Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union - Domenica Dreyer-Plum - E-Book

Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union E-Book

Domenica Dreyer-Plum

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Was ist 2015 in der sogenannten Migrationskrise passiert? Wie ist die darauf anwortende Politik zu bewerten? Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenz- und Asylpolitik? Und was sind die gesellschaftlichen und politischen Gründe dafür, dass das Politikfeld seit den späten 1990er Jahren zunehmend auf europäischer Ebene gestaltet wird? Dieses Lehrbuch liefert ausgewogene Antworten, indem zum einen die Genese des Politikfeldes vor dem Hintergrund der Schengen-Kooperation historisch und politisch aufgearbeitet wird. Zum anderen erläutert die Autorin detailliert, wie die Institutionen ihr Mandat genutzt haben und welche Standards bei der Einreise, Visavergabe und in Asylverfahren laut europäischem Recht gelten. Dabei werden auch die Schwachstellen beleuchtet, die den andauernden Streit um die Ausrichtung der europäischen Grenz- und Asylpolitik prägen.

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Domica Dreyer-Plum

Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

UVK Verlag · München

  

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

© UVK Verlag 2020 – ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Nymphenburger Straße 48 · 80335 München

www.uvk.de

 

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen

[email protected] | www.narr.de

  

ISBN 978-3-8252-5346-2 (Print)ISBN 978-3-8463-5346-2 (ePub)

Inhalt

Für meine ElternAbkürzungsverzeichnis1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union2 Historische Grundlagen2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses2.1.1 Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik2.1.2 Die Grenz‑ und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten2.2.2 Schengen und Theorien europäischer Integration2.3 Zusammenfassung und Literatur3 Grenzpolitik der Europäischen Union3.1 Grenzen der Europäischen Union – Auflösung der Binnengrenzen3.1.1 Von Schengen-5 zu Schengen-263.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik3.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Grenzpolitik3.2.2 Rechtsinstrumente zur gemeinsamen Steuerung der europäischen Grenzpolitik3.2.3 Frontex: Gründung, erste Einsätze und rechtliche Entwicklung der europäischen Grenzschutzagentur3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik3.3.1 Europäische Grenzpolitik (Schengener Grenzkodex)3.3.2 Europäische und nationale Visatitel3.3.3 Grenzschutz und Asyl: Einreise ohne Dokumente3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik3.4.1 Zur Lage an den Außengrenzen3.4.2 Grenzschutz und Kooperation an den Außengrenzen3.4.3 Zur Praxis der Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen3.5 Streit um die europäische Grenzpolitik seit 20153.6 Zusammenfassung und Literatur4 Asylpolitik der Europäischen Union4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung4.1.1 Was bedeutet Asyl?4.1.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR: Internationale Konvention und Organisation zum Flüchtlingsschutz4.1.3 Die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention für den europäischen Asylschutz4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik4.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Asylpolitik4.2.2 Prägende Rechtsinstrumente der gemeinsamen Asylpolitik4.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Asylpolitik: Gemeinsames Europäisches Asylsystem4.3.1 Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens: die Dublin-Verordnung4.3.2 Verpflichtungen der europäischen Staaten beim Umgang mit Asylsuchenden: die Aufnahmerichtlinie4.3.3 Gemeinsame Regeln bei der Begutachtung eines Asylantrags: die Verfahrensrichtlinie4.3.4 Kriterien für internationalen Schutz: die Anerkennungsrichtlinie4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik4.4.1 Zahlen zu Asyl4.4.2 Dublin-Transfers und Ausgleichsmechanismen4.4.3 Divergierende nationale Asylpolitik trotz gemeinsamer Standards4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 20154.5.1 Krisensituation im Sommer 20154.5.2 Politischer Streit um die europäische Asylpolitik seit 20154.6 Zusammenfassung und Literatur5 Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union6 LiteraturRegister

Für meine Eltern

Abkürzungsverzeichnis

Abs.

Absatz

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

EASO

Unterstützungsbüro für Asylfragen (Agentur)

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EMRK

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (auch: Europäische Menschenrechtskonvention)

endg.

endgültig

EP

Europäisches Parlament

Eurojust

Justizbehörde der Europäischen Union (Agentur)

Europol

Stafverfolgungsbehörde der Europäischen Union (Agentur)

EU

Europäische Union

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Union

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FRA

Fundamental Rights Agency, dt. Grundrechtsagentur

Frontex

Grenzschutzagentur (Agentur, von frz.: frontières extérieures)

GFK

Genfer Flüchtlingskonvention

iVm

in Verbindung mit

k.A.

keine Angabe

lit.

Buchstabe

KOM

Kommission

mwN

mit weiteren Nachweisen

SDÜ

Schengener Durchführungsübereinkommen

SIS

Schengen-Informationssystem

UAbs.

Unterabsatz

UNO

United Nations Organization, dt.: Vereinte Nationen

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refuees, dt: Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge

VIS

Visa-Informationssystem

1Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

Flucht, Asyl und Migration sind keine nationalen oder europäischen, sondern globale Themen, die Fragen globaler Gerechtigkeit betreffen und liberale Demokratien mit der Frage konfrontieren, ob individuelle Rechte (Asyl) oder staatliche Souveränität (Grenzschutz) Vorrang erhalten.

Flucht, Asyl und vor allem Schutzgewährung sind mit der Zuwanderung im Jahr 2015 von mehr als 1 Mio. Menschen nach Europa – und vor allem nach Deutschland und Schweden – zu Topthemen der Tagespolitik geworden. Rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und der Front National (seit 2018: Rassemblement National) in Frankreich nutzen bewusst fremdenfeindliche Parolen, um ihre Wählerschaft in diesem Segment zu gewinnen. Demgegenüber stehen PolitikerInnen und BürgerInnen, die eine humanitäre Asylpolitik im Sinne rechtsstaatlicher Grundwerte einfordern. Seit 2015 ist die Asylpolitik nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene eine Streitfrage mit dem Potenzial, Gesellschaften zu spalten.

Asylpolitik ist unter den geltenden rechtlichen Bestimmungen immer auch Grenzpolitik, weil es bisher nicht möglich ist, ein Visum zu beantragen, um in einem europäischen Land wegen politischer oder religiöser Verfolgung Schutz zu suchen. Daher ist die irreguläre Einreise unter Nutzung von Schleusernetzwerken oft die einzige Möglichkeit für Asylsuchende, unter Umgehung der geltenden Einreisebestimmungen nach Europa zu gelangen.

Die Politikfelder Grenze und Asyl sind in der Justiz- und Innenpolitik angesiedelt und liegen teilweise in der Kompetenz der Europäischen Union, teilweise in mitgliedstaatlicher Souveränität. In jedem Fall erfolgt die Umsetzung des Unionsrechts1 in den Mitgliedstaaten durch deren Behörden und Akteure.

Während die Kontrolle der Außengrenzen prinzipiell in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, so unterliegen die Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Schengener Rechtsprinzipien, die die Offenheit der Grenzen zur Gewährleistung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsehen. Die Asylpolitik ist stärker europäisiert als andere Politikfelder und dennoch divergieren sowohl die Asylentscheidungen zwischen Mitgliedstaaten als auch die Leistungen gegenüber Asylsuchenden erheblich.

Aus diesen Beobachtungen ergeben sich allerlei Fragen: Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenzpolitik respektive Asylpolitik? Welche Verantwortung trägt die Europäische Union (EU) und welche Kompetenzen sind ihr zur Gestaltung der Außengrenzschutz- und Asylpolitik übertragen worden? Welche Möglichkeiten haben die Mitgliedstaaten, die europäische Politik mitzugestalten? Durch welche Rechtsinstrumente haben die europäischen Institutionen bisher die Grenz- und Asylpolitik geprägt? Welche Regeln gelten und welche Bedeutung haben sie in der Asylschutzkrise seit 2015?

Ziel dieses Lehrbuchs ist es, einen Überblick über die bestehenden europäischen Regeln in den Bereichen der Grenz‑ und Asylpolitik zu geben. Dabei wird es wichtig sein, den engen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen aufzuzeigen und die Kompetenzverwebungen zwischen nationaler und europäischer Ebene aufzuzeigen.

Zunächst widmen wir uns dem historischen und politischen Hintergrund der Vergemeinschaftung europäischer Grenz‑ und Asylpoiltik, die wesentlich im Integrationsprojekt Schengen begründet liegt (Kapitel 2). Darauf folgt eine genaue Betrachtung der Grenzpolitik mit einem Blick auf politische Ziele und praktischen Grenzschutz, Einreisebestimmungen und Konflikte (Kapitel 3). Dem folgt eine Auseinandersetzung mit der Asylpolitik (Kapitel 4) anhand folgender Fragen: Was bedeutet Asyl? Seit wann bestimmt die Europäische Union über europäische Asylpolitik? Mit welchen Mitteln wird Asylpolitik gestaltet? Was ist der Kern des politischen Streits um europäische Asylpolitik? Im Schlusskapitel (Kapitel 5) werden die wichtigsten Antworten auf die aufgeworfenen Fragen festgehalten.

 

2Historische Grundlagen

Die europäische Grenz‑ und Asylpolitik ist ebenso wie andere Politikfelder erst im Laufe der europäischen Integrationsgeschichte in die Gemeinschaftspolitik hineingewachsen. Als wesentliche Erklärung für die schrittweise Vergemeinschaftung der Grenz‑ und Asylpolitik gilt der Kooperationsbeginn im sogenannten Schengenraum1 in den 1980er Jahren. Der politische Wille zur Realisierung einer der Grundfreiheiten der Römischen Verträge – freier Personenverkehr (Art. 3 Abs. c EWG-Vertrag) – leitete zunächst Deutschland und Frankreich an, in Kooperation mit den Benelux-Staaten die Öffnung ihrer Binnengrenzen zu verwirklichen. In diesem Kapitel wird in das Thema eingeführt, indem der Beginn der politischen Zusammenarbeit in Grenz‑ und Asylfragen skizziert (Kapitel 2.1) und die Grenz‑ und Asylpolitik als typisches Beispiel für europäische Integrationsprozesse besprochen werden (Kapitel 2.2).

2.1Kontext des europäischen Integrationsprozesses

Mit dem Begriff europäischer Integrationsprozess ist die Entwicklung der europäischen Rechtsgemeinschaft gemeint, die in den 1950er Jahren begonnen und bis heute nicht abgeschlossen ist. Im Jahr 1952 unterzeichneten sechs europäische Staaten einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und StahlEuropäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der die transnationale Zusammenlegung dieser kriegsintensiven Märkte vorsah.

Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg erhofften sich in der Nachkriegszeit von dieser Zusammenarbeit einerseits die Rückgewinnung des Vertrauens ineinander, andererseits bestimmte der wirtschaftliche Wiederaufbau die politische Agenda der Gründerstaaten. Die Zusammenarbeit in den Industriezweigen Kohle und Stahl sollte wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand generieren. Dieses Anliegen hielten die Unterzeichner auch in der Präambel des Vertrags fest. Ihr Ziel war es „durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschtitt der Werke des Friedens beizutragen“ und zeigten sich

„entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß [sic!] ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errrichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen“ (EGKS-Vertrag, Präambel).

Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige internationale Behörde (Hohe Behörde) war mit der Aufgabe betraut, die Ziele des Vertrags durch Verwaltungsakte zu verwirklichen. Kontrolliert wurde diese Behörde durch einen Rat, in dem die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten waren; sowie durch eine parlamentarische Versammlung, in die gewählte Abgeordnete der nationalen Parlamente für die jährliche Sitzungsperiode entsandt wurden.

Die folgenden knapp 70 Jahre seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – die auch als Montanunion bezeichnet wird – sind gleichermaßen geprägt durch Prozesse der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft. Die Aufnahme neuer Mitgliedsländer hat die Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf 28 Mitgliedstaaten wachsen lassen. Zur Vertiefung zählt die wachsende Zuständigkeit der europäischen Gemeinschaft in immer mehr Politikfeldern und gleichzeitig die Intensivierung der Zusammenarbeit.

Die Kooperationsbereiche wurden zunächst auf einen gemeinsamen Markt ausgedehnt (Römische Verträge, 1957 unterzeichnet, 1958 in Kraft getreten), dann um Kooperationen im Bereich Forschung und Technologie, Umwelt, Sozialpolitik, Außen­‑ und Sicherheitspolitik erweitert (Einheitliche Europäische Akte, 1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten). Die Justiz- und Innenpolitik, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Wirtschafts‑ und Währungsunion sind in den 1990er Jahren hinzugetreten (Maastrichter Vertrag, unterzeichnet 1992, in Kraft getreten 1993). Alle Verträge und Reformen gehen in den 2007 unterzeichneten und 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ein.

Immer mehr Politikfelder liegen nun in der ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen UnionZuständigkeit der Europäischen Union, darunter gemäß Art. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Zollunion, Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt, Währungspolitik, Handelspolitik. In weiteren Bereichen teilen sich die Europäische Union und die Mitgliedstaaten die Kompetenzen, darunter gemäß Art. 4 AEUV: Binnenmarkt, Sozialpolitik, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, Energie, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Forschung und Technologie. Schließlich gibt es Bereiche, in denen die Europäische Union die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unterstützt und koordiniert, darunter gemäß Art. 6 AEUV: Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Verwaltungszusammenarbeit.

Doch auch die institutionelle Organisation unterlag tiefgreifenden Veränderungen. Von einer technokratischen Struktur der Montanunion (1952/1953), die zunächst ganz auf die Hohe Behörde (heute: Europäische Kommission) ausgerichtet war, wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) ein System geschaffen, das die exekutiven Regierungsvertreter im Rat zu den Entscheidungsträgern der Gemeinschaft machte. Es folgte die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments (1979) und seit der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem Kooperationsverfahren die stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Gesetzgeber. Seit dem Lissabonner Vertrag (2009) sind Rat und Parlament in den meisten Politikbereichen gleichberechtigte Gesetzgeber. Europäische Politikentwicklung basiert nun überwiegend auf Vorschlägen der Kommission, die vom Rat der EU und vom Europäischen Parlament gelesen, geändert und beschlossen werden. Immer mehr Entscheidungen werden nun durch qualifizierte Mehrheiten statt nach dem lange im Rat dominierenden Einstimmigkeitsprinzip verabschiedet.

Fragen zu Grenzen und Asyl rückten ab den 1980er Jahren im Zuge der Schengen-Politik (ab 1984) und der Neuausrichtung der europäischen Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1985-1987) auf die Agenda der europäischen Politik.

Formal fällt die Grenz‑ und Asylpolitik unter die Justiz‑ und Innenpolitik eines Staates. Es handelt sich um eine der Kernkompetenzen des Staates, schließlich bedeutet die Kontrolle über die Einreise die Kompetenz, darüber zu entscheiden wer sich im Land aufhalten darf. Damit wird – gerade bei langfristigen Aufenthaltstiteln – auch über die Komposition der Gemeinschaft entschieden.

Unter diesen Vorzeichen ist es geradezu revolutionär, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen die Grundfreiheiten der Römischen Verträge von 1957 – freier Waren-, Dienstleistungs- Personen- und Kapitalverkehr – verwirklichten, indem sie Kontrollen an den gemeinsamen Landesgrenzen abschafften und zuließen, dass die Außengrenzen der kooperierenden Staaten zu Außengrenzen der Schengengemeinschaft und damit zu gemeinsamen Außengrenzen wurden.

2.1.1Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik

Grenz- und Asylpolitik werden klassischerweise dem Innenressort zugeordnet. Dies ist auch auf europäischer Ebene nicht anders. Doch die Bezeichnung entspricht nicht dem üblichen Sprachgebrauch: Im Vertrag von Lissabon wird die Innen- und JustizpolitikInnen- und Justizpolitik der Europäischen Union unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusammengefasst. Dazu zählen die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung, justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie polizeiliche Zusammenarbeit (Kapitel 1-5 des Titels V, AEUV).

Die Politikfelder Grenze, Asyl und Einwanderung werden zwar gleichrangig aufgelistet, es gibt allerdings erhebliche Unterschiede bei den Kompetenzzuweisungen zwischen nationaler und europäischer Ebene. Während die Binnengrenzenpolitik ein Gemeinschaftsfeld ist, bleibt der Außengrenzschutz in der Souveränität der jeweiligen Mitgliedstaaten.

In der Einwanderungspolitik gibt es lediglich vereinzelte gemeinsame Ansätze wie die Blaue Karte, die hochqualifizierten Arbeitskräften den Aufenthalt im europäischen Raum für mehr als drei Monate ermöglichen soll (Richtlinie 2009/50/EG v. 25.5.2009). Überwiegend bleibt die Einwanderungspolitik jedoch in der Domäne der Mitgliedstaaten und ist dort als innenpolitisches Streitthema bekannt. Ebendiese politische Brisanz auf nationaler Ebene macht eine Europäisierung bis auf weiteres undenkbar.

Die Asylpolitik ist von den drei Bereichen das am weitesten entwickelte europäische Politikfeld. Von 1999 bis 2013 ist in zwei Etappen ein umfassendes Regelwerk entstanden, das alle Schritte eines Asylverfahrens von der Antragstellung bis zu den Rechten als anerkannter Flüchtling festlegt. Doch wie jedes europäisierte Politikfeld bleibt auch die Asylpolitik davon abhängig, dass die Mitgliedstaaten die Vorgaben vor Ort gewährleisten.

Die Europäisierung dieser Bereiche variiert also stark. Grenzschutz und Einwanderungspolitik liegen weiterhin in nationaler Verantwortung und werden auf europäischer Ebene lediglich koordiniert. Die Asylpolitik hingegen ist ein europäisches Thema. Hinzu kommt die Koordinierung der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Daraus ergibt sich die Agenda der Innen- und Justizminister bei ihren regelmäßigen Tagungen im Rat der EU. Die politischen Leitlinien in diesem Politikfeld werden vom Europäischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten festgelegt (Art. 68 AEUV).

2.1.2Die Grenz‑ und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften

Die Grenz- und Asylpolitik ist erst 1999 mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam zu einem gemeinsamen europäischen Politikfeld geworden. Diese funktionale wie politische Vertiefung europäischer Integration lässt sich jedoch unmittelbar mit dem Gründungsvertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahr 1957 in Verbindung bringen. Im Zentrum der Gründungsverträge (und damit am Beginn der europäischen Intgration) stand die Errichtung eines gemeinsamen Marktes:

„Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“ (Art. 2 EWG-Vertrag)

Um diesen gemeinsamen Markt zu errichten, sollten zunächst Zolltarife innerhalb der Gemeinschaft abgeschafft werden, um den freien Warenaustausch innerhalb der neu gegründeten Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen (Art. 3 lit. a EWG-Vertrag). Der freie Warenverkehr ist eine der vier GrundfreiheitenGrundfreiheiten, die in den Römischen Verträgen als Ziele der Gemeinschaft festgelegt wurden und bis heute den Charakter der Europäischen Union prägen (Titel I, insbesondere Art. 9 EWG-Vertrag).

Ein Großteil der Rechtsetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene lässt sich auf diese vier Hauptziele zurückführen: Freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr (Titel I und III, EWG-Vertrag, insbesondere Art. 9, 48, 52, 59 EWG-Vertrag).

Der freie Personenverkehr war zunächst streng auf den Markt begrenzt und bedeutete die Freiheit, in einem der Mitgliedstaaten eine Arbeit aufzunehmen und unabhängig von Staatsangehörigkeit beschäftigt und entlohnt zu werden (Art. 48 Abs. 2 EWG-Vertrag). Ebenso wie sich Bürger frei in einem der Mitgliedstaaten niederlassen können, gilt dies auch für Unternehmen bspw. durch die Gründung von Tochtergesellschaften (Art. 52f. EWG-Vertrag).

Die Dienstleistungsfreiheit sollte es jedem Unternehmer ermöglichen, seine Dienstleistungen im gesamten Raum der Wirtschaftsgemeinschaft anzubieten (Art. 59 EWG-Vertrag). Bisherige Beschränkungen – gerade auch verwaltungsrechtlicher Natur (Anerkennung usw.) – sollten schrittweise abgebaut werden.

Schließlich galt es die Beschränkungen des Kapitalverkehrs soweit aufzuheben, wie es „für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist“ (Art. 67 EWG-Vertrag). Der Vertrag sah vor, dass solche Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission vom Rat zunächst einstimmig und nach Ablauf einer Übergangsphase von acht Jahren mit qualifizierter Mehrheit angenommen würden (Art. 69 EWG-Vertrag).

Offensichtlich gerieten die Freiheiten des Marktes in Konflikt mit den physichen Grenzen der Mitgliedstaaten. Durch Grenzkontrollen kam es zu Verzögerungen beim Transport von Waren, doch auch der Personenverkehr wurde dadurch beeinträchtigt. Insofern stand die Grenzpolitik den Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes und damit dem Hauptziel und Motiv der Gründungsverträge entgegen. Wollte man die Freiheiten verwirklichen, so brauchte es eine Öffnung der traditionell national kontrollierten Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten.

Die funktionale Notwendigkeit der Öffnung von Grenzen zwischen den beteiligten Staaten lag damit auf der Hand. Die informelle Kooperation in den Bereichen Justiz, Inneres, Asyl und Grenzen begann bereits in den 1970er Jahren (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Doch zu einer verbindlichen Initiative dieser Art kam es erst 1984 mit einem deutsch-französischen Regierungsabkommen und dem 1985 unterzeichneten Schengener AbkommenSchengener Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Darin ist die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Gemeinsamen Marktes festgelegt. Bevor dieses politische Ziel verwirklicht werden konnte, brauchte es gemeinsame Standards bei der Einreise in den Wirtschaftsraum und bei der Frage, wann unter welchen Bedingungen durch welchen Staat Asyl gewährt wird. Denn die Abschaffung von Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten bedeutete, dass die Außengrenze eines Mitgliedstaates zur Außengrenze des gesamten Wirtschaftsraums wurde. Wer in den europäischen Wirtschaftsraum einreiste, konnte sich bei der Aufhebung von Binnengrenzkontrollen prinzipiell frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen.

Die Einheitliche Europäische AkteEinheitliche Europäische Akte (1987) hielt vertraglich fest, dass die Personenfreizügigkeit durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft bis Ende 1992 auf eine neue Stufe gehoben werden sollte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte war der EWG-Vertrag um folgenden Artikel 8a ergänzt worden:

„Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß dem vorliegenden Artikel […] den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfaßt [!] einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist.“

Diese Öffnung der Binnengrenzen sollte mit gemeinsamen Regeln bei den Außengrenzkontrollen und der Schaffung einer gemeinsamen Einwanderungs‑ und Asylpolitik einhergehen, wofür die Gemeinschaft aber zunächst kein vertragliches Mandat erhielt. Hier bestand also eine rechtliche Lücke zwischen dem Vertragsziel der Einheitlichen Europäischen Akte, die die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen innerhalb von sechs Jahren vorsah, ohne jedoch der Kommission ein Mandat zur Schaffung flankierender rechtlicher Maßnahmen zum Außengrenzschutz, zur Einreise und zur Gestaltung der Asylpolitik zu erteilen (Morijn 2017: 186).

Tatsächlich handelten die Mitgliedstaaten zunächst außerhalb des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begleitende Maßnahmen der Einreise‑ und Asylpolitik aus. Es wurden mehrere ad-hoc-Arbeitsgruppen gegründet, die sich mit den von der Grenzpolitik berührten Feldern befassten, darunter zu den Bereichen Einwanderung (Außengrenzkontrollen, Visa, Asyl), justizielle Kooperation, TREVI (Polizei, Sicherheit, Terrorismus) und CELAD zur Bekämpfung der Drogenkriminalität (Morijn 2017: 186).

So entstand 1990 im Zuge des Schengener Abkommens das Dubliner ÜbereinkommenDubliner Übereinkommen ebenfalls als völkerrechtliches Instrument, das aber erst 1997 in Kraft trat. Es enthielt einen Kriterienkatalog, nach dem geprüft werden sollte, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. So sollte verhindert werden, dass Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt werden. Die Frist zur Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen verstrich indes im Dezember 1992. Es dauerte noch mehrere Jahre bis die Binnengrenzkontrollen zunächst an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten 1995 tatsächlichen aufgehoben wurden.

Im Vertrag von MaastrichtVertrag von Maastricht (1992 unterzeichnet/1993 in Kraft getreten) wurde die Asylpolitik erstmals als Bereich „gemeinsamen Interesses“ definiert (Art. K.1 Abs. 1 EGV-Maastricht), doch zunächst kein Mandat für asylpolitische Rechtsinstrumente erteilt. Der Vertrag von Maastricht hatte damit zwar den Rahmen für europäische Entscheidungsfindung in der Justiz‑ und Innenpolitik geschaffen, die in der neu gegründeten Europäischen Union noch streng nach intergouvernementalen Prinzipien funktionierte (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Der Vertrag ermöglichte zunächst nicht mehr als die Verabschiedung unverbindlicher gemeinsamer Positionen, die im Sinne völkerrechtlicher Vorschriften von den jeweiligen nationalen Parlamenten ratifiziert werden mussten (Art. K.2 Abs. 2 EGV-Maastricht). Diese Vorgaben stellten sich als ineffizient heraus, sodass in diesem Bereich kaum politische Ergebnisse generiert wurden (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2).

Erst der Vertrag von AmsterdamVertrag von Amsterdam (1997 unterzeichnet, 1999 in Kraft getreten) benannte konkrete Aufträge zur Rechtsetzung im Bereich Asyl (Art. 73 lit. i und lit. k EGV-Amsterdam). Die europäischen Institutionen – zu diesem Zeitpunkt Europäische Kommission und Rat der EU unter Anhörung des Europäischen Parlaments – sollten Maßnahmen beschließen, um nach objektiven und fairen Kriterien festzulegen, wer für die Prüfung eines Asylantrages zuständig sei. Dies entspricht inhaltlich dem, was bisher durch das Dubliner Übereinkommen geregelt wurde. Tatsächlich wurde auf Grundlage des Mandats im Vertrag von Amsterdam eine Verordnung erlassen, die als Dublin-II-Verordnung (VO (EG) Nr. 343/2003 v. 18.2.2003, Abl. Nr. L 50/1 v. 25.2.2003) bekannt ist und als Nachfolgeinstrument des Dubliner Übereinkommens die Bestimmungen dieses Instruments in weiten Teilen übernimmt.

Der Vertrag von Amsterdam ist gleichzeitig der Vertrag, mit dem der bestehende Schengener Besitzstand, darunter (1) das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985, (2) das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990, (3) die Beitrittsprotokolle und ‑übereinkommen mit Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden, (4) die Beschlüsse und Erklärungen, die vom Exekutivausschuss auf Grundlage des Durchführungsübereinkommens erlassen wurden; in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde.1 Inzwischen gilt der Schengener Besitzstand als das Rückgrat der EU-Einwanderungs‑ und Asylpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 1).

Für die Grenz‑ und Asylpolitik bleibt vorrangig wichtig, dass durch den Vertrag von Amsterdam der supranationale Politikmodus für die Bereiche Einwanderung, Asyl und Grenzkontrollen eingeführt wurde. Zwar blieb der Vergemeinschaftungsprozess unter Wahrung von Ausnahmeregeln zunächst unvollständig, was in Folgeverträgen jedoch korrigiert wurde (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 3).

Der Vertrag von Nizza (2001 unterzeichnet, 2003 in Kraft getreten) erweiterte das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf weitere Politikbereiche, sodass nach einer Übergangsphase von fünf Jahren erste Mehrheitsbeschlüsse in diesem sensiblen Politikfeld möglich wurden (Art. 67 Abs. 5 EGV-Nizza, Vertrag von Nizza v. 26.2.2001, ABl. Nr. C 321E/37 v. 29.12.2006 und Protokoll Nr 35 (zu Art 67), ABl. Nr. C321E/317 v. 29.12.2006). Daraufhin führte der Rat eine Brückenklausel ein, die mehr Politikfelder dem qualifizierten Mehrheitsabstimmungen unterwarf und das Europäische Parlament im Mitentscheidungsverfahren stärker in den Rechtsetzungsprozess einbezog.2

Der neu geschaffene europäische Raum brachte zudem neue sicherheitspolitische Herausforderungen mit sich: Beim Wegfall der Binnengrenzen braucht es mehr Kooperation in Polizei‑ und Justizangelegenheiten. Eine solche engere Kooperation wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehen (1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten), im Vertrag von Maastricht wurden erste Bereiche der Justiz- und Innenpolitik in die europäische Zusammenarbeit aufgenommen (1993) doch teilweise erst im Vertrag von Lissabon (2007 unterzeichnet, 2009 in Kraft getreten) in die Gemeinschaftspolitik verlegt.

Ein weiteres Folgeabkommen in diesem Sinne beschlossen die damals elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen wiederum als zwischenstaatliches Abkommen im Jahr 2005 über die grenzüberschreitende polizeiliche, strafrechtliche und justizielle Zusammenarbeit (Prümer Vertrag).3 Darunter fällt zuvorderst Informationsaustausch sowie die Zusammenarbeit zur Verhinderung von Straftaten im Bereich Terrorismus, Kriminalität und Migration im Schengenraum.

Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz‑ und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der später ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde.4

Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissabon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supranationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines integrierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV).

2.2Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist

Im vorherigen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die Kooperation der ursprünglichen Schengenstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg den Beginn und die Notwendigkeit für die europäische Grenz‑ und Asylpolitik geschaffen hat.

Es ist bemerkenswert, dass die Verwirklichung eines zentralen Vertragsziels der Römischen Verträge – nämlich die Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit zu realisieren und durch die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen den Handel und Austausch zu erleichtern – zunächst im völkerrechtlichen Rahmen statt im Rechtsrahmen der Wirtschaftsgemeinschaft geschehen ist.

Im Folgenden wird genauer beleuchtet, wie das Schengener Abkommen entstanden ist, welche Implikationen es für die heutige Grenz‑ und Asylpolitik hat und weshalb Schengen aus integrationstheoretischer Perspektive als spill-over-Beispiel europäischer Integration gelten kann.

Besonders interessiert die Entstehung der sogenannten Dublin-Kriterien, die im Rahmen der Schengener Kooperation ausgearbeitet wurden und bis heute sowohl Anker als auch größter Streitpunkt der europäischen Asylpolitik sind.

2.2.1Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten

Den Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Projekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzichteten.

Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevölkerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirtschaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schengenkooperation verfügte – mit der Ausnahme Luxemburgs – jeder Schengenstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den gesamten Schengenraum bedeutete.

Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeichnet. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Touristen, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengenraum zu bewegen.

Das Schengener AbkommenSchengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der außerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z.B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärterstaaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind.

Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/435/EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, während es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt.

Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum ergeben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließlich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zudem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informationssystem, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt.

Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständigkeitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wurden. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung vorausgehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitgliedstaat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war.

Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge anerkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitgliedstaat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständigkeit für ein Antragsverfahren.

Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schengenraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarktprojektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umgekehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen.

Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwischenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außengrenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen heterogenen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende.

Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese territoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine irreguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völkerrechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt.1

Aufgrund strenger Luftfahrtkontrollen im Gegensatz zu weniger stark kontrollierten (und kontrollierbaren) Land‑ und Seeaußengrenzen der Gemeinschaft, ergibt sich ein Schwerpunkt der irregulären Einreise in den ländlichen und maritimen Außenbereichen der Gemeinschaft. Das verpflichtet die Mitgliedstaaten mit Außengrenze zu strengen Kontrollen, weil sie mit der Sicherung ihrer Außengrenzen Verantwortung für das Funktionieren der Freizügigkeit und für die Sicherheit im Schengenraum tragen. Das Prinzip befördert also Strategien, die Asylzuwanderung zu verhindern oder zumindest zu minimieren, was in Konflikt steht mit den humanitären Prinzipien des Flüchtlinsgrechts (dazu mehr in Kapitel 4.1).

Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylgerichtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Verschiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151).

Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, weshalb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaften gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz verankert war.2 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort entsprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394).

Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf politisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verantwortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetzgebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten – und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861).

Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwenderstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn.3 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Vergleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flüchtlingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015).

Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu erreichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016).

Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Afghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291).

Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportionalität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsystemen ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schweden) (Hix und Hoyland 2011: 290-291).

Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Europäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015).

Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nordeuropäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten.

Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden.

2.2.2Schengen und Theorien europäischer Integration

Die Europäische Union ist als politisches System in ständiger Entwicklung begriffen. Darauf deuten unter anderem die regelmäßigen Vertragsrevisionen, die zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Kompetenzen in verschiedenen Politikfeldern und zur Feinkalibrierung institutioneller Beteiligung geführt haben.

Die ständige Entwicklung macht es schwierig, die europäische Gemeinschaft theoretisch eindeutig zu greifen. Es erklärt auch, warum es mittlerweile unzählige theoretische Ansätze zur europäischen Integration gibt (zur Einführung in die Theorien europäischer Integration: Rosamond 2000; Grimmel und Jakobeit 2009; Bieling und Lerch 2012).

Theorien europäischer Integration versuchen retrospektiv bestimmte Integrationsprozesse mithilfe ausgewählter Variablen zu erklären. Zugleich wollen sie eine Prognose über den zu erwartenden Verlauf der Integration liefern. Im Mittelpunkt der europäischen Integrationstheorien steht die Beantwortung der Frage, warum die Mitgliedstaaten bereit waren, nationale Souveränitätsrechte an die Gemeinschaft abzutreten – zu Beginn der Integration ebenso wie im Verlauf der Integration durch eine zunehmende Kompetenzverlagerung.

Die Grenzpolitik ist eines dieser sensiblen Politikfelder, weil sie mit der nationalen Souveränität in Verbindung steht, zu entscheiden, wer unter welchen Bedingungen den Boden eines Staates betreten darf. Verknüpft mit der Einwanderungspolitik betrifft sie die Komposition einer Gesellschaft und damit einen eindeutigen Kern nationaler Politik (Bürgerschaft). Asylpolitik ist ein weiteres Beispiel für ein stark in der Innenpolitik verankertes Politikfeld. Mit der Ausgestaltung des Asylsystems handelt eine Gesellschaft ihre Bereitschaft zu humanitärer Hilfe und Offenheit gegenüber Nichtbürgern aus.

In beiden Bereichen ist beobachtbar, wie der gemeinsame Markt – als ursprüngliches singuläres Integrationsziel – mit den damit verbundenen vier Grundfreiheiten sukzessive politischen Raum greift: Will man den Markt zu einem Markt zusammenwachsen lassen, so müssen die Grenzen innerhalb des Marktes durchlässiger werden, insbesondere um die Verwirklichung der Grundfreiheiten zu erreichen (Waren, Dienstleistungen, Kapital, Personen).

Es gibt nur eine Handvoll Integrationstheorien, die einen ganzheitlichen Ansatz bei der Erfassung europäischer Integrationsprozesse verfolgen und über Jahrzehnte hinweg rezipiert werden. Hier haben sich die als überholt geltende, aber immer noch einflussreiche Theorie des Neofunktionalismus aus den 1950er und 1960er Jahren durchgesetzt und als Kontrapunkt gewissermaßen die Theorie des Liberalen Intergouvernementalismus, der seine Wurzeln in den 1980er Jahren hat. Die Entwicklung der Vergemeinschaftung von Grenz‑ und Asylpolitik soll aus beiden theoretischen Perspektiven kurz beleuchtet und erklärt werden.1

Die Theorie des Neofunktionalismus stammt aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die sich damit befasste, welche Art der Kooperation (wirtschaftlich, politisch) zur Friedenssicherung bzw. zunächst einmal zur Vertrauensbildung nach den Weltkriegen beitragen könnte (Deutsch 1954; Haas 1958; Mitrany 1944, 1965).

Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges formulierte David Mitrany Möglichkeiten zwischenstaatlicher Kooperation, was als Funktionalismus bezeichnet wurde (Mitrany 1944). Internationalisierungsprozesse förderten demnach die Herausbildung thematisch spezialisierter und suprastaatlicher Organisationen, wie am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deutlich wurde (Mitrany 1965: 119-149).

Ernst B. Haas entwickelte diese Theorie in Bezug auf die europäische Gemeinschaft unter dem Begriff des Neofunktionalismus weiter. Demnach machen Kompetenzverlagerungen von der nationalen auf die suprastaatliche Ebene Sinn, solange das supranationale Zentrum politische Aufgaben besser bewältigen kann als die einzelnen Nationalstaaten (Haas 1958: 238-317). Wirtschaftliche Kooperation wurde als unpolitisch erachtet und daher als besonders geeignet für pragmatische und unideologische Zusammenarbeit eingestuft. Aus der Notwendigkeit, die Ziele der Gemeinschaft in einem begrenzten Bereich zu erreichen, ergab sich in diesem Verständnis gewissermaßen automatisch die Kooperation in sensiblen politischen Bereichen (Haas 1958: 238-317). Dieses Konzept des funktionalen spill-over wurde von Leon Lindberg definiert als eine Situation, in der ein vorgesehenes (Vertrags-)Ziel nur erreicht werden kann, wenn bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, die wiederum die Notwendigkeit für weitere Maßnahmen schaffen (Lindberg 1963: 10). Anders formuliert: Aufgrund von Kooperation in einem Bereich A wird es notwendig in einem Bereich B zusammenzuarbeiten, um die Ziele in Bereich A zu erreichen.

Das Ausstrahlen der Kooperation in einem Politikfeld auf ein anderes, bzw. die Tatsache, dass Kooperation in einem Politikfeld zur notwendigen Zusammenarbeit in einem anderen Politikfeld führt, wird bis heute als spill-over-Prozess bezeichnet und ist ein zentraler Begriff in der Terminologie der Europaforschung.

In dieser Lesart zog die Zusammenarbeit an den Binnengrenzen bald die Kooperation an den Außengrenzen nach sich – jedenfalls die Klärung der Frage, wie damit umzugehen ist, dass das Überschreiten der Außengrenze eines Schengenstaates die Bewegungsfreiheit im gesamten Schengenraum impliziert, woraus unter anderem politische Fragen zur Koordinierung von Asylanträgen entstehen. Daraus wird ersichtlich: Sollen die Ziele eines gemeinsamen Marktes vollumfänglich erreicht werden, so berührt dies mittelfristig auch Politikbereiche wie die Innen‑ und Justizpolitik.

Was den Integrationsprozess im Schengenraum kennzeichnet ist der zunächst bilateral (deutsch-französisch) begonnene, von einer Handvoll Staaten (Benelux) unterstützte Vorstoß für ein Integrationsprojekt, der schließlich als Gemeinschaftsprojekt im Gemeinschaftsrecht verankert wurde.

Das Einwanderungs‑ und Asylrecht ist jedoch spätestens seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht mehr nur ein spill-over