Die Gnosis - Barbara Aland - E-Book

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Barbara Aland

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Beschreibung

Die Gnosis gilt als Urgrund aller christlichen Ketzerei, als Opposition in der und gegen "die" Kirche, als Sammelbecken für vermeintlich "wahre" christliche Ansichten jenseits der "kirchlichen Lehre". Solche Meinungen über Die Gnosis sind aber nicht mehr als unhistorische Projektion. Die Münsteraner Theologin und Gnosis-Expertin Barbara Aland unternimmt gegenüber solch popularwissenschaftlichen Ansichten eine neue, quellennahe und historisch abgewogene Darstellung der vielgestaltigen spirituellen Bewegungen der Spätantike, die die christliche Religion philosophisch durchdringen und ausdeuten wollten.

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Seitenzahl: 281

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Barbara Aland

Die Gnosis

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2014

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960562-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019210-8

www.reclam.de

Inhalt

I  Zur Einführung

II  Zeit und Raum der Gnosis: Das römische Weltreich des 2./3. Jahrhunderts

1  Das soziale Leben in den Städten

2  Die Philosophie als Anknüpfungspunkt für Christen und Gnostiker

3  Die antike Religion der Römer und Griechen

4  »Private« religionsphilosophische Literatur der Kaiserzeit

III  Ansätze der Forschung

IV  Die Quellen zur Gnosis

1  Die Nachrichten der frühen Kirchenschriftsteller

2  Gnostische Originaltexte in koptischer Übersetzung

3  Weitere sekundäre Quellen

4  Manichäismus und Mandäismus

V  Die Hochgnosis

1  Der Mythos als Aussage- und Lehrform der Gnosis

2  Der valentinianische Mythos nach Irenäus

3  Exkurs: Platonismus und Gnosis im Vergleich

4  Der sogenannte ›sethianische‹ Mythos nach dem Apokryphon des Johannes

VI Zur Entstehung und den Anfängen der Gnosis

1  Simon Magus und die Simonianer

2  Weitere frühe (vor)gnostische Lehrer nach Irenäus (AH 1,23–26)

3  Frühe Gnosis nach Hippolyt

4  Valentin

5  Basilides

VII  Das zeitgenössische Umfeld der Gnosis

1  Pagane Gnosis? Das Corpus Hermeticum

2  Philosophische Mysterientheologie: Plutarch von Chaironeia

3  Ein christlicher Gnostiker? Marcion aus Sinope

VIII  Wie lebten die Gnostiker?

1  Gnostische Schul- und/oder Gemeindebildung?

2  Praktische Ethik

3  Kult, Ritual, Sakramente

IX  Fortentwicklung und Wirkung der Gnosis

1  Valentinianer und Sethianer

2  Die platonisierende Gnosis und Plotin

3  Mani und der Manichäismus

X  Gnosis in der Geschichte bis heute?

Abkürzungen

Ausgewählte Literaturhinweise

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

I  Zur Einführung

Gnosis ist eine spätantike Bewegung des 2. bis 4. nachchristlichen Jahrhunderts zwischen Religion und Philosophie. Sie ist von einem großen Schwung der Freude und des Jubels getragen. Hier sprechen Menschen von ihrer Gewissheit, Sinn und Ziel ihres Lebens gefunden zu haben, und dessen sind sie so gewiss, dass sie es fortan für ihre einzige Lebensaufgabe halten, von nichts anderem als dieser gewonnenen Erkenntnis (Gnosis) zu reden und sie andern mitzuteilen. Schwärmer also? Nicht unbedingt. Denn es war ihr Anliegen, ihre Erkenntnis – eine Erkenntnis des Menschen und seiner Stellung zur Welt und zu Gott – zu begründen und sie denkend zu verantworten. Dabei bedienten sie sich zeitgenössischer Mittel, aber sie traten in bewusste Konkurrenz zu allem andern, was an Wahrheitssuche sonst angeboten wurde. Das macht sie interessant. Ihr Bemühen ist gescheitert. Sie haben es trotz Anfangserfolgen nicht vermocht, ihr Anliegen durchdacht zu vertreten, und sind von anderen mit Recht zurückgewiesen worden. Aber sie haben damit sehr früh Impulse gesetzt, die größere Wirkung hatten, als gemeinhin anerkannt wird. Sie haben begonnen, ihre Überzeugung, die eine auf Offenbarung hin erfahrene Glaubensüberzeugung war, denkend zu durchdringen, und haben damit an einer Tradition zumindest mitgewirkt, die in anderer Weise bis heute anhält.

Die antike Gnosis ist freilich ein umstrittener Gegenstand. Wer heute ein Sachbuch zur Gnosis zur Hand nimmt, muss das wissen. Es gibt keinen Konsens über das, was Gnosis ist. Umstritten ist vor allem die inhaltliche Sachfrage, worum es bei dieser weiterzusagenden »Erkenntnis« eigentlich geht. Zwar scheint es eine Übereinstimmung darüber zu geben, dass es sich irgendwie um eine Erlösung des innersten Kerns des Menschen handele, begründet in dessen Wesensgleichheit mit Gott, aber was das eigentlich bedeutet, wie es begründet wird und welche Konsequenzen es hat, wird völlig verschieden beantwortet. Das liegt auch an den Quellen für die antike Gnosis. Zwar gibt es eine Fülle davon. Wie sie aber genau abzugrenzen und zu gewichten seien, was vor allem herangezogen werden müsse und was erst in zweiter Linie, ist fraglich. Vieles fehlt auch, insbesondere frühe Quellen sind nicht oder nur fragmentarisch oder in teilweise polemischer Berichterstattung erhalten. Anderes ist nicht im griechischen Originaltext, sondern nur als Übersetzung oder Bearbeitung in die antiken Sprachen des Römischen Reiches, besonders das Koptische, überliefert. Dazu kommt schließlich, dass die Ausdrucksweise der Quellentexte schwierig ist und verschiedenen Interpretationen Raum zu geben scheint. Es handelt sich meist um mythische Darstellungen, die theologisch-philosophische Zusammenhänge in Bildern und Geschichten narrativ darlegen und entwickeln.

Wie begegnen wir diesen Schwierigkeiten, und was erwartet den Leser dieses Sachbuchs? Da wir von einem allgemein anerkannten Begriff von Gnosis nicht ausgehen können, beginnen wir bei den Quellen selbst, um an ihnen aufgrund genauer Analyse zu bestimmen, was Gnosis ist, in welchem Kontext sie steht und was sie aussagen will. Aber an welchen Quellen? Ihre Auswahl muss eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Sie müssen das gnostische System, das sie darstellen, umfassend, nicht auswahlweise, darlegen, und sie müssen begründbar repräsentativ für die Gnosis oder doch eine gnostische Schulrichtung sein, d. h. weder aus den allerersten Ansätzen der Gnosis noch aus deren Spätentwicklung stammen. Sie sollten schließlich möglichst in der Originalsprache erhalten sein. Wir erhalten so einen quellenkritisch gesicherten Ausgangspunkt, zunächst nur für diese Texte, von dem aus wir sowohl frühere, nur fragmentarisch erhaltene, als auch gleichzeitige und spätere Zeugnisse der Gnosis untersuchen und sie in Beziehung setzen können. Wir erhoffen uns davon einen genauen Zugang zur Gnosis, der vielleicht sogar noch Neuentdeckungen an den Quellentexten zulässt.

Ausgewählt werden zwei Texte, die mit Sicherheit ins 2. Jahrhundert, genauer: vor 180, zu datieren sind. Der erste ist der in der originalen griechischen Sprache erhaltene Lehrmythos eines Valentinianers, den Irenäus ausführlich zitiert und paraphrasiert und seiner gesamten Widerlegung als repräsentativ für die von ihm als verderblich angesehene Gnosis voranstellt. Der zweite Text ist das sogenannte Apokryphon des Johannes (AJ), das Irenäus ebenfalls in einem Auszug referiert. Es ist vollständig in koptischer Übersetzung in verschiedenen Fassungen erhalten, der Auszug bei Irenäus in lateinischer Übersetzung. Von diesem Text besitzen wir insgesamt vier Handschriften, in Versionen verschiedener Bearbeitungen, was einzigartig ist. Alle andern gnostischen Texte sind nur einmal, sehr selten zweimal überliefert. Auch das lässt auf die Bedeutung dieses Textes und das Interesse, das man daran nahm, schließen. Beide Texte gehören jeweils einer der Hauptrichtungen der Gnosis an, die heute in der Forschung behandelt werden: der erste Text den Valentinianern, benannt nach ihrem Schulgründer Valentin, der zweite Text den sogenannten Sethianern, benannt nach der Erlösergestalt Seth, dem dritten Sohn Adams, zu dessen »Samen« sie sich zählen. Aufgrund der Übereinstimmungen und Unterschiede beider Texte gewinnen wir eine erste Definition von Gnosis. Sie stellt eine Hypothese dar, die dann anhand der weiteren Zeugnisse korrigiert oder präzisiert werden kann.

Um für das Verständnis dieser Texte gerüstet zu sein, befassen wir uns zunächst mit den Bedingungen der Zeit, in denen die Gnosis entstand und zu ihrer vollen Wirkung kam (II), wir skizzieren die Hauptansätze der langen Forschungsgeschichte zur Gnosis (III) und verschaffen uns einen Überblick über ihre erstaunlich reichen und vielfältigen Quellen insgesamt (IV). Aufgrund der vollständigen Besprechung der beiden ausgewählten Texte legen wir dann das Verständnis von Gnosis definitionsartig fest, das diesem Buch zugrundeliegt (V,1 und 2), und haben damit einen Maßstab zur Beurteilung der frühesten Fragmente und Nachrichten über gnostische Lehrer gewonnen (VI). Er ist vorsichtig anzuwenden, denn in der frühen Zeit begegnen uns beeindruckende christlich-gnostische Theologen und Denker, aber auch Spuren von nichtchristlichen Mythen, an denen manches rätselhaft bleiben wird und als solches dann auch benannt werden muss. Das so erarbeitete Konzept von Gnosis grenzen wir von vergleichbaren paganen (Hermetik, philosophische Mysterientheologie) und christlichen (Marcion) Zeitströmungen ab und fassen es so noch schärfer in seiner Eigenart (VII). Wir suchen nach Hinweisen auf das soziale, ethische und kultische Leben der Gnostiker (VIII) und fragen schließlich danach, ob und wie sich gnostisches Denken weiterentwickelt hat. Dabei wird von platonisierenden Entwürfen und von Mani und dem Manichäismus gehandelt werden (IX). Ob und inwiefern von gnostischem Denken auch heute und in der Geschichte des Abendlandes immer wieder die Rede sein kann, wird am Ende kurz zu erörtern sein (X).

Was ist Gnosis? Ich halte Gnosis – und das sei nun doch schon zur Orientierung des Lesers thesenartig vorangestellt – für eine bestimmte Sichtweise von Gott, Mensch und Welt, die ihre eigentliche Ausformung und folglich auch ihre reifsten Früchte erst im Zusammenhang mit dem Christentum und als Deutung des christlichen Glaubens, insbesondere der Zentralgedanken der Briefe des Paulus und des Evangeliums des Johannes, gewonnen hat. Diese waren »gnostisch« verstehbar und interpretierbar, und sie mussten interpretiert werden, um einer intellektuellen, griechisch-philosophisch gebildeten Welt ihren Gehalt nahezubringen. Damit ist über den Ursprung von Gnosis noch nichts gesagt. Möglicherweise kann aber auch die in der Forschungsgeschichte vergangener Jahre so heiß umstrittene Ursprungsfrage ein wenig zugunsten des Aussagegehalts einzelner Texte zurückgestellt werden. Fragt man nach dem Ursprung der Gnosis, impliziert das, dass Gnosis eine festumrissene, als solche identifizierbare Größe ist. Das muss aber nicht so sein. Nicht alles, was polemisierende Kirchenschriftsteller der Gnosis zuordneten, muss gnostisch sein, steht zumal bestimmt nicht auf der gleichen Qualitätsstufe. Auf Differenzierungen in dem großen der Gnosis zugeschriebenen Quellenmaterial wird daher zu achten sein. Hat die Gnosis, wie ich annehme, in Verbindung mit dem Christentum ihre anspruchsvollste und eigentliche Ausformung erreicht, so ist das christliche Element bei einer Definition von Gnosis auf keinen Fall zu übergehen. Nur vorläufig und gleichsam zur ersten Verständigung charakterisiere ich die in diesem Sinne gnostische Sichtweise von Gott, Mensch und Welt als gekennzeichnet durch

– die Anschauung von der zu überwindenden Welt, nicht unbedingt von der gänzlich bösen Welt,

– die Gewissheit der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einem überweltlichen, jenseitigen Gott,

– die Überzeugung, dass diese Zugehörigkeit nur durch Gott selbst oder seinen göttlichen Boten, nicht durch den einzelnen Menschen, realisiert und aktiviert werden kann,

– die beseligende Gewissheit, zu seinem eigentlichen Selbst gekommen zu sein, wenn der Einzelne diese Zugehörigkeit begriffen und erfahren hat, verbunden mit grenzenloser Freude, Jubel, dem Bewusstsein von Befreiung und der inneren Nötigung, diese weiterzusagen.

II  Zeit und Raum der Gnosis: Das römische Weltreich des 2./3. Jahrhunderts

Die frühesten Texte der Gnosis stammen aus dem ausgehenden ersten, vor allem aus dem zweiten und dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Sie sind in griechischer Sprache geschrieben und entstammen einer gebildeten städtischen »Mittelschicht«, d. h. einer Schicht, die nicht zu den städtischen Notabeln mit politischem Einfluss und politischer Verantwortung gehörte, aber doch von der Menge des Volkes, der Einflusslosen und Armen, durch Besitz und Bildung geschieden war. Es ist die Zeit der längst gefestigten Herrschaft des römischen Prinzipats und einer einheitlich geregelten römischen Reichsverwaltung, die den vielen alten Städten des Reichs, besonders im Osten, eine relative, später dann immer mehr eingeschränkte Freiheit ließ. Die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts war eine verhältnismäßig ruhige und sichere Zeit der Prosperität, der ausgebauten Handelswege und des regen Verkehrs, geschützt, auch rechtlich geschützt, durch die Pax Romana. Es war eine Zeit der außergewöhnlichen Mobilität. Überörtlich tätige Kaufleute, Verwaltungsbeamte und Offiziere der Armee reisten ständig und ohne Schwierigkeiten, weil es ihr Beruf und dessen Bedürfnisse mit sich brachten. Intellektuelle reisten, so dass ihre Bildung und ihre Anschauungen nicht nur örtlich erworben und gebunden waren, sondern leicht durch sie selbst oder durch ihre Briefe und Werke weit verbreitet werden konnten. Nur ein Beispiel: Ein Fragment des weit im gallischen Westen in griechischer Sprache verfassten Werkes des christlichen Autors Irenäus von Lyon, der um 180 schrieb, wurde in Ägypten gefunden, geschrieben auf einem Papyrus, der noch ins 2. Jahrhundert zu datieren ist. Die Verbreitung von Gedankengut war überaus schnell möglich, und das ist auch für die Gnosis vorauszusetzen. Schließlich war es eine Zeit der Bildung und der Hochschätzung von Bildung. Es ist gesagt worden, dass der Bildungsstand der oberen Schichten zu unserer Zeit, d. h. im 2. Jahrhundert, so hoch war wie niemals vorher und nachher, und das war keineswegs ein schichtenspezifisches Phänomen. Denn auch in den nicht politisch tätigen Kreisen der Mittelschicht gab es ein ausgeprägtes Interesse an Bildung und religiöser Erbauung, wie der lebhafte Schulbetrieb der Zeit zeigt. Intellektuelle Bildung, freilich eine auf die Vergangenheit gerichtete und an ihrer Autorität orientierte Bildung, war ein wichtiger und anerkannter Inhalt der gehobenen Erziehung in der Kaiserzeit des 2. und beginnenden 3. Jahrhunderts. Für eine Bewegung, die wirken will, und das war das Christentum und vor allem auch sein gnostischer Anteil, konnte das nicht ohne Bedeutung sein. Es war deswegen kein Zufall, dass sich christliche und eben auch zahlreiche gnostische Lehrer an Orten niederließen, die ihnen möglichst breite Wirkungsmöglichkeiten boten.

Nur grob geschätzt ca. 10% der Bevölkerung waren literat im Vollsinn, konnten lesen und schreiben. In der Stadt, mit der wir es hier hauptsächlich zu tun haben, werden es mehr gewesen sein, auf dem Land weniger. Die Erziehung vollzieht sich zunächst in der Familie und dann nach einer Art dreigliedrigem kaiserzeitlichen Schema: dem Elementarunterricht beim Elementarlehrer, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, dann der Schule des Grammatiklehrers, die eine fehlerlose Ausdrucksweise in Prosa oder Vers ermöglichen sollte, wozu auch die Lektüre und Erklärung von bestimmten Schulautoren gehörte. Darauf folgt, etwa ab dem 15. Lebensjahr, die dreijährige Ausbildung beim Rhetoriklehrer, die nicht nur im engeren Sinne Rhetorik – grundsätzlich hochgeschätzt als Grundlage humanen und politischen Umgangs miteinander – lehren, sondern allgemein höhere Bildung vermitteln sollte. Eine spezielle Berufsausbildung etwa zum Arzt oder Juristen folgte erst dann. Der Elementarunterricht wie auch der beim Grammatiker und Rhetor musste privat finanziert werden, was erhebliche Kosten und – bei sonst mitarbeitenden Kindern – Kostenausfall bedeutete, so dass viele Bürger nicht in der Lage waren, ihren Kindern eine gehobene Erziehung zu finanzieren. Elementarschulen wurden nicht von öffentlicher Hand unterhalten. Die soziale Elite der Städte und das Kaiserhaus war daran nicht interessiert, eher schon von der Mitte des 2. Jahrhunderts ab an einer gewissen Unterstützung von Grammatik- und Rhetoriklehrern, also der höheren Bildung, durch Steuererleichterungen. An allen drei Unterrichtsstufen nahm jeweils eine stark abnehmende Zahl von Schülern teil. Die Mitglieder der städtischen Oberschicht hatten in der Regel die Schule des Grammaticus besucht, die Angehörigen des Senats- und Ritterstandes die des Rhetoriklehrers. Andere, die es sich leisten konnten, waren nicht ausgeschlossen. Unterrichtet wurde häufig an Privatschulen oder an Schulen und Lehrstühlen, die durch städtische und gelegentlich kaiserliche Mittel bereitgestellt wurden.

Wer höhere intellektuelle Bildung anstrebte, ging in die großen Städte und Zentren kulturellen Lebens, wo es auch zahlreiche private und freie Lehrer der Philosophie und Sophistik unterschiedlicher Ansprüche gab. Sie lebten teilweise mit ihrem engeren Schülerkreis in Wohngemeinschaft zusammen, um so gemeinsam das philosophische Leben einzuüben. Im 2. Jahrhundert wurde es üblich, für einige Zeit, manchmal Jahre, als Schüler zu einem berühmten Philosophen oder Sophisten zu gehen und den Heimatort deswegen zu verlassen. In Rom sind für das 2. Jahrhundert 50 griechischsprachige Lehrer dieser Art gezählt worden. Es ist diese Form des Lehrertums, das die Christen und eben ganz besonders auch die Gnostiker im 2. Jahrhundert übernahmen. Denn wer wirken will, muss lehren. Daher boten sie, was sie zu sagen hatten, als »christliche Philosophie« – oder auch »barbarische« Philosophie, auf jeden Fall aber als Philosophie – an.

Christen erfanden kein eigenes Erziehungssystem, sondern beteiligten sich ganz selbstverständlich am bestehenden. Ihre Kinder gingen, wenn sie überhaupt lesen lernten, also in die Elementarschule und dann zum Grammatiklehrer, übten Lesen und Schreiben, Grammatik und Stilistik an paganen Texten und wurden mit paganen Inhalten und Mythologien bekannt und vertraut. Zwar gab es dagegen bei christlichen Lehrern des 2. und 3. Jahrhunderts auch Protest. »Was haben der Christ und der Philosoph gemein, was der Schüler Griechenlands und der Schüler des Himmels?« fragt der Christ Tertullian in seiner Apologie. Aber eine solche antiliterarische Haltung ist für Christen nicht zu verallgemeinern. Wenn sie sich als freie Lehrer, in ihren eigenen Wohnungen, etablierten und für jedermann öffentlich zu lehren anboten, lehrten sie selbstverständlich ihre Auffassung von Gott, Welt und Mensch nach ihrem christlichen Verständnis, und sie stellten sich damit dem Anspruch, den auch andere nichtchristliche Lehrer der Philosophie vertraten: Wahrheit zu lehren, d. h. die für den Menschen angemessene Lebensweise im Kontext von Gott und Welt zu lehren. Gerade der Rückgriff auf die Institution des freien Lehrers der Philosophie ist ein mutiger Schritt der Christen, die damit anzeigten, ihre Sache auf höchstem intellektuellen Niveau darstellen und verteidigen zu wollen. Sie ließen ihre Kinder bei den »Heiden« deren Sprache, Dichtung und Mythologie lernen. Als Lehrer der christlichen Philosophie konnte es nur darum gehen, diese paganen Inhalte nicht zu negieren, sondern zu überbieten. Die Juden waren ihnen in dieser Haltung vielfach vorangegangen. Anfang des 3. Jahrhunderts haben Klemens von Alexandrien und Origenes ausdrücklich formuliert, dass griechische Literatur und Philosophie eine wünschenswerte Vorbereitung für wahrhaft christliche Bildung seien. Das ist allgemein bekannt. Aber schon 80 bis 100 Jahre vor ihnen gab es christliche Lehrer, die ebendiesen Anspruch eines Lehrers der Philosophie vertraten, Wahrheit im oben bezeichneten Sinne zu lehren. Sie hießen Kerdon und Marcion, Satornil, Basilides und Valentinus. Später gegen Ende des 2. Jahrhunderts wurden sie sämtlich den Gnostikern zugerechnet. Was davon zu halten ist, ist neben anderem Gegenstand dieses Buches. Hier machen wir uns nur den Anspruch klar, der allein schon im Auftreten dieser Männer als Lehrer ihrer Philosophie liegt. Er ist ungeachtet aller Niveauunterschiede bemerkenswert und zeigt deutlich die Richtung an, in welche diese christlichen und diese gnostischen Lehrer wirken wollten.

1  Das soziale Leben in den Städten

Die sozialen Verhältnisse waren sowohl in der Oberschicht der Städte als auch in der hochdifferenzierten Unterschicht, die vom politischen Einfluss ausgeschlossen war, aus vielerlei Gründen schwierig und bedrängt, was aber sicherlich nicht der Anlass für eine Hinneigung zur Gnosis war. Unterhalb der Oberschicht definierten sich Menschen im 2. Jahrhundert vor allem über ihren Beruf. Persönliche Religion war daher oberhalb der familialen Ebene verknüpft mit dem beruflichen Alltag und seinen Institutionen, vor allem den Berufskollegien und deren religiösen und sozialen Formen, wie der Religionswissenschaftler Jörg Rüpke anhand des Hirten des Hermas, einer weitverbreiteten frühchristlichen Bußschrift des 2. Jahrhunderts, gezeigt hat.1 Auch die Entscheidung für das Christentum oder die Gnosis kann durch das eigene berufliche Umfeld des einzelnen vorgeprägt sein.

Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen Christen und Nichtchristen, der über diesem nüchternen Hinweis auf die Berufsassoziiertheit christlichen Gemeindelebens nicht übersehen werden darf. Ihn markiert ein Quellentext aus den ersten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts von Origenes, dem umfassend gebildeten, größten Theologen der vorkonstantinischen Zeit, aus seiner Widerlegung des nichtchristlichen Philosophen Kelsos, der um 180 eine Polemik gegen das Christentum verfasst hatte. Der hier zitierte Text zeigt vor allem die verschiedene Einstellung der Christen zu den unteren Schichten, deren berufsassoziiertes Tun sich aus dem Hirten des Hermas ergeben hatte.

Auf den Vorwurf des Kelsos, die Christen seien leichtgläubig und töricht, sie hätten gar nicht die Absicht, von dem, was sie glaubten, auch Rechenschaft abzugeben, sondern folgten nur dem Grundsatz: »Prüfe nicht, sondern glaube« und »Dein Glaube wird dir helfen« (vgl. Mt. 9,22), und sie behaupteten auch: »Ein Übel ist die Weisheit in der Welt, ein Gut aber die Torheit« (vgl. 1. Kor. 1,18 ff.), antwortet Origenes (Contra Celsum 1,9–10, ed. Koetschau, S. 61,21–62,14):

Wenn es möglich wäre, dass alle Menschen sich von den Geschäften des Lebens freimachten und ihre ganze Zeit auf das Studium der Philosophie verwendeten, so dürften sie keinen andern Weg einschlagen als diesen allein. Denn im Christentum findet sich, um es nicht zu unbescheiden auszudrücken, kein geringerer Anlass zur Prüfung der Glaubenslehren, zur Auslegung der dunklen Stellen in den Propheten und den Gleichnissen der Evangelien und tausend anderen symbolischen oder im Gesetz gebotenen Tatsachen als anderswo. Wenn das aber nicht möglich ist, wenn wegen der Sorgen und Mühen, die das Leben mit sich bringt, und wegen mangelnder geistiger Begabung sich nur wenige der Wissenschaft widmen, welcher andere Weg, um der großen Menge zu helfen, dürfte wohl gefunden werden, der besser wäre als der Weg, den Jesus den Völkern überliefert hat?

Wir fragen im Blick auf die Menge der Gläubigen, die sich von der großen Flut des Lasters, in der sie sich früher wälzten, frei gemacht haben, ob es für sie besser ist, dass sie, ohne die Vernunft zu befragen (alogos), geglaubt und ihre Gesinnung und ihr Leben in Ordnung gebracht haben und Nutzen daraus gezogen haben, dass sie glaubten, dass die Sünden bestraft, die guten Werke aber belohnt werden. Oder (ob es für sie besser ist), dass ihre Umkehr aufgrund bloßen Glaubens nicht anerkannt wird, bevor sie nicht zusätzlich eine Prüfung seiner vernünftigen Grundlagen geliefert haben? Offenbar würden nämlich alle mit ganz wenigen Ausnahmen (aufgrund einer solchen Prüfung) noch nicht einmal das fertig bringen, was die anderen aus dem schlichten Glauben schaffen, sondern würden in ihrem lasterhaften Leben verbleiben. Wenn es nun irgendeinen andern Beweis dafür gibt, dass die Menschenliebe des Wortes (vgl. Tit. 3,4) nach Gottes Absicht in das Leben der Menschen eingetreten ist, so muss man auch diesen Beweis mit dazu rechnen. (Übersetzung nach Koetschau)

Ein bemerkenswerter Text! Origenes leugnet keineswegs die Wünschbarkeit geistiger Studien und die Notwendigkeit denkender Verantwortung des Glaubens, aber er sieht realistisch, dass die große Menge der Gläubigen dazu nicht verpflichtet werden kann. Daraus zieht er nicht den Schluss, wie ihn die antike Gesellschaft ziehen würde, dass eben dann die Menge an den Segnungen des Glaubens oder der Philosophie nicht teilhaben könnte, sondern er lehrt – er sagt ausdrücklich »lehren« (S. 62,24–26) – die Menge so, wie sie es aufzunehmen vermag: er lehrt sie zu glauben und dementsprechend gut und ordentlich und dem Vorbild Christi gemäß zu leben. Das bildet die Realität ab. Viele auch nichtchristliche Quellen berichten vom auffällig tadelfreien Leben der Christen und ihrer einzigartigen Sorge um den Nächsten. Während für das Sozialverhalten unserer Epoche der Antike gilt: »Ein allgemeinverbindlicher Wille, Arme und Randgruppen ökonomisch und sozial zu integrieren (ist) nicht zu erkennen«,2 kümmern sich die Christen um ihre Nächsten jedweden Standes. Während Horaz meinte, ohne Geld hätten alle Tugenden keinen Nutzen, und Tacitus die Armen auf eine Stufe mit niederen Sklaven und Verbrechern stellte und ihnen jegliche Fähigkeiten absprach, predigte Origenes zu ebendiesen Armen täglich. – Dieser grundsätzliche Unterschied, mag er auch überzeichnet sein, ist im Auge zu behalten. Und das gilt umso mehr, als es in der antiken Philosophie, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, um das »als Philosoph leben« ging, um das gute Handeln, das zugleich ein »glücklich sein« bedeutete.

2  Die Philosophie als Anknüpfungspunkt für Christen und Gnostiker

Philosophie hatte in der Antike einen anderen Ansatzpunkt als heute, und der Philosoph hatte eine andere soziale und gesellschaftliche Bedeutung. Philosophie lehrte zu leben, wie vor allem Pierre Hadot gezeigt hat. Philosophie lehrte, wie der Mensch leben kann und soll, wie es seinem Wesen entspricht und wie er daher auch in dieser Art zu leben glücklich werden kann. Philosophie stellte eine »Übung« dar, sie besteht nicht in der Lehre einer abstrakten Theorie, sondern in einer »Lebenskunst, einer konkreten Haltung, einem festgelegten Lebensstil, der sich auf die ganze Existenz auswirkt«.3 Glück ist nicht im hedonistischen Sinne die Zielvorgabe der Philosophie, sondern es ist Folge und Konsequenz des dem Menschen gemäßen Lebens. Deshalb ist auch das Nachdenken der Philosophie über Gott und Welt nicht abstrakte, vom Leben losgelöste Theorie, sondern Begründung für die »Lebenskunst«. Für alle philosophischen Schulrichtungen gilt, dass Philosophie, Wahrheit und praktische Ethik unlösbar zusammenhängen.

Für die Stoiker etwa ist der Kosmos ein lebendiges und geschlossenes Ganzes, das geschaffen, gelenkt und zusammengehalten wird von einer beseelenden, vernünftigen Kraft, die vollständig weltimmanent ist. Da die Natur in ihrem Wesen vernünftig und zweckgerichtet ist, ergibt sich für die Ethik, dass der Mensch naturgemäß, d. h. seiner Stellung im Kosmos gemäß, leben muss und leben kann, um so Glück, Eudaimonie, zu erreichen. Wie das praktisch aussieht, sagt neben vielem anderen der berühmte Anfang des Handbuchs von Epiktet (ca. 50–125):

Von den Dingen sind die einen in unserer Gewalt, die andern nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begehren, Ablehnen – kurz: was unser eigenes Werk ist. Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Besitztum, Ansehen, Stellung – kurz: was nicht unser eigenes Werk ist. Was in unserer Gewalt ist, ist von Natur aus frei und kann nicht behindert oder gestört werden. Was nicht in unserer Gewalt ist, ist schwach, unfrei, zu behindern, fremd. Merke dir: Wenn du das von Natur Unfreie für frei und das Fremde für dein eigen hältst, wirst du gehemmt sein, klagen, verwirrt sein und dich bei Gott und den Menschen beklagen. Hältst du aber nur das für dein eigen, was wirklich dein eigen ist, und das Fremde als das, was es ist, fremd, dann wird niemand jemals Zwang auf dich ausüben können, niemand wird dich hindern, du brauchst dich bei niemandem zu beklagen, niemanden beschuldigen, nichts gegen deinen Willen tun, niemand wird dir schaden, einen Feind wirst du nicht haben, nichts Schädliches wird dich treffen.

Worum es also geht, ist, nur das erreichen zu wollen, was man erreichen kann, und das zu vermeiden, was man vermeiden kann – was nur möglich ist, wenn beides von der Willensfreiheit abhängt. Was nicht zu vermeiden ist, darf nicht als ein Übel angesehen werden. Weil die Welt ein in sich geschlossenes Ganzes ist, muss das, was nicht in unserer Macht steht, als vom Schicksal gewollt hingenommen und auf die notwendig zusammenhängenden Ursachen und Wirkungen des Weltganzen zurückgeführt werden. Das erfordert eine »Änderung der Sehweise«, die Übung verlangt.

Auch wenn man wie im Platonismus die Physik anders betrachtet als die Stoiker, wenn man die schöpferische Kraft, das Pneuma, die Natur, nicht weltimmanent versteht, sondern als reines Sein oder jenseits des Seins ansetzt, ist der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis unmittelbar gegeben. Auch dann geht es darum, dass der Mensch wird, was er eigentlich ist, und wodurch er zur Existenz gebracht ist: Geist. Es geht um die Annäherung an Gott, um die Verähnlichung mit Gott (homoiosis theo), und dazu verhilft die Philosophie und der philosophische Lehrer, der seine Schüler im engen Kontakt formt und erzieht, sie lenkt und zu ihrem eigentlichen Selbst führt.

Dieser Aspekt der antiken Philosophie ist wichtig zum Verständnis der christlichen und vor allem auch der gnostischen Lehrer und ihrer Werke. Man begreift, warum die Christen ihren Glauben schon früh als eine christliche Philosophie darstellten und als Philosophie reflektierten. Denn in der antiken Philosophie, und nur dort, war ihnen ein Modell dafür vorgegeben, wie man eine Sicht der Welt und ihrer Ursache mit einer Praxis zu leben – und zu sterben – verbinden konnte. Oder noch mehr: es war ihnen ein Modell vorgegeben, mit dem sie sich bei ihrer konkurrierenden Botschaft auseinandersetzen mussten. Christliche »Philosophen«, Apologeten und Gnostiker parallel – beide sind zu vergleichen –, begriffen das sehr schnell. Die christlichen Gnostiker orientierten sich insbesondere am Modell der platonischen Philosophie, und wir werden nach den Auswirkungen auf ihre dem Lehrer Christus zugeschriebene, christliche Lehre zu fragen haben.

Ein zweiter Gesichtspunkt, der es nahelegte, sich des philosophischen Modells zu bedienen, ist das hohe Ansehen, das der Philosoph in der Öffentlichkeit genoss. Sein Auftreten und seine Wirkung sind anschaulich beschrieben worden.4 Die öffentlich lehrenden Philosophen waren sehr unterschiedlicher Art. Es gab nicht nur die schon erwähnten philosophischen Lehrer, die zur Erziehung der Söhne vornehmer Familien beitrugen, sondern auch eine Art von Konzert- oder Salonphilosophen, die mit ihrer Rede über buntgemischte Themenkreise zur gebildeten Unterhaltung beitrugen, es gab den Hausphilosophen, der in senatorischen Häusern Roms wirkte, und den Ratgeber und Fürsprecher von Städten im Osten. Für alle galt – und das ist es, worauf es hier ankommt –, dass ihnen als Philosophen hohes Ansehen entgegengebracht wurde und sich große Erwartung mit ihrem Auftreten verband. Sie beförderten diese Wirkung auch rein äußerlich selbst: Der Philosophenmantel, ein einfaches Gewand, und eine auffällige Haartracht betonten ihre Andersartigkeit und Unabhängigkeit, die sie zu freier Rede gegenüber der Gesellschaft befähigte. Philosoph werde man nicht aufgrund eigener Entscheidung, sondern – so häufig in programmatischen Selbstdarstellungen – durch Konversion aufgrund göttlicher Weisung (so etwa Dio Chrysostomos, Orationes 13, 1–11). Das ist Selbststilisierung, die aber doch nur auf der Grundlage der Hochschätzung des Philosophen als unabhängigem Ratgeber und Mahner zur Umkehr möglich war.

Für Christen und christliche Gnostiker, die in griechisch-römischer Umgebung wirken wollten, lag die Rolle des Philosophen nahe. Sie konnte zwar gefährlich missverständlich sein, markierte aber den überbietenden Anspruch sehr genau, den der so Auftretende mit seiner Rede verband. Der afrikanische Theologe Tertullian trug, wie andere Christen, den Philosophenmantel, das Pallium. Er wusste genau, wie stark die Wirkung der bloßen Erscheinung des Philosophen eingeschätzt wurde, und begründet das am Ende des 2. Jahrhunderts so, nachdem er zuvor die Ausschweifungen der römischen Gesellschaft gebrandmarkt hatte (De pallio 5,7 ff.):

Diese Krankheiten der Gesellschaft – wer wird sie ausbrennen, wenn nicht die in das Pallium gekleidete Rede (›sermo palliatus‹)?

Durch die Rede – sagt man – hast du mich überzeugt als durch ein sehr weises Heilmittel. Wahrhaftig, auch wenn die Stimme schweigt – aus Schüchternheit oder schamhafter Befangenheit –, so tönt doch schon die äußere Erscheinung. Auch wenn sie nämlich wortlos ist, geht doch die Philosophie mit der (guten) Lebensführung einher. Der Philosoph wird gehört, wenn er nur gesehen wird. Durch mein Auftreten schon werden die Laster zum Schweigen gebracht. Wer ist nicht unangenehm betroffen, wenn er seinen Widersacher erblickt! Wer kann seine Augen auf den richten, auf den er seine Gedanken nicht richten kann! Groß ist der Vorteil des Palliums, dass schon beim Gedanken daran die lasterhaften Sitten erröten.

So redet das Pallium. Ich aber übertrage es auch noch auf die göttliche Gemeinde und Lehre. Freue dich, Pallium, und jauchze! Eine bessere Philosophie hat dich gewürdigt, seit du begonnen hast, den Christen zu kleiden.

Mit dieser expressiven Rede – der Traktat Tertullians endet damit – sind alle Vorteile bezeichnet, die die Übernahme der Philosophenrolle den Christen bieten konnte. Hohe Erwartungen konnten genutzt, Anspruch und Überbietung angemeldet werden. Ein Absturz in die Lächerlichkeit war auch möglich. Der Mut der Übernahme ist beträchtlich. Es wird klar: Die Rolle des antiken Philosophen, des Lehrers und Erziehers, war für christliche Theologen und die Gnostiker unter ihnen verwendbar, die des antiken Theologen, des Götterkundlers, und die der antiken Religion dagegen keineswegs.

3  Die antike Religion der Römer und Griechen

Antike Religion ist Kultpraxis. Sie vollzieht sich als rituelles Handeln, das in Gruppen – öffentlich oder privat, im städtischen Leben, in der Vereinsgruppe oder der Familie – durchgeführt wird. »Für die römische Antike ist – wie für die Antike allgemein – Religion grundsätzlich als eine ›eingebettete‹, d. h. in unterschiedliche kulturelle, politische und ökonomische Zusammenhänge integrierte Praxis zu fassen.«5 Religion ist in diesem Sinne im politischen und jeder Art von gesellschaftlichem Leben selbstverständlich präsent. Man erlernt »Religion« durch Teilnehmen an kultischen Aktivitäten. Lehrbücher für Religion oder Religionsunterricht gibt es nicht. Religion ist kollektiv und traditionell. Antike Religion ist, man begreift es schon hier, etwas ganz anderes, als man von der christlichen Religion her anzunehmen geneigt ist, und darf nicht von dieser her verstanden werden. Antike Religion hat ihr Zentrum nicht im glaubenden Bezug des Einzelnen und der Gemeinde zu dem Gott, von dem sie sich getragen weiß, einem Glauben, aus dem sich nachfolgend die Haltung des Glaubenden zur Welt ergibt. Die antike griechische und römische Religion ist geradezu ein »Gegentypus zu den monotheistischen Religionen«.6

Antike Religion wird greifbar als rituelles Handeln. Ihr Gegenstand sind die Götter »als die Gesamtheit der auf diese ›Symbole‹ bezogenen rituellen Praktiken« (Rüpke, Religion X. Rom,S. 911). Ihre Existenz wird vorausgesetzt und als Teil der sozialen Ordnung akzeptiert. Grundelemente der Rituale sind Gebet, Opfer, Prozessionen und Spiele. »Rituale stellen ein Zeichensystem dar, das in der Perspektive der Ausführenden der Kommunikation mit den Göttern dienen soll und zugleich vielfache menschliche Kommunikation realisiert«.7 Das Zeichensystem ist eine andere Art von Sprache, in der Gesten und Handlungen – Berührung, Prozession, Gabe, Mahl, Gebet – die Funktion von sinntragenden Worten und Sätzen übernehmen. Der Teilnehmende »versteht«. Wie er versteht, bleibt offen oder unterliegt der Deutung, häufig eindeutiger Deutung. So leistet das überlebensgroße Kultbild im Tempel einen Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Mensch und Gott. Der Betrachter muss zu ihm aufsehen. Die Statue zeigt schon als solche, auch durch ihre Schönheit, die Grenzen des Menschseins an. Bestimmte Pflegerituale (Waschen, Ölen, Ausschwefeln und Bekleiden von Kultbildern) markieren deren Epiphanie oder, wenn sich Menschen dem unterziehen, die Reinheit, die die Teilnahme am Ritual erfordert. Besonders wichtig ist das Opfer als »Bildchiffre für eine Frömmigkeit, die die traditionellen Grundwerte der römischen Gesellschaft akzeptiert« (Rüpke, Religion der Römer, S. 137). Der Einzelne stellt sich – durch den Ort, der ihm beim Opfer und dem anschließenden Bankett angewiesen wird, durch die Handlung, die er ausführt oder nicht ausführt, durch den Anteil am Opfermahl, der ihm zukommt oder eben nicht zukommt – an den Platz, den er in der Gesellschaft einnimmt. Er vollzieht die Rolle, die ihm in der Gesellschaft und im Kosmos gegenüber den Göttern gebührt. Religion wird daher beschrieben als zentrales Medium öffentlicher Kommunikation. »Religiöse Rituale geben Gelegenheiten zur Selbstdarstellung städtischer Eliten und der Bürgerschaft, hier können sich die Träger des Gemeinwesens über ihre Werte und Ziele verständigen«.8 Dieses »Konzept von Religion«, nicht die einzelnen Götter, nicht eine Theorie von Religion, sondern Religion als religiöses Handeln, »exportiert« Rom unter Einbeziehung lokaler Gottheiten in das Imperium mittels seiner militärischen und administrativen Strukturen.

Deutungen ritueller Praxis gibt es in der Antike auch. Aber, das ist entscheidend, sie sind freibleibend und individuell, sie sind nicht beaufsichtigt und nicht von bestimmten Gremien kontrolliert. Rüpke nennt sie »amorph und eher nebensächlich« (Religion der Römer, S. 87). Dazu passt, dass Texte zur Erläuterung und Voraussetzung des Kultes bei der rituellen Handlung keine Rolle spielen. Im berühmten Bericht des Apuleius über die Einweihung in die Isismysterien (Metamorphosen 11,22–23) aus dem 2. Jahrhundert heißt es, der Priester habe nach den Eröffnungszeremonien und dem Frühopfer einige Bücher herbeigebracht, die »in unverständlichen Buchstaben aufgezeichnet waren« – Tiergestalten, formelhafte Kürzungen, rankenartige Verschlingungen –, »um sie vor der neugierigen Lesung der Laien zu schützen« (›a curiositate profanorum lectione munita‹). Der einzuweihende Lucius erhält im Geheimen einige Weisungen, die »zu erhaben für eine Mitteilung sind« (›quae voce meliora sunt‹). Lediglich das Gebot, Fleisch und Wein zu meiden, darf laut vor den Ohren des anwesenden Volkes verkündet werden. Auch über das Moment der Arkandisziplin hinaus ist deutlich, dass es um den Vollzug der Initiation geht, nicht um ihre Deutung. Was der Einzuweihende dabei erlebte, bleibt individuell. Was er gar denken sollte, ist nicht festgelegt.

Den Unterschied dieser Art von Religion zum Christentum bezeichnet gegen Ende des 4. Jahrhunderts Augustin. Er schreibt in De vera religione