Die gestohlenen Leben - Hiam Mondini - E-Book

Die gestohlenen Leben E-Book

Hiam Mondini

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Beschreibung

Nach einem unvorstellbaren Ereignis erwacht eine nirgends vermisste Person in einem Krankenhaus in New York. Doch die Erinnerungen an ein Leben sind erloschen und durch einen Zufall wird die einzige und engste Bezugsperson ein weltweit bekannter Action-Star. Dieser begleitet das Opfer von nun an täglich durch Höhen und Tiefen und hilft, dem schrecklichen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Eine spannende Suche nach Wahrheit, Freundschaft, Liebe und brutaler Erkenntnis.

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Für Mirjam

Inhaltsverzeichnis

Intro

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Intro

Ich kann es nicht fassen! Das so lang ersehnte blaue Kreuz ist auf dem Stäbchen zu sehen! Diesen Glücksmoment konnte ich mir im Leben nie so vorstellen! Ich könnte schreien, weinen, jauchzen und kreischen zugleich! Mein Herz schlägt wie verrückt und es wird mir hun-deelend.

Wie soll das gehen? Was muss ich denn jetzt tun? Meinem Mann sagen, aber wie? Ich könnte Babykleider kaufen und ihm schenken. Oder eine Nachricht hinterlassen mit einem Foto vom Test? Was wird mein Arbeitgeber dazu sagen, werde ich meinen Job behalten können? Eine Nan-ny? Kindertagesstätte… um Himmels willen, fremde Menschen um mein Kind herum? Hoffentlich ist alles in Ordnung mit dem Baby. Ob ich die Folsäure Tabletten genug früh eingenommen habe? Was, wenn es ein Down Syndrom hat, ob er es dann noch behalten will? Ich kann nicht abtreiben, aber kann ich alleine mit einem Kind sein? Wir warten doch schon so lange, da darf nichts schiefgehen.

Jemand klopft an die Tür und ruft: „He, noch lange besetzt da drin? Wir müssen auch mal!“ Wie schnell man alles vergisst in einem solchen Moment. Ich packe alles zusammen, entschuldige mich bei den wartenden Damen und verlasse das Kaffee in Eile, nur wohin zuerst?

Kapitel 1

Wild um sich schlagende Wellen klatschen ihre Nässe an die Stegpfeiler. Es riecht widerlich nach abgestandenen Algen, toten Fischen und Möwenkot. Das Meer ist unruhig und laut, die Wolken ziehen in Eile am Himmel vorüber und die Strand Jogger haben ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, um die Haut vor der eisigen Kälte zu schützen.

Frank ist heute ebenfalls am Strand unterwegs. Schon länger hat er nichts mehr für seine Fitness getan und die Feiertage haben ihre kulinarischen Highlights sichtbar gemacht. Freja, seine belgische Dogge mit dänischem Vornamen, nimmt es ihm schon lange übel, die langen Strand-läufe aufs Minimum reduziert zu haben. Heute ist er es ihnen beiden schuldig und geht seine Neujahrsvorsätze ernsthafter an. Dieses Jahr bestimmt. Nachdem er sich über 50 Jahre selbst belogen hat, wird er es schaffen, dieses Jahr bestimmt!

„Freja! Komm her, alte Dame! Wo bist du denn? Freja, keine Spielchen bei diesem Unwetter! Freja!“

Ein Wimmern und Winseln, dann aufgeregtes Hundegebell und Freja rennt vor Franks Beinen umher, springt ihn an, wirft ihn fast um, zieht wieder ab und ist nirgends mehr zu sehen. „Freja Mensch, was ist denn los! Komm sofort her!“

Frank kann unter dem dunklen Steg kaum etwas erkennen. Ein beissender Gestank steigt ihm in die Nase, er muss sich fast übergeben. Was um alles in der Welt kann das sein? Frejas Nervosität und Aufregung verkünden ihm nichts Gutes, denn auf tote Tiere steht seine Lebensbegleiterin zum Glück nicht... „Sie rufen 911 an. Bitte nennen Sie ihren Notfall!"

Kapitel 2

Das muss Intuition sein. Kaum hatte ich mein Mobile in der Hand um Rob anzurufen, summt es und ich öffne seine Nachricht: „Lass uns um 19 Uhr beim Italiener treffen! Wenn ich mich verspäte, ich hätte gerne die Galzone und wir gönnen uns einen Amarone della Valpolicella 2010 ;-). Love and Miss u!“

Wie nahe wir uns doch sind. Nach 7 Jahren weiss er, wenn wir etwas Spezielles feiern, ohne dass wir miteinander gesprochen haben. Der kleine Italiener war unser erstes Restaurant, welches wir zweifellos jederzeit gerne wieder besucht haben. Unser erstes Date alleine, unser 1. Jahrestag, unser 2. Jahrestag, Robs Beförderung, Vatis Tod, Robs nächste Beförderung und jeden weiteren Jahrestag unserer Beziehung haben wir beim heimeligen Italiener mit seinen kulinarischen Angeboten zelebriert.

Ich nahm mir die restlichen Stunden des Tages frei. Ausser Papierkram und langweiligen Ablagen stand nichts Wichtiges mehr im Terminkalender. Mein nächster Karriereschritt stand nun so oder so in den Sternen. Ob ich dann mit Kind überhaupt noch befördert werde? Oder gehöre ich dann auf die Teilzeit Mama Liste der möglichen Potenziellen zu einem späteren Zeitpunkt? Weiterbildung und Zusatzstudium stelle ich mir gerade sehr schwierig vor… ich sollte nun Schritt für Schritt nehmen, nicht zu viel überlegen... meine Gedanken setzen sich auf ein wildes Karussell... jetzt ruhig, nach Hause gehen und mich hübsch machen für Rob!

Das kleine Schwarze? Das lange Rote? Oder doch eher konservativ mit Hosen und Bluse? ...Ich entscheide mich für einen sexy Look. Schliesslich wird mein Körper sich in den kommenden Monaten enorm wandeln, aber in die hoch erotische Phase werde ich sicherlich nicht kommen. Also geniesse ich noch etwas das Herausputzen für mich und meinen Mann. Ich quetsche mich in ein Slim-ding. Wie auch immer diese hautengen Unterschläuche heissen, die versuchen, meine Speckröllchen und unförmigen Kurven an den richtigen Orten zu verstecken und mich in einem anliegenden Kleid akzeptabel aussehen zu lassen. Ich gehörte noch nie zu den Frauen, die einen super flachen Bauch, einen tollen Stehbusen und lange schön geformte Beine haben. Ich bin eher der kleine Typ Frau mit schmalen Fesseln, rundem Hintern, Bauchröllchen und einem Busen, der sich ohne BH etwas zu stark dem Nabel nähert. Meine arabischen Vorfahren mütterlicherseits verleihen mir immerhin einen etwas exotischen Touch. Grosse dunkel grüne Augen, schwarzes, lockiges, oft zu widerspenstiges Haar, volle Lippen und einen leichten moccafarbenen Hautteint.

Unter der Dusche creme ich mich reichlich ein, ich muss heute langanhaltend gut duften. Ich streiche mir über den Bauch und stelle mir vor, wie ich in wenigen Monaten aussehen werde, wie sich mein Kind entwickelt und welch grossartiger Vater Rob sein wird. Als Italiener hat er sich schon immer eine grosse Familie gewünscht. Roberto Garreffa, ein Römer mit katholischen Familiengrundsätzen und unglaublich leidenschaftlich in allem, was er tut. Wie wird er reagieren, wenn ich es ihm in weniger als einer Stunde mitteile, dass der Familientraum für uns begonnen hat? Ich muss meine Tränen bei dieser Vorstellung unterdrücken, sonst wäre mein ganzes Make-up schon wieder hin... das darf später so sein, jetzt aber los. Schuhe und Mantel anziehen und... das Telefon klingelt... das Telefon klingelt? Wer mag das sein um diese Zeit? Es weiss doch niemand, dass ich zu Hause bin. Das Büro würde mich auf meinem Mobile anrufen. Und weshalb der Festnetzanschluss. Seltsam, ob ich überhaupt abheben soll? Ich lasse den Anrufbeantworter starten, während ich mir den Mantel zuknöpfe und mir den Schal umbinde.

Es ertönt: „Hier bei Steiner und Garreffa. Wir sind im Moment überall, nur nicht zu Hause! Bitte sprechen Sie nach dem Signalton, wir melden uns zurück!" *Piep* „Guten Abend Frau Steiner, hier Dr. Dubois, bitte rufen Sie mich umgehend auf meine Notfallnummer 079 922 25 28 zurück." Aufgelegt. Mein Blut verlässt augenblicklich meinen Kopf, mein Magen wird durch eine spürbare Schnur eingeengt und meine Knie werden weich... Ich lasse meine Tasche fallen und starre den Telefonapparat an, als würde er mich gleich angreifen.

Kapitel 3

Frank konnte Freja bei seinem Sohn unterbringen, Hunde haben im Krankenhaus keinen Zutritt. Hastig eilt er vom Parkplatz zum Tiefgaragenlift. Warum zum Teufel nennt man es Tiefgarage, wenn es ein Superkomplex neben dem Haupthaus ist? Oder weiss nur Frank nicht, wie man diese riesigen Parkhäuser richtig nennt? Klar, es könnte ja auch nur Parkhaus sein. Aber die Schwester bei der Notaufnahme sagte wortwörtlich: „Bitte parkieren Sie in der Tiefgarage und nicht vor unserer Notaufnahme!" Nein, sie hat es ihm nicht gesagt, sie hat es ihm förmlich ins Gesicht geschrien. Sie hatte wohl auch nicht den besten Tag. Nicht vorstellbar, was sich die Mitarbeitenden einer städtischen Notaufnahme den ganzen Tag ansehen müssen. Was Frank heute gesehen hat, reicht ihm für den Rest seines Lebens!

Er eilt zum Haupteingang und will sich an einer Menschenmenge vorbeidrängen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürt, die ihn festentschlossen zurückhält: „Frank? Frank Conley? Bist das wirklich du? Hey Mann, krieg ich ein Selfie mit uns beiden? Ich glaubs nicht! Frank Conley!" Bevor sich Frank richtig aus den Klauen dieses fremden Aufdringlings losreissen kann, steht er schon eingequetscht zwischen zwei nach Alkohol, abgestandenem Tabak und Marihuana riechenden Männern. Sie versuchen mit ihren dicken Fingern und dem Alkohol in ihren pulsierenden Adern die Handys auf Selfie Einstellung schulterhoch zu positionieren! Blitzlichter und Männergejohle, ein "Hey Mann, cool!" Frank kann noch gerade den vielen High Fives ausweichen, winkt ab und meint: „Sorry Jungs, muss los, habt Spass!" Er hüpfte im letzten Moment durch die sich langsam wieder schliessende Schiebetür des Coney Island Hospitals in NYC.

„Guten Abend, ich bin Frank Conley, ich war heute hier wegen einem Notfall, können Sie mir sagen, mit wem ich sprechen kann?" Die Dame hinter dem Tresen schaut Frank erst durch ihre Lesebrille an, während sie gemütlich ihren Kaugummi kaut. Dann nimmt sie die Brille lässig ab, lässt sie an ihrer silbernen Kette baumeln, steht auf und ein breites, fröhliches Grinsen macht sich auf ihrem alten, dennoch sehr jugendhaft verschmitzten Gesicht breit: „Frank Conley, da werfe ich ein Dinosaurierei! Heilige Scheisse... tschuldigung... was für eine Ehre, Sie vor meinem Schreibtisch zu haben, Sir! Himmel Arsch, Sie sehen live ja noch viel besser aus als auf dem Papier oder in der Kiste! Bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber Sie bringen mich doch glatt aus dem U-Boot!"

Frank schliesst für einen Bruchteil einer Sekunde seine Augen, holt tief Luft und entgegnet ihr mit seiner tiefen Baritonstimme und sehr ruhig: „Freut mich sehr, M'am, wenn ich Ihnen gerade eine Freude machen konnte mit meiner Anwesenheit. Wenn ich nicht unglaublich aufgeregt und nervös wegen eines Notfalls hier wäre, würde ich mich mit Ihnen gerne etwas länger unterhalten. Darf ich Sie deshalb höflichst nochmals darum bitten, mir zu sagen, an wen ich mich wenden kann? Es gab einen Notfall heute Nachmittag am Coney Island Beach."

Die Empfangsdame tätschelt Franks aufgestützte Hand auf dem Tresen. Sie legt sich die Brille wieder auf die grosse Nase, zwinkert ihm zu, während sie sich auf ihren gemütlichen Stuhl setzt und kommentiert kopfschüttelnd, als sie die Hände auf die Tastatur legt: „Nicht nur gutaussehend, sondern ein echter Gentlemen dazu! Lassen wir Susie, das bin übrigens ich“, dabei grinst sie breit und zwinkert erneut in Franks Blickrichtung, „nachsehen, wo wir am schnellsten an Infos kommen, die unseren Frank hier etwas besänftigen können. Ah ja, hier ist es: Intensivstation A. Sind sie ein Angehöriger, Frank?" Susie guckt ernst und fragend über ihren Brillenrand hoch. Frank beisst sich auf die Unterlippe und will gerade etwas antworten, da nimmt Susie ein Notizblatt, kritzelt was drauf, legt es auf den Tresen und guckt Frank wieder über die Brillengläser an: „Leslie, die kleine weisshaarige Dürre im blauen Zweiteiler auf der Intensiv schuldet der alten Susie schon lange einen Kaffee. Sie kann ihn gleich runterbringen, wenn sie Ihr Ziel erreicht haben. Dazu nehme ich ein Autogramm von Ihnen!" Frank spürt wieder ein kurzes, sehr sanftes Tätscheln von Susie auf seiner Hand, die den Notizzettel zittrig festhält. Frank haucht ein kaum wahrzunehmendes „DANKE Susie“ durch seine Lippen.

Frank hastet zum Aufzug, stellt sich in die leere Kabine, drückt den Knopf zum 4. Stock und schliesst zeitgleich mit der Tür seine Augen und flüstert: „Oh Gott, lass diesen Alptraum enden! Ich will diese Bilder nicht mehr in meinem Kopf sehen! Wer tut sowas? Das waren Tiere! Nein Bestien!“ *Ding* Die Tür öffnet sich und Frank hat das Gefühl, auf einem leeren Stockwerk gelandet zu sein. Es kommt jemand, nein, sie schwebt förmlich. Die Krankenschwester scheint Wolkenschuhe zu tragen. Sie schwebt an Frank vorbei, lächelt ihn gutmütig an und macht zwei Sekunden später kehrt auf ihren Wolken, schwebt wieder zurück zu ihm, stellt sich direkt vor ihn, lächelt ihn an und fragt mit sanfter Stimme: „Suchen Sie jemand Bestimmtes, Sir?" Frank öffnet seine zitternde Hand direkt vor ihrem Gesicht und lässt Susies Notizzettel in die kleinen, drahtigen Hände der Wolkenschweberin fallen. Sie nimmt das kleine Stück Papier, entfaltet es, als wäre auch das ein Stück Watte und liest Susies Handgekritzel. Langsam drehen sich ihre Wolkenschuhe in Richtung des kalten, sterilen und totenstillen Korridors. Sie stellt sich neben Frank, nimmt sanft, schon fast zärtlich seinen Arm und sagt mit ruhiger Stimme wie zuvor: „Ich begleite Sie, Sir, Leslie ist gleich da vorne bei den Medikamenten." Sie drückt Franks Arm ganz wenig, um ihn in die Richtung der Medikamente zu Leslie zu begleiten. Dorthin, wo er hoffentlich bald alle Antworten auf die unglaubwürdigsten Fragen seines bisherigen Lebens erhalten würde!

„Leslie", hört er von weither die Stimme der Wolkenschweberin, „dieser Gentleman wurde von Susie geschickt." Sie lächelt ihn für ein letztes Mal für diesen Tag zur Verabschiedung an und schwebt gangabwärts zurück. Leslie, die weisshaarige Dürre, nach Susies perfekt zutreffender Beschreibung, sieht Frank fragend und mit gekräuseltem Mund an. „Sir, das ist die Intensivstation. Was machen Sie hier?" Sie schiebt die Aktenschublade, in welche sie eben ein Formular eingeordnet hat, leise zu, hält Susies Notizzettel noch immer in der Hand direkt vor ihn. Frank flüstert hastig und fast ohne Luft: „Es gab heute am Coney Island Beach einen Notfall, den ich meldete. Ich habe den Krankenwagen bis hierher begleitet, musste dann aber zuerst meine Hündin heimbringen. Können Sie mir bitte sagen, ob die Person, die hergebracht wurde okay ist?" Leslie sieht sich um, als würde sie sich versichern, dass niemand ihr sogleich Gesagtes hören würde: „Hören Sie, ich darf keine Auskunft geben, wenn Sie kein Angehöriger sind. Ich sehe, Susie will Ihnen aus irgendeinem Grund einen Gefallen tun und ich schulde diesem Elefantenhirn noch einen Kaffee. Also begleite ich Sie wieder in Richtung Aufzug, der Sie zurück zu Susie bringen wird." Frank lässt seinen Kopf enttäuscht hängen und begleitet diese Geste mit einem tiefen Seufzer. Leslie nimmt ihn, wie zuvor die Wolkenschweberin, ob sie dies in der Ausbildung so lernen, am Arm und geht mit ihm in die entgegengesetzte Richtung des Aufzugs. Etwas verwirrt sieht Frank sie an. „Na, ich bin mir sicher, dass Sie nach all dieser Aufregung jetzt gerne erst mal ein Glas Wasser haben möchten, oder etwa nicht?", stellt sie mit einem anteilnehmenden Gesichtsausdruck fest, während sie am Wasserspender einen Becher mit stillem Wasser auffüllt. Just in diesem Moment öffnet sich eine Tür und ein Arzt, erkennbar an seinem weissen Kittel, tritt durch diese aus dem Zimmer. „Leslie, sind Sie gerade besetzt? Ich benötige hier zwei zusätzliche Hände." Leslie nickt ihm zu und blickt auf die offene Tür und sogleich zum Arzt. „Nein Sir, ganz zu Ihren Diensten", antwortet sie, gibt Frank den gefüllten Wasserbecher und geht zielstrebig zur noch offenen Tür. Der Arzt ist bereits wieder ins Zimmer getreten, als Leslie, gerade noch mit ernstem Blick zu Frank, dem weissen Kittel durch die Tür folgt.

Frank verstand ihren Blick, trinkt hastig einen, zwei, drei Schlucke aus dem Becher und seine mittlerweile ruhig gewordene Hand beginnt wieder zu zittern. Hinter dieser Tür also! Der Notfall von Coney Island Beach liegt hinter dieser Tür. Noch während seine aufgeregten Gedanken versuchen, eine Lösung zu finden, wie er an weitere Informationen kommt, öffnet sich gerade neben dieser Tür der Vorhang hinter der Glasscheibe. Leslie offenbart den Einblick in das gesamte Krankenzimmer. Eine Hand des weissen Kittels öffnet abermals die Tür und Frank hört seine Anweisungen an Leslie: „Bitte unter genauer Beobachtung halten. Stets Monitor beachten, Werte alle 15 Minuten notieren. Bei jeder kleinsten Veränderung mich umgehend anpiepen." Rasch huscht er den sterilen Gang hinunter und verschwindet hinter einer weiteren Tür. Erst jetzt, als Frank ihm nachsieht, bemerkt er, wie bei einigen Zimmern die Vorhänge geöffnet sind. Wie konnte ihm das zuvor entgehen? Langsam mit hörbaren Schlucken, leert er seinen Becher, lässt ihn in den Eimer neben dem Wasserspender fallen und schwebt nun, wie seine erste Begegnung auf der Intensivstation A langsam zur Scheibenwand des Krankenzimmers INT7. Leslie blickt ihn durch das Glas an, hebt leicht und zweifelnd ihre Schultern, dreht sich langsam vom Bett weg und gewährt ihm freie Sicht auf dasjenige.

Kapitel 4

Vogue, Schweizer Illustrierte, Beobachter und Familie liegen wie tote Fliegen vor mir auf dem Salontisch im Wartezimmer. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und schaue hinunter auf die belebte Strasse. So viele Menschen jagen ihren Terminen, ihren Einkäufen und ihren öffentlichen Transportmitteln nach. Jeder einzelne von ihnen trägt sein persönliches Schicksal mit sich herum. Ob eines dem meinigen entspricht? Ich kann es mir nicht vorstellen, nein, ich will es mir nicht vorstellen. Ich beobachte eine junge Frau auf der gegenüberliegenden Seite, wie sie sich bewundernd die neue Swarovski Kollektion ansieht. Kann mir niemand weismachen, dass die Probleme hat! Wer interessiert sich schon für Schmuckstücke, wenn sie ernste Probleme hätte? Also, der gehts schon mal gut. Und was ist mit dem Mann im Anzug, der offensichtlich eine Geschäftsakte studiert, während er auf sein Tram wartet. Er scheint sichtlich erregt zu sein, seinem ständigen Kopfschütteln nach zu beurteilen. Also geschäftliche Probleme, der Herr? Sind die wirklich so schlimm, dass sie ihren Tag versauen können? Was sage ich da, Tag! Ihr Leben? Es ist nur ein Job! Es ist nicht das Leben! Sorgen Sie sich um wichtige Sachen! Ich schäme mich sogleich für meine Wut diesen zwei Personen gegenüber! Was können Sie schon dafür, dass sich mein Leben drastisch geändert hat. Ich trage ein Kind in mir, das erste Lebewesen, welches eine Frucht der Liebe zwischen Rob und mir ist... war? Nein, so darf es nicht enden! Ich kann und will es einfach nicht akzeptieren. Warum ich? Warum wir? Warum Rob? Er wäre ein so grossartiger Vater und ich wollte nichts mehr, als die Mutter seiner Kinder sein. Mit ihm zusammen die Höhen und Tiefen einer Familie erleben zu dürfen, sie zu meistern und stärker zu werden. Gemeinsam! Alle drei zusammen, oder vier, fünf, gar sechs. Rob träumte immer von einer grossen Tafel, gefüllt mit seinen Nachkommen! Alle Kinder und Enkelkinder an einem Tisch! Ein Haus voller Leben mit Freuden und Leid. Warum um alles in der Welt ist ihm und uns das nicht vergönnt? Warum kommt das Leid schon jetzt, bevor wir überhaupt angefangen haben? Was haben wir falsch gemacht, dass dieser Kelch nicht an uns vorbeizog. Ausgerechnet an meinem Platz muss er halt machen. Oder trifft es mehr Robs Platz? Ach Himmel, wann kommt endlich Dr. Dubois um mich zu holen, ich ertrage diese unbekümmerten Menschen nicht mehr! Unbekümmert oder scheinheilig? Vielleicht spielen sie ja nur, als ob alles in Ordnung wäre. Wie in einem Theaterstück. Tief im Innern traurig und betrübt und äusserlich die perfekte Maske! Ich mochte solche Menschen noch nie. Ein Mensch ist ein Mensch, man darf doch die wahren Gefühle zeigen und auch dazu stehen, wenn einem das Leben einen Streich spielt. Klar, man ist dann wohl weder cool, gelassen oder eben einfach nicht hart im Nehmen. Ist das so wichtig? Ist man denn wirklich ein Softie, wenn man die Gefühle zulässt und sie offen bekennt? Oder macht einem vielleicht sogar gerade dies zu einer stärkeren Persönlichkeit und wenigstens zu einem authentischen Mitmenschen! Ich mochte die Philosophie Stunden in meiner Ausbildung nie. Was, wie, aber es könnte auch... klare Fakten, Begebenheiten und klare Möglichkeiten waren schon immer einfacher zu verstehen... bloss auch diese konnten für mich nicht nur ausschlaggebend sein. Ein Mensch ist unglaublich und spannend, aber doch nur dann, wenn er es wagt ein Mensch zu sein. Keine Marionette, kein grauer Fisch im Strom, kein Möchtegern-Sternchen, welches innerlich erloschen ist. Einfach nur ein Mensch. Ist das wirklich so schwierig?

„Frau Steiner, bitte." Dr. Dubois steht mit ernster Miene beim Eingang des Wartezimmers und zeigt mit seiner Hand in die Richtung, in welche ich ihm wohl folgen soll. Will ich das denn überhaupt? Habe ich wirklich Lust, dort reinzugehen, meine Zukunft oder eben nicht vorstellbare Zukunft zu sehen? Ich überlege mir ernsthaft das Fenster zu öffnen und zu der bewegten Menschenmenge hinunterzuspringen. Ich will das nicht hören, ich will das nicht sehen! Kann ich mich bitte sofort in den Erdboden versinken! Ein Blitzgedanke huscht durch meine verwirrten Hirnzellen: Los Jasmin, kneif dich in den Arm, schnell, das ist der übelste Alptraum aller Zeiten! Mach schon! Dann erwachst du, Rob liegt tief atmend im Schlaf neben dir und eure Freude ist wieder da! Wenig Glauben schenkend, nehme ich meine Gedanken dennoch ernst und kneife mich unauffällig mit der hinunter hängenden Hand in meine Hüfte. „Frau Steiner, darf ich Sie bitten, mir zu folgen?" Dr. Dubois sieht mich wirklich professionell an. Er weiss genau, dass ich dem Wahnsinn nahe bin! Schon sieben Jahre kennt er uns, begleitet uns intensiv durch den Dschungel der Medizin und die letzten vier Jahre noch intensiver wegen unserem Familienwunsch, der nun endlich wahr werden wollte und von einer zur nächsten Minute einfach zerstört wird.

„Ich kann das nicht, bitte, ich will das nicht sehen. Lassen Sie mich gehen, ich möchte nach Hause!"

Der erfahrene Mediziner, mit weisser Haarpracht, starken, grossen Händen und ruhiger Stimme kommt zu mir, nimmt meine Hand und sieht mich ernst aber mit einem beruhigenden Blick an, der sagt: ‚Da musst du jetzt durch!‘ „Kommen Sie, ich bin ja da, wir sehen es uns gemeinsam an und besprechen alles Weitere zusammen. Sie müssen das nicht alleine durchstehen, ich helfe Ihnen!", beruhigt er mich.

Auch wenn ich seine Worte und Stimme in diesem Moment als wirklich sehr beruhigend wahrnehme, möchte ich ihn am liebsten schlagen! Ich lasse ihn dennoch gewähren und mich von ihm ins nebenan liegende Zimmer führen.

Kapitel 5

„Sir? entschuldigen Sie bitte, Sir?" Etwas unsanft wird Frank am Ärmel gezupft. Entgeistert blickt er den weissen Kittelträgern an. „Bitte?" „Ich habe Sie gefragt, ob Sie ein Angehöriger des Opfers sind?", fragt der Arzt mit ernster Miene und keine Entschuldigungen duldend.

„Nein, bin ich nicht, ich wollte nur..." Frank kann seinen Satz nicht zu Ende sprechen, schon nimmt ihn der grosse Arzt, zwar noch immer kleiner als der sehr grosse Frank, am Arm und begleitet ihn zielstrebig zum Aufzug. Und schon wieder: Warum zum Geier nennt man es Aufzug, wenn Frank gleich damit runterfahren muss? „Sie dürfen sich hier nicht aufhalten, wenn Sie kein Angehöriger sind. Bitte wenden Sie sich an den Empfang. Dort können sie Ihnen bestimmt weiterhelfen, wo Sie Ihren Patienten finden werden." Er hatte bereits den Knopf gedrückt. Noch bevor Frank ihm berichten kann, was er hier will, steht er in derselben leeren Liftkabine wie knapp fünf Minuten zuvor. Fünf Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Fünf Minuten, die ihm alle Bilder vom Nachmittag wie ein nicht enden wollender Film immer und immer wieder abspielen. ‚Am Empfang wird Ihnen weitergeholfen.‘ Susie! Er muss zu Susie! Sie wird ihm bestimmt weiterhelfen!

Komm schon, komm schon, komm schon! Ding! 2. Stock! Die Tür öffnet sich und ein Paar, sichtlich von Trauer umhüllt, tritt zu Frank in die nun nicht mehr leere Kabine. Die Frau putzt sich die Nase, kann ihr trauriges, stilles Weinen jedoch nicht stoppen. Der Mann hat seinen Arm um sie gelegt und versucht ganz klar, die starke Schulter zu sein. Doch auch er kann seine Trauer nicht verbergen. Ein gegenseitiges Nicken wird als einziger Gruss und seitens Frank als Anteilnahme akzeptiert. Weiter, komm mach schon, denkt sich Frank, obschon die Trauer in der Liftkabine zum Ersticken ist. Wenigstens lebt sein Opfer! Opfer! Ja es lebt! Es! Frank konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Aber seine 58-jährigen, mittlerweile kurzsichtigen Augen konnten ihm zumindest diese Bestätigung schenken, dass das Opfer lebt! Der Monitor gleich neben dem Bett zeigte rhythmische Schläge, die er als Laie als Herzschläge wahrnahm. Das stetige Aufleuchten eines Herzens darauf, ebenso. Auch die vielen Schläuche und rein die Tatsachen der Bezeichnung Opfer und das Bett auf der Intensivstation liessen ihn in den letzten Minuten doch schon so viel in Erfahrung bringen: Es lebt! Das Opfer, welches seine Freja aufgespürt, von ihm als menschliches Wesen identifiziert wurde, wenn auch mit menschlich unvorstellbarem Anblick! *Ding* Erdgeschoss. Endlich. Geduldig wartet Frank, bis sich das trauernde Paar im Zeitlupentempo aus dem Aufzug begibt. Rasch eilt er an ihnen vorbei, er muss umgehend zu Susie. „Susie? Entschuldigen Sie Sir? Wo ist Susie?" Franks Blut weicht aus seinem Gesicht! Das darf doch nicht wahr sein. Er steht vor dem Empfang, wo doch eben noch die hilfsbereite Susie hinter ihrer Lesebrille mit dem verschmitzten Lächeln sass und nun macht sich ein älterer Herr mit lichtem Haarschopf und viel zu engem Security Anzug hier breit. „Wie meinen Sie bitte?", fragt er offensichtlich aus seinem Solitär Spiel an Susies wertvollem Informations-Computer rausgerissen. „Ich suche Susie, die nette Empfangsdame, die noch eben hier war." Der Mann sieht Frank erstaunt an und antwortet: „Susie war noch eben hier? Ich hab sie vor über einer Stunde abgelöst und sie wollte heute super schnell nach Hause um ihren Jungs irgendwas von einem Actionhelden zu berichten. Keine Ahnung, was die heute geritten hat, so schnell habe ich die Lady echt noch nie abdüsen sehen. Hat sie was vergessen?" Frank fragt sich ernsthaft, wer diese Leute an einen Frontdesk einstellt. Wie laufen diese Vorstellungsgespräche wohl ab? „Guten Tag, Sie bewerben sich also für die offene Vakanz zum Nacht Security. Haben Sie Erfahrung im Plaudern? Sitzen Sie gerne? Spielen Sie gerne Solitär? Erzählen Sie unbekannten Menschen gerne Ihre Erlebnisse und stellen Sie gerne unangebrachte Fragen? Dann sind Sie genau unser Mann der Nacht! Herzliche Gratulation, Sie haben den Job. Leider haben wir Ihre Konfektionsgrösse nicht mehr, aber keine Sorge, in Uniform sieht jeder Mann unwiderstehlich aus!'

Frank schüttelt diese Vorstellung mit einem flüchtigen Kopfschütteln weg und stützt sich auf Susies Tresen, während plötzlich ein Schauer seinen Rücken streift... hat er eine Stunde gesagt? Er hat Susie vor über einer Stunde abgelöst? Frank war über eine Stunde auf der Intensivstation gewesen? Was hat er so lange gemacht? Eine Stunde lang sein Opfer angesehen und dem Herzschlag auf dem Monitor gefolgt?

„Können Sie mir sagen, wann Susie wieder hier ist?" Der Security Mann scheint nicht erfreut zu sein, dass seine momentane Präsenz keine Hilfe zu sein scheint. „Was brauchen Sie denn von ihr? Kann ich Ihnen denn nicht weiterhelfen?", fragt er schon fast beleidigt. Frank versucht, sich möglichst elegant aus dieser unangenehmen Situation zu retten und entgegnet ihm: „Ich bin mir sicher, dass Sie mir alle Auskünfte geben könnten, die das Coney Island Hospital betreffen würden. Nur wissen Sie, Susie wollte etwas von mir, das ich ihr versprochen habe. Nur leider hatte ich es heute schon wieder nicht dabei, ich vergesslicher alter Mann ich, ich würde es ihr gerne morgen bringen und wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wann sie wieder da ist, so kann ich sie gleich zu Arbeitsbeginn damit überraschen!" Solitär Mann zeigt sich menschlich: „Jaja, wem sagen Sie das, das Alter zeigt seine Schattenseiten... ich mache dieses PC Game schon seit Monaten und schaffe es einfach nicht, ins schnellere Level zu gelangen. Lassen Sie mich den Arbeitsplan suchen, dann sag ich Ihnen, ab wann Sie Susie überraschen können! Ist es denn was Schönes?" Neugierig blicken seine kleinen Augen Frank an. Ein in der Vergangenheit und berufsbezogener erlernter künstlicher Hustenanfall rettet ihn aus dieser lächerlichen Szene und Solitär Mann sucht in einer Schublade nach dem Arbeitsplan. Frank denkt sich, dass dieser Mann sich wenigstens Mühe gibt, schämt sich etwas für seine Notlüge und gratuliert dem Security Mann innerlich für sein erfolgreiches Vorstellungsgespräch. „Ah ja, hier ist er, gehts wieder? Alles gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?" Ein verneinendes Kopfschütteln von Frank. „Alllssooooo... Susie hat morgen ihren freien Tag, aber übermorgen beginnt ihre Schicht um 9 Uhr. Sieht ganz so aus, als müsste die Gute noch einen Tag länger auf ihre Überraschung warten. Oder möchten Sie es morgen hier abgeben, ich kann es ihr noch vor meiner Schicht nach Hause bringen! Sie wohnt ja nicht weit weg, die Gute. Spaziert täglich von zu Hause hierher. Das nennt man Fitness, nicht? Obschon, Sie sind ja auch sehr kräftig gebaut, Sir!" Frank lächelt den Jobwinner müde an und reisst sich für ein letztes Mal an diesem Tag zusammen und sagt: „Das ist lieb von Ihnen! Eine sehr gute Idee! Ich könnte es ihr nach Hause bringen! Mensch, die Jungs habe ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Wie heissen sie schon wieder? ...hach... Mein altes, altes Hirn..." „Sie meinen Fred und John jr.? Ja die beiden sind schon zwei Nummern! Halten die alte Susie auf Trab! Aber sie macht das toll mit ihnen! So ohne Vater plötzlich zwei Teenager gross ziehen und nebenbei diesen knochenharten Job hier bei dieser Bezahlung! Hut ab!" „Genau! Fred und John jr.! Ich sollte sie wirklich zu Hause überraschen, die werden Augen machen, wohnen sie noch immer im selben..." Frank sucht flink nach dem passenden Schlupfloch, als das Telefon neben Susies Helpdesk klingelt. Solitär-Mann hebt seinen Zeigefinger auf Zeichen 'bitte warten' vor Franks Gesicht und hebt den Hörer ab: „Help Desk! ...nein, tut mir leid, Frau Manders ist nicht mehr da. ...Ja...ok...kann ich gerne machen...bye." Er legt den Hörer auf, wendet sich wieder Frank zu, der nicht mehr vor Susies Help Desk steht...

Kapitel 6

Wir werden das schaffen! Mutter und Kind schaffen vieles zusammen, wenn es das Leben so verlangt. Fünf Prozent! Das ist doch immerhin etwas! Fünf prozentige Überlebenschancen hat er gesagt... ich muss dieses Glas halb voll betrachten, nein besser noch: ich reiche den Kelch weiter!

Was sind fünf Prozent, wenn es um Leben und Tod geht? Alles würde ich sagen! Wie kann Dr. Dubois es wagen, so pessimistisch zu sein? Unsere ganze Familie hängt von GENAU DIESEN fünf Prozent ab, jetzt und hier! Ich hab ja keine andere Wahl! Ich wusste es doch, Statistiken bringen die Menschheit ins Zweifeln... ach was, wohl eher ins Verzweifeln! Da glauben sie doch tatsächlich an Kurven auf Blättern mehr als an Menschenwillen, der siegen will und auch kann! Und wir sind Sieger. Wir Steiners sind Sieger! Was würde mein Vater dazu sagen, wenn er noch leben würde: Jaja, diese studierten schlauen Menschen denken, sie können ihr Leben aus Büchern erklären lassen, anstelle sich an die frische Luft zu begeben, die Natur mit all ihren Wundern zu betrachten und den Sinn des Lebens tief einzuatmen! Wie viele Stunden vergeuden sie in ihren Studierstuben und draussen vor der Tür steht die wahre Erkenntnis, so wunderschön wie deine Mutter... ich vermisse meinen Vater. Gerade jetzt in dieser Situation würde er meine Hand nehmen, sie auf meine Brust legen und sagen: „Jasmin, solange du dieses Schlagen spürst, lebst du! Vergeude nicht Zeit mit Unsinnigem. Lebe!"

Und wie würde Roberto reagieren? Er würde ebenfalls die sonnige Seite, auch wenn sie nur fünf Prozent breit ist, wählen. Er würde mich ermutigen durchzuhalten, für uns drei zu kämpfen und stark zu sein! Roberto, ich mache das für uns! Schlaf gut Habibi, alles wird gut! Ich streiche Roberto zärtlich über die Wangen, sein Kinn und küsse seine Lippen. Er sieht so unglaublich entspannt und sorgenlos aus. Sein helles Gesicht sieht auf dem weissen Kissen wie feines Porzellan aus. Ich habe mich immer gefragt, wie ein Italiener so hell sein kann? Ob diese Familie wirklich so reinrassig ist, wie sie immer stolz verkünden, mag ich bezweifeln. Aber einer Mama Garretta zu widersprechen verheisst keine sonnigen Zeiten. Sie oder ihre Vorfahren zu hinterfragen, bedeutete sicherlich Krieg. Und wer will das schon mit seiner Schwiegermutter... oder eher 'schwierigen Mutter'? Ich bin bald wieder bei dir Habibi... Wir sind es!

Ich verlasse das Zimmer und muss raus, an die frische Luft, zur wahren Erkenntnis, sie aufsuchen, sie betrachten. Die Dunkelheit streichelt mein Gesicht wie eine kühle Meeresbrise... wenn dieser Spuk vorüber ist, sollten wir ans Meer fahren. Wir haben das Meer immer geliebt! Die vielen Gesichter, die es hat, die vielen Duftnoten sowie seine ruhigen und doch so wilden Zeiten. Wir liebten die Oberfläche, wie auch seine Tiefen. Das Meer war in all unseren Ferien ein Begleiter oder zumindest ein Besucher. Waren es keine Badeferien in Sardinien, auf den Malediven oder Mauritius, sondern Städtereisen in New York, Paris oder London, das Meer musste spätestens auf dem Heimweg besucht werden. Spuk, es ist alles nur ein Spuk, ein verdammter Alptraum!

Ich gehe ein Stück der Strasse entlang, sehe all die Lichter in den Wohnungen, höre die Autobahn von weither rauschen und gehe den kleinen Kiesweg runter zum Bach. Ich höre ihn rauschen und denke an das Lied, welches mein Vater uns jeweils gesungen hat: es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp klapp... eine Kerze für eine Seele, die gerettet werden soll. Ich nehme drei Schwimmkerzen aus meiner Manteltasche und zünde eine nach der anderen behutsam an, lege sie vorsichtig auf den langsam fliessenden Bach und spreche leise ein Gebet. Ein bittendes Gebet, ein dankendes Gebet und ein hilferufendes Gebet. Eine Kerze für jede Seele, ein Gebet für jedes noch schlagende Herz unserer kleinen, noch nicht vollständigen Familie. Ich sehe den schwimmenden Kerzen nach, während ich meinen Tränen endlich freien Lauf lasse! Ich lasse meine grossen dunklen Augen weinen, lasse meine Lunge schluchzen und wiederholt nach Luft ringen, um neuen Tränen einen begleitenden Klang zu verleihen! Ich würde mir gerne die Seele aus dem Leibe schreien, so sehr hat mich gerade die Realität mit ihren Horrorvorstellungen erreicht und lasse dem Schmerz freien Lauf. Ich will den Tiefpunkt der aufwühlenden Gedanken jetzt und hier erreichen, um viel Kraft zu tanken, um die nahe Zukunft bewältigen zu können. In meiner Ausbildung bin ich so oft an Thesen gelangt, die besagen, erst wenn man den Tiefpunkt erreicht hat, könne es so richtig aufwärts gehen. Heute musste der Tiefpunkt erreicht sein, heute muss ich die Kraft haben aufzutanken, um uns Drei durch diese mögliche Hölle zu bringen. Halt stopp, keine Hölle raufbeschwören, nein, Mutter sagt: „Wir könnten ein Paradies auf Erden haben!“ Ich will das Paradies und darin mit Roberto und unseren Kindern leben!