Die Glerien Saga - Angélique Knieps - E-Book

Die Glerien Saga E-Book

Angélique Knieps

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Beschreibung

Vor sechstausend Jahren wurde die verfluchte Insel Glerien durch einen blutigen Krieg erschüttert. Obwohl Frieden eingekehrt ist, steht Glerien durch die Zerrissenheit zwischen den Völkern in dauerhafter Anspannung. Zu dieser Zeit bricht Neil Wemson als Auserwählter des Elementarsteins auf, um das Elementarsiegel, welches die Kreaturen der Dunkelheit beherbergt, zu erneuern. Auf seiner Reise wird ihm bewusst, dass Glerien vor einer noch größeren Katastrophe steht als vor sechstausend Jahren und dass nur die Vereinigung der in Zwietracht lebenden Völker die Insel vor der Herrschaft des Schwarzmagiers retten kann.

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Seitenzahl: 331

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Angélique Knieps

Die Glerien Saga I

Das Recht des Blutes

© 2022 Angélique Knieps

Lektorat: Mareen-Soraya Imort

Coverdesign von: Jennifer Schattmaier

(https://schattmaier-design.com)

ISBN Softcover: 978-3-347-71142-6

ISBN E-Book: 978-3-347-71146-4

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Für meine Mutter, die viel zu lange auf ihr Geburtstagsgeschenk warten musste.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Erwachen

Zusammenkunft

Der Gefangene

Keikais Geschichte

Getrennte Wege

Der Beginn einer langen Reise

Flucht

König der Wolfsdämonen

Das Dorf der Jeruden

Wiedersehen

Der Wald der verlorenen Seelen

Der Schwarzmagier Alistor

Shax Juz

Die Macht der Elemente

Charaktere

Orte

Danksagung

Autor

Die Glerien Saga

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Autor

Die Glerien Saga

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Erwachen

Müde schlug Neil die Augen auf. Draußen an seinem Fenster flog ein Kieseling, ein kleiner Vogel mit grün glänzendem Gefieder, vorbei. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch das Dickicht der Bäume Norkens. Mit verschlafenem Blick setzte er sich auf. Angestrengt überlegte er, was heute für ein Tag war. Seitdem vor einigen Tagen das Fest des Frühlings begonnen hatte, welches in jeder Stadt Gleriens über mehrere Tage hinweg ausgiebig gefeiert wurde, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Da die Akademie geschlossen hatte und auch sonst alle Verpflichtungen eingestellt wurden, um das Ende des Winters zu feiern, verbrachte Neil die meiste Zeit damit sich zu Hause zu verschanzen. Er konnte dem Fest nicht viel abgewinnen. Jeder andere Bewohner aus Norken ging auf die Straße, um mit den Leuten zu feiern, zu tratschen und zu trinken. Allerdings gehörte Neil nicht zu diesen. Er verbarrikadierte sich währenddessen in seinem Baumhaus oder verbrachte die Zeit tief in den Wäldern Norkens, um den Menschenmassen zu entkommen. So entschloss er sich auch heute nicht das Baumhaus zu verlassen. Stattdessen setzte er sich an seinen Tisch und zog ein altes Buch über die Geschichte Gleriens heraus. Er hatte große Defizite und musste einiges nachholen. Kaum hatte er das Buch geöffnet, wurde ihm klar, warum er diese Defizite aufwies: Es war so langweilig, dass er kaum das erste Kapitel durchhielt. Frustriert, dass er am Ende des Kapitels den Anfang bereits wieder verdrängt hatte, warf er das Buch in die Ecke.

Stattdessen widmete er sich seinen Waffen, indem er sein Schwert säuberte und seinen Bogen neu spannte. Da Neil nicht besonders geschickt darin war, versank bereits die Sonne, als er seine Arbeit beendet hatte.

Mit Anbruch der Nacht wurde Norken in das sanfte Licht der Glühwürmchen gehüllt und von den Straßen drang eine Mischung aus Gelächter und Musik zu seinem Baumhaus hinauf. Eigentlich brachte das Fest alles mit, was die Waldelemente liebten, doch für Neil war das einzig Erfreuliche daran, dass er nicht zur Akademie musste, somit zu Hause bleiben konnte und niemanden aus dem Dorf sah. Für ihn war es, wie für die anderen Bewohner auch, eine der schönsten Zeiten des Jahres. Da sich die Festtage heute aber dem Ende zuneigten, musste Neil seinen kleinen, selbst ernannten Bunker verlassen. Es war Sitte, dass am siebten und somit letzten Tag der Festtage die akademischen Kämpfer der einzelnen Elementarstädte Gleriens bekannt gegeben wurden, die in Wettkämpfen ihre Macht demonstrieren durften. Hierdurch bot sich Glerien nach den Festtagen eines jeden Jahres ein atemberaubendes Spektakel. Seit Jahrzehnten faszinierten die bis ins kleinste Detail perfektionierten Kampftechniken und Magiebehandlungen der talentiertesten Nachwuchskrieger die ganze Insel. Für die nominierten Kämpfer war es eine große Ehre für ihre jeweilige Stadt antreten zu dürfen und eine noch größere, den Titel des besten Akademiekämpfers Gleriens tragen zu können. Zudem eröffnete dies große Karrierechancen in Glerien. Es war wohl jedermanns Traum, aber für die meisten blieb er unerreichbar. Auch Neil wünschte sich von Kindertagen an nichts sehnlicher, als in den Wettstreit zu treten, um endlich allen zu beweisen, dass er nicht der Verlierer war, für den sie ihn hielten. Da er sowohl im Bereich der Kampftechnik als auch im Einsatz der Elementarmagie eher unterdurchschnittlich begabt war, hatte er sich jedoch bereits innerlich davon verabschiedet. Trotzdem hatte er es noch nie verpasst die Kämpfe zu verfolgen. Müde streckte er seine Arme in die Höhe und öffnete schwerfällig das Fenster, um etwas von der kühlen Frühlingsluft einzuatmen. Er schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Von seinem Baumhaus aus konnte er über das ganze Dorf blicken. Auf jedem Baum in Norken hatte eine Familie ihr Haus gebaut. Diese lagen alle an einem dünnen Pfad, der die Bäume miteinander verband und sich so seinen Weg ins Zentrum schlängelte.

Plötzlich riss ihn eine laute, aber bekannte Stimme aus seiner Träumerei. »Hey Neil! Es wird Zeit!«

Neils Blick wanderte sogleich von seinem Baumhaus nach unten, wo ein Mädchen stand, deren blondes Haar vom Wind sanft umspielt wurde. Ihre saphirblauen Augen blitzten keck vor Freude.

»Claria!«, rief Neil zurück. »Ich ziehe mich nur eben an, dann komm ich runter.«

Mit Schwung schloss Neil sein Fenster, schlüpfte daraufhin in seine zerschlissene Hose und sein braunes Obergewand und krempelte die Ärmel hoch. Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel, strich er sich noch einmal durch sein etwas zu lang geratenes dunkelbraunes Haar. Nur ein weiteres Merkmal, das ihm zum Außenseiter machte. Denn seine Haare waren dunkler als bei jedem anderen. Er würde seine Haare eher als fast schwarz bezeichnen, doch diese Haarfarbe existierte bei den Elementen nicht. Schwarz war die Farbe der Dämonen. Die anderen auf der Akademie und in Norken machten seit jeher einen großen Bogen um ihn. Doch Neil musste zugeben, dass es ihm lieber war, wenn sie ihn mieden, als wenn sie sich ständig über ihn lustig machten. Einige Jungs hatten ihm mal gesagt, dass er kein Element sei. Doch das Schlimmste daran war, dass Neil aufgrund seines mangelnden Talents beinahe selbst daran glaubte. Missmutig betrachtete er seine Haare, die er mehr als alles andere an sich selbst hasste. Vor der Tür schlüpfte er noch in seine Schuhe und rannte beschwingt die Treppen des Baumhauses hinab. Claria begrüßte er mit einer kurzen Umarmung und so wanderten sie durch das malerische Dorf geradewegs zur Akademie.

»Ich bin schon gespannt«, sagte Neil, als sie die steinerne Brücke, die über den kleinen, sich kreisförmig um das Zentrum schlängelnden Fluss führte, überquerten.

»Was glaubst du, wer der beste Kämpfer Gleriens sein wird?«, fragte Neil, der vor Aufregung hüpfte.

»Dir ist aber schon klar, dass es lediglich Akademiekämpfe sind«, versuchte Claria seine Euphorie zu bremsen.

»Ja und?«, entgegnete Neil, der nicht richtig begriff, was Claria ihm mitteilen wollte.

Claria atmete tief durch, bevor sie zum Erklärungsversuch ansetzte. »Die Wettkämpfe werden nur von Amarets und Xener ausgetragen. Wobei nur in Ausnahmefällen Amarets antreten dürfen. Innerhalb der Dörfer wird ein Wettstreiter von den Obersten ernannt. Bei besonderen Anlässen darf auch schon einmal ein Amaret antreten.« Als Claria in Neils fragendes Gesicht blickte, schlug sie entgeistert die Hand gegen die Stirn. »Was hast du denn jetzt nicht verstanden? Weißt du nicht, was Amaret und Xener sind?«

Beleidigt verzog Neil die Mundwinkel. »Du hältst mich echt für blöd, oder? Amaret ist der erste Abschluss, den man in der Akademie nach vier Jahren erreichen kann und Xener der zweite und letzte Abschluss, den man nach zwei weiteren Jahren mit einem Mindestalter von 23 Jahren im Rahmen einer Prüfung absolvieren kann.«

»Warum guckst du dann so fragend, wenn du das alles weißt?«

»Ich dachte, du wolltest mir sagen, warum in den Wettkämpfen nicht der beste Kämpfer Gleriens ermittelt wird.«

»Als Xener hat man bei weitem noch keinen hohen Rang. Man kann erst nach und nach Prüfungen ablegen, um zum Soldaten und anschließend zum Krieger aufzusteigen. Erst ab da erledigt man gefährliche Aufgaben für seine Stadt, den Fürsten oder gar für den König. Von den Elitekämpfern ganz zu schweigen, welche sich sogar mit Dämonen auseinandersetzen. Ich meine nur, dass die Akademiekämpfe zwar was Besonderes sind, aber die besten Kämpfer Gleriens sieht man nicht in den Wettkämpfen, welche eigentlich nur zur Erheiterung der Gemeinschaft und zur Festigung der Elementarbündnisse beitragen.«

Neil legte die Hände in den Nacken und betrachtete entspannt den Sternenhimmel. Es war ihm bewusst, dass es erst nach der Akademie zu wirklichen Kämpfen kommt, allerdings war er weit davon entfernt. Er war sich sicher, dass er niemals über den Titel Xener hinauskommen würde. Dafür reichte sein Können einfach nicht aus. Und genau das schmerzte ihn so sehr. Sein Vater war ein starker und anerkannter Krieger Norkens gewesen. Zumindest erzählte man sich das im Dorf. Er selbst hatte seinen Vater nie kennenlernen können, da er kurz nach seiner Geburt bei einem Auftrag spurlos verschwand. Claria bemerkte, dass Neil mit seinen Gedanken ganz woanders war und stieß ihn sanft in die Seite. »Worüber grübelst du?«

Neil setzte sofort sein unbedarftes Lächeln auf, dass er sich in all der Zeit angeeignet hatte. »Ach, nichts weiter. Ich hatte nur gerade an meinen Vater gedacht.«

»Oh«, entgegnete Claria mitfühlend, »du vermisst ihn sehr, oder?«

Neil schüttelte entschieden den Kopf. »Wie soll man jemanden vermissen, den man niemals kennengelernt hat. Ich bedauere nur, dass ich nie die Gelegenheit hatte zu sehen, was für ein Mensch er war.

Aber vermutlich ist es besser so. Er soll ein guter Krieger gewesen sein. Er würde sich schämen so einen Sohn wie mich zu haben.«

»Das würde er nicht!«, widersprach Claria. »Dein Vater wäre stolz auf dich. Stolz darauf, was du für ein Mensch geworden bist. Du hattest es nie leicht, aber aufgegeben hast du nicht.«

»Doch, genau das habe ich getan«, entgegnete Neil traurig. »Ich wollte an den Wettkämpfen teilnehmen. Ich wollte ein anerkannter Krieger werden, wie mein Vater einer war, aber ich weiß, dass ich niemals mehr werde als ein Xener. Ich bin kein Träumer mehr.«

Eine ganze Weile streiften sie schweigend über die Hauptstraße durch das Dorf. Neil war bewusst, dass er die anfänglich heitere Stimmung zerstört hatte und unternahm einen Versuch sie wieder aufzuhellen. »Ich bin mir eigentlich sicher, dass Himer dieses Jahr Norken vertreten wird. Obwohl ich diesem arroganten Spinner das echt nicht gönne!«

Und es klappte.

Claria fing an laut zu lachen. »So richtig gönnst du das doch niemandem. Denn egal, wie sehr du es leugnest, du warst immer ein Träumer und wirst es auch in Zukunft bleiben. Nur tust du herzlich wenig dafür, dass deine Träume in Erfüllung gehen. Du redest immer von fehlendem Talent, aber eigentlich bist du schlicht und ergreifend einfach nur faul.«

Neil zog eine Grimasse. Er wusste, dass Claria Recht hatte. Weder das Lernen noch das Trainieren konnte er als seine Hauptbetätigungsfelder ausmachen. Ohne Fleiß kein Preis. Das hatten ihm schon damals seine Lehrmeister gepredigt. Neil blickte erneut zum Himmel hinauf. Graue Wolken verdeckten Stück für Stück die Sterne und der Mond hatte größte Mühe, sich einen Weg durch das dichte Wolkengeflecht zu bahnen.

»Komm, beeil dich!«, rief Claria auffordernd. »Es fängt bestimmt gleich an zu regnen.«

So hasteten beide auf das Tor der Akademie zu, die der knorrigste und älteste Baum in Norken beherbergte. Dank seiner imposanten Höhe und Breite wirkte die Akademie wie eine uneinnehmbare Festung des Wissens, stand dabei den zahlreichen namhaften Lehrinstitutionen der anderen Städte aufgrund ihres kunstvoll angeordneten Bewuchses durch zahlreiche Pflanzen- und Blumenarten an Schönheit in nichts nach. Hinter dem reich mit Ornamenten verzierten Tor, das in dem mit Efeu überwucherten Stamm eingelassen war, führte ein verwinkeltes Treppenlabyrinth in das diffus beleuchtete Innere des Gebäudes und erstreckte sich bis in die majestätische Baumkrone. Mit langsamen Schritten stiegen sie die Treppen hinauf, bis sie den großen, lichtdurchfluteten Versammlungsraum erreichten, in dem die Verkündung stattfinden sollte. Dort setzten Neil und Claria sich an einen runden, schweren Holztisch.

Während sich die beiden noch eine ganze Weile angeregt unterhielten, unterbrach sie unvermittelt eine Stimme. »Claria, meine süße Blume.«

Neil schüttelte sich innerlich. Mal abgesehen davon, dass er die Stimme erkannte, konnten solche schleimigen Worte auch nur von Himer stammen. »Was willst du denn hier?«, entgegnete Neil genervt.

Himer war ein recht großer, muskulöser Junge mit glattem, nach hinten gekämmtem Haar. Zwei Strähnen fielen ihm in sein markantes, aber dennoch weiches Gesicht.

Himer versetzte Neil einen Stoß. »Na, du Versager.«

Neil sprang sogleich auf und wollte sich gerade lauthals beschweren, doch Himer war bereits an ihm vorbeigegangen und hatte sich wieder Claria zugewandt. »Gehst du mit mir aus, wenn ich die Wettkämpfe gewonnen habe?«

Claria schoss die Röte ins Gesicht. »Ähm, na ja, weißt du, wa… warum nicht. Kö… können wir gerne machen«, stammelte sie aufgeregt.

Neil rieb sich ungläubig die Augen. Hatte sie das tatsächlich gesagt? Ein Rendezvous mit diesem arroganten Spinner?! Wie konnte sie nur? Als Himer sich triumphierend von den beiden abwandte und zu seinen Jungs hinüberstolzierte, prustete Neil los: »Bist du verrückt geworden?!«

»Halt mal die Luft an«, entgegnete Claria. »Du klingst ja beinahe so, als seist du eifersüchtig.«

»Quatsch!«, stieß Neil hervor, konnte seine Verlegenheit aber kaum verbergen. »Außerdem«, fuhr Claria fort und tat so, als hätte sie nichts gemerkt, »gehe ich nur mit ihm aus, wenn er gewinnen sollte. Das wird er aber nicht.«

»Was macht dich da so sicher?«, fragte Neil neugierig.

»Ist doch klar!«, sagte Claria mit einem Unterton, den Neil schon zur Genüge kannte. Sie benutze ihn immer, wenn er etwas gefragt hatte, das er ihrer Ansicht nach hätte wissen sollen. »Keylim Rewpalm wird vermutlich dieses Jahr wieder für Volgion antreten.«

Sie hatte völlig recht. Keylim Rewpalm war bis auf eine Ausnahme ungeschlagen, seitdem er die Wettkämpfe bestritt. Letztes Jahr musste er aufgrund einer schweren Verletzung das Turnier vorzeitig abbrechen, wodurch der Sieg an Serafin Nurling aus Aberin ging.

»Meinst du, ohne die Verletzung hätte er die Wettkämpfe das vierte Mal hintereinander gewonnen?«

Claria wurde nachdenklich. »Na ja«, begann sie, »schwer zu sagen. Ich denke, Keylim ist zwar stark, allerdings befand sich Serafin, wie schon lange nicht mehr, in Topform. Es wäre vermutlich eng geworden.«

Angeregt durch dieses Thema unterhielten sich die beiden noch lebhaft über dieses und jenes, ohne auf die Zeit zu achten. Neils Blick wanderte dabei angestrengt durch die Halle, die sich mit Schülern gefüllt hatte. Er streifte beiläufig die Holztische und fokussierte schließlich das Podium, wo die Leiterin der Akademie später den Kämpfer Norkens bekanntgeben würde.

»Hmm«, grübelte Claria, als sie ebenfalls ihrem Umfeld mehr Beachtung schenkte, »eigentlich sollte die Bekanntgabe schon längst angefangen haben. Langsam werden alle unruhig. Es muss irgendwas passiert sein.«

Die nächste Zeit verbrachten sie ungeduldig wartend, sodass das anfänglich noch schwachbrüstige Raunen der Menge zu einem unerträglichen Lärm anwuchs. Da schlugen plötzlich die Hallentüren auf und Tamara Borner, die Dekanin, stürmte begleitet von ausgebildeten Kämpfern durch den Saal. Es war ein vertrautes Bild, denn die Kämpfer waren ebenfalls Dozenten innerhalb der Akademie. Merkwürdig war nur der Kasten, den sie bei sich trugen. Er war mit einem seidenen Tuch verdeckt. Strammen Schrittes bestieg Tamara Borner das Podest, hob Einhalt gebietend die Hand und musterte die Schüler mit ernster Miene. Schlagartig wurde es still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, bis die Dekanin ihre Stimme erhob.

»Bitte entschuldigen Sie, dass Sie alle so lange warten mussten. Aber es ist bestimmt einigen von Ihnen aufgefallen, dass dieser Tag nicht wie jeder andere ist.«

Neil stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. »Wieso? Klar, heute wird der Wettkämpfer bekannt gegeben.«

»Psst!«, entgegnete Claria kurz und schlug Neil leicht gegen die Schulter.

»Die Rauchwolken, die den Mond verhängen, werden wohl niemandem entgangen sein.«

»Ich dachte, das sind Regenwolken«, flüsterte Neil Claria zu, die ihm nur wortlos den Mund zuhielt.

»Es sind die Aschewolken des Darkanes’.«

»Was redet sie da?«, fragte Neil.

»Darkanes ist der Vulkan in Darkonia. Wie bist du eigentlich in Geografie durchgekommen?«

»Na ja, Himer saß vor mir und …«

Claria verdrehte die Augen. »Ruhe, Neil«, ermahnte sie ihn, bevor sie sich wieder gespannt der Dekanin zuwandte.

»Das bedeutet, dass das vor ewigen Zeiten entstandene Siegel erneuert werden muss. Es ist die Zeit gekommen, in der die Elementarsteine wieder erstrahlen werden, um Glerien vor dem Untergang zu bewahren. Es herrscht größte Alarm- und Kriegsbereitschaft.«

So langsam kehrten die verdrängten Erinnerungen aus dem Geschichtsunterricht in Neils Bewusstsein zurück. Vor tausend Jahren herrschte ein grausamer Krieg zwischen den Elementen und Darkonia. Dabei hatten die Darkonianer, Dämonen, Ungeheuer, Monster und noch viel Schlimmeres aus dem Vulkan befreit. Am Ende gelang es den Sieben, alles Böse durch die Elementarsteine erneut zu bannen und hinter einem Siegel zu verschließen. Sie hinterließen dennoch die Warnung, dass der Tag kommen würde, an dem das Böse wieder Oberhand gewinnen würde. Seither wurden die Elementarsteine aufbewahrt. In jeder Stadt einer, um an dem besagten Tag die sieben besten Krieger nach Darkonia zu entsenden.

Interessiert, da er sich wieder an die Zusammenhänge erinnerte, lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Handlung im Vordergrund.

»Es haben bereits alle ausgelernten Krieger versucht, den Elementarstein des Waldes an sich zu nehmen. Doch niemand schien seiner würdig. Deswegen …«, Tamara Borner nahm das Tuch von der Kiste und enthüllte einen kleinen, grünlich schimmernden Stein, der nicht größer als eine Walnuss war.

»Deswegen muss einer von euch der Auserwählte des Waldes sein. Und wir werden nun die Stärksten von euch bitten, den Stein zu berühren. Herr Takia, würden Sie es zuerst versuchen?«

Himer erhob sich von seinem Platz und verbeugte sich leicht. »Selbstverständlich, Frau Borner.«

Mit siegessicherer Körperhaltung ging er auf das Podium zu. Angesichts seines strammen Schrittes flatterte sein grüner Mantel im Wind. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während Neil insgeheim darum betete, dass er hinfallen möge. Doch seine Gebete wurden natürlich nicht erhört. Als Himer das Podium betrat, streckte er seine Hand nach dem Elementarstein aus. Dieser fing an zu glühen und stieß Himers Hand von sich. Ein Raunen ging durch die Menge.

»Krass!«, rief Neil. »Man merkt förmlich den Herzschlag des Elementarsteins!«

In dem Moment nahm Neil erst wahr, dass plötzlich alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Er kratzte sich verlegen den Kopf. »Tut mir leid! Das war wohl etwas zu laut.«

Auch der Dekanin war sein unüberhörbarer Kommentar nicht entgangen, sodass sie ihm ihre volle Aufmerksamkeit widmete. Neil erlebte nun einen Schweißausbruch nach dem anderen. Er wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken.

»Herr Wemson!«, richtete sie nun, nach einer kurzen, angespannten Pause, das Wort an ihn. »Kommen Sie doch bitte zu mir auf das Podium und probieren Sie es ebenfalls aus.«

Neil fiel fast um. Warum er? Er war eher ein unterdurchschnittlicher Schüler. Und mal ernsthaft, wenn der Stein ihn aussuchen würde, dann wäre bei dem wohl eher was über die Jahre kaputtgegangen.

Ihm war bewusst, dass Frau Borner ihm wegen seines respektlosen Verhaltens eine Lektion erteilen wollte. Und so steuerte er schuldbewusst und nervös auf das Podium zu. Ihm entgingen dabei nicht die abschätzigen Blicke und das Getuschel seiner Mitschüler. Erneut machte er sich zum Gespött der gesamten Akademie. Dauernd rieben ihm die anderen Schüler unter die Nase, dass er eine Schande Norkens sei. Zumindest wenn man überhaupt mit ihm sprach. Die meisten Erwachsenen mieden ihn, als hätte er die Pest. Früher wurde den Kindern sogar ausdrücklich verboten mit ihm zu spielen. Neil hatte den Grund für all das nie verstanden. Bis heute versuchte er eine plausible Antwort zu finden. Doch diese blieb aus. Je näher das Podium rückte, desto nervöser wurde er. Er wusste, dass, sobald der Stein ihn zurückstieß, die Halle erwartungsgemäß in großes Gelächter ausbrechen würde. Als er dort ankam, stellte er sich neben Himer, der ihm einen verachtenden Blick zuwarf. Frau Borner bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er es versuchen sollte. Neils Blick wanderte unsicher von dem Elementarstein zu Himer, der ihn weiterhin mit Geringschätzung strafte und blieb schließlich an dem Elementarstein haften. Von nahem wirkte er nicht besonders außergewöhnlich. Zaghaft streckte Neil seine Hand nach ihm aus. Je näher seine Hand dem Schatz der Waldelemente kam, desto heller strahlte dieser. Plötzlich spürte Neil wieder den Herzschlag des Steines. Es fühlte sich beinahe so an, als würde der Stein sich seinem Puls anpassen, so als wären sie eins. Ein letztes Mal sah er zu Himer, dessen Mimik den Eindruck erweckte, als hätte ihn jemand geschlagen. Neil nahm all seinen Mut zusammen und ballte seine Hand zu einer Faust, die den Stein fest umschloss. Kaum hatte er dies getan, durchflutete eine enorme Woge von Wärme seinen ganzen Körper. In einem Anflug panischer Angst war Neil im Begriff, den Stein fortzuschleudern. Doch dann wurde ihm binnen Sekunden bewusst, dass der Stein ihn auserwählt hatte. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, welches er noch nie zuvor erlebt hatte. Ganz mit sich selbst und der neuen Erfahrung beschäftigt, nahm er nicht wahr, dass die meisten seiner Mitschüler bereits aufgestanden waren und ihn mit offenen Mündern anstarrten. Auch die Dekanin und der Rest des Kollegiums konnten ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen und schüttelten ungläubig die Köpfe.

Himer war sogar einen Schritt zurückgetreten und warf Neil unentwegt Blicke zu, die eine Mischung aus Erstaunen und Hass verrieten.

Frau Borner ergriff nach kurzer Stille wieder das Wort. »In Ordnung. Der Elementarstein hat entschieden. Ich möchte, dass ihr nun alle wieder nach Hause geht«, versteckte sie ihr Erstaunen hinter einer professionellen Fassade.

»Was?«, dachte Neil schockiert. »Hat sich das Ding jetzt echt für mich entschieden? Warum zur Hölle …«

Frau Borner wandte sich an ihn: »Und du folgst mir.«

Neil lief wie betäubt der Dekanin hinterher. Er registrierte nicht, wohin sie ihn führte, bis sie stehen blieb und sich zu ihm umdrehte. Erst in dem Moment erwachte er aus seinem tranceähnlichen Zustand und erkannte, dass sie sich mittlerweile im Büro der Dekanin befanden. Der Raum glich einer optischen Herausforderung, weil er einen überladenen Gesamteindruck vermittelte. An der grünen Wand reihten sich zahlreiche Gemälde dicht an dicht, sodass der aufgeräumte, massive Holztisch mit verschnörkelten Beinen in den Hintergrund trat. Zudem quoll der instabil wirkende Bücherschrank, der die einzige Wand ohne Bilder bedeckte, vor chaotisch hineingestopften Akten über.

»Wie fühlst du dich?«, fragte die Dekanin mit einem aufmunternden Lächeln.

Neil zuckte die Achseln. »Irgendwie komisch.«

»Und sonst?«, hakte sie nach.

»Ich glaub, der Elementarstein ist kaputt.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Frau Borner sichtlich verwirrt.

»Immerhin hat er mich auserwählt. Dann kann der nur kaputt sein«, entgegnete Neil.

Frau Borner grinste ihn erneut an. »Der Elementarstein weiß, was er tut. Glaube an ihn und glaube an dich. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, um dir alles genau zu erklären. Stattdessen ist es jetzt wichtig, dass wir so schnell wie möglich den Weg zum Königshof antreten. Auf dem Weg werde ich dir alle deine Fragen beantworten. Geh jetzt schnell das Nötigste einpacken. Wir müssen umgehend aufbrechen.«

Wie ferngesteuert stakste Neil den Weg zurück zu seinem Baumhaus. Aufmerksam wie selten nahm er im Vorbeigehen den süßen Duft der gerade erblühten Geratia wahr.

Eine seichte Brise strich ihm durch das Haar, als er die Augen schloss und noch einmal tief einatmete. »Ich, ein Auserwählter?«, dachte er, »unglaublich …« Da rannte er auch schon los, so schnell ihn seine Beine trugen, zurück über die steinerne Brücke, den kleinen Weg entlang in Richtung seines Hauses. Von Weitem sah er eine kleine Gestalt, die vor seinem Baum auf der Wiese kauerte. Die Knie zum Körper gezogen, saß sie da. Neil verlangsamte seine Schritte, bis er sich vorkam, als würde er schleichen. Je näher er kam, desto sicherer war er sich, dass es sich bei der Gestalt um Claria handelte.

Als er sich ihr Schritt für Schritt näherte, atmete er etwas schwerer als sonst. »Wie lange sitzt du schon hier?«, brachte er etwas mühsam hervor.

Claria hob den Kopf und zwang sich zu einem Grinsen. »Ich bin direkt nach der Versammlung hierhergekommen.« Wachsende Traurigkeit lag in ihrem Gesicht und ihrer Stimme. »Wann gehst du?«

Neil nahm neben ihr auf der Wiese Platz. »Frau Borner holt mich in Kürze ab und bringt mich zum Königshof. Ich soll meine Sachen zusammenpacken. Auf dem Weg dorthin will sie mir alles erklären.«

»Pass bitte auf dich auf!«, stieß Claria hervor.

Neil guckte sie verdattert an. »Wie meinst du das?« »Ist dir überhaupt bewusst, dass du gegen große Gefahren kämpfen musst? Da draußen, außerhalb Norkens, lauern Dämonen!«

Neil blickte in den strahlend blauen Himmel. »Schon, aber so ganz realisieren kann ich es noch nicht.«

Eine Zeit lang sprach keiner von ihnen ein Wort. Bis Claria seinen Arm packte und ihn mit Schwung hochzog. »Dann musst du dich jetzt aber wirklich beeilen. Ich helfe dir!«

Zusammen gingen sie in sein Zimmer und packten rasch ein paar Kleidungsstücke zusammen. Neil hatte gerade seine Tasche geschlossen, als von draußen ein Tröten ertönte.

»Ich glaube, du wirst abgeholt.«

Neil nickte zustimmend, warf sich seine Tasche über die Schulter, ging ein paar Schritte auf Claria zu und nahm sie fest in den Arm. »Wir sehen uns!«

Claria wünschte sich in diesem Moment, dass die Zeit stillstehen würde. Doch als Neils Griff sich löste, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass nichts für die Ewigkeit war. Sie sah zu, wie er durch die Tür verschwand. Schlagartig breitete sich in ihr eine grausame Kälte aus, die sie zu lähmen drohte. Ihr Herzschlag setzte für mehrere Sekunden aus. Denn tief im Innersten wusste sie, dass nichts mehr so sein würde, wie es bisher war.

Als Neil unten ankam, sah er, dass eine hölzerne Kutsche vor seinem Baumhaus stand. Aufgrund ihrer bauchigen Form vermittelte sie einen einladenden und geräumigen Eindruck. Gezogen wurde sie von zwei ausgewachsenen Helipen, deren Fell weiß glitzerte. Helipen waren eine zahme Dämonenart, die von den Elementen oft vor die Kutschen gespannt wurden. Neil erinnerten die schuppigen Dämonen immer an die Bilder aus den Büchern, die er von Drachen gesehen hatte. Abgesehen davon, dass die Helipen keine Flügel hatten. Neugierig inspizierte er die Dämonen, die er selten aus der Nähe betrachten konnte. Die Leinen hielten sie in ihren Klauen, während ihr schuppiger Schweif langsam hin und her wedelte. Als er noch näher herantreten wollte, schlug die gebogene Tür der Kutsche auf und zeigte die Dekanin in einem grünen Gewand, welches ihre gleichfarbigen Augen zum Funkeln brachte. »Steig ein, Neil.«

Neil leistete ihrer Aufforderung Folge und setzte sich gegenüber von Frau Borner auf die Holzbank. Unter lautem Gebrüll setzten sich die Helipen in Bewegung. Als sie den großen Marktplatz überquert hatten, mussten sie sich mühsam den Weg durch Menschenscharen bahnen, die sich auf der Straße, die aus Norken herausführte, versammelt hatten.

»Warum sind die alle hier?«, fragte Neil verwundert.

»Deinetwegen.«

»Meinetwegen«, wiederholte Neil mechanisch.

Er bekam mit, wie die Leute redeten. »Wie, das ist der Auserwählte?« oder »Wir sind verloren«, lautete es auf der einen Seite. »Der kann doch gar nichts.« und »Der ist doch nicht mal ein Element«, war einstimmig auf der anderen Seite zu vernehmen.

Betrübt lehnte er sich auf der Bank zurück. Er wollte die Menschen nicht hören. Er wollte nicht hören, was sie über ihn sagten.

Tamara Borner, der nicht entging, wie sehr Neil das Gerede der Leute mitnahm, legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. »Der Elementarstein irrt sich nie.«

Nach kurzer Pause setze sie fort. »Dann haben wir jetzt genug Zeit, um dir ein paar Dinge zu erklären. Die Geschichte über den Krieg zwischen Glerien und Darkonia wird dir bereits bekannt sein.«

Neil guckte etwas verlegen, antwortete jedoch selbstbewusst. »Natürlich.«

»Gut«, erwiderte die Dekanin zufrieden. »Die Aktivität des Darkanes’ ist das erste Anzeichen dafür, dass es an der Zeit ist, das Siegel zu erneuern. Es war prophezeit, dass der Tag kommen wird, an dem sich das Böse wieder befreit. Die Erneuerung des Siegels kann nur mit den Elementarsteinen erfolgen. In jeder Stadt wurde eines der kostbaren Artefakte aufbewahrt und aus diesen wird nun der Kämpfer, den der Stein ausgewählt hat, zum Königshof gebracht. Eben jene Kämpfer bilden eine Gemeinschaft, die den Weg nach Darkonia antreten wird. Es besteht die Möglichkeit, dass ihr es nicht rechtzeitig schafft und das Siegel bereits vollständig gebrochen ist, sobald ihr Darkonia erreicht. In dem Fall ist es wichtig, dass ihr das Siegel erneuert. Alles Böse wird somit wieder gebannt.«

Danach schwieg Tamara Borner. Allem Anschein nach bezweckte sie damit, dass Neil die neue Situation selbst gründlich reflektierte. Dies fiel ihm nicht schwer, da sich ausreichend Zeit dazu bot.

Die Reise dauerte insgesamt zwei Tage, obwohl Norken dem Königshof von allen Dörfern am nächsten war. Diese zwei Tage kamen Neil vor wie eine Ewigkeit. Die Nächte verbrachte er zusammengekauert auf der hölzernen Bank und am Tage unterhielt er sich mit der Dekanin, was für ihn eine Anstrengung war, die er kaum in Worte fassen konnte. Immerhin musste er auf seine Wortwahl achten und hatte auch keinerlei Schimmer welche Gesprächsthemen angebracht waren.

Zusammenkunft

Vor Neil türmte der imposante Anblick des herrschaftlichen Schlosskomplexes. Er fügte sich symbiotisch in das angrenzende Gebirge ein. Als sie mit knarrenden Rädern über den mit Steinen gepflasterten Weg fuhren, passierten sie das Burgtor und gelangten auf diesem Weg in die Vorburg. Neil staunte nicht schlecht, als er erkannte, dass sich in der Vorburg ein ganzes Dorf befand. Häuser standen dicht an dicht und die Menschen wuselten über die Straßen. Von weiter weg hörte er die Marktschreier, die ihre Waren anpriesen. Während die Kutsche den Hauptweg entlang fuhr, fiel Neil das Kolosseum auf, welches im Westen aufragte und auch über die Dächer hinweg gut sichtbar war. Er musste seinen ersten Eindruck revidieren. Die Vorburg war nicht einfach ein kleines Dorf, sondern viel mehr eine eigenständige Stadt, die diverse Tischler- und Schmiedewerkstätten, Kneipen und Wohnhäuser beherbergte. Er hoffte, dass er die Möglichkeit bekommen würde jeden Winkel zu durchforsten, um zu sehen was diese Stadt zu bieten hatte. Doch ein Gefühl verriet ihm, dass er dafür wahrscheinlich keine Zeit haben würde. Als sie die Torhalle passierten und die große Mauer hinter sich gelassen hatten, gelangten sie in die Hauptburg. Der Hof, auf dem die Kutsche anhielt, war gigantisch. Als Neil sich nach Osten drehte, sah er ein großes Tor, welches anscheinend in eine Trainingshalle führte. Zumindest erkannte er durch das geöffnete Tor Krieger, die ihre Schwerter schwangen. Am liebsten hätte er sich das Training aus der Nähe angesehen, doch die Dekanin forderte ihn auf ihr zu folgen. Während er ihr hinterher trottete, fiel sein Blick auf den riesigen Bergfried. Er ragte weit in den Himmel empor und Neil konnte sich vorstellen, welch eine wunderschöne Aussicht man von dort haben würde. Da er seinen Blick gen Himmel gerichtet hatte, bemerkte er nicht, dass zwei Elitekrieger aus dem kunstvoll verzierten Metalltor, welches in die Eingangshalle, das Herzstück des Königshofes, führte, heraustraten. Neil stieß prompt mit einem der beiden zusammen. Bevor er sich entschuldigen konnte, erklang die verärgerte Stimme des Mannes. »Pass auf wo du hinläufst, Balg.«

Der Mann trug eine schlichte, lockere, schwarze Hose und ein weißes Obergewand. Doch seine festen Stiefel, die das Wappen der königlichen Garde zierten, sowie sein Schwert, welches an seinem Gürtel auf seiner linken Seite angebracht war, verrieten, dass er ein Elitekrieger war. Neil hatte noch nie in seinem Leben einen Elitekrieger getroffen. Ihm schossen tausende von Fragen durch den Kopf, doch bevor er seine Gedanken sortieren konnte, war Frau Borner an seiner Seite erschienen und bedachte den Elitekrieger mit einem freundlichen Lächeln. »Verzeiht, mein Herr. Mein Name ist Tamara Borner. Der Junge hat leider nicht aufgepasst.«

Der Mann setzte sofort ein sanftes Lächeln auf. »Es ist nichts weiter passiert«, antwortete er und erinnerte Neil dabei irgendwie an Himer. Dann nahm er Frau Borners Hand, verbeugte sich vor ihr und küsste diese. »Mein Name ist Elram Dryw, Elitekrieger am Königshof. Es freut mich sehr Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Frau Borner ließ das Spektakel geschehen und wandte sich erst wieder an Neil, als die beiden Männer durch die Torhalle in die Vorburg verschwunden waren. Sanft schob sie ihn durch das Metalltor in die Eingangshalle. Vor Neil erstreckte sich ein gigantischer Treppenaufgang, den er gemeinsam mit seiner Dekanin erklomm. Nachdem sie durch einen langen Korridor gewandert waren, bog Frau Borner durch eine unscheinbare Tür in einen kleinen Raum ab. Neil bemerkte sofort, dass es kein gewöhnlicher Raum war. Er war eingerichtet wie ein Baumhaus in Norken.

»Was ist das?«, fragte Neil mit einem Anflug von Nervosität.

»Dies ist das Zimmer, das der Akademiekämpfer Norkens während der Wettkämpfe bewohnt. Jetzt ist es jedoch für die nächste Zeit dein Zimmer.«

»Mein Zimmer?«, wiederholte Neil. »Ich dachte, wir sollen nach Darkonia?«

»Stimmt«, entgegnete die Dekanin. »Zuvor werdet ihr hier noch unterrichtet. Man wird euch das Wichtigste zeigen. Das Kämpfen, den Umgang mit den Elementarsteinen und vor allem wie man überlebt, wenn ihr die schützenden Mauern der Städte verlassen habt. Du hast jetzt ein bisschen Zeit für dich. Ruh dich aus, mach es dir gemütlich. Ich werde dich dann zur Aufwartung am königlichen Hof abholen.«

»Aufwartung?« wiederholte Neil erneut, der sich mittlerweile blöd vorkam, immer wieder nachzuhaken.

»Es sind noch nicht alle deine Gefährten eingetroffen. Sobald der Rest den Hof erreicht, werdet ihr euch dem König und der Königin vorstellen. Danach werdet ihr euren Übungsleitern übergeben, die mit euch den Plan für die nächsten Tage durchgehen werden. Anschließend ist es an der Zeit, dass ihr euch untereinander kennenlernt.«

Neils Blick wanderte zu Boden. Er hatte sich immer fest vorgenommen nicht der zweifelnde Typ zu sein, jedoch gelang es ihm eher selten. Eine große Klappe hatte er zwar ständig, doch musste er sich eingestehen, dass kaum etwas dahintersteckte. Frau Boner tätschelte leicht seine Schulter und ihr offenes und freundliches Gesicht leuchtete förmlich. »Mach dir keine Sorgen. Es wird sich alles regeln. Aber nun ruh dich aus.«

Elegant drehte sie sich um und verschwand durch die Tür. Neil ließ sich rücklings auf das gemütliche Bett fallen und schloss die Augen. Er war so erschöpft, dass es nicht lange dauerte, bis er tief und fest schlief.

Es fühlte sich an, als seien höchstens Sekunden seit ihrer letzten Unterhaltung vergangen, als das unsanfte Öffnen der quietschenden Tür ihn aus seinem traumlosen Schlaf riss. Irritiert blinzelnd nahm er wahr, dass Frau Borner sich entschlossen vor seinem Bett positioniert hatte. » Gut, dass du noch etwas schlafen konntest. Es ist Zeit.«

Neil raffte sich auf und folgte der Dekanin blindlings den langen, in sanftes Licht getauchten Gang entlang. Die Wände waren gesäumt von alten Gemälden, die von einer feinen Staubschicht bedeckt waren. Neil vermutete, dass es sich dabei um mehr oder weniger schmeichelhafte Porträts der früheren Herrscher handelte. Fasziniert und belustigt von der illustren Ahnengalerie des amtierenden Monarchen konnte er nur knapp verhindern in Frau Borner hineinzulaufen, die unvermittelt stehen blieb. Die beiden befanden sich nun vor einem gigantischen Tor, das aus einem eigenartig glänzenden Material bestand. Ruckartig öffnete es sich, nachdem die Dekanin etwas gemurmelt hatte, das Neil nicht verstand. Er trottete ihr beim Betreten des hell beleuchteten Raumes wie ein treues Schoßhündchen hinterher. »Neil, stell dich auf das Symbol des Waldes. Ich werde direkt hinter dir stehen.« Er schaute sich verwirrt um. Dabei fiel ihm auf, dass sich bereits einige Personen in dem Raum aufhielten. Jedoch schenkte er ihnen zunächst keine weitere Beachtung. Immerhin suchte er verzweifelt dieses verdammte Symbol, was immer das auch sein mochte. Schließlich entdeckte er auf dem Boden einen braun-grünlichen Kreis, in dessen Mitte ein Baum zu sehen war. Neil steuerte geradewegs darauf zu und blieb in der Mitte stehen, dabei hoffend, dass es sich um das Waldsymbol handelte und die schon zur Tagesordnung gehörende Blamage ausblieb. Seine Dekanin stellte sich, wie zuvor angekündigt, direkt hinter ihn, was Neil Hoffnung gab.

»Dies hier ist die Ruhmeshalle«, erklärte Frau Borner ihm, wobei Neil nicht direkt eine Vorstellung hatte, was dies bedeutete. Er kam auch nicht mehr