hast du an die zehn Trigone, auch so eine unmögliche Zahl. Zehn! Das Trigon ist das Dreieck, ein sehr harmonischer Aspekt, denn es geht dabei immer um ein Vermitteln zwischen Extremen. Du bist wirklich ein Glückspilz. Deine Sonne steht in einem schönen Trigon zu deinem Mond und deiner Venus und bildet noch ein weiteres Trigon mit Pluto. Das ist prima. Günstig auch für mich, denn so stehst du zu meinem Mars und meiner Sonne. Ob ich persönlich allerdings etwas davon habe, ist die Frage, denn bei der Venus, die du hast, bist du mit allen Männern gut Freund. Du tust ihnen wohl. Du trittst zwar auch nach ihnen mit deinen gemeinen Fische-Füßen, aber hinterher leckst du ihnen die Wunden.
Du bist alles andere als eine unkomplizierte Frau. Du hast deine tödlichen Seiten. Ein Saturn im Quadrat zu Pluto macht einen Menschen ziemlich aggressiv, aber andererseits sitzt dieser harte Pluto bei dir schön geborgen bei deiner Venus. Dabei kommen gnadenlos aggressive Frauen heraus, aber sie zerstören nur, weil sie glauben, Gutes damit zu tun, also im Grund aus Liebe. Zerstörung und Aufbau sind zwei bedeutende Elemente in deinem Horoskop. Es ist vom Tod durchzogen, es wimmelt nur so von Skorpionen. Dabei hast du Saturn auch noch einmal in deinem Aszendenten, also im Skorpion selbst.
Wirklich faszinierend, ich muss schon sagen. Im Grunde bist du nur auf eins aus: Überall willst du die Schale aufbrechen, um an den Kern von Menschen und Dingen heranzukommen. Denn genau darauf bist du scharf: auf den Besitz der Seele.«
»Und was ist mit dem Schreiben?«, fragte ich.
»Oh, das steckt überall in deinem Horoskop«, erwiderte er, »an allen Ecken und Enden. Schauen wir erst mal bei Merkur nach. Merkur ist Hermes, der Gott der Schrift, aber so etwas weißt du natürlich auch. Hermes benimmt sich ziemlich chamäleonhaft. Er wird erst ein Jemand, wenn noch ein anderer Jemand vorhanden ist, eine Persönlichkeit, in der er Ordnung schaffen oder – wie soll ich sagen – an deren Stelle er treten kann. Hermes nimmt die Form all dessen an, was er bei einem Menschen vorfindet, er schlüpft in die verschiedenen Personen, aus denen dieser Mensch besteht, und bringt dann Struktur hinein, oder er analysiert das Ganze einmal gründlich durch, sodass es klar und fassbar wird. Bei einem leeren Menschen ohne Substanz gibt es für Hermes nichts zu tun. Bei dir dagegen, bei jemandem mit einem so empfänglichen Mond, hat er alle Hände voll zu tun. Du bist sehr offen für Eindrücke, und was in deinen Kopf gelangt, muss irgendwie verarbeitet werden, denn wenn du deine Eindrücke nicht verarbeitest oder bearbeitest, dann verschwinden sie, als hättest du sie nie gehabt. Dagegen kannst du nichts machen. Die Position von Hermes in einem Horoskop zeigt sehr gut, wie Eindrücke verarbeitet werden, und auch, wie jemand mit den Ergebnissen seiner Analysen umgeht, wie er anderen zu vermitteln versucht, was er gelernt hat.
Merkur steht bei dir im Zeichen Skorpion hintan und befindet sich in deinem zwölften Haus. Das zwölfte Haus ist das Haus des verborgenen Wissens, der Schlupfwinkel des Geheimen. Wenn man Hermes im Haus des Geheimen hat, also in dem Haus, in dem man sich am meisten versteckt und einsam ist, dann kann es sein, dass man seine Entdeckungen und sein Wissen nicht direkt an andere weitergeben kann. Für die meisten Menschen ist das zwölfte Haus ein ziemlich unangenehmes Haus, aber was dem einen Angst macht, kann für einen Schriftsteller absolut notwendig sein. Er muss allein sein, um über die Welt nachdenken zu können, aber er muss auch allein sein, um mit anderen in Kontakt treten zu können und sie von seinem Wissen profitieren zu lassen. Verstehst du? Du musst irgendeine Lösung finden, wie du mit anderen kommunizieren und ihnen deine Botschaften übermitteln kannst, ohne deswegen mit ihnen umgehen zu müssen – physisch, meine ich.
Und da könnte für dich ein Problem liegen, denn dein Horoskop enthält gleichzeitig so vieles, was dich den anderen geradezu in die Arme treibt, und diese anderen halten dich dann wiederum ab von dem, was du brauchst und worin dein Glück liegen kann.«
Ich hatte zwar einen Hermes, Saturn, ein Rudel Skorpione oder ein zwölftes Haus des verborgenen Leidens noch nie bemüht, aber was der Astrologe sagte, erschien mir unglaublich wahr.
Das Unangenehmste am Nachdenken ist für mich übrigens, dass man so oft bei Paradoxen landet. Das Schreiben zum Beispiel scheint etwas mit einer paradoxen Sehnsucht zu tun zu haben. Was immer man damit erreichen will – Liebe, Trost, Verständnis, Ruhm –, um seinen Willen zu bekommen, muss man sich gerade so weit wie möglich von anderen fernhalten und sich völlig abkapseln, andererseits kann man das Einzige, was man letzten Endes begehrt, nur von anderen bekommen. Es ist ein mühsames Unterfangen, jemandem etwas klarmachen zu wollen, was man für die Wahrheit hält, was man aber unmöglich aussprechen kann, wenn man ihm dabei auch noch ins Gesicht sehen muss. Da taucht dann wieder so viel neue Wahrheit auf. Aber das Schlimmste kommt noch: Wahrheit und Schreiben vertragen sich nicht. Das merkt man sehr schnell, wenn man dem Sog der Welt endlich genug Widerstand geleistet hat und nach endlosem Herumtrödeln im stillen Kämmerlein an seinem Tisch gelandet ist. Da sitzt man dann und möchte so gern ehrlich sein und tun, was einem vor dem beobachtenden Auge der Welt fortwährend misslingt. Ehrlich sein ist so schwer. Beim Schreiben glaubt man weniger Probleme damit zu haben, weil man sich mannhaft der Augen, Ohren und Stimmen der Menschen entledigt hat, die einen dazu bringen, dass man lügt und immer wieder Dinge tut und sagt, die man nie tun und sagen wollte. Man sitzt also und schreibt, man schreibt alles wahrheitsgetreu auf, liest es noch einmal durch und merkt zu seinem Entsetzen, dass die geschriebene Wahrheit sich ausnimmt wie eine Lüge, schlimmer als die alltäglichen Lügen und außerdem hässlich. Deshalb schreiben so viele Menschen und werden so wenige Menschen Schriftsteller. Die meisten hören an diesem Punkt auf. Es ist auch wirklich ekelhaft. Kein Mensch hält es jahrelang durch, Seiten mit Sätzen zu füllen, von denen ihm schlecht wird und die im Endeffekt unlesbar sind. Wer weitermachen will, muss von Neuem lügen. Die Sehnsucht nach Wahrheit bleibt dieselbe, aber die große Kunst besteht darin, die Wahrheit zu sagen, indem man über sie lügt.
Ich wagte den Astrologen nicht zu fragen, ob ich diese Aussicht hätte.
Er sah mich mit glänzenden Augen an. Was er gesagt hatte, tat seine Wirkung. Ich war erregt, erstaunt, vergnügt, und ich war ihm dankbar. Um mich zu revanchieren, sagte ich ihm, wie sehr er ins Schwarze getroffen habe, dass ich Philosophie studierte, gern schriebe, strukturbesessen sei und mir auch unter einem Hurenengel etwas vorstellen könne.
Was mir als Einziges momentan noch Kopfzerbrechen machte: Wie konnte ich mir merken, wer ich war – in einer Geschichte, worin Saturn, Hermes und das zwölfte Haus eine Rolle spielten?
»Ich kann auch noch mal kurz nachsehen, was sich in deinem neunten Haus tut«, sagte der Astrologe, durch meinen Enthusiasmus angespornt. »Es ist sowohl das Haus der Philosophie als auch das Haus der Öffentlichkeit. Siehst du nun, dass du ein Glückspilz bist«, sagte er und wies nacheinander auf eine Reihe von Zeichen.
»Jupiter und Pluto stehen beide im neunten Haus. Im neunten Haus ist Jupiter dort, wo er hingehört, und so etwas verstärkt die ganze Sache immer. Der Gott ist zu Hause, könnte man sagen. Kein Wunder, dass du veröffentlichen willst und Philosophie studierst. Obwohl – vielleicht ist es auch Zeitverschwendung, und du hättest dir die ganze Universität sparen können. Nach deinem Brandmal warst du schon immer Philosophin. Da, schau, Schütze ist der Herrscher des neunten Hauses, und er ist der Philosoph unter den Zeichen. Da du die Sonne im ersten Haus hast, muss man sich fragen, warum du immer noch zögerst. Du weißt doch seit langem Bescheid. Du hast Pluto im Löwen, dein Löwe wird von der Sonne beherrscht, und dein Sonnenzeichen ist der Schütze. Siehst du?«
»Nein.«
Ich sah es wirklich nicht. Ich spürte, dass er etwas Wichtiges sagen würde, etwas, das ich liebend gerne hören wollte, aber gleichzeitig schrecklich fand.
»Wer die Sonne im ersten Haus hat, weiß vom Tag seiner Geburt an, wer er ist. Da kann noch alles Mögliche schiefgehen, aber dieses Bewusstsein ist da. Ein philosophisches Zeichen im ersten Haus, ein eigensinniger Pluto, der mit seiner ganzen Energie auf deine Sonne einwirkt, und dann noch der Philosoph unter den Planeten in seinem eigenen Haus – da hat man gar keine andere Wahl. Deine Sonne ist deine Persönlichkeit, und du bist als eigenständige Persönlichkeit geboren. Alles weist eigentlich in eine einzige Richtung. Warum nimmst dus nicht einfach an? Ich wollte, ich hätte so viel Glück. Wahrscheinlich stört dich Saturn mehr, als ich dachte, und verzögert die ganze Sache wieder. So viel Gratisglück muss man schon auf die Probe stellen, sonst wird man faul und apathisch. Aber ich weiß es auch nicht – ich lese nur, was hier steht.«
Stimmungen sind verräterisch. Meine anfängliche Aufgekratztheit war verschwunden. Auf einmal war mir schwer ums Herz. Warum saß ich hier und verschlang wie ein hungriger Wolf, was mir jemand über mich erzählte, wenn meine Anlage so glasklar war? Warum konnte ich nicht zu Hause bleiben, an meinem Tisch sitzen und schreiben, wenn das von Anfang an so vorgesehen war? Warum war ich nicht geblieben, wer ich war – und hatte mein Ziel direkt angesteuert, ohne all die seltsamen Umwege, die mich nur verwirrten und mich glauben ließen, ich würde immer reicher, während ich im Endeffekt immer mehr verlor? Was tat ich hier für ein lumpiges Taschengeld in einer Buchhandlung in De Pijp, weshalb verplemperte ich meine kostbare Zeit damit, mir die verrückten Reden eines einsamen Sonderlings über die Sterne am Himmel anzuhören, wo ich es doch ohnehin besser wusste und eigentlich an gar nichts glaubte?
»Was soll das Ganze?«, fuhr ich den Astrologen an. »Alles ist wieder mal möglich, aber wenns drauf ankommt, muss man alles selbst wollen, selbst tun, selbst entscheiden. Ohne Pardon. Das klingt mir zu schön. Das klingt nach dieser Illusion der Jugend, wenn man noch denkt, alles käme von selbst, ohne dass man einen Finger krumm machen muss.«
Jugend ist etwas Trügerisches. In der Jugend erscheint uns das Leben wie ein zahmes Tier, das sich uns zu Füßen legt und ewig treu bleibt, weil wir es manchmal flüchtig streicheln.
Mit vierzehn hatte ich einen Traum. Ich ging durch mein Dorf und merkte, dass die Leute ganz aufgeregt wurden, wenn ich an ihnen vorbeikam. Sie winkten und nickten mir freundlich zu, wohlwollend und auch respektvoll. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und redeten über mich. Irgendetwas war mit mir los, aber ich wusste nicht, was. Neugierig rannte ich nach Hause. Meine Mutter wusste immer alles.
Die Küchentür ist offen, und meine Mutter steht vor mir, flankiert von meinen Brüdern. Sie schaut mich an und schlägt die Hände zusammen. Verwundert fragt sie, ob ich es noch nicht wisse. Nein, nein, ich weiß von nichts.
Vor einer knappen Stunde wurde im Radio verkündet: Ich hatte den Nobelpreis bekommen. Das konnte unmöglich stimmen. Ich hatte noch keine Silbe veröffentlicht.
»Sie wissen, dass du Schriftstellerin bist«, sagt meine Mutter, »dass du den ganzen Tag nichts anderes tust. Sie geben dir den Preis im Voraus, weil sie wissen, dass es gut ist.«
Das meine ich also. Ich nenne es Illusion der Jugend. Wenn man jung ist, kann man sich einfach keine Vorstellung davon machen, dass man aus eigener Kraft erreichen muss, was man gerne hätte oder wäre. Man glaubt, es genüge, etwas aus tiefster Seele zu wollen. In der Jugend kommt alles von selbst, und man nimmt es, wie es kommt, Gutes und Schlechtes. Eines Tages wird einem fast gewaltsam klar, dass die Sehnsucht zwar notwendig ist, aber für das Leben, das man führen will, nicht zureichend. Sehnsucht neigt gern zum Überspringen und wird zum Traum. Sie richtet sich nur auf die Wirkung und die belanglosen Begleitumstände eines Tuns. Filmstar möchte jeder sein, keiner sieht den Beruf. Der Wunsch ignoriert die Arbeit, die Hitze der Scheinwerfer, die bornierten anderen Filmstars, die Eifersucht und die Langeweile am Drehort. Begehrt wird die Bewunderung, die dem Filmstar zufällt und die man selbst empfindet, wenn man ihn auf der Leinwand sieht. Wer nach einem Idol verlangt, will in erster Linie selbst Objekt solch intensiver Sehnsucht sein. Die Wirklichkeit der Stars sieht niemand gern.
Die Jugend ist zu Ende, wenn einem die Notwendigkeit und Schönheit der Arbeit bewusst werden, die Wirklichkeit der Arbeit, notfalls auch ungeachtet ihrer Resultate, aber lieber nicht.
Wer unbedingt Schriftsteller werden will, muss Bücher schreiben, darauf läuft es hinaus.
Der Astrologe sah plötzlich ganz niedergeschlagen aus. »Entschuldige, dass ich so unbeherrscht war«, sagte ich. Mit der Hand wedelte er meine Bedenken fort.
»Macht nichts«, sagte er und blickte auf das Blatt Papier, »es ist dein Mars. Du hast das Mal eines Götterkindes, aber das Göttliche macht dich böse.«
»Erzähl mir dann ruhig mehr über die Hindernisse und Schwierigkeiten«, sagte ich.
An irgendetwas musste es doch liegen.
»Ach, für dich ist sogar Tragik noch ein Geschenk«, sagte der Astrologe erleichtert. »Das Ganze ist schon fast zu schön. Wer nur Harmonie in seinem Horoskop hat, erreicht nichts. Ein paar harte Aspekte sind nötig, damit man wachsen und sich verwirklichen kann. Du hast eine Reihe von Quincunxen, also bekommst du deinen Willen. Manche Astrologen halten den Quincunx für den schwierigsten Aspekt im ganzen Horoskop. Bei dir werden sie alle von deinem Mond gebildet. Der Mond ist das Weibliche, ist dein Gefühl, und dort hast du viel Kummer. Der Mond ist dein Herz, und dein Herz wird von Mars, Jupiter und Neptun bedrängt, und auch wieder von Pluto, seh ich gerade. Das ist ziemlich viel und nicht eben lustig. Wenn dein Mond zum Beispiel so dicht bei Jupiter steht, erwartest du mehr Güte, Schönheit und Wahrheit vom Leben, als es möglicherweise zu bieten hat. Du denkst, all dies sei in dem Maß vorhanden, wie du es suchst, und du rechnest sozusagen täglich damit, ihnen irgendwo zu begegnen, aber du findest sie nie. Das macht dich rasend, und deshalb bist du auch eine Zerstörerin. Du hast den Skorpion im Haus des Merkur und den Saturn noch einmal im Skorpion. Das bedeutet, deine Stärke liegt darin, Dinge wie sie sind kaputt zu machen, um aus den Scherben etwas Neues zu schaffen. Deshalb ist jemand wie du, bei dem Mars einen 150-Grad-Winkel zum Mond bildet, auch unberechenbar, abwechselnd hart und weich, leicht entflammbar und schnell gekränkt. Bei dir sind viele Zeichen ambivalent. Der Mond, der immer wieder in anderer Gestalt auftaucht, der Schütze, der himmlisch und irdisch zugleich ist und den Zwillingen gegenübersteht, und dazu noch ein gespaltener Pluto in starker Position zum Mond. Und wenn deine Sonne auch noch mit Pluto ein Quadrat bildet, krempelst du so viel um, dass du schließlich selbst nicht mehr weißt, worum es eigentlich geht. Aber der wilde Pluto steht schön zu deiner Venus, und außerdem befindet er sich mit seiner ganzen plutonischen Energie im Haus der Öffentlichkeit. Du wirst also ganz schön rackern müssen, und zwar genau da, wo einerseits dein Gefühl sitzt und du dir andererseits einen Namen machen willst.«
»Danke«, sagte ich, weil ich ihm dankbar war.
Er hob die Hand und beschrieb einen Kreis über seinem Kopf.
»Du hast es nicht von mir«, sagte er schüchtern, »es steht in den Sternen.«
