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Luca Viglialoro

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Beschreibung

Die Geste wurde von der römischen Rhetorik über die Physiognomik bis hin zu den Gesture Studies vordergründig als eine funktionale körperliche Stütze für sprachliche Kommunikation oder als sinnliche Spur geistiger Zustände aufgefasst. Gesten begleiten unsere Diskurse und Gemütslagen und machen diese wahrnehmbar. Über diesen traditionell gültigen Standpunkt hinaus verlagert Luca Viglialoro den Fokus auf den somatisch-medialen Kunstcharakter der Geste, um diese als prozesshafte Technik (ars) für die Modellierung der aísthesis zu konturieren. Dafür werden die komplexen Relationen zwischen Gesten und Kunstreflexionen am Beispiel von medial unterschiedlichen Konfigurationen (von der Schrift und der Zeichnung bis zur Fotografie und Installationskunst) analysiert.

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Seitenzahl: 305

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EDITORIAL Mediale Produktionen und gestalterische Diskurse bilden ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv: Medien nehmen nicht nur wahr, sondern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) – insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der diesen voran gehenden Entwürfe, mithin vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe MEDIEN- UND GESTALTUNGSÄSTHETIK versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und prognostizierende Essays.

Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Ruf.

LUCA VIGLIALORO, geb. 1985, ist Professor für Ästhetik, Kunst- und Kulturtheorie an der Hochschule der bildenden Künste Essen. Er ist Leiter der Forschungsgruppe »Ars: Aesthetics, Art, Media« im Rahmen des internationalen »Italian Thought Network«. Seine Schwerpunkte sind Ästhetik, Theorien der Geste, French Theory, Italian Thought sowie die Kulturgeschichte der Physiognomik.

Luca Viglialoro

DIE GESTE DER KUNST

Paradigmen einer Ästhetik

Medien- und Gestaltungsästhetik 9Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Gedruckt mit Forschungsmitteln der HBK Essen.

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministerium für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld

© Luca Viglialoro

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel

Designkonzeption: Andreas Sieß

Gestaltung und Satz: Klara Vanek, textuelles.de

ISBN Print 978-3-8376-5536-0

ISBN PDF 978-3-8394-5536-4

ISBN EPUB 978-3-7328-5536-0

https://doi.org/10.14361/9783839455364

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet unter www.transcript-verlag.de. Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download.

Inhaltsverzeichnis

Prolegomena zu einer Ästhetik der Geste

Eine Einleitung

I.DIE GESTE DER KUNST: EINE THEORETISCHE GRUNDLEGUNG

1Die dreifache Wurzel der Präsenz

2Ein kurzes Intermezzo

Notate für eine mögliche Kritik der Begriffe Ereignis und Negativität

3Über das Prozessieren

4Das Prozessieren der Geste

4.1Geste als Ausdruck? Zur »Gestimmtheit«

4.2Die »reine Medialität« der Geste

4.3Die »immanente Signifikanz« der Geste

4.4Geste und Kunstforschung

II.REFLEXIVE DARSTELLUNG: ZU EINER KLEINEN GESCHICHTE DER GESTE DER KUNST

1Versteckte Körperkünste

Physiognomik und Rhetorik

2Verbergung, Darstellung, (Bild-)Erzählung

3Die Kunst der Übergänge

Metapher und Inversion

4Agonale Gesten im medialen Wettstreit

III.REFLEXIVE GESTALTUNG: PROZESSIERENDE PARADIGMEN IM 20. JAHRHUNDERT

1»Zwischen Greifen und Begreifen«

Bild und Distanz

2»Gesten-Bewegungen«

Physiognomien und Medienformate

3»Nichts Greifen« und Anspielungsfelder

4Das Spiegelstadium der Geste

5Am Anfang war… die Geste

IV.ANHANG

Literaturverzeichnis

Onlinequellen

Nachweise der Abbildungen

Anmerkung

Index nominum

Per Christina (ed il piccolo)

Prolegomena zu einer Ästhetik der Geste

Eine Einleitung

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, eine produktive Interaktion zum Ausdruck zu bringen: jene der Geste der Kunst mit den Bedingungen ihres Vollzugs. Diese findet auf dem Schauplatz künstlerischer Praxis zunächst in Form einer Dialektik, gar eines stillen Nahkampfes mit den Mitteln der eigenen Kunst (hier auch im Sinne von Können) statt, gleichzeitig wird sie aber auch von Künstlern1 und Kritikern meistens unbewusst versprachlicht, wenn sie von ›künstlerischen Gesten‹ oder ›Gesten des Künstlers‹ schreiben oder sprechen. Dass es sich dabei häufig nur um eine Floskel oder um selbstgerechtes Posertum vonseiten der Künstler handelt, um vielleicht verstaubte Genieästhetiken post litteram zu explizieren, ist sinnfällig und bedarf sicherlich keiner Bestätigung. Wenn es aber stimmt, dass, um Wittgensteins bekanntes Diktum umzuformulieren, die Grenzen der Sprache die Grenzen einer Welt – vielleicht diesmal jener der Kunst in einem ganz bestimmten Zusammenhang, wie es bald ersichtlich wird – bedeuten,2 dann wäre die kritische Ausmessung und Erkundung einer derartigen Grenze und der zuvor angenommenen Interaktion eine durchweg philosophisch-kunstwissenschaftliche Angelegenheit.

Abb. 1: Henri Michaux: Zeichnung des Wiederzusammenfügens [Dessin de réagrégation, 1969]

Werden die Worte ›Geste‹ und ›Kunst‹ separat betrachtet, so interagieren zwei potenzielle Bestimmte-Unbestimmte. Denn wir wissen, dass Gesten letztendlich Körperbewegungen sind, die non-verbale Kommunikation ermöglichen, und dass Kunst eine oftmals schöne und angenehme Form von Wirklichkeitsdarstellung ist. Gleichzeitig reicht ein recht kleines Spektrum an persönlichen Erfahrungen im Bereich der non-verbalen Alltagskultur und kreativen Ausdrucksformen aus, um nachzuvollziehen, dass Gesten und Kunst viel mehr als das bedeuten können, was uns eine Enzyklopädie oder die allgemeine Meinung beibringen können. Zusammen genommen scheinen ›Geste(n)‹ und ›Kunst‹ in den zuvor erwähnten Ausdrücken (›künstlerische Geste‹ und ›Geste des Künstlers‹) eine interessante Konstellation zu bilden, die in der Tat trotz der aus der Bestimmtheit-Unbestimmtheit der Termini resultierenden Unschärfe eine sehr konkrete Szene hervorzubringen vermag: jene der künstlerischen Werkstatt und deren Produkte, in der körperliche und materielle Techniken sowie Medien und Materialien eingesetzt und im Hinblick auf ihren Gebrauch für künstlerische Realisierungen erprobt werden. Genau eine derartige Szene – jene der künstlerischen Werkstatt und der sich in ihr ergebenden kontingenten Spannungsverhältnisse zwischen Körpern, Medien und Techniken – befindet sich im Zentrum des vorliegenden Vorhabens. Eine differenziertere Analyse ihrer Handlungszusammenhänge ist aber an der Stelle noch vonnöten.

Der Titel des Bandes, Die Geste der Kunst, mag vielleicht eine gewisse Irritation im Leser hervorrufen, weil er die vorher benannten Protagonisten der Szene – den Künstler mit seiner Körperlichkeit und die Kunst als werkwerdende oder werkgewordene Realisierung – auf einmal nicht mehr eindeutig voneinander trennt: Hätte der Band nicht eigentlich Die Geste des Künstlers oder Die Geste in der Kunst heißen sollen? Der denklustige Leser wird sich überdies fragen, ob und wann die Kunst eine eigene Geste aufweisen kann, vielleicht auch glaubend, dass das Wort ›Geste‹ im Titel in erster Linie nur metaphorisch zu verstehen sei. Die unausgesprochene Notwendigkeit dieses Denkschlusses liegt u. a. darin, die Kunst (zuerst) normativ aufzufassen. Kunst verwischt aber etliche Distinktionsmerkmale in Techniken, Medien und Produkten schon deswegen, weil sie reflexiv »auf andere Praktiken bezogen ist«3. Hier wird daher nicht die eventuelle Frage nach einer normativen Autonomie von Kunst im Allgemeinen aufgeworfen, weil der Kern der Analyse die Werkstatt und die entsprechende Szene des Experimentierens, die sich beispielsweise in Künstlerateliers oder Seminarräumen von Kunsthochschulen abspielt, ist. Die Werkstatt entspricht daher einer Situation und gleichzeitig einer Denkfigur4, in denen sich ein spannungsreicher, eigengesetzlicher Prozess von Konstitution singulärer Medienoperationen und -produkte entfaltet. Die Geste der Kunst bedeutet, dass die sehr konkrete Szene des experimentierenden Kunstschaffens eine Zone der Verhandlung bildet, bei der ein spezifischer »Erfahrungsmodus«5, ein »ästhetisches Regime«6 zustande kommt. In diesem erfolgt keine Klassifizierung von Tätigkeitsformen – wie etwa der menschlichen Gesten, der sogenannten Instrumente der Kunst und des Objekts Kunst(werk) –, sondern, wie ich in Teil 2 zeigen werde, das sogenannte vergegenwärtigende Prozessieren als produktive Interaktion und Moment der Verhandlung. Dieses konkretisiert sich durch den gegenseitigen Kontakt zwischen Medien (wie etwa Stift, Pinsel, Kameraauslöser und Blatt) und Materialitäten, die durch die Operationen von Übertragung, Speicherung/Fixierung und v. a. Erforschung eine sinnliche Heuristik erzeugen (Kap. 4.3, 4.4, Teil 1). Heuristik bedeutet hier, dass die singulären Medienoperationen als prekäre (als kontingente, instabile, variationsfähige) Gestaltungsprozesse erkennbar werden, die in ihrer Eigengesetzlichkeit singuläre Konstellationen von Präsenzeffekten und Verfahren erforschen und somit organisieren. Es geht also nicht um die Geste in der Kunst im Sinne der Art und Weise, wie affektive Körperbewegungen und deren Ausdrücke – was wir heute Mimik nennen – visualisiert und dargestellt werden7 oder in der Kunst anderweitig als formal-inhaltliche Sujets Eingang8 finden, sondern um Gestaltungsweisen9, die ihren Prozess exponieren. Einzelne Kunstformen, -techniken oder -gattungen wie die Pantomime – hier als »Technik«, »Stil« oder »Ausdrucksqualität« in einer »theatralischen Darstellung«10– können insofern auch nur eine unter diversen Erscheinungsarten der Geste der Kunst (im nicht-substanzialistischen Sinn des Ausdrucks) konstituieren.

Innerhalb eines derartigen »ästhetischen Regimes« bilden die bereits genannten Operationen keine Hierarchien, sondern vektorielle Kraftverhältnisse, die eine weitere Aufteilung des Sinnlichen durch die Umfunktionalisierung von teils auch reglementierten oder diskursiv sanktionierten Praktiken angesichts der Tatsache materialisieren, dass »die künstlerischen Praktiken […] die Aufteilung [der] anderen Tätigkeiten neu [repräsentieren] oder [gestalten]«11. Die besondere Aufteilung der Geste der Kunst, ihr vergegenwärtigendes Prozessieren, produziert sich, um es jetzt noch etwas differenzierter zu betrachten, als Interaktion und Neuverhandlung im Sinnlichen, das durch den kontingenten Kontakt zwischen Körpern u. a. somatischer Art (der Künstler oder Produzenten) und der Materialität von Medien und Verfahren (Techniken) Sinnlichkeitsformen hervorbringt, deren Bedingtheiten unter den Koordinaten von Übertragung, Speicherung und Erforschung nur singulär analysiert werden können – die Autonomie der Geste der Kunst ist deshalb zunächst und ausschließlich produktionsästhetischer Art. In dieser Hinsicht versteht sich die analytische Seite meiner Erkundung (d. h. Teil 2 u. 3) als eine operative Ästhetik, die das vergegenwärtigende Prozessieren der Geste der Kunst von Fall zu Fall erforscht, mit der impliziten Annahme der tendenziellen charakteristischen Unverfügbarkeit und grundsätzlichen Resistenz ihres Gegenstandes gegenüber Aneignungsstrategien.

Damit, und zwar mit der eventuellen und in den vorherigen Zeilen implizit gebliebenen Frage nach der Möglichkeit gestischen Wissens oder gestischer Wissenschaft, die mein methodologisches Verfahren, wie bereits angedeutet, ausschließt, kommen wir allmählich zur Frage, was genau eine Geste ist, was eine weitere Konturierung meines Untersuchungsrahmens sowie eine zusätzliche Titelklärung mit sich bringt.

Vor der Gründung der Gesture Studies, auf die wir später kurz eingehen werden, gab es nämlich eine an sich verzweigte, aber wirkungsmächtige Denktradition, die Gesten allgemein als redebegleitende Gebärden12 begriff und dafür eine vornehmlich klassifikatorische Methodik entwickelt hat: die Rhetorik. Gesten – als Basiseinheit der sogenannten Gestik – wurden in der Rhetorik nach ihrer Varietät und Multifunktionalität in der zwischenmenschlichen Kommunikation klassifiziert und als Stütze für das Gesprochene aufgefasst: Gesten begleiten oder ersetzen unsere Diskurse und machen diese anschaulicher oder gar verständlich(er) – auf die Ausnahmeposition von Quintilian im Rahmen dieser Denktradition kommen wir gleich zu sprechen. Eine solche Auffassung der Geste als Sprachstütze oder Sprachähnliches (hier auch als Nonverbales), die wir im Rahmen des Kap. 1, Teil 2 aus der Perspektive meiner Fragestellung und deshalb sehr selektiv rekonstruieren werden, erfährt eine bemerkenswerte Aktualisierung durch die neueren Theorieansätze der Gesture Studies. 2001 erscheint die erste Ausgabe der Zeitschrift Gesture, ein Jahr später wird die ISGS (International Society for Gesture Studies) gegründet, so dass die sogenannten Gesture Studies einen wissenschaftlich sanktionierten Status erhalten und bis heute interessante Anschlussfähigkeiten aufzuweisen scheinen. Die wegbereitenden Arbeiten von Adam Kendon13 und David McNeill – letzterer vertritt die mediale Autonomie der Geste etwas eindeutiger –14 stellen die ersten Bemühungen in den Gesture Studies dar, die Verfasstheit der Geste ausgehend von ihrer dynamischen Sprachähnlichkeit und von ihrem Erscheinen beim Sprechen systematisch zu ergründen. Was bedeutet aber an der Stelle ›Sprache‹ und ›Sprechen‹ und wieso ist dieser Diskurs für die von uns analysierte künstlerische Werkstatt von Belang? An der Stelle stehen die zwei Begriffe, Sprechen und Sprache, nicht nur für semiotische Systeme und Symbolisierungsmechanismen, sondern auch für die als charakteristisch betrachteten Formen der intersubjektiven non-verbalen Kommunikation, die oft abwechselnd mit den Worten ›Gestus‹, ›Mimik‹ oder ›Gebärde‹ bezeichnet werden – die unscharfe Trennbarkeit15 der drei Termini wird im Folgenden durch den Einsatz des Wortes ›Geste‹ umgangen, der auch als Oberbegriff für anders genannte gestische Verfahren auftreten wird. Solche Erscheinungsarten non-verbaler Kommunikation lassen sich aus Sicht einiger Studien auf dem Gebiet der Gesture Studies u. a. in drei Kategorien einordnen: 1) deiktische, 2) darstellende und 3) pragmatische Gesten.16 Die ersten bestehen grundsätzlich in einem »Zeigen auf«17, d. h. aus einem Körperteil, welches einen Vektor auf ein Ziel projiziert, um die Aufmerksamkeit eines anderen Sprechenden zu lenken. Die zweiten stellen ikonisch oder metaphorisch Objekte, Szenen oder Menschen dar, indem sie jeweils auf eine Bedeutung oder auf einen abstrakten Begriff verweisen. Die dritten sind Gesten, die mit Charakteristika der Aussage verbunden sind, die weder auf eine referenzielle Bedeutung noch auf einen Aussageinhalt gebracht werden können.18 In den drei synthetischen Definitionen von Gesten, die ein kleines Spektrum ihrer Ausprägungen darstellen, merkt man, dass diese als kommunikative Handlungen betrachtet werden, die eine mehr oder weniger explizite propositionale Anschlussfähigkeit im Moment ihres Vollzugs aufweisen. Dadurch werden Gesten immer zum Bestandteil einer Szene des Sprechens, die auf ein Gelingen (selbst im Nicht-Gelingen) ausgerichtet ist, aber mit dem Kunstschaffen und der in diesem stattfindenden Interaktion mit Materialien und Verfahren keine konstitutive Relation zu unterhalten scheint. Versuchen wir uns nämlich wieder die künstlerische Werkstatt zu vergegenwärtigen, so können wir uns wohl freilich vorstellen, dass sich der Künstler beim Schaffen mit Kollegen und/oder Bekannten auch durch Gesten unterhält oder gerne seine Verfahren verschriftlicht, was aber nicht die conditio sine qua non seines Produzierens ist und grundsätzlich nur als eine – so fundamental sie im Vorfeld des künstlerischen Aktes oder danach sein mag – Nebentätigkeit seiner charakteristischen Bearbeitung von Materialien und Medien betrachtet werden kann. Die Geste der Kunst ist im Sinnlichen beheimatet und setzt als Moment des Gestaltens nicht immer, aber v. a. nicht notwendigerweise einen bereits sanktionierten, eventuell explizierbaren Aussageninhalt voraus, der trotz eventueller Störungen kommuniziert wird. Die Arbeit des Schauspielers oder einer Performance-Künstlerin, wie etwa – um ein banales, aber allgemein verständliches Beispiel anzugeben – Marina Abramovic, braucht natürlich einen Körper und dessen sprachliche Konventionen sowie kommunikativen Gewohnheiten, um ihre Gestaltungen zu verwirklichen. Wenn aber hier eine Unterscheidung zwischen Installation, Schauspielpraxis und sprachlichen Kommunikationsarten getroffen werden kann, im Hinblick darauf, den operativen (und nicht normativen) Raum des Künstlerischen hervortreten zu lassen, so ist zugleich eine mögliche reflexive Bedingung gegeben, um die Modellierung von Kunst nicht in heteronome Theorieannahmen zu zerlegen, sondern ihre sich singulär organisierende, prekäre Eigengesetzlichkeit, das Prozessieren, aufzubewahren. Die Erklärung der Geste der Kunst bedarf, mit anderen Worten, der Eingliederung der Gestik in ein breiteres Konzept von Gestaltung: die sinnliche Heuristik.

Gesucht werden aber nicht, um es klar zu stellen, Begriffe oder Kategorien, die oppositiv die Geste der Kunst von jeder Form der Sprachlichkeit loslösen, da die Sprache für die Geste der Kunst eine unhintergehbare Bedingung bleibt, sondern kunst- und medienphilosophische Denkraster, die das Moment des künstlerischen Prozessierens in dessen eigentümlichem ›Sosein‹ zu reflektieren ermöglichen. Denn die Geste der Kunst kann nur kommunikativ und intersubjektiv durch eine fortwährend versuchte Arbeit am Material, am Medium, an den Resistenzen der Sinnlichkeit sein, d. h. durch den unabdingbaren Umgang mit einem materiell-medialen tertium (Medien/-Materialien und dem werdenden Produkt/Werk), das für den Künstler immer ein primum und meistens das Einzige ist. Die fortgesetzte Mühe, die Werkzeuge und Bedingtheiten in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Körpereinsatz und materiellen Kulturen (von der Tuschezeichnung über die Raufasertapete bis zum Spiegel) prozesshaft zu gestalten und deren Grenzen erfragend neu zu verhandeln, ist also der eigene Seinsmodus der Geste der Kunst. Dieser kurze, sich aber andauernd aufs Neue gestaltende Weg der aísthesis, der an jeder Kunsthochschule und in jedem Atelier verortet werden kann, wird also in den nächsten Seiten aus der Perspektive der Ästhetik (Teil 1) und des produktiven Ineinanders künstlerischer Theorie und Praxis (Teil 2 u. 3) ausgeforscht.

Im methodologischen Teil meiner Arbeit werden daher zunächst zwei Medialisierungsmuster analysiert, um die eigene Leistung der Geste zu konturieren (Kap. 1–3, Teil 1). Die Medienprodukte werden dabei simultan als Orte einer Negation – d. h. einer durch Übermittlung- und Vermittlungsfunktionen produzierten Überwindung ihrer sinnlichen Verfasstheit, die eine nicht eliminierbare Alterität, eine »Unbestimmbarkeit«19, aufruft – und eines vergegenwärtigenden Prozessierens – einer sich singulär auslotenden, produktionsästhetischen Formenveränderung – betrachtet. Damit will ich auf die Frage nach der spezifischen Verfasstheit der prozesshaften Präsenz eingehen, die die Geste der Kunst inkarniert.

Die genannten negativen und prozessorientierten Denkweisen fungieren aber auch als interpretative Raster für die drei Lesarten der Geste der Kunst auf dem Feld der Ästhetik, die mein methodologisches Verfahren bilden: jene Flussers, Agambens und Nancys (Kap. 4.1–4.4, Teil 1). Ihre Reflexionen lassen sich den negativen oder prozessorientierten Theoriebildungen nicht eindeutig zuordnen: Sie weisen vielmehr eine innere Dialektik dieser Positionen auf, welche mit unterschiedlichen Gewichtungen die Geste der Kunst als eine via Sinnentzug (Flusser und Agamben) operierende und als eine prozessierende Gestaltungsart des Mediums (Nancy) zu konzipieren helfen. Das Ziel ist dabei die theoretische Fokussierung der Medialität der Geste, die für uns über die Medienoperationen von Übertragung, Speicherung/Fixierung und Erforschung verläuft und diese in der Singularität von Gestaltungsarten spezifiziert. Negation und Prozessieren bilden daher die zwei Seiten einer nicht symmetrischen Wechselbeziehung, welche die sinnliche Heuristik des Mediums Geste ausmacht und sich philosophisch sowie kunst- und mediengeschichtlich im Zusammenspiel zwischen darstellerischer und gestalterischer Reflexivität verdichtet, aus dem sich die weiteren zwei Teile (2 und 3) der Untersuchung herleiten. Diese letzte Zweiteilung deutet aber nicht auf die strenge Trennung von geistesgeschichtlich erkennbaren Epochen (z. B. Teil 1: von der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts; Teil 2: vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Konzeptkunst) hin. Vielmehr handelt es sich um die Beschreibung von singulären Reflexionsgefügen, die durch das Spannungsverhältnis zwischen Negation und Prozessieren eventuelle Oszillationen, Kontinuitäten, Konvergenzen oder Alleinstellungsmerkmale aufkommen lassen – dadurch bildet dieGeste der Kunst keinen Idealtypus, sondern eine medienübergreifende Heuristik des Vielfältigen und der in diesem waltenden Kräfte. Die darstellerische und die gestalterische Reflexivität charakterisieren sich jeweils dank des besagten Zusammenspiels als Operationen des Mediums Darstellung bei der Erfassung eines sich von dieser Entziehenden (Teil 2) und als Gestaltungen materieller Träger, die ihre Prozesshaftigkeit exponieren (Teil 3), wodurch sich ein nicht-linearer, spannungsreicher Übergang von der Darstellung der Geste zu deren Medialisierung ergeben wird. In Teil 2 erscheint also die Geste der Kunst in ihrer hauptsächlich negativen – und bei Castiglione, Diderot und Kleist auch selbstreflexiven – Darstellungsfunktion als eine Lücke des Wissens oder ein Inkommensurables, während sie in Teil 3 als eine prozesshafte Selbstgestaltung des Mediums, welche theoretisch beschrieben und – von Warburg bis Studio Azzurro – in eine eigene Kunst umgesetzt bzw. prozessiert wird. Diese eigene Kunst ist keine Ergänzung oder Korrektur, sondern das immanente Paradigma der Reflexion, die, der Geste auf der Spur, die eigenen Möglichkeitsbedingungen gestalterisch erforscht und dadurch einen konstituierenden »Problemkontext«20 zwischen Erfahrung und Erkenntnis erschließt. Die dadurch paradigmatisch verfahrende Auswahl von sich zwischen Theorie und Kunstpraxis bewegenden Autoren sowie Themen und Medienprodukten in Teil 2 und 3 entstammt insofern dem heuristischen Charakter der analysierten Reflexionen und kann als ein theoretischer Werkzeugkasten für die Analyse weiterer künstlerischer Vollzüge verwendet werden.

Innerhalb eines solchen Problemfeldes ist Quintilians Lesart der Geste – in Auseinandersetzung mit der antiken Physiognomik, mit dem unbekannten Verfasser der Rhetorica ad Herennium sowie nicht zuletzt mit Ciceros De oratore – besonders wichtig (Kap. 1, Teil 2). In seiner Institutio oratoria ist nämlich von einer »nicht als Kunst [ars]« (vgl. ebd.) erscheinenden Kunst die Rede, was für uns den ersten Versuch darstellt, die Geste als Medium sinnlicher Heuristik aufzufassen. Mit dem Begriff »ars« (Kunst-Können-Technik) geht es nicht allein um eine für die Reflexion zur Kunst und zur Medientheorie fundamentale »Bezeichnung für verschiedene Wissenskünste, die mit Medien operier[en]«21. Quintilian sucht durch diese bestimmte Verwendung des Terminus »ars« nach einer kommunikativen, eigengesetzlichen Geste, die ähnlich wie eine nonverbale Sprache im Körper ihren Erscheinungsort findet und zugleich eine eigene materielle Operativität und Nicht-Reduzierbarkeit auf einen (weder vom vermeintlichen Produzenten noch vom eventuellen Rezipienten) sprachlich kodierbaren Effekt aufweist. Quintilian will also mit seinem »ars«-Begriff die eigengesetzliche Gestaltung der Geste beschreiben. Diese »ars« ist keine Kunst, die sich durch ein Werk vergegenständlicht oder in einer Wirkung ausschöpft: Sie verkörpert eine Technik prozesshafter Selbstgestaltung des Mediums (diesmal des Mediums Körper), die in den späteren Konturierungen der Gesten der Kunst im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis neue Modellierungen erfahren wird.

Das Modell Quintilians wird bei Castiglione und auf dem Feld der Kunsttheorie von Alberti erweitert und neu adaptiert (Kap. 2, Teil 2). Bei Castiglione wird die Geste im Rahmen des dialogischen Traktats Il Libro del Cortegiano, wie bereits angedeutet, zu einer Darstellungspraxis, die ihren angeblichen Untersuchungsgegenstand in einem Spiel des verhüllenden Enthüllens narrativ umformt und auslotet. Alberti sucht mit seinem »historia«-Begriff die Geste als eine narrative Bildstrategie zu umreißen, die eine somatische Resonanz im Betrachter aufruft. Der Text von Alberti konvertiert nicht seinen »historia«-Begriff in eine textuelle Darstellungs- oder Schriftpraxis, weist aber – die rhetorische Tradition kunsttheoretisch umdeutend und Warburg teils vorwegnehmend – auf die Immanenz der Geste im Bildlichen hin.

Die Neue Wissenschaft Vicos sowie Diderots Brief über die Taubstummen, die in Kap. 3, Teil 2 analysiert werden, repräsentieren in dieser theoretischen Landschaft zwei Höhepunkte einer konstanten Ausmessung der Differenz, welche die Geste der Kunst von jener der Gestik trennt. Obwohl Vicos »gesto« über eine sprachgenetische Narrativik nachgezeichnet wird, die ihn zu einem Analogon der Sprache macht, so beabsichtigt seine Darlegung die Entbergung einer poietischen (im Sinne von Sinnlichkeitsformen produzierenden) Logik, deren somatische Natur die nicht zu versprachlichende Bedingung künstlerischer Vollzüge ist. Diderots philosophische Erzählung thematisiert – und prozessiert durch eine spielerische Darstellungsart – die Rekursivität einer solchen Bedingung, die v. a. in mehrdeutigen Literatur- und Theaterdarstellungen als eine Form des Sinnentzugs wahrnehmbar wird.

Auf dem Feld der Theatertheorie erarbeitet Johann Jakob Engel in seiner Abhandlung Ideen zu einer Mimik (Kap. 4, Teil 2) die medial agonale Struktur der Geste. Hier vertritt die Geste (»Gehberde«) eine Zwischenposition, die sich aus dem Auseinanderklaffen deiktischer und künstlerisch-darstellender Funktionen ergibt. Engel deckt mit anderen Worten ein terrain vague der Geste auf, das nur die Schauspielkunst darzubieten vermag. In Kleists Über das Marionettentheater ist ebenfalls eine agonale Struktur der Geste zu finden. Diese ist aber eher Resultat einer dialogischen und intermedialen Darstellungsart, die, sich selbst durch ihre nicht einholbare Ambivalenz hinterfragend, ein sinnerzeugendes, produktives Scheitern ihrer textuellen Zwecksetzungen herbeiführt.

Eine weitere Sonderstellung im Rahmen vorliegender Abhandlung hat Aby Warburg, bei dem die Geste ein grundlegend bildliches Weltverhältnis hervorbringt. Bilder materialisieren nämlich für Warburg auf paradigmatische Art eine reflexive Distanz von der – und dadurch einen antizipatorischen, potenziellen Kontakt zur – Welt: das »neutrale Greifen« (Kap. 1, Teil 3). Warburgs mediale Umsetzung dieser Reflexion durch das Labor von Bildgesten Mnemosyne-Atlas – dessen Tafel 32 in meiner Reflexion analysiert wird – ist aus dieser Perspektive Teil eines künstlerischen Prozesses, bei dem das Medium Bild in der Interaktion mit unterschiedlichen Verfahren und Materialien (z. B. dem Leinen-Überzug der einzelnen Tafeln vom Atlas) seine Gestaltbarkeit sinnlich präsentiert.

In den diskontinuierlichen und dialektischen Nahkampf mit der sprachlichen Kommunikation und in die Erwerbung einer multimedialen künstlerischen Formung schreibt sich auch Michaux’ Suche nach den »Gesten-Bewegungen« ein (Kap. 2, Teil 3), welche die kinetische Physiognomie von höchst dynamischen Schrift-, Zeichnungs- und Malweisen besitzen. Michaux’ ästhetische Rebellion gegen die westliche Sprache, die teils gar auch die Züge einer personalisierten Kritik am Phonozentrismus trägt, wendet sich allgemein der Möglichkeit einer »Überschreibung des Ästhetischen durch das Diskursive«22 zu und unterhält durch polygrafische Leistungen und Medienformate entwickelnde und neuadaptierende Strategien einen komplexen Umgang mit der chinesischen Schriftkultur, wodurch eine mikrologische Ästhetik zustande kommt, die Körperlichkeiten als Bild- und Schrifträume formt.

Barthes (Kap. 3, Teil 3) scheint an Michaux anzuschließen und zugleich über ihn hinauszugehen, wenn er seinen Kontakt mit der japanischen Gestenkultur beschreibt und diese dabei zu einem relationalen, d. h. auch transkulturellen, künstlerischen Dispositiv macht. Für Barthes ist die Geste der Kunst – dies wird v. a. in seinem Umgang mit Cy Twomblys Bildern deutlich – ein Anspielungsfeld, das eine die Festlegung des Sinns ablehnende Haltung materialisiert. Indem die Geste eine Diskontinuität und eine Unterbrechung der Symbolisierungsmechanismen ermöglicht und dadurch die Dualität von Signifikant und Signifikat überwindet, macht sie eine stille Resistenz des Mediums gegen Objektivierungsstrategien anschaulich und gestaltet einen eigenen Sinnraum.

Der Begriff »gesture« bei Jeff Wall (Kap. 4, Teil 3) scheint poetologisch das visuelle Werk des Künstlers zu umfassen und zugleich Ausdruck einer ins Bild gesetzten Körperbewegung zu sein. In der Tat bedeutet »gesture« bei Wall ein Moment der Selbstreflexion des Mediums Fotografie, die durch ein unentwirrbares Spiel von inter- und transmedialen Referenzen ihre Identität fortlaufend hybridisiert und erschafft. Die prekäre Entfremdung des Mediums Fotografie durch die transmedialen Referenzen zielt auf die Produktion eines bildlichen Bewusstseins, das, die künstlerische Werkstatt und somit seine Entstehung sichtbar machend, eine unauflösliche Relationalität artikuliert.

Mit der Analyse der Installation In Principio (e poi) der Medienkünstlergruppe Studio Azzuro (Kap. 5, Teil 3) erfährt die Relationalität der Geste der Kunst in der zu skizzierenden Ästhetik eine partizipative Neuprägung, durch die der körperliche Kontakt die künstlerische Mitte einer prozesshaften und grundsätzlich unabschließbaren Gestaltung darstellt. Die inter- und transmediale Verfasstheit der Installation lässt den Betrachter – der, wenn nicht Mitschöpfer, zweifelsohne Mitgestalter des Werkes ist – zum Akteur einer Narration werden, deren Ursprung nicht aufhört, zu beginnen.

1 Die Verwendung des generischen Maskulinums impliziert im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, auch die weibliche Form.

2 »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«, vgl. Ludwig Wittgenstein: »Tractatus logico-philosophicus«. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, 5.6.

3 Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 15.

4 Zu diesem Aspekt, der nur eine, in der Tat nicht zentrale Seite meiner Untersuchung darstellt, vgl. Fabian Goppelsröder: »Geste als Figur im Denken«. In: Veronika Darian u. Peer de Smit (Hg.): Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven. Berlin: Neofelis 2020, S. 34–46.

5 Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Hg., übers., um ein Gespräch mit Jacques Rancière u. ein Nachwort erweitert v. Frank Ruda u. Jan Völker. Berlin: Merve 2008, S. 41.

6Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. v. Maria Muhle. Berlin: b_books 22008, S. 39.

7 Petra Löffler: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik. Bielefeld: Transcript 2004, S. 10f.

8 André Chastel: Le geste dans l’art. Paris: Liana Levi 2001, S. 11; Barbara Pasquinelli: Körpersprache. Gestik, Mimik, Ausdruck. Berlin: Parthas 2007, S. 6.

9 Dieses Thema wurde ansatzweise im Rahmen vieler, aber v. a. der 2019 organisierten Ausstellung Frozen Gesture im Kunst Museum Winterthur erforscht, vgl. dazu: Konrad Bitterli: »Gesten: Grundlagen der Malerei«. In: Ders., Lynn Kost u. Andrea Lutz (Hg.): Frozen Gesture. Gesten in der Malerei – Gestures in Painting. München: Hirmer 2019, S. 9f.

10 Nach Stephanie Schroedter: »Pantomime«. In: Gert Ueding et al. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 10. Berlin u. New York: De Gruyter 2011, S. 798.

11 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen (wie Anm. 6), S. 70.

12 Für einen historischen Überblick zum Thema gerade ausgehend von der römischen Rhetorik vgl. Cornelia Müller: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich. Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 25–85.

13 Adam Kendon spricht von einem »process of utterance« zwischen Geste und Sprechen in ders.: »Gesticulation and Speech: Two Aspects of the Process of Utterance«. In: Mary R. Key (Hg.): The Relationship of Verbal and Nonverbal Communication. Den Haag: De Gruyter/Mouton 1980, S. 208. Von Adam Kendon vgl. auch folgende Studien: Nonverbal Communication, Interaction and Gesture. Den Haag: Mouton 1981; ders.: Gesture: Visible Action as Utterance. Cambridge: Cambridge University Press 2004; ders.: »Kinetische Komponente multimodaler Äußerungen«. In: Christoph Wulf u. Erika Fischer-Lichte (Hg.): Gesten. Inszenierung Aufführung Praxis. Paderborn: Fink 2010, S. 21–41.

14 David McNeill: Hand and Mind. Chicago: The University of Chicago Press 1992, v. a. S. 11 u. 221; ders.: Gesture and Thought. Chicago: The University of Chicago Press 2005; ders.: How Language Began: Gesture and Speech in Human Evolution. Cambridge: Cambridge University Press 2012.

15 Nach Margreth Egidi et al.: »Riskante Gesten. Einleitung«. In: Dies. et al. (Hg.): Gestik: Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen: Narr 2000, S. 11.

16 Für die im Fließtext geschilderte Dreiteilung kommunikativer Gesten vgl. Emanuela Campisi: Che cos’è la gestualità. Rom: Carocci 2018, S. 37–46.

17 Michael Cuntz: »Deixis«. In: Jörg Dünne u. Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin u. New York: De Gruyter 2015, S. 57.

18 Für die pragmatischen Gesten bezieht sich Campisi auf Kendon: Gesture: Visible Action as Utterance (wie Anm. 13), S. 158.

19 Jochen Venus: »Basismedien: Bild, Klang, Text, Zahl, Geste«. In: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Unter Mitarbeit von Simon Ruschmeyer u. Elisabeth Walke. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2014, S. 218. Es soll an der Stelle angemerkt werden, dass der negative medientheoretische Ansatz für das Verständnis des allgemeinen medialen Charakters der Geste angewendet wird; der Autor arbeitet aber der Kohärenz seines Unterfangens wegen nicht die kunstpraktischen und -theoretischen Implikationen seiner Stellungnahme aus.

20 Giorgio Agamben: Signatura rerum. Zur Methode. Übers. v. Anton Schütz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 11.

21 Michaela Ott: »Was will die Medienwissenschaft von der Kunst?«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8.1 (2013), S. 181f.

22 Dieter Mersch: Kunst und Medium: Zwei Vorlesungen. Kiel: Muthesius Kunsthochschule 2002, S. 162.

1Die dreifache Wurzel der Präsenz

Mein Versuch, die künstlerische Geste von ihrer produktiven Seite her zu begreifen und damit neu zu konzipieren, setzt sich zunächst methodologisch mit einigen Aspekten von Hans Ulrich Gumbrechts »Programm der Präsentifikation«1 sowie mit Hartmut Winklers Begriff der »eingreifende[n] Veränderung«2 auseinander.

Die Ausgangsszene, welche den theoretischen Weg zu Gumbrecht praktizierbar macht, ist selbstverständlich die zuvor kurz skizzierte Notwendigkeit einer Überwindung des auf Sprachanalogie hin gerichteten Verständnisses der künstlerischen Geste. Eine solche Überwindung wird in meinen späteren methodologisch-theoretischen Ausführungen durch Agambens und Nancys Theorien der Geste sowie in den darauf folgenden Kapiteln analytischer Art noch konkreter.

In Diesseits der Hermeneutik (2004), welches quasi als Summa von Gumbrechts theoretischer Reflexion über die Präsenz gelten kann, plädiert der Autor für ein Denken, das die Materialität der Phänomene als selbstbildende Form der »Erzeugung von Komplexität«3 auffasst. Der Umgang mit einer solchen Komplexität ergibt sich aus der interpretativen »Bezugnahme auf ein Räumliches«4, d. h. aus einer sinnlichen Interaktion mit dem Untersuchten, die auf eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts zielt. Gumbrechts Präsenz-Begriff richtet sich deshalb gegen entkörperlichte Sinnkonstrukte (wie etwa den linearen und bruchlosen Lesefluss oder die Idee der Begrenztheit hermeneutischer Prozesse) und drückt gleichzeitig einen starken »Wunsch nach Greifbarkeit«5 aus. Der Umgang mit der Komplexität (d. i. ihrer Erstellung) gestaltet sich für Gumbrecht als eine Analyse von Mikro- und Makrostrukturen (z. B. der sinnlichen Textur von Medien wie etwa der Schrift) durch Lösungsoffenheit und Variationsbereitschaft. Die Relation mit dem komplexen Gegenstand konfiguriert sich daher als ein nicht ausgewogenes, unbeständiges »Oszillieren zwischen Präsenz- und Sinneffekten«6 und somit als eine »Produktion von Präsenz«7:

Wenn producere buchstäblich soviel wie ›vorführen‹ oder ›nach vorne rücken‹ heißt, würde die Formulierung ›Produktion von Präsenz‹ herausstreichen, dass der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit auch ein in ständiger Bewegung befindlicher ist.8

Gumbrechts Theorie der »Produktion von Präsenz« ist keine normative ästhetische Theorie, sondern eine Ästhetik von kunst- und praktikenübergreifenden Phänomenen, die sich einer Reduktion ihrer Komplexität widersetzen. Gumbrecht führt an der Stelle mehrmals das Beispiel bestimmter Sportereignisse an,9 welche durch ihre Modifikation der alltäglichen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsabläufe eine gar kollektive Erweiterung des Erkenntnishorizontes sowie Formen vorlogischer (und damit auch freilich vorsprachlicher) Aufmerksamkeit herbeiführen. Die Idee einer Steigerung der Komplexität und somit auch der vom Rezipienten empfundenen Beweglichkeit der Sinnesdaten im Umgang mit dem Untersuchten darf allerdings nicht als eine ästhetische Erfahrung im Sinne Jauss’ aufgefasst werden, da diese zum großen Teil die Züge einer Theorie des Geschmacks bzw. einer »Poiesis des aufnehmenden Subjekts«10 trägt. Gumbrechts »Effekt der Greifbarkeit« ist der Name eines (vom ästhetischen Erleben freigesetzten)11Untersuchens, das nicht eine Abgrenzung, sondern eine kontinuierliche Sammlung, Rekonstruktion und Projektion von Daten mittels sinnlicher Exploration des Gegebenen sucht.

In Diesseits der Hermeneutik wird darüber hinaus eine Triade angeführt – Epiphanie, Präsentifikation und Deixis –12, die im Rahmen des vorliegenden Unterfangens insofern wichtig ist, als sie die allgemeinen Züge des Verfahrens für die Erforschung sinnstiftender Phänomene (d. h. Phänomene, die Sinn jenseits der Bedeutung produzieren) beschreibt. Eine solche Triade – die Gumbrecht als Produkt seiner eigenen Historisierung bzw. seiner »Ästhetisierung der Geschichte«13 und als hypothetisches Arbeitsraster für die Geisteswissenschaften sieht – dient im Grunde der Hervorhebung dreier Charakteristika des Oszillierens zwischen Präsenz- und Sinneffekten: Die Epiphanie (1) konturiert dessen ephemere, unvorhersehbare und differenziale Natur; die Präsentifikation (2) steht für eine Art immanenten, unauflöslichen und aktualisierenden Rückbezug (»die Möglichkeit, mit den Toten zu ›sprechen‹«14); die Deixis (3) umfasst Strategien der Lenkung von Aufmerksamkeit und Auffächerung von Sinnannahmen um. Eine solche Bestimmung enthält eine dreifache zeitliche Verweisstruktur, bei der jeweils Gegenwart (1), Vergangenheit (2) und Zukunft (3) in der Präsenz zu koexistieren scheinen und in einer spannungsreichen Wechselbeziehung auftreten. Denn Epiphanie, Präsentifikation und Deixis sprengen die lineare Zeitlichkeit, die sie in der »breiten Gegenwart«15 zu hinterfragen auffordern, reaktivieren aber zugleich die Fähigkeit, Präsenzen nicht als isolierte Momente wahrzunehmen. Vielmehr entstehen durch die dreifache Struktur der Präsenz Interaktionen von Aktion, Rückkopplung und Antizipation, die sich über eine »immanente Zeitlichkeit«16 erstrecken.

Der »Effekt der Greifbarkeit« ergibt sich also aus einer »breiten Gegenwart« – die ich Vergegenwärtigung nenne, da sie einen unverkennbar kognitiv-imaginativen Einsatz benötigt – die in der »Simultaneität«17 Sinndimensionen versammelt, neu adaptiert und erweitert. Konkret bedeutet die Vergegenwärtigung, dass sich die Eigenzeit der Präsenz ausgehend vom Hier und Jetzt des Zusammentreffens der Akteure der »breiten Gegenwart« manifestiert. Die Vergegenwärtigung setzt außerdem Verhältnisse und Fluktuationen in Gang und öffnet das Erforschte neuen Zwecken und Operationen, die Verbindungen mit Geschichtlichkeiten knüpfen und kreieren.

Bezüglich des Begriffes »breite Gegenwart« merkt Gumbrecht eine (in der Tat kaum zu übersehende) Ähnlichkeit mit dem Ereignis-Begriff an. Dieser Vergleich ist umso angebrachter, wenn man die retikuläre und verzweigte Struktur von Gumbrechts Präsenz-Begriff eingehender betrachtet.18 Kann aber die Oszillation von Sinn und Präsenz so aufgefasst werden, dass sie gerade wegen ihrer Temporalität nicht allein als Ereignis, sondern als mediales Potenzial sui generis artikuliert wird? Eine punktuelle Kritik an den Begriffen Ereignis und negative Medienphilosophie kann einige Aspekte der Relation zwischen Präsenz und Ereignis sowie deren Vermittlungsmechanismus zu problematisieren helfen. Nach dieser Kritik wird in Kap. 3 (Teil 1) Winklers Konzept des Prozessierens als Schlüssel für das Verständnis der Operativität der Präsenz ausgelotet.

1 Hans U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 115.

2 Hartmut Winkler: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion. München: Fink 2015, vgl. u. a. S. 1–32.

3 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (wie Anm. 1), S. 150.

4 Ebd., S. 33.

5 Ebd., S. 126.

6 Ebd., S. 18 u. 127.

7 Ebd., S. 32.

8 Ebd.

9 Ebd., S. 118.

10 Hans R. Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 119.

11 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (wie Anm. 1), S. 120f.

12 Ebd., S. 111–154.

13 Ebd. S. 115.

14 Ebd., S. 144.

15 Ebd., S. 142.

16 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 266.

17 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik (wie Anm. 1), S. 142.

18 Ebd., S. 118f.

2Ein kurzes Intermezzo

Notate für eine mögliche Kritik der Begriffe Ereignis und Negativität

Der Ereignis-Begriff besitzt in der Alltagswelt eine ungreifbare, schwer definierbare Natur. Sportliche Leistungen, künstlerische Performanzen, Katastrophen oder politisch-geschichtlich relevante Momente stellen jeweils anders Formen materieller und immaterieller Ereignishaftigkeit dar.19 Meistens treten Ereignisse als Brüche oder Diskontinuitäten des linearen Zeitablaufs auf und fordern eine Umstellung unserer Orientierungsfähigkeiten,20 wie etwa im Falle einer Explosion oder eines Happenings. Ereignisse sind also im Grunde raum-zeitliche Konstellationen, die infolge ihres Daseins auffallen21 und eine, mehr oder weniger unmittelbare, responsive Einstellung vonseiten der Beteiligten verlangen. Die unterschiedlichen Ereignisarten weisen Konvergenzen v. a. hinsichtlich ihrer Grenzen (Ereignisse sind weder beliebig wiederholbar noch durchgängig herstellbar)22 und ihrer allgemeinen Wahrnehmbarkeit auf, die mit dem Gefühl der verändernden Unterbrechung eng verflochten sind. Deleuze begreift das Ereignis als Akzidens, dessen Nicht-Formalisierbarkeit einer doppelten Unendlichkeitsordnung (einer realen und einer erkenntnistheoretischen) zuzuschreiben ist.23 Das Ereignis scheint also auch für Deleuze mit der Wucherung von Präsenzeffekten deckungsgleich zu sein, deren Manifestation »das Ereignis als reine[n] Sinn« konstituiert, »der sich in Sachverhalten, in Dingen und Objekten nur verkörpert«24. Ist nun das Ereignis eine Form der Präsenz, die vom (erkenntnistheoretisch) Erwarteten abweicht und deshalb die Kontingenz der Weltverhältnisse abgesehen von ihrer materiellen Bedingtheit erkennbar macht, so scheint es die immaterielle Weise des Sichtbarwerdens quasi einbegreifen zu können. Das Ereignis wäre anders gesagt der andere Name einer Ontologie der Kontingenz, welche konkrete Produktionsprozesse und Formen der Projektualität nur in abstracto als Kategorien der »absoluten Potenz«25, d. h. einer anonymen, subjektlosen Möglichkeit umfasst. Das Ereignis entspräche demnach einer Evidenz, die besagt, dass das Sich-Ereignen im Wesen »jede[r] durchgehende[n] Regie«26 entgeht und im privativen Modus, d. h. als Entzug (wie etwa in Derridas oder neulich Merschs Ereignis-Konzeptionen),27 auftritt.

Die Kritik des Ereignisses als Entzug führt aber nun direkt zur Kritik eines Aspekts der negativen Medientheorie im Sinne Merschs, insofern diese eine exemplarische theoretische Grundlage von privativen Medienverständnissen (wie etwa die moderne Krise der Darstellungsfunktion) konstituiert, deren Ergänzung durch eine Prozessontologie ein Anliegen meiner Theoriebildung ist. Für Mersch speist sich nämlich die Medialität – jetzt nicht mehr bloß im Sinne des Ereignisses, sondern als Vorgänge von Über- und Vermittlung, als eine beständig ins Andere gleitende »Mitte«28 – aus »Figuren des Verschwindens«, die das dem Medium inhärente »Moment der Störung [und] Negation« charakterisieren.29 Die »Figuren des Verschwindens« bedingen die »Nichtkontrollierung«30 des Mediums, das somit »im Erscheinen […] verschwinde[t]«31