Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas -  - E-Book

Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas E-Book

0,0

Beschreibung

Die Frage nach Gott war seit Platon – und verstärkt im Denken Augustins – ein Hauptpunkt des philosophischen Fragens überhaupt. Noch Kant zählte sie zu den »Kardinalsätzen der reinen Vernunft«, zu den Fragen, an denen »die Vernunft ihr größtes Interesse hat«. Martin Heidegger, dessen Denken weithin von der Gottesfrage angeregt ist und um sie kreist, hat dagegen erwogen, »von Gott im Bereich des Denkens zu schweigen« – nicht weil er diese Frage für belanglos hielt, sondern weil das Denken sich für diese Frage erst neu öffnen und vorbereiten müsse. In die von Kant und Heidegger bestimmte Situation hinein hat Emmanuel Levinas ein Denken entfaltet, das – im Wissen um die Schwierigkeiten – einen neuen Zugang zur Gottes- frage eröffnet. Der aus einem Symposion entstandene Band enthält Beiträge von Levinas-Interpreten der ›ersten Stunde‹ (Bernhard Casper, Jean Greisch und Ludwig Wenzler), aber auch Beiträge, die Levinas in Verbindung mit Autoren der abendländischen Philosophie sehen (Johannes Brachtendorf, Norbert Fischer und Eduard Zwierlein), und schließlich Beiträge, die sich der immanenten Auslegung von Aspekten seines Werks zuwenden (Sarah Allen, Reinhold Esterbauer, Branko Klun und Jakub Sirovátka).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2013

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Norbert Fischer / Jakub Sirovátka (Hg.)

Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-2417-0eISBN (ePub) 978-3-7873-3121-5

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlagfoto: wikipedia.de. Konvertierung: Bookwire GmbHFür Links mit Verweisen auf Webseiten Dritter übernimmt der Verlag keine inhaltliche Haftung. Zudem behält er sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings (§ 44 b UrhG) vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Jean Greisch

»Phänomenologie des Unendlichen«. Levinas und der Cartesische Gottesbegriff

Norbert Fischer

Womit muß der Anfang im Denken gemacht werden? Der Zugang zur Gottesfrage bei Levinas durch kritische Anknüpfung an Heidegger und Kant

Eduard Zwierlein

Göttliche Komödie. Levinas zu Nietzsches Wort »Gott ist tot«

Bernhard Casper

Entscheidung und Prophetie. Überlegungen zu Levinas mit besonderer Beachtung der ›Carnets de captivité et autres inédites‹

Norbert Fischer

Überlegungen zum systematischen Gang der Untersuchung in ›Totalité et Infini‹

Johannes Brachtendorf

Der Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹

Reinhold Esterbauer

Zeit als ›geduldiges Warten auf Gott‹. Zur Konzeption von Transzendenz in ›Totalité et Infini‹

Sarah Allen

Der sozialpolitische Sinn Gottes bei Levinas. Von Ethik bis Gerechtigkeit in ›Totalität und Unendlichkeit‹ und ›Jenseits des Seins‹

Branko Klun

Gott jenseits des Seins und die ›analogia alteritatis‹ bei Levinas

Jakub Sirovátka

Die Asymmetrie im Bezug zum Anderen und zu Gott. Ethische Ungleichheit und »Illéité«

Ludwig Wenzler

»Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden«. Die Möglichkeit, philosophisch von Gott zu reden – in der Spur eines abwesenden Gottes

ANHANG

Siglenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Vorwort der Herausgeber

Emmanuel Levinas, der am 12. Januar 1906 in Kaunas geboren wurde und am 25. Dezember 1995 in Paris gestorben ist, hat neue Denkansätze vorgetragen, die weiterhin zu beachten sind.

Das gilt schon für die Habilitationsschrift Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité von 1961, die seit 1978 in deutscher Übersetzung vorliegt und ein neues Vorwort von Levinas mit wichtigen geschichtlichen Hinweisen enthält (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität). Levinas bedient sich, wie er dort erklärt, in Totalité et Infini noch der ontologischen Sprache. Ob dies ein Nachteil ist, wie das Levinas aus dem Blickwinkel seiner späteren Arbeiten zu meinen scheint, oder vielleicht doch ein Vorzug, der auch Leser anlockt, die an der großen abendländischen Philosophie Orientierung gefunden haben und in dieser Orientierung Zugang zu Levinas suchen, mag dahingestellt sein. Diese Frage war während des Seminars in Kloster Weltenburg (20. bis 27. August 2011), auf das die vorliegenden Beiträge zurückgehen, umstritten.

Das vorliegende Buch schließt an jene Publikationen an, die auf Seminare zur ›Gottesfrage‹ in Kloster Weltenburg zurückgehen. Vorausgegangen waren Seminare zu Augustins Confessiones (2000– 2004), die in Publikationen der Verlage Meiner (Hamburg) und Schöningh (Paderborn) dokumentiert sind. Danach folgten Seminare zu Kants Kritik der reinen Vernunft (2005–2008), veröffentlicht in: Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik. Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (hg. von Norbert Fischer, Hamburg: Meiner 2010). Die Reihe zur Gottesfrage begann mit einem weiteren Seminar zu Kant. Dessen Frucht war: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants (hg. von Norbert Fischer und Maximilian Forschner, Freiburg: Herder 2010); das Seminar des Jahres 2010 führte zu dem Buch: Die Gottesfrage im Denken Martin Heideggers (hg. von Norbert Fischer und Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Hamburg: Meiner 2011).

Das neue Buch schließt gedanklich an diese früheren Veröffentlichungen an, insbesondere an die Bücher zur Gottesfrage Kants und Heideggers, aber indirekt auch an die Vergegenwärtigung der christlichen Tradition, wie sie im Denken Augustins besonders eindrucksvoll hervorgetreten ist.

Emmanuel Levinas, der ausdrücklich (zustimmend und kritisch) an Kant und vor allem an Heidegger angeknüpft hat, führt im Blick auf die Gottesfrage gleichsam deren Ansätze weiter.

Merkwürdigerweise fehlt im Werk von Emmanuel Levinas fast komplett der Bezug zum Denken des Mittelalters, zu dem sich jedoch vor allem im Hinblick auf die Metaphysik etliche Verbindungen herstellen ließen. Zwar mögen vom Zeitgeist benommene ›Philosophen‹ Rang und Sinn der Gottesfrage nicht mehr wahrnehmen: auf Kant und auf Heidegger können sie sich dabei jedenfalls nicht berufen. Ob aber derart ›gottloses‹ Denken der Aufgabe gerecht wird, die sich der Philosophie von ihren Anfängen her (z. B. bei Platon und bei Aristoteles) gestellt hat, kann kritisch hinterfragt werden. Womöglich wird die Philosophie, die Ausdruck der ›Liebe zur Weisheit‹ sein soll, als Studienfach und institutionalisierte Disziplin (mit großem Aufwand von Lehrstühlen an Universitäten) zunehmend überflüssig, wenn sie sich nicht mehr auf die zentralen Fragen bezieht, die Kant unter die Titel »Gott, Freiheit, Unsterblichkeit« gestellt hat (z. B. KrV B XXX). Auf die gegenwärtige Situation der Gottesfrage weist eindringlich schon die Untersuchung von Jean Greisch, der den Reigen der Beiträge des vorliegenden Bandes eröffnet.

Wer das Fehlen des dritten Abschnitts des ›Ersten Teils‹ von Heideggers Sein und Zeit bedenkt, mag, wenn er gewahr wird, daß dieser fehlende Teil mit der Frage nach der ›Ewigkeit‹ und der ›Transzendenz‹ (folglich mit der ›Gottesfrage‹) hätte zu tun haben sollen, mit umso größerer Aufmerksamkeit auf die Überlegungen achten, die Levinas auf diesem Gebiet vorgetragen hat. Die Martin Heidegger Gesamtausgabe (Frankfurt a. M.: Klostermann 1975 ff.) belegt neu, wie Heidegger das ›Fehlen Gottes‹ auf seinen späteren ›Denkwegen‹ zur Sprache bringt, nachdem Sein und Zeit auch im inneren Sinn ein ›Fragment‹ geblieben war, das gleichwohl mehr als manche ›vollendeten‹ Werke philosophisches Fragen in Gang zu setzen und in Atem zu halten vermag.

Heidegger knüpft an die denkerische Situation an, wie er sie im Verlauf der Geschichte der abendländischen Philosophie hervortreten sieht, vor allem im Neuansatz bei René Descartes, in der ›kritischen Metaphysik‹ Immanuel Kants und zuletzt im ›Atheismus‹ Friedrich Nietzsches. Für die Entfaltung der Gottesfrage durch Emmanuel Levinas steht die denkerische Situation der Gottesfrage in der abendländischen Philosophie – teilweise in Vermittlung durch das Denken Heideggers – ausdrücklich und unausdrücklich im Hintergrund. Einen zweiten Hintergrund des Denkens von Emmanuel Levinas bildet die jüdische (insbesondere die rabbinische) Tradition, aus der Levinas neue Impulse für das eigene philosophische Denken schöpft. Dies wird in den Beiträgen des vorliegenden Buches mehrfach deutlich, auch dort, wo der Zusammenhang nicht schon aus dem Titel eines Beitrags hervortritt. In dieser Hinsicht sei auf den ›Anhang‹ hingewiesen, der nicht nur ein Verzeichnis der zitierten Quellen, der benutzten Siglen und der zitierten Literatur bietet, sondern auch ein Personenregister.

Die Herausgeber danken den Mitarbeitern des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie, die an der Druckvorbereitung mitgewirkt haben, insbesondere der Sekretärin Anita Wittmann und den wissenschaftlichen Hilfskräften Maximilian Brandt, Joachim Braun, Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist, Maria Muther, Florian Sassik und Elisabeth Wittmann, ihr erneut auch für die Mühen der Erstellung des Anhangs. Herzlicher Dank gilt ebenfalls Herrn OStRt Stephan Ehses für die Hilfe bei der abschließenden Korrektur. Eigens gedankt sei der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung des Seminars in Weltenburg.

Herzlich danken die Herausgeber wiederum – und nun abschließend – dem Herrn Abt des Klosters Weltenburg, Thomas M. Freihart OSB, der die Weltenburger Seminare von ihrem Anfang an (im Jahr 2000) freundlich begrüßte und ihre Durchführung über alle zwölf Jahre unterstützt hat. Äußere Gründe haben eine Weiterführung der Seminare in Kloster Weltenburg 2012 verhindert. Das schon geplante Seminar zur Gottesfrage in der Dichtung Rilkes soll nun – mit freundlicher Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – in der Akademie des Bistums Mainz vom 7. bis 11. März 2013 unter der Leitung von Norbert Fischer und August Stahl, dem Präsidenten der Rilke-Gesellschaft, mit Beiträgen renommierter internationaler Referenten durchgeführt werden (Thema: ›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes).

Die Herausgeber danken schließlich erneut dem Verlag Felix Meiner, insbesondere Herrn Horst D. Brandt, für die Aufnahme ins Verlagsprogramm.

Norbert Fischer / Jakub Sirovátka

– JEAN GREISCH –

»Phänomenologie des Unendlichen«

Levinas und der Cartesische Gottesbegriff

1. Suchen, Fragen, Untersuchen – eine phänomenologische Vorbetrachtung

Eine alte indische Legende behauptet, daß das Fragezeichen das Erstgeborene der Schöpfung sei. Als Denkende ertappen wir uns – gleichsam in flagranti – beim Vollzug des Frageaktes, in dem wir ständig uns selbst übersteigen. Viele unserer Fragen sind Ausdruck einer Not. Wir stellen sie nicht, weil wir uns in der Rolle des Fragestellers gefallen, sondern weil sie sich uns aufdrängen und daher ›ausgetragen‹ werden müssen. Nur wer feinhörig genug ist, um die Not hinter einer Frage herauszuhören, versteht sie wirklich, denn er erkennt auch die Grundstimmung der Angst, die viele Fragen unterschwellig begleitet.

1. Gerade dort, wo es sich um die Entfaltung der ›Gottesfrage‹ handelt, lohnt es sich, zunächst einige Gedanken an das Phänomen des Fragens zu verschwenden, insbesondere jene Art des Fragens, die es uns ermöglicht, ›Probleme‹ zu formulieren und sie gleichsam ›auf den Punkt‹ zu bringen. In § 2 von Sein und Zeit kennzeichnet Heidegger das Phänomen des Fragens anhand der Unterscheidung: Gefragtes, Befragtes, Erfragtes.1 Weil es sich um eine formale Grundstruktur handelt, läßt sie sich ebenso auf die Gottesfrage wie auf die Seinsfrage anwenden. Heidegger betont (ebd.):

»Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat seine vorgängige Direktion aus dem Gesuchten her. Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden in seinem Daß- und Sosein. Das erkennende Suchen kann zum ›Untersuchen‹ werden als freilegendes Bestimmen dessen, wonach die Frage steht.«

Nicht jede Frage wirft ein Problem auf – glücklicherweise! Aber jeder Wissenschaftler und Forscher weiß aufgrund seiner persönlichen Erfahrung, daß es Fragen gibt, die uns mit schwer zu lösenden Problemen konfrontieren. In meiner eigenen philosophischen Forschungsarbeit im Bereich der Phänomenologie ist mir die Bedeutung der Wie-Frage, die Frage nach der Gegebenheitsweise der Phänomene, immer deutlicher bewußt geworden. »Wie so etwas wie eine Frage oder ein Problem begegnet«, »ob Fragen so herumliegen wie Steine auf dem Wege«, schließlich »das Sein von ›Frage‹« selbst (EPF 73 f.), das alles sind Fragen, denen der Phänomenologe nicht ausweichen kann. Dies trifft auch auf die ›Gottesfrage‹ zu, die ganz gewiß nicht wie ein Stolperstein auf dem Wege herumliegt! Nur unter bestimmten, erst zu klärenden Bedingungen, können wir ihr begegnen, wobei dieses Verbum sehr verschiedene Bedeutungen erhalten kann.

Alles echte Fragen ist Ausdruck eines ›Suchens‹, das nicht notwendigerweise auf eine theoretische ›Untersuchung‹ hinausläuft. Im Suchen drückt sich immer auch »eine bestimmte Sorge des Daseins« aus, die »eine bestimmte Seinsmöglichkeit des Daseins« reflektiert (EPF 74). Das ›Problem‹ definiert Heidegger als »Frage, die ausdrücklich der Antwort für bedürftig und würdig gehalten wird, eine ausdrücklich aufgabenmäßig gestellte Frage« (EPF 77). Gott und das Tier haben keine ›Probleme‹! ›Probleme‹ gibt es nur für ein Seiendes, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (SuZ 12), nämlich jenes Seiende, das Heidegger ›Dasein‹ nennt.

Es gibt Menschen, die aus religiösen oder nicht-religiösen Gründen behaupten: ›Für mich ist Gott kein Problem‹, entweder weil ihr Glaube an seine Existenz in unmittelbarem Wissen gründet oder sie von der Nichtexistenz Gottes überzeugt sind. Für diejenigen aber, für die Gott ›ein Problem‹ ist, verwandelt sich die Gottesfrage in eine Aufgabe ›für forschende Erkenntnis‹, bzw., in der Terminologie Anselms: in eine ›fides quaerens intellectum‹. Das Vertrackte hierbei ist, daß eine ›Problemstellung‹ uns auch daran hindern kann, der ›Sache selbst‹ zu begegnen. Es gibt keine ganz und gar ›unschuldigen‹ Probleme, denn dort, wo es eine bestimmte Problemstellung gibt (etwa die der sogenannten ›Gottesbeweise‹), kann diese im Namen einer anderen Problemstellung hinterfragt werden. Probleme dürfen nicht fraglos von der Tradition übernommen werden. Sie sind kein ›Erbgut‹, das automatisch von einer Generation auf die nächste übergeht. Sie müssen ›geklärt‹ werden, was Heidegger zufolge besagt (EPF 79): Man muß sie »in der Frage und mit ihr das Befragte und Gefragte als eine Aufgabe mitergreifen, d. h. sich mitentscheiden für das Befragte, die Fragehinsicht und die Antworttendenz.«

Die ›Antworttendenzen‹ sind ebenso unterschiedlich wie die Weisen des Fragens. Eine Antwort kann in einer Reihe ›gültiger Sätze‹ bestehen, aus denen sich eine ›Theorie‹ zusammensetzt. Sie kann aber auch in der Infragestellung des Fragenden selbst bestehen, der sich seiner eigenen Fragwürdigkeit bewußt wird. »In dieser Art des Fragens«, so Heidegger (EPF 76), »besteht die Möglichkeit, daß die Antwort gerade dann Antwort ist, wenn sie es versteht, in der rechten Weise zu verschwinden.« Gerade in »diesem Zurückschlagen dieses Fragens in immer neues Fragen konstituiert sich das, was wir Fraglichkeit nennen.«

Wenn wir Heideggers formale Unterscheidung zwischen dem ›Gefragten‹, dem ›Befragten‹ und dem ›Erfragten‹ versuchsweise auf die Gottesfrage anwenden, zeigt sich, daß das ›Gefragte‹ sehr verschieden lauten kann, je nach dem Fragewort, auf das der Akzent gelegt wird: Was ist Gott?, Wer ist Gott?, Wo ist Gott (nicht zu vergessen Nietzsches Frage: Wohin ist Gott?), ›Wie fällt er ins Denken ein?‹ (Levinas), usw. Nicht weniger vielfältig ist das Befragte, anders gesagt, der ›Ansprechpartner‹, bei dem man sich Auskunft holt: Es kann die Welt, das Dasein, aber auch Gott selbst sein! Je nachdem, wie man das Gefragte und das Befragte bestimmt, rückt das ›Erfragte‹, anders gesagt, das, was in dieser Frage auf dem Spiel steht, in ein anderes Licht.

2. »La question ne se pose pas. Elle en est absolument incapable: il y a trop de vent«, lautet ein bonmot des französischen Dichters und Chansonniers Boris Vian. Um dem Wortspiel gerecht zu werden, könnte man den Spruch wie folgt übersetzen: ›Die Frage kann nicht zum Stillstand gebracht werden. Dazu ist sie absolut unfähig: denn der Wind ist zu stark.‹ Welcher Wind aber ist stark genug, um bestimmte Fragen zu unterdrücken, bzw. sie mit sich wegzutragen, ehe sie Gestalt annehmen können? Es ist der Wind der Geschichte. Manchmal weht er so stürmisch, daß es uns den Atem verschlägt. Manchmal zwingt er auch, in eine neue Richtung zu blicken, wie Descartes im Berufungstraum der Nacht des 10./11. November 1619 (vgl. AT X,181–186).

Gegen diese Vorstellung könnte man einwenden, daß im luftleeren Raum des ›reinen Denkens‹ absolute Windstille herrscht. Dies entspräche dem Konzept einer philosophia perennis, die einen Grundbestand von ›ewigen‹, d.h. unwandelbaren Menschheitsfragen verwaltet, zu denen selbstverständlich auch die ›Gottesfrage‹ gehört. Die Geistes- und Ideengeschichte belehrt uns indessen darüber, daß dieses Konzept korrekturbedürftig ist. Aber inwiefern und bis zu welchem Punkt? Boris Vians bonmot kann man auf zwei verschiedene Weisen verstehen:

a) Die Frage stellt sich nicht (mehr), weil sie ›vom Winde verweht‹ ist (geschichtlicher Relativismus).

b) Die Frage stellt sich nicht, weil im Fragehorizont unserer Weltanschauung kein ›Landeplatz‹ für sie vorgesehen ist (weltanschaulicher Relativismus).

Beide Antworten sind, mindestens in ihrer extremen Form, unhaltbar:

a) Eine Frage, die dem ersten Anschein nach nicht mehr zeitgemäß ist, kann doch in einer neuen Situation wieder aktuell werden. Nichts deutet darauf hin, daß es Fragen gibt, die ein für allemal ›erledigt‹ wären, denn »Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, daß sogar der Weg zurück uns erst vorwärts führt« (UzS; GA 12,94).

b) Ebenso wenig kann man behaupten, daß gewisse Fragen im Horizont einer bestimmten Kultur überhaupt nicht gestellt werden können, weil sie an ihr ebenso abgleiten wie das Wasser am Gefieder einer Ente.

Wer eine Weltanschauung verstehen will, muß sich nicht nur für ihr Wertesystem, ihre theoretischen Vorstellungen und praktischen Lebensziele interessieren, sondern auch für die Fragen, die sie sich stellt, denen sie ausweicht (die sie unter Umständen zensiert) oder die sie sich nicht stellen kann. Buddha z. B. verbietet seinen Schülern vierzehn ›müßige‹ Fragen, weil sie keine soteriologische, sondern nur eine ›rein spekulative‹ Bedeutung haben. ›Sage mir, welche Fragen dich umtreiben, und ich werde dir sagen, wer du bist!‹: Diese Maxime gilt nicht nur für die Individuen, sondern auch für die Weltanschauungen. Es gibt freilich keine hermetisch abgeschlossenen Kulturhorizonte, wie die Erfahrung der Übersetzung und des interkulturellen Dialogs zeigt. Auch wenn eine Frage nicht auf dem eigenständigen Boden einer Kultur gewachsen ist, kann sie an diese Kultur herangetragen und in sie hinein ›übersetzt‹ werden.

3. Auch wenn man Heideggers Hypothese einer in unterschiedliche Epochen gegliederten ›Seinsgeschichte‹ nicht vorbehaltlos übernimmt, kann man sich doch fragen, ob nicht jedes Zeitalter gleichsam die Gottesfrage hat, die es verdient. Epochenschwellen lassen sich nicht messerscharf voneinander trennen. Dennoch kann man auch in dieser Hinsicht mehrere Epochen unterscheiden, je nach dem Fragepronomen, das bevorzugt wird.

a) Am Anfang seiner Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes beschreibt Hegel das ›Bildungsvorurteil‹ seiner Zeit, in der ›viel, unendlich viel‹ – in Klammern fügt er eine offensichtlich auf Schleiermacher gemünzte Formel hinzu: »oder vielmehr in unendlichen Wiederholungen doch wenig« (VPR II,382) – von Religion und sehr wenig von Gott selbst gesprochen werde, in einigen eindrucksvollen Sätzen, die sich unschwer auf die Geisteslage der Gegenwart übertragen lassen. Er sagt (VPR II,348):

»Ein Unternehmen, jene morschen Stützen unserer Überzeugung davon, daß ein Gott ist, welche für Beweise galten, durch neue Wendungen und Kunststücke eines scharfsinnigen Verstandes aufzufrischen, die durch Einwürfe und Gegenbeweise schwach gewordenen Stellen auszubessern, würde sich selbst durch seine gute Absicht keine Gunst erwerben können; denn nicht dieser oder jener Beweis, diese oder jene Form und Stelle desselben hat ihr Gewicht verloren, sondern das Beweisen religiöser Wahrheit als solches ist in der Denkweise der Zeit so sehr um allen Kredit gekommen, daß die Unmöglichkeit solchen Beweisens bereits ein allgemeines Vorurteil ist, und noch mehr, daß es selbst für irreligiös gilt, solcher Erkenntnis Zutrauen zu schenken und auf ihrem Wege Überzeugung von Gott und seiner Natur oder nur von seinem Sein zu suchen.«

Auch diesbezüglich müssen wir unser Postulat, daß entscheidende Fragen niemals ganz und gar ›erledigt‹ sind, ernstnehmen. Die Hypothese, daß das Zeitalter der Gottesbeweise zu Ende sei, kann auch bedeuten, daß wir alle Karten in der Hand haben, mit denen man diesbezüglich spielen kann. Was sind das für Karten, und welches Spiel wird hier gespielt?

Die erste Frage ist verhältnismäßig leicht zu beantworten: Es sind die fünf klassischen Gottesbeweise. Die zweite Frage nach dem Spiel, das hier gespielt wird, ist weniger eindeutig, als man vermuten könnte. Das zeigen schon die unterschiedlichen Terminologien: ›quinque viae‹ (Thomas), ›itinerarium mentis in Deum‹, ›intellectus viator‹ (Duns Scotus), ›preuve‹, ›Beweis‹, usw. Es gibt eine augustinische, eine anselmianische, eine thomistische, eine franziskanische Art und Weise, sich auf diesen Weg zu begeben, auf einen Weg, in dessen Hintergrund auch bestimmte außerphilosophische Texte eine Rolle spielen. Selbst ein eindeutig metaphysischer Traktat wie Duns Scotus’ De primo Principio berührt sich in gewisser Weise mit dem Schwingungsbereich des Sonnengesangs des Heiligen Franz von Assisi. Ebenso gibt es in der Neuzeit eine spezifisch cartesianische, spinozistische und kantische Art und Weise, sich mit dem Problem der Beweisbarkeit Gottes zu beschäftigen.

b) In seinem Buch Gott als Geheimnis der Welt, in dem er ähnlich wie Hegel gegen eine gewisse ›theologische Larmoyanz‹ (GGW 2) in bezug auf die Gottesfrage polemisiert, bestimmt der evangelische Theologe Eberhard Jüngel die Neuzeit als die Epoche der Geistesgeschichte, in der die radikale Frage der Denkbarkeit Gottes ausschlaggebend wird, eine Frage, die bei Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel eine je verschiedene Antwort erhält. Jüngel stützt seine Überzeugung, daß »über dem Atheismus und über der Theologie der Neuzeit […] gleichermaßen der dunkle Schatten der Undenkbarkeit Gottes« liege (GGW XI), der uns zwinge, auch die Frage der Sagbarkeit und der Menschlichkeit Gottes in neuer Weise anzugehen (GGW 15), auf drei paradigmatische Texte: auf Fichtes Forderung: »Er [sc. Gott] soll […] überhaupt gar nicht gedacht werden, weil dies unmöglich ist«;2 auf Feuerbachs Behauptung: »Nur wo du Gott denkst, denkst du, rigoros gesprochen« (WC 86) und auf Nietzsches Herausforderung: »Könntet ihr einen Gott denken?«, bzw. »Könntet ihr einen Gott schaffen?«. Beide Fragen legt Nietzsche seinem Zarathustra in den Mund (vgl. Auf den glückseligen Inseln; in Also sprach Zarathustra II; KSA 4,109). Jüngel zufolge bewegen wir uns auch heute noch im Frageraum, den die Forderung Fichtes, die Behauptung Feuerbachs und die Herausforderung Nietzsches markieren (GGW 168). Das Zeitalter, in dem mit dem Problem der Denkbarkeit Gottes gerungen wird, wird von Descartes’ Metaphysischen Meditationen eingeläutet.

c) Ist das Problem der Denkbarkeit Gottes noch unsere Hauptfrage, oder haben wir diesbezüglich eine neue Epochenschwelle überschritten? Jüngel zufolge fragt man heute »nicht mehr so sehr, ob ein Gott sei und wer oder was Gott sei, sondern vielmehr eher: wo denn Gott sei« (GGW 63). In dieser Frage »sind die alten quaestiones, die dem Wesen und der Existenz Gottes galten, in einer neuen und eigenartigen Weise zusammengefaßt« (GGW 63). Diese Frage, die ihre Wurzeln in der Sprache der Bibel hat, kennzeichnet Jüngel als »die unbestimmteste Weise, nach Gott zu fragen, die zugleich die konkreteste« ist (GGW 69). Unbestimmt ist sie, weil man nicht weiß, an wen sie gerichtet ist; zugleich aber fragt sie konkreter als jede andere. Ihren schärfsten Ausdruck erhält sie zweifellos in Nietzsches Lawine der Fragen des ›tollen Menschen‹ (FW Nr. 125; KSA 3,480 f.):

»Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?«

Auch wenn es sich hierbei nur um rhetorische Fragen handelt, die unsere Aufmerksamkeit auf ein Ereignis richten, dessen Konsequenzen wir uns noch nicht ganz bewußt geworden seien, sind es, Nietzsche zufolge, Fragen, die nicht nur die Gläubigen, sondern in gleicher Weise auch die Ungläubigen, nicht nur die Theologen, sondern in gleicher Weise die Philosophen betreffen. Die Frage »Wo ist Gott?« erhält ihre spezifische Konkretheit dadurch, daß ihr ›Erfragtes‹ die Antreffbarkeit Gottes ist. Vielleicht gibt es aber auch noch andere, nicht weniger unbestimmte Fragen, die doch auf ihre Weise konkret sind. Was die Gottesfrage der Gegenwart anbelangt, verdienen zwei, von Jüngel nicht im Detail erörterte Fragen, eine besondere Aufmerksamkeit.

d) Die erste ist die Frage: ›Wer ist Gott?‹, deren Erfragtes nichts weniger als die Ansprechbarkeit Gottes ist. Auch sie hat ihre Wurzeln in der biblischen Rede von Gott. Wenn sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der philosophischen Theologie nicht die Beachtung gefunden hat, die sie eigentlich verdienen würde, dann mag das damit zusammenhängen, daß es der neuzeitlichen Philosophie, obschon sie sich seit Descartes grundsätzlich am Subjekt orientiert, ebenso wenig wie der mittelalterlichen und antiken Ontologie gelungen ist, eine eigenständige Ontologie der Selbstheit zu entwickeln. So lautet jedenfalls das Urteil, das Heidegger in Die Grundprobleme der Phänomenologie über die neuzeitliche Unterscheidung der Grundweisen des Seins als res extensa und res cogitans fällt (GA 24,175): Grundsätzlich, d. h. ontologisch gesehen, sei die »philosophische Umwendung der neueren Philosophie« »gar keine« gewesen!

Erst wenn man sich der Frage: »In welcher Weise ist das Selbst gegeben?« ausdrücklich zuwendet und entdeckt, daß das Dasein qua Dasein »nicht durch die Washeit«, sondern »durch die Werheit konstituiert« ist (GA 24,169), kann die Eigenart dieser Frage anerkannt werden (ebd.): »Das Seiende, das wir selbst sind, das Dasein, kann als solches mit der Frage, was ist das?, überhaupt nicht befragt werden. Zu diesem Seienden gewinnen wir nur Zugang, wenn wir fragen: wer ist es?«, lautet Heideggers grundsätzliche These. Haben wir nicht Gründe, die Kategorie der Werheit auch auf die Seinsweise Gottes anzuwenden? Auch wenn Heidegger selbst diese Möglichkeit nirgendwo ausdrücklich erwogen hat, lohnt es sich, sie näher in Augenschein zu nehmen.

e) Vielleicht gibt es aber noch eine weitere Möglichkeit, die Gottesfrage im Kontext des heutigen Denkens zu konkretisieren. Sie führt in diesem Fall über das Fragepronomen Wie? Im ersten Buch der Institutiones von Jean Calvin, der mehr als andere Theologen seiner Zeit die Wichtigkeit der Frage ›Wer ist Gott?‹ betonte, findet man eine Formel, die in der zeitgenössischen Phänomenologie einen gewaltigen Auftrieb erhalten hat (Institution de la religion chrétienne I,2,2): »Comment Dieu nous peut-il venir en pensée?« Das beste Beispiel für die Wichtigkeit Frage gibt der Titel einer Aufsatzsammlung von Emmanuel Levinas: De Dieu qui vient à l’idée.

Auch hierbei handelt es sich um eine Frage, die dem ersten Anschein nach überaus unbestimmt ist. Wenn man aber bedenkt, daß die Konkretheit der Phänomenologie darin besteht, daß sie nach der Gegebenheitsweise der Phänomene fragt, kann man auch sagen, daß die Frage der ›Phänomenalität Gottes‹ überaus konkret ist.3

4. Wenn man diese Fragen konkretisieren will, findet man meines Erachtens einen vorzüglichen Gesprächspartner in Augustinus, der nicht zufälligerweise gerade in jüngster Zeit wieder stark ins Interesse der Philosophen gerückt ist. Der typisch Augustinische Akzent der Gottesfrage läßt sich anhand von fünf Fragen kennzeichnen:

1. Die (Vor-)Frage nach der rechten Art und Weise, wie man nach Gott fragen soll: » Wie nun suche ich dich, Herr? Denn wenn ich dich als meinen Gott suche, so suche ich das selige Leben. Ich will dich suchen, damit meine Seele lebe.«4

2. »quid dicit aliquis, cum te dicit?« (conf. I, 4): »Was sage ich, wenn ich ›Gott‹ sage? bzw.: » Wie redet einer, wenn er redet von dir?« Dies ist keineswegs eine rein semantische Frage nach der etymologischen oder linguistischen Bedeutung des aus vier Buchstaben und zwei Silben zusammengesetzten lateinischen Wortes ›deus‹. Es handelt sich vielmehr um eine grundsätzliche Verständnisfrage, die nur auf der Ebene des ›inneren Wortes‹ (verbum cordis) beantwortet werden kann (Io. ev. tr. 1,8): »quid factum est in corde tuo, cum audisses: deus? quid factum est in corde meo, cum dicerem: deus?«

Die Antwort, die Augustinus in seinem ersten Traktat über das Johannesevangelium gibt, zeigt, daß es ihm um die Bestimmung des Erfragten der Frage geht (Io. ev. tr. 1,8): »Magna et summa quaedam substantia cogitata est, quae transcendat omnem mutabilem creaturam, carnalem et animalem«. Sie löst sofort eine Sturzflut neuer Fragen aus, welche die Fassungskraft des menschlichen Geistes betreffen (ebd.: »quomodo ergo potuisti scintillare in illud quod est super omnem creaturam, ut certus mihi responderes incommutabilem deum? quid est ergo illud in corde tuo, quando cogitas quamdam substantiam vivam, perpetuam, omnipotentem, infinitam, ubique praesentem, ubique totam, nusquam inclusam?«

3. Die Frage nach der ›Antreffbarkeit‹ bzw. der ›Auffindbarkeit‹ Gottes: ›Wo kann man Gott finden?‹; »Wo also fand ich dich, um dich zu lernen?« Vgl. conf. 10,37: »Ubi ergo te inveni, ut discerem te?« Augustinus stellt sie sich selbst, aber zugleich richtet er sie an Gott. ›Ubi Deus invenitur, cum cognoscitur?‹; »ubi ergo te inveni, ut discerem te, nisi in te supra me? ›Wo also fand ich dich, um dich zu lernen, wenn nicht in dir, über mir‹? Und nirgends ein Ort, wir mögen zurückgehen oder uns ihm nahen; und nirgends ein solcher Ort‹ (ebd.).

4. ›Was suche ich, wenn ich Gott suche?‹, bzw.: ›Was also liebe ich, wenn ich meinen Gott liebe? Wer ist jener, der über dem Haupte meiner Seele waltet?‹ (vgl. conf. 10,11: »super caput animae meae«). Die Antwort auf diese Fragen fällt nicht weniger deutlich als die Antwort auf die Wo-Frage aus (conf. 10,29): »cum enim te, deum meum, quaero, vitam beatam quaero.«

5. Schließlich die Werfrage: »Wer ist jener, der über dem Haupte meiner Seele waltet?« (conf. 10,11: »quis est ille super caput animae meae?«). Hierauf gibt Augustinus eine Antwort, deren volle Bedeutung bis heute noch nicht ausgeschöpft ist: ›id ipsum‹, ›Er selbst‹ (vgl. conf. 12,7).

Im folgenden erörtere ich im Blick auf die eigentümliche Art und Weise, wie Levinas die Gottesfrage entfaltet, die Möglichkeit einer Verflechtung (oder mit einem Lieblingswort von Levinas bezeichnet, einer ›intrigue‹) der Wer- und der Wie-Frage. Dies verlangt einen Schritt zurück zu Descartes’ Meditationes de prima philosophia, näherhin zur Dritten Meditation.

2. Descartes als Vorläufer und Wegweiser der zeitgenössischen Phänomenologie

›Unter den wenigen Gedanken, die in jedem Jahrhundert wiederauferstehend, jederzeit eine Exegese erfordern, weil sie zuallererst eine Hermeneutik auf uns ausüben‹, schreibt Jean-Luc Marion (vgl. SpmD 285), ›rühren die von Descartes, deren Stärke gerade in ihrer rätselvollen Einfachheit liegt, die eine scheinbare und eine wirkliche zugleich ist, ans Innerste der zeitgenössischen Philosophie, die ihrerseits das Lebendigste an ihnen in Frage stellt.‹

Nirgendwo läßt sich dieser Satz so gut verifizieren wie in der zeitgenössischen Phänomenologie, von Husserl und Heidegger bis zu Ricœur, Henry und Levinas, einschließlich Marion selbst, dessen Trilogie: L’ontologie grise de Descartes, La théologie blanche de Descartes, Sur le prisme métaphysique de Descartes mitsamt den sie flankierenden Aufsatzbänden Questions cartésiennes und Questions cartésiennes 2 ein exegetisches Meisterwerk der neueren Descartes-Interpretation sind. ›Sage mir, was dein Descartes ist, und ich werde dir sagen, was für ein Phänomenologe du bist‹: Dieser Satz gilt fast ausnahmslos für alle Phänomenologen, unbeschadet der Tatsache, daß jeder von ihnen sich seine eigene Vorstellung von Descartes macht.

3. Descartes’ metaphysischer Durchbruch von 1630 und seine Bedeutung für die philosophische Theologie

In seiner Untersuchung Sur la théologie blanche de Descartes beschäftigt Jean-Luc Marion sich ausführlich mit Descartes’ in seinen Briefen von 1630 an Mersenne vertretenen These der Erschaffung der ewigen Wahrheiten. Es sind sieben Thesen, die uns die Bedeutung verstehen lassen, die Marion in diesem Zusammenhang dem Ausdruck ›théologie blanche‹ gibt:

1. These der Permanenz: Die Grenzüberschreitung, die Descartes 1630 mit seiner These von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten vollzieht, und die ihn mit der unbegreiflichen Allmacht Gottes konfrontiert, hält sich von Anfang bis Ende seines Denkweges durch, denn sie bildet den durchgängigen Horizont seiner Metaphysik (SthbD 445).

2. Zugleich wird damit eine endgültige ›theologische‹ Entscheidung über das Problem der Denkbarkeit Gottes getroffen: Gott läßt sich nur als »puissance incompréhensible« denken, anders gesagt: Nicht die Vernunft entscheidet, was Gott ist; vielmehr begründet Gott die Rationalität selbst (SthbD 446).

3. Die These von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten begründet eine philosophische Theologie, die im Dienst der Metaphysik als Begründungsdenken steht (SthbD 445).

4. Descartes’ philosophische Theologie schreibt sich zwar in Heideggers Modell der Ontotheologie ein, sie gibt ihr aber zugleich eine neue Gestalt, in der die Begriffe ›causa sive ratio‹ und ›causa sui‹ eine wichtige Rolle spielen (SthbD 450).

5. Diese Theologie ist ›farblos‹, weil es unentschieden bleibt, ob Gott, unabhängig von seiner ›Dienstleistungsfunktion‹ für die metaphysische Begründung der Physik, auch gleichsam für sich selbst interessant ist (SthbD 452).

6. ›Farblos‹ ist sie auch, weil sie zwar mit der Univozität bricht, ohne aber den Gedanken der Analogie wiederaufzugreifen. Diese Unentschiedenheit ist Marion zufolge das Markenzeichen der Neuzeit überhaupt (SthbD 454).

7. Was damit in Vergessenheit gerät, ist die Frage der Vermittlung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen (SthbD 454).

Im Blick auf die Frage der Genese von Descartes’ Metaphysik gehen die Ansichten der Interpreten weit auseinander. Beyssade zufolge sind sie um zwei extreme Positionen zu gruppieren. Entweder stützt man sich wie Charles Adam auf einen Passus des Briefs an Mersenne vom 15. April 1630 (AT I,144), und man vertritt die These, die Meditationen von 1641 seien nichts anderes als die Druckfassung des dort erwähnten kleinen Traktates. Nach dieser Interpretation ist Descartes ein radikaler Selbstdenker, der seine entscheidenden Einsichten sich selbst verdankt. Oder man vertritt mit Marion die Ansicht, daß die sechs Meditationen schon Antworten auf die gegen die ›Metaphysik‹ von 1637 (4. Teil des Discours) erhobenen Einwände sind.5 Marion vertritt eine ›kontinuistische‹ Auffassung des Zusammenhangs zwischen den Briefen an Mersenne und den Meditationen: Die 1630 gewonnenen Erkenntnisse über die Erschaffung der ewigen Wahrheit, die unbegreifliche Allmacht Gottes und die Möglichkeit eines Gottesbeweises bilden die Basis der Fragestellung von 1641 (SthbD 314). Alquié und Marion stimmen in der Annahme überein, daß der Discours de la méthode ein metaphysischer Übergangsdiskurs ist: Er entfaltet eine Metaphysik des Methodenideals, die nur auf einem einzigen Prinzip beruht, dem ›cogito ergo sum‹. Marion spricht von einer ›Metaphysik des cogito‹, welche freilich die Konsequenzen des Durchbruchs von 1630 (Erschaffung der ewigen Wahrheiten) noch nicht wirklich integriert hat (QC I, 70): »Im Discours setzt Descartes sich noch nicht als Metaphysiker mit der These auseinander, daß Gott aufgrund seiner unbegreiflichen Macht das Methodendenken der Wissenschaft ebenso transzendiert, wie das Unendliche und die Ursache das begriffliche und objektivierende Denken transzendieren.«

Was die Frage des Aufbaus der Meditationen, insbesondere des Verhältnisses der sechs Meditationen zu den Objections et Réponses betrifft, kann man mit Guéroult unter Berufung auf die berühmte Unterscheidung des ›ordre des raisons‹ und der Reihenfolge der behandelten Themen6 die Auffassung vertreten, daß der ›ordre des raisons‹ der Cartesischen Metaphysik sich einzig und allein auf die sechs Meditationen beschränkt, und daß die Objections et Réponses nur rein äußerliche Zusätze sind. Man kann aber auch, unter Berufung auf die Absichtserklärung (AT VII, 10, 9–23: »les mêmes pensées par lesquelles je me persuade d’être parvenu à une certaine et évidente connaissance de la vérité, afin de voir si, par les mêmes raisons qui m’ont persuadé, je pourrai aussi en persuader d’autres«) eine mehr dialogische Auffassung vertreten, derzufolge die ›Metaphysik‹ der Meditationen bis zum Schluß auf dem Prüfstand bleibt (EsD 83–104).

4. Der Baum des Wissens und seine Wurzeln

In der berühmten, 1647 geschriebenen Lettre-Préface zur französischen Übersetzung der Principia philosophiae durch Abbé Picot illustriert Descartes den inneren Zusammenhang seines Denkens anhand des Bildes des ›Baums der Wissenschaften‹ (AT IX/Teil 2,14): »Toute la philosophie est comme un arbre, dont les racines sont la métaphysique, le tronc est la physique, et les branches qui sortent de ce tronc sont toutes les sciences, qui se réduisent à trois principales, à savoir la médecine, la mécanique et la morale.«

In der 1949 verfaßten Einleitung zu Was ist Metaphysik? greift Heidegger dieses Bild auf, weil es ihm eine willkommene Gelegenheit liefert, eine seines Erachtens ungefragte Frage aufzuwerfen (GA 9,365): »In welchem Boden finden die Wurzeln des Baumes der Philosophie ihren Halt? Aus welchem Grunde empfangen die Wurzeln und durch sie der ganze Baum die nährenden Säfte und Kräfte? Welches Element durchwaltet, in Grund und Boden verborgen, die tragenden und nährenden Wurzeln des Baumes? Worin ruht und regt sich das Wesen der Metaphysik? Was ist die Metaphysik von ihrem Grund her gesehen? Was ist im Grunde überhaupt Metaphysik?«

Auffällig ist, daß Heidegger mehr an der Natur des Bodens, in dem der Baum des Wissens seine Wurzeln geschlagen hat, als an der Beschaffenheit des Baumes selbst interessiert ist. Unsere Frage ist demgegenüber eine andere. Sie betrifft die Vielheit der Wurzeln und die Einheit des Stammes, sowie die Frage, wo die in diesem Beispiel nicht namentlich genannte (philosophische) Theologie anzusiedeln ist: ein Nebenzweig im Geäst, oder gar nur ein Blatt, das beim ersten Frost zu Boden fällt, oder eine, vielleicht sogar die Hauptwurzel des Baumes? Ein Punkt scheint jedenfalls klar zu sein: Descartes spricht von mehreren, und nicht von einer einzigen Wurzel, deren Pluralität die ›Metaphysik‹ konstituiert (EsD 27). Wie ist diese Pluralität zu verstehen?

1. Wenn man die Metaphysik als Prinzipienwissenschaft bestimmt, weist das Bild der mehrfachen Wurzeln auf eine Vielzahl von Prinzipien, die Jean-Marie Beyssade in einer eindrucksvollen Analyse der dritten Meditation auf vier Wurzeln, drei positive und eine negative, zurückführt: 1. Die wurzelhafte Gewißheit der Existenz des cogito; 2. Die in ihr enthaltene ebenso wurzelhafte Gewißheit der sogenannten ›Evidenzregel‹; 3. Die oberste Gewißheit der Existenz Gottes; 4. Die gleichsam negative Wurzel des Zweifels.7 Daß diese unterschiedlichen Wurzeln denselben Baum tragen, versteht sich nicht von selbst. Sobald eine von ihnen ›verkannt‹ (bildlich gesprochen: ›abgeschnitten‹ wird), gerät der Baum selbst ins Wanken.

Wenn man nur die immanente Selbstgewißheit des cogito beachtet, erhält man einen rein ›phänomenologischen‹ Descartes, der nur auf ein einziges Prinzip, nämlich das der Selbstaffektion schwört. Offenbar denkt Beyssade hier, ohne ihn beim Namen zu nennen, an das Descartesbild, das Michel Henry in den drei ersten Kapiteln seiner Généalogie de la pyschanalyse entwirft. Wenn man nur auf die Evidenzregel achtet, droht die Gefahr eines Formalismus und Positivismus ohne eigentliche metaphysische Grundlage.

Wenn die Idee eines unendlichen und höchst vollkommenen Gottes als einziges Prinzip festgehalten wird, wie bei Spinoza, verwandelt sich der Cartesianismus in einen Naturalismus. Beyssade zufolge besteht die ›überraschende Aktualität‹ der Cartesianischen Philosophie gerade darin, daß er eine Auseinandersetzung mit allen drei ›Modernitäten‹ ermöglicht (EsD 147). Derselbe Interpret fügt eine noch gewagtere These hinzu, die Heideggers Interpretation die Stirn bietet: Das vierte, negative Prinzip, nämlich der Zweifel, ist nicht eine Wurzel der Metaphysik neben den drei anderen; er ist »der ursprüngliche Boden, in dem alle metaphysischen Wurzeln gründen, mithin auch der ganze Baum des Wissens und der modernen Technik« (EsD 148).

5. Die mehrfachen Aufgaben der Cartesischen Metaphysik

In seiner dritten großen Descartes-Monographie: Sur le prisme métaphysique de Descartes geht Marion der Frage nach Descartes’ Stellung in der Geschichte der Metaphysik bzw. in der ›Ontotheologie‹ im Sinne Heideggers nach. Es handelt sich in dieser Untersuchung, die ihrerseits bezeichnenderweise den Ausgang mit dem Bild des Baums des Wissens nimmt (SpmD 10 f.) um eine Art von ›spektraler Analyse‹ der Grundtexte von Descartes (SpmD 7). Die große Anzahl von Monographien, die sich mit der ›Metaphysik‹ von Descartes beschäftigen, lassen uns leicht die Tatsache übersehen, daß Descartes uns keine ›Metaphysik‹, sondern ›nur‹ eine ›Erste Philosophie‹ hinterlassen hat, was ihn jedoch nicht daran gehindert hat, von ›seiner Metaphysik‹ zu sprechen (AT III,216: »ma Métaphysique«), von ›seinen metaphysischen Gedanken‹ (AT III,472: »mes pensées de Métaphysique«) und sogar von ›seinen metaphysischen Träumereien‹ (AT III,241: »mes rêveries de Métaphysique«).

Meditationes de Prima Philosophia lautet der ursprüngliche lateinische Titel des 1641 erschienenen Grundwerkes, das sich mit zwei Hauptgegenständen befaßt: mit der Existenz Gottes und der Unterscheidung von Seele und Leib. Vergleicht man diese doppelte Zielangabe mit den verschiedenen Definitionen des Gegenstandes der Metaphysik bei Aristoteles, fällt sofort ein wichtiger Unterschied in die Augen: Die Erste Philosophie, die Descartes vor Augen schwebt, ist zwar noch eine ›Theologie‹, aber keine ›Wissenschaft vom Seienden als Seienden‹ mehr! Dennoch gibt es eine Brücke, die Descartes mit dem Aristotelischen Konzept der Ersten Philosophie verbindet: Beiderseits handelt es sich um eine Prinzipienwissenschaft, die sich mit den ersten Prinzipien des Erkennens befaßt (AT VIII,1).

Dieses neue Verständnis der ›Ersten Philosophie‹, deren Gegenstand »toutes les premières choses qu’on peut connaître en philosophant par ordre« sind, bezeichnet Marion als ›epistemische Protologie‹ (SpmD 60 f.), die den Gegebenheiten der modernen Wissenschaft, insbesondere dem Ideal der Mathesis Universalis besser gerecht wird als die vormalige . Damit erfährt auch die ›ontotheologische‹ Grundfrage, wie Gott in diesen neuen philosophischen Kontext hineinkommt, eine grundsätzliche Wandlung. Am Ende seiner ausführlichen Erörterung dieser Frage (SpmD 73–136) kommt Marion zu einem eigentümlich zwiespältigen Ergebnis. Die ›Erste Philosophie‹ von Descartes ›schielt‹ gleichsam nach zwei Richtungen: die der cogitatio einerseits, die der causa anderseits. Alles Seiende, selbst Gott, ist dem Prinzip ›causa sive ratio‹ unterworfen. Jedes Seiende, selbst Gott, muß die Frage beantworten können: Was ist der Grund, warum du existierst? Das einzige Privileg, das Descartes Gott zugesteht, ist, daß er die Frage ›Warum?‹ mit einem ›Darum‹ beantworten kann, anders gesagt, mit dem Gottesnamen: Causa sui. Wenn man diese Interpretation übernimmt, zeigt sich, wie verzweigt die Wurzeln der cartesischen Ersten Philosophie sind: Prinzipienwissenschaft, Egologie, Theologie, die sich ihrerseits wieder in mehrere Wurzeln verzweigt, je nach dem Gottesnamen, der im Vordergrund steht.

In der Immanenz des Bewußtseins sind alle Ideen prinzipiell gleichrangig. Als bestimmte Denkformen, d. h. als cogitationes, scheinen sie allesamt meine Gedankengebilde zu sein (AT IX,31: »toutes semblent procéder de moi d’une même sorte«). Meine Vorstellung von mir selbst, vom Wachsstück, von einer Chimäre, von einem Engel und auch meine Vorstellung von Gott sind Ideen, die ich in mir vorfinde (ebd.): ›Insofern jene Vorstellungen lediglich eine gewisse Art des Denkens sind, finde ich zwischen ihnen keine Ungleichheit, und alle scheinen aus mir in gleicher Weise hervorzugehen.‹

Sobald wir aber die jeweiligen Vorstellungsinhalte betrachten, zeigt sich, daß Ideen einen mehr oder weniger großen Realitätsgehalt enthalten können, anders gesagt, mehr oder weniger ›substantiell‹ sind (ebd.): ›Insofern aber die eine diese, die andere jene Sache darstellt, sind sie offenbar sehr verschieden voneinander. Ohne Zweifel sind diejenigen, welche mir Substanzen darstellen, in gewisser Beziehung etwas Größeres; sie enthalten sozusagen mehr objektive [= vorgestellte] Realität in sich, als jene, welche nur Zustandsweisen d. h. Akzidenzien darstellen.‹ Dies ist der Schlüsselsatz, ohne den der Gedankengang der Dritten Meditation nicht nachvollzogen werden kann. Das, was Descartes als ›réalité objective‹ der Ideen bezeichnet, entspricht Alquié zufolge einer neuartigen Ontologie, für die er den Fachausdruck: ›Ideenontologie‹ (»Ontologie des idées«) geprägt hat. Die ›objektive Realität‹ der Ideen darf nicht mit der extramentalen Wirklichkeit verwechselt werden. Es handelt sich um eine ›Wirklichkeit‹, die sich bereits auf dem Immanenzplan des Bewußtseins etablieren läßt.8

In einer realistischen Ontologie ist das Kausalitätsprinzip, die einer Ursache mindestens ebenso viel Wirklichkeit als ihre Wirkung zumißt, auf der extramentalen Ebene angesiedelt. In Descartes’ Ideenontologie wird dieses Prinzip auf die Ideen selbst übertragen: »Nun wird aber durch das natürliche Licht offenkundig, daß in der vollständigen wirkenden Ursache mindestens ebenso viel Realität enthalten sein muß als in dem von dieser Ursache Bewirkten. Denn woher, frage ich, könnte die Wirkung sonst ihre Realität empfangen als von der Ursache? Und wie könnte die Ursache sie ihr geben, wenn sie sie nicht selbst hätte?«9 Damit läßt sich die Überlegenheit der Gottesidee begründen, anders gesagt, der dritte und stärkste Ring der Cartesianischen Kette der Gewißheiten schmieden, auf die sich alles begründete Wissen gründen läßt.

Ebenso wie Descartes in der Zweiten Meditation eine doppelte – substantielle und phänomenologische – Definition des cogito entwickelt hatte, stellt er uns in der Dritten Meditation zwei Definitionen Gottes vor, von denen man sich fragen kann, ob sie deckungsgleich sind. Sie rahmen den Gottesbeweis ein, den man gemeinhin als ›preuve par les effets‹ bezeichnet:

1. die Idee eines höchsten Gottes, »der ewig, unendlich, allweise, allmächtig und der Schöpfer aller Dinge außer ihm ist«.

2. »Als Gott bezeichne ich eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist.«

Wenn man beide Definitionen miteinander vergleicht, fällt auf, daß in der ersten Definition Gott das Subjekt einer gewissen Anzahl von Attributen ist, die es erlauben, ihn als Schöpfer aller Dinge zu bezeichnen. Die zweite Definition sagt uns, was der Name Gott bezeichnet: eine ›Substanz‹, die sich durch eine bestimmte Anzahl von Attributen auszeichnet. Im Anschluß an die erste Definition entwikkelt Descartes seinen ersten Gottesbeweis, das Argument der Vollkommenheit. Das Vollkommenere kann nie das Resultat eines weniger Vollkommeneren sein. Die unvollkommenste Idee ist die des Nichts, aus der man keinerlei objektive Realität ableiten kann. Die Stufenleiter der Vollkommenheit läßt sich aber nicht ins Unendliche verlängern. Sie muß bei einem höchsten Vollkommenen enden.10

Hiermit sind die Voraussetzungen geschaffen, uns vom Solipsismusverdacht zu befreien.11 Die Idee Gottes, und sie allein, liefert uns den Schlüssel, der es erlaubt, die Tore der Selbstimmanenz des cogito zu öffnen und uns die Existenz einer außermentalen Wirklichkeit zu garantieren (AT IX, 33): »S’il ne se rencontre point en moi de telle idée, je n’aurai aucun argument qui me puisse convaincre et rendre certain de l’existence d’aucune autre chose que de moi-même«.

Descartes’ Gott ist kein ›Lückenbüßer‹ im Bonhoefferschen Sinn. Man könnte eher sagen, daß er die einzig mögliche Zugbrücke ist, die uns überhaupt zur Verfügung steht, um die Gewißheit der Existenz der außermentalen Welt zu erreichen. Hier stellt sich die entscheidende Frage: ›Woher nehmen und nicht stehlen?‹, anders gesagt: Bin ich imstande, eine solche Idee aus eigenen Kräften zu erzeugen? Descartes sagt (AT IX,35): »Partant il ne reste que la seule idée de Dieu, dans laquelle il faut considerer s’il y a quelque chose qui n’ait pû venir de moy-mesme.«

Die Frage, ob die Idee Gottes nicht ein Erzeugnis des cogito sein könnte, beantwortet Descartes mit einem entschiedenen Nein (vgl. AT IX,36): ›Zwar habe ich eine Vorstellung von Substanz, weil ich selbst Substanz bin; dies kann jedoch nicht die Vorstellung von der unendlichen Substanz sein, da ich selbst nicht unendlich bin.‹ Ich bin meiner Existenz absolut gewiß und weiß, daß ich eine res cogitans bin. Darüber hinaus verfüge ich über die Evidenzregel. Nichts gewährleistet mir indessen, daß mein Denken, um eine Formel der Mersenne-Briefe wiederaufzugreifen, fähig ist, Gott umgreifend zu erfassen, ihn gleichsam denkend zu ›umarmen« (»embrasser de la pensée«). Daher kann die Antwort nur lauten, daß Gott selbst diese »wahrste, klarste und deutlichste aller meiner Vorstellungen« in mich gelegt hat: »si elle n’avait été mise en moi par quelque substance qui fût véritablement infinie«. Hier deutet sich eine Cartesianische Antwort auf Heideggers Frage: »Wie kommt der Gott in die Philosophie?« an. Sie setzt voraus, daß die Idee des Unendlichen nicht nur ›wirklichkeitsträchtiger‹ als die des Endlichen ist, sondern daß wir die lexikalischen Gegebenheiten gleichsam gegen den Strich lesen müssen.

Lexikalisch gesehen enthält der Ausdruck ›infini‹ eine Negation: Das Unendliche ist das Nicht-Endliche. Wenn wir uns an den Wirklichkeitsgehalt der betreffenden Ideen halten, verhält es sich genau umgekehrt: Das Unendliche ist das positive und das ursprüngliche, demgegenüber alle anderen Ideen mit einer Negativität behaftet sind: »Ich erkenne vielmehr ganz klar, daß die unendliche Substanz mehr Realität enthält als die endliche; daß mithin in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Ich vorausgeht.« Ein Gott, der nur die Negation des Endlichen wäre, wäre ein impotenter Gott. Marion bezeichnet dieses durch und durch positiv verstandene Unendliche als das ›wahre A priori‹ Descartes’ nicht nur in erkenntnistheoretischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht, denn alle Auszeichnungen der Idee Gottes haben in ihm ihre Wurzeln: ›ganz und gar wahrhaftig‹ (»entièrement vraie«), ›überaus klar und deutlich‹ (»fort claire et fort distincte«), und mehr objektive Realität als alles Anderen enthaltend.

Wissen wir, was wir sagen, wenn wir ›unendlich‹ sagen? – Ja und nein. In gewisser Hinsicht entzieht das Unendliche sich unserem Zugriff: »Es liegt nämlich im Begriff des Unendlichen, daß es von mir, der ich endlich bin, nicht verstanden werden kann«. Gerade das Unendliche bestätigt die Rede von der »puissance incompréhensible«. Damit stellt sich die Frage, ob der ›Unendliche‹ nur ein Gottesname neben anderen ist, oder derjenige Name, demgegenüber alle anderen nur Abwandlungen sind. Nichts ist verständlicher und einleuchtender als unser Unvermögen, das Unendliche voll zu erfassen.

6. Das Ich und Gott

In der Dritten Meditation markiert ein neues: »vielleicht aber« einen weiteren wichtigen Einschnitt. Die neue Frage ist, wie das cogito sich im Licht der Idee des Unendlichen verstehen kann. Eine mögliche Antwort wäre: Was noch nicht ist, kann noch werden, anders gesagt: Das, was augenblicklich noch das Fassungsvermögen meines Geistes übersteigt, wird mir in einem späteren Entwicklungsstadium zugänglich sein.

Dies ist ganz und gar nicht die Meinung von Descartes. Selbst wenn wir uns alle möglichen Fortschritte zumuten, ist es unvorstellbar, daß damit der Unterschied des Endlichen und des Unendlichen eingeebnet würde (AT IX,36): ›gesetzt auch, meine Erkenntnis nähme allmählich zu und vieles wäre als Möglichkeit in mir, was noch nicht zur Wirksamkeit gelangt ist, so gehört doch nichts von all diesen Vorzügen zur Vorstellung Gottes, in der überhaupt nichts potentiell ist.‹ Der Traum von einer allmählichen Einebnung des Unterschieds zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen ist nicht nur eine Chimäre; er ist der Alptraum des gnostischen ›Eritis sicut Deus‹, dem wir uns auf jeden Fall verweigern müssen (AT IX,36): ›Gott aber fasse ich in der Weise als aktual Unendliches auf, daß seiner Vollkommenheit nichts hinzugefügt werden kann.‹

Der Satz (AT IX,40): »Il me reste seulement à examiner de quelle façon j’ai acquis cette idée« (›Ich habe nur noch zu untersuchen, in welcher Weise ich jene Vorstellung von Gott erhalten habe‹) leitet den letzten Gedankengang der Betrachtung ein. Bisher hatte Descartes mehrmals behauptet, daß die Idee Gottes nicht von ihm selbst erfunden werden und daher nur ›in‹ ihn selbst ›gelegt‹ werden konnte. Damit bleibt die Frage ungeklärt, wie er diese Idee erworben hat.

Wenn sie von Außen wie ein ›Kuckucksei‹ an ihn herangetragen worden wäre, würde sie den problematischen Charakter der Außenwelt teilen. Diese Lösung kann nicht die Descartes’ sein, denn er ist sich bewußt, daß die Idee Gottes nicht seinen Sinnen entstammt (AT IX,40): »je ne l’ai pas reçue par les sens«. Ebenso wie Spinoza kann er als Vertreter einer rationalistischen Metaphysik nicht von einer mehr oder weniger wechselhaften ›Gotteserfahrung‹ sprechen. Weil die Vorstellung Gottes aber auch keine reine Gedankenkonstruktion oder ein bloßes Produkt unserer Einbildungskraft ist (»elle n’est pas une pure production ou fiction de mon esprit«), bleibt nur eine einzige Antwort übrig, nämlich die Annahme, daß die Gottesidee ebenso ursprünglich wie ich selbst ist. Es ist eine ›angeborene Idee‹, die sich, obschon ich sie von Anfang an in mir finde, dennoch radikal von mir unterscheidet.

Wie stringent die Beweisführung der Dritten Meditation auch sein mag, so bleibt sie doch eine ›Betrachtung‹, anders gesagt eine ›geistliche Übung‹ im antiken Sinn des Wortes, bei der man lange Zeit verweilen muß, um sie gleichsam ›genießen‹ zu können: »Doch bevor ich dies eingehender prüfe und zu den andern Wahrheiten, die sich daraus ergeben, vorzudringen suche, will ich hier noch ein wenig bei der Betrachtung Gottes verweilen. Ich will seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermeßlichen Lichts, soweit mein geblendetes geistiges Auge es zu ertragen vermag, anschauen, bewundern, anbeten.«

»Anschauen, bewundern, anbeten«: Die Sprache, die hier gesprochen wird, ist nicht weit von der des Heiligen Augustinus entfernt. Descartes, der auf Distanz zur Offenbarungstheologie geht, spricht am Ende der Dritten Meditation die Sprache des christlichen Glaubens: »Wie nämlich unserem Glauben nach in der bloßen Betrachtung der göttlichen Majestät die höchste Seligkeit des jenseitigen Lebens besteht, so werden wir dessen inne, daß wir jetzt schon durch diese, wenn auch viel unvollkommenere Betrachtung die höchste Lust erfahren können, deren wir in diesem Leben fähig sind.« Auf seine Weise wird Descartes damit zum Wegbereiter der Unterscheidung Spinozas zwischen dem metaphysischen und den religiösen Wegen zu Gott.

7.Prismatische Brechungen: die drei Cartesischen Gottesnamen

Was die philosophischen Theologien der Neuzeit mit dem Terminus ›Attribute‹ bezeichnen, entspricht dem, was frühere Denker und Theologen als ›göttliche Namen‹ bezeichnen. Besonders einflußreich ist der Traktat Peri theion onomaton des Pseudo-Dionysius Areopagita gewesen, in dem drei Möglichkeiten des Redens über Gott unterschieden werden: der erste besteht darin, daß Gott positive Eigenschaften zugeschrieben werden, der zweite – der Weg der negativen Theologie – spricht Gott Eigenschaften ab, die eigentlich nur Begrenzungen sind, der dritte superlativische Weg (via eminentiae) schreibt Gott Vollkommenheiten zu, indem er sie potenziert. Marion zufolge bildet diese Unterscheidung dreier Wege auch den Hintergrund von Descartes’ Beschäftigung mit den Attributen Gottes.

Descartes bezeichnet Gott als ›eine Art von Substanz‹ (»quaedam substantia«). Diese Unbestimmtheit zeichnet alle Aussagen über Gott vor der Dritten Meditation aus. »Seit jeher tragen wir in uns eine gewisse Idee des Göttlichen« (»depuis toujours nous portons en nous une certaine idée du divin«), die so unbestimmt ist, daß man sie mit der Vorstellung des ›großen Täuschers‹ (le »grand trompeur«) verwechseln kann. »Vor dem Gottesbeweis aufgrund der Wirkursache«, schreibt Marion, »hat das Ego es nur mit einem Gegner zu tun, der sich hinter seiner eigenen Unbestimmtheit verbirgt.«12

Wenn wir uns den Gedankengang der Dritten Meditation diesbezüglich nochmals vor Augen führen, merken wir, daß sich die beiden Definitionen, die den Gottesbeweis einrahmen, aus drei Bestandstücken zusammensetzen: 1. Die Identifizierung Gottes als Substanz; 2. Eine Liste von Attributen, angeführt vom Attribut der Unendlichkeit; 3. Die Behauptung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Gott und den übrigen Substanzen, in Gestalt einer Hervorbringung und Schöpfung, die zugleich eine ständige Erhaltung bedeutet.

Im Unterschied zur ersten Definition Gottes identifiziert die zweite ihn als »eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist«. Implizit ist dieser Begriff aber schon in der ersten Definition vorausgesetzt, wo Descartes auf den ontologischen Unterschied von Substanz und Akzidenz verweist.

Die erste Definition bereitet den Boden für die zweite vor, indem sie Substanz und Akzidenz voneinander unterscheidet. Die zweite identifiziert Gott ausdrücklich als unendliche Substanz. Auch wenn ältere Autoren, wie Johannes Damascenus bereits vom »unendlichen Meer der Substanz« sprachen und Thomas von Aquin Gott als »ipsum esse per se subsistens« (S.th. I 4, 3c) bezeichnete, ist diese Identifizierung keineswegs selbstverständlich.

›Substanz‹ () ist Aristoteles zufolge jede Entität, der ein oder mehrere Eigenschaften (Attribute) zugeschrieben werden können. Das trifft natürlich auch auf Gott zu, aber mit einem gewaltigen Unterschied: Es handelt sich um keine Akzidenzien, die sich äußerlich mit Gott verknüpfen. In seiner Antwort an Gassendi erinnert Descartes daran, daß nicht alle Denker Gott der Kategorie der Substanz unterwerfen. Er überwindet diese Schwierigkeit, indem er dem Begriff der Substanz einen neuen Sinn gibt. Die ›Substanz‹ ist das, dem man Attribute zuschreiben kann und was für sich selbst subsistiert: »Id quod nulla alia re indiget ad existendum«. In den Principia (1,51) liest man folgende Definition (AT VIII,14): ›Unter Substanz können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf; und eine Substanz, die durchaus keines anderen Dinges bedarf, kann man nur als eine einzige denken, d. h. als Gott.‹ Streng genommen läßt dieser Satz sich nur auf Gott selbst anwenden. Spinoza zieht hieraus eine radikale Konsequenz: Es gibt nur eine einzige Substanz, der man eine unendliche Anzahl von Attributen zuschreiben kann, von denen wir aber nur zwei – Geist und Ausdehnung – erkennen können. Descartes erklärt weniger radikal, daß der Begriff ›Substanz‹ nicht ganz und gar univok zu verstehen sei. Absolut verstanden sei er nur auf Gott anwendbar; in einem relativen Sinn lasse er sich auf das cogito und die materiellen Dinge anwenden.

Marion zufolge kann man sich allerdings fragen, ob es Descartes wirklich gelungen ist, diese Unterscheidung zu begründen. Wenn man ›Substanz‹ als dasjenige definiert, dessen Existenz von nichts anderem als ihm selbst abhängt, trifft dieser Begriff streng genommen nur auf Gott allein zu. Wenn man den Begriff der Substanz auch auf endliche Entitäten anwendet, dann muß er in bezug auf Gott durch den Zusatz ›unendliche Substanz‹ ergänzt und spezifiziert werden. Gott ist ›Substanz‹ in einem ganz anderen Sinn, als wir es sind. Marion weist darauf hin, daß im Begriffsvokabular von Descartes substantia infinita ein einziges Syntagma bildet, das man nicht in Subjekt und Attribut aufteilen kann. Insofern wäre es angemessener, von einem ›substantiellen Unendlichen‹ zu sprechen (SpmD 239), wobei ›Unendliches‹ das Substantiv und ›Substanz‹ das Attribut ist. Wenn man diese Interpretation übernimmt, ist das ›Unendliche‹ nicht sosehr das erste aller Attribute, die man Gott zuschreiben kann, sondern der wahre Gottesname. Unter dieser Voraussetzung kann man die verschiedenen Attribute Gottes im Rückgriff auf die Tradition auf drei Gruppen verteilen.

An der Spitze der negativen Gottesattribute steht eindeutig das der Unendlichkeit, das »eine absolute Invariante im Cartesianischen Denken« ist, die ›höchste Wesensbestimmung Gottes‹, die ihn als Gott definiert.13 Wenn man dieses Attribut zu den negativen Attributen zählt, ist man zwar dem Wortlaut treu, aber nicht dem Geist der Cartesischen Theologie, denn was die Bedeutung des Namens anbelangt, handelt es sich um eine durch und durch positive Bezeichnung, wie alle Descartes-Interpreten immer wieder betont haben. Dies ist ein Punkt, den Descartes unermüdlich unterstreicht (AT IX, 36): ›Auch darf ich nicht etwa glauben, ich erfaßte das Unendliche statt durch eine [material] wahre Vorstellung nur durch Negation des Endlichen […] Ich erkenne vielmehr ganz klar, daß die unendliche Substanz mehr Realität enthält als die endliche; daß mithin in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen, d. h. die Vorstellung Gottes der des Ich vorausgeht.‹

Die mit Augustinus anhebende Neubestimmung des Verhältnisses des Endlichen und des Unendlichen wird in gewisser Weise von Descartes zu Ende geführt.14 In einem Passus der Premières Réponses, reagiert Descartes auf die von Caterus aufgeworfene Frage, ob ein endliches Wesen eine klare und deutliche Vorstellung von der göttlichen Unendlichkeit haben kann. Hier greift Descartes auf mehrere in seinen Augen wesentliche Unterscheidungen zurück:

– ›Comprendre‹ versus ›entendre‹: Wir verstehen (›entendre‹) zwar etwas von Gott, aber letzten Endes bleibt er uns unbegreiflich: »Je dirai ici premièrement que l’infini, en tant qu’infini, n’est point à la vérité compris, mais que néanmoins il est entendu inintelligible.«

– ›Unbestimmtheit‹ versus ›Unendlichkeit‹: »Et je mets ici de la distinction entre l’indéfini et l’infini. Et il n’y a rien que je nomme proprement infini, sinon ce en quoi de toutes parts je ne rencontre point de limites, auquel sens Dieu seul est infini.« Im Vergleich zum wahren Unendlichen ist das Unbestimmte eigentlich nur ein Fluchtpunkt, den Hegel später als »Ziehen der Linien der Sehnsucht ins Leere hinaus« kennzeichnen wird.

– ›Formalgrund‹ versus ›Sache selbst‹: »Je mets distinction entre la raison formelle de l’infini, ou l’infinité, et la chose qui est infinie. Car, quant à l’infinité, encore que nous la concevions être très positive, nous ne l’entendons néanmoins que d’une façon négative.«

Der Formalgrund des Unendlichen ist ein positiver Begriff. Gerade deshalb entzieht sich das Unendliche als Unendliches unserem Zugriff. Gerade weil wir eine klare und deutliche Vorstellung vom Unendlichen haben, wissen wir, daß Gott für den menschlichen Verstand unbegreiflich ist. Marion zufolge ist dieses Attribut gegenüber allen übrigen vorrangig, sowohl in logischer (alle übrigen Attribute setzen die Unendlichkeit voraus), als in noetischer (es ist das klarste und deutlichste aller Attribute) und schließlich transzendentaler Hinsicht (es ist die Bedingung der Möglichkeit des Endlichen).15 Alle übrigen negativen Attribute (absolute Unermeßlichkeit, Unbegreifbarkeit, Unabhängigkeit, Unwandelbarkeit) lassen sich unschwer aus ihm deduzieren (Principia II § 37, 39, 41).

1. Das Attribut der Unbegreiflichkeit (›incomprehensibilitas‹) ist eine direkte Konsequenz der Idee der Unendlichkeit. ›Unbegreiflich‹ ist nicht gleichbedeutend mit ›irrational‹, denn paradoxerweise ist sie die Bedingung einer gewissen Verständlichkeit Gottes. Gott, so könnten wir im Rückgriff auf ein berühmtes Distichon von Angelus Silesius sagen, ist ›ohne Warum‹, nicht weil er durch und durch unverständlich wäre, sondern weil er die Quelle jedes Warum und die Urquelle der Vernunft selbst ist. Er ist übervernünftig, nicht unvernünftig (Principia 1, § 19): »Die Anerkennung der Unbegreiflichkeit Gottes bedeutet nicht, daß man darauf verzichtet, Gott mittels der Vernunft zu erkennen. Es handelt sich vielmehr darum, die Vernunft in eine Lage zu versetzen, die es ihr erlaubt, über die Objektivität hinaus, die sie mittels der Methode beherrscht, das Unendliche selbst, insofern es dem Endlichen unbegreiflich bleibt, zu erkennen.«16 In ähnlicher Weise betont Merleau-Ponty, »daß das Geheimnis des großen abendländischen Rationalismus in nichts anderem als in Descartes’ Idee eines positiven Unendlichen besteht«17.

2. In den Premières Réponses verknüpft Descartes das Attribut der göttlichen Allmacht mit dem Begriff der Causa sui. Auch in dieser Hinsicht setzt er einen neuen Anfang, den Spinoza aufgreifen wird. Damit scheint er Heideggers Verdacht zu bestätigen, daß der eigentliche Name für Gott im Rahmen der als Ontotheologie konstituierten Metaphysik Causa sui lautet. Das darf uns nicht daran hindern, mit Marion zu fragen, worin der Beitrag Descartes’ zur neuzeitlichen Gestalt der Ontotheologie besteht.18Causa sui ist ein Begriff, der dasjenige zum Ausdruck bringt, was das endliche Wesen nicht ist und nicht sein kann. Zwar kann man in einer literarischen Fiktion versuchen, diesen Begriff auf den Menschen selbst anzuwenden, wie Amélie Nothomb das in ihrer Métaphysique des tubes getan hat; aber selbst in diesem Roman scheitert das Experiment kläglich. Wenn der Begriff Causa sui Gott allein vorbehalten werden muß, dann muß er ebenso positiv wie der Begriff der Unendlichkeit verstanden werden.

Aus-sich-selbst-sein heißt soviel wie von nichts Anderem abhängen. Es handelt sich folglich um eine negative Bestimmung, die aber Descartes zufolge, positiv verstanden werden muß. Gott als Urheber der ewigen Wahrheiten ist die stärkste Ursache überhaupt, eine Wirkursache, die sich nicht nur gegenüber dem auswirkt, das von ihm abhängt, sondern auch gegenüber ihm selbst. Was für die Existenz gilt, gilt auch für die Erhaltung im Sein. Um sich im Sein erhalten zu können, bedarf Gott keiner anderen Wirkursache als sich selbst, denn wer mächtig genug ist, etwas anderes als sich selbst im Sein zu erhalten, verfügt auch über die nötige Macht, sein eigenes Sein zu erhalten.

Dem Anschein zum Trotz deckt sich die Idee der Causa sui nicht mit der traditionellen Idee der göttlichen Aseität. Zwar impliziert die Idee des Aus-sich-seins die der Ursächlichkeit. Bei Descartes tendiert der Begriff der causa sui jedoch dazu, den traditionellen Gedanken der göttlichen aseitas zu verdrängen. Wie verhält sich die Unendlichkeit, die bei Descartes der eigentliche Name des Absoluten ist, zur Idee der Allmacht? Marion zufolge ist Unendlichkeit der eigentliche Name Gottes und Allmacht sein ursprünglicher Name. Daß sich Unendlichkeit und Causa sui nicht vollständig auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, ist in Marions Augen kein Zufall. Es handelt sich um eine ›architektonische Inkohärenz‹ (SpmD 251), die in der Art und Weise grundgelegt ist, wie Descartes den Begriff Gottes konstruiert.