Die große Kokreation - Jascha Rohr - E-Book

Die große Kokreation E-Book

Jascha Rohr

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Beschreibung

Krieg, Macht und Zerstörung bedrohen das menschliche Miteinander. Dieses Buch begründet ein neues Paradigma, das uns Menschen wieder als kreative Weltgestalter begreift. Jascha Rohr bietet als Philosoph, Prozessbegleiter für partizipative und transformative Gestaltungsprozesse und als Governance Designer einen neuen Denkansatz an, der uns und unsere gemeinsame Kreativität befreien will. Seit 18 Jahren ist Jascha Rohr als visionärer Prozesskünstler, praktischer Intellektueller und denkender Aktivist unterwegs. Ihn treibt die Frage um, warum wir unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Und er sucht nach Wegen, den Weltenlauf zum Positiven zu wenden, indem wir gemeinsam kreativ werden: kokreativ. Dazu entwickelt er Ansätze wie die Kokreative Kommune, Governance Design und die Feld-Prozess-Theorie. In diesem Buch lernen wir, wie wir unsere Zukunft selbst wieder in die Hand nehmen können. Jenseits von Fremdsteuerung, Fremdkontrolle und Fremdverschulden. • Methoden, Werkzeuge und Beispiele, wie sich mit Projektarbeit unsere Lebensgrundlagen und Ressourcenvielfalt erhalten und zukunftsfähig entwickeln lassen. • Konkrete Strategien für modernes Verwaltungshandeln, für politische Arbeit, für lokales Engagement, für globalen Aktivismus, persönliche Entwicklung und für die Transformations- und Projektarbeit in Organisationen und Unternehmen. • Fallbeispiele aus dem Global Resonance Project mit Empfehlungen für die eigene Praxis.

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Die großeKokreation

Jascha Rohr

Die große Kokreation

Eine Werkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen

Band 1: Werkzeuge, Kollaps, Vision

Inhalt

Willkommen zur großen Kokreation!

Intro: Das größte aller Projekte

Einen Baum pflanzen

Die Welt retten

Fallbeispiel: Ein Globus voller Dörfer

Oberndorf 

Das Wie ändern 

Den Prozess verstehen 

Ein Dorf neu denken 

Das ändert alles! 

Die Welt als Dorf

Meditation: Von acht auf zwölf Milliarden Menschen

Werkzeuge für die große Kokreation

Intro: Werkzeugmacher eines neuen Paradigmas

Werkzeug 1: Kokreation

Mehr als menschlich

Design mit Seele

Ein anderes Prozessverständnis

Allgemeine und tiefe Kokreation

Werkzeug 2: Felder

Felder definieren

Felder als Metapher und Theorie

Systemtheorien versus Feldtheorien

Werkzeug 3: Prozesse

Felder in der Zeit

Werkzeug 4: Partizipateure

Das Problem mit dem Subjekt-Objekt-Dualismus

Wer oder was sind Partizipateure?

Fraktale Partizipateure und Feldprozesse

Werkzeug 5: Muster lesen

Werkzeug 6: Das Feld-Prozess-Modell

1. Resonanz und Immergenz

2. Transformation und Krise

3. Kokreation und Emergenz

4. Kultivierung und Stabilität

Werkzeug 7: Drei zentrale Denkfiguren

Polylektisches Denken

Fraktales Denken

Holografisches Denken

Werkstatt für die große Kokreation I

Den Entwurf lesen

Werkraum 1: Exponentielles Wachstum und Kollaps

Check-In: Situierung

Meditation: Neuerfindung der Zivilisation?

Thema und Impuls I: Auf welcher Welle reiten wir?

Der Prozess in dem wir uns befinden

»Die große Beschleunigung«

Die große Transformation

Methode und Analyse: Wellenmuster lesen

Kann uns Science Fiction helfen?

Die Exponentialfunktion verstehen

Kann man eine exponentielle Entwicklung überhaupt abbremsen?

Logistisches Wachstum? S-Kurve statt Rakete!

Die Gompertzfunktion: Sind wir das Krebsgeschwür der Erde?

Fundamentalanalyse und technische Analyse

Das Ozonloch: eine Erfolgsgeschichte

Weltbevölkerung und Peak Child

Klimawandel

Was zu tun bleibt

Fallbeispiel: Den Kollaps erkennen

Thema und Impuls II: Die große Kokreation

Leben auf dem Plateau

Du bist hier – wir sind hier!

Methode und Entwurf: Die Cocreators Design Challenge und der Cocreators Imperative

Design Challenges

Die Cocreators Design Challenge

Der Cocreators Imperative

Beginnen wir!

Check-Out: Zivilisation neu erfinden

Werkraum 2: Utopie und Vision

Check-In: Zurück in die Zukunft

Meditation: Die bessere Welt, von der wir wissen, dass sie möglich ist

Wo ist Utopia …

Der Prozess: … und wie kommt man dorthin?

Das Institut für Partizipatives Gestalten

Fragen und Antworten an die kokreative Arbeit

Thema: Eine Utopie vorbereiten

Visionsarbeit

Kokreation ist eine Reise in die Zukunft

Impuls: Evolution und Entwicklung

Kreation und Evolution

Hat Evolution eine Richtung oder ein Ziel?

Entwicklungsmodelle

Thomas S. Kuhn und Paradigmenbrüche

Zivilisatorische Evolution, Kulturtechnik und Kreativität

Fallbeispiel: Frankfurt macht Schule

Modell: Die Gestaltungskette

Die Ringe der Gestaltungskette

Gestaltungstypen

Entwurf und Zweifel: Haben wir eine gemeinsame globale Vision?

Wer hat Angst vor Kokreation?

Cocreators Playbook

Und wie realisieren wir sie?

Check-Out: Von der Vision in die Resonanz

Der nächste Schritt

Outro: Wir stehen noch am Anfang …

Anhang

Dank

Bibliographie

Über den Autor

www.die-grosse-kokreation.net

Dieses Buch begründet ein neues Paradigma, das uns Menschen wieder als kreative Weltgestalter begreift. Jascha Rohr bietet als Philosoph, Prozessbegleiter für partizipative und transformative Gestaltungsprozesse und als Governance Designer einen neuen Denkansatz an, der uns und unsere gemeinsame Kreativität befreit.

Eine offene Denk-, Entwurfs- und Projektwerkstatt für alle, die nicht mehr untergehen wollen.

Für Sonja

Willkommen zur großen Kokreation!

Hallo! Ich bin Jascha Rohr. Ich bin der Autor dieses Buches. Es ist Teil eines Experiments, das ich »Global Resonance Project« genannt habe. Dieses Projekt ist von der Cocreation Foundation finanziert worden.

Das Experiment besteht darin, dass ich mir mehrere Jahre Zeit genommen habe, um mich auf einen Prozess einzulassen. Mein Ziel war es, Resonanz zum globalen Zustand unserer Zivilisation auf diesem Planeten aufzunehmen. Mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse wollte ich einen Entwurf anfertigen: einen Entwurf darüber, wie wir unsere globalen Probleme besser miteinander lösen können.

Ich schlage selbst keine fertigen inhaltlichen Lösungen für unsere Probleme vor. Das fände ich vermessen. Ich bin überzeugt, dass das niemand alleine könnte. Ich schlage stattdessen die Beschreibung des Wie vor, also eines Prozesses. Dieser Prozess hat im Grunde längst schon begonnen und ist unabhängig von mir und dir. Ich bin mir aber sicher, dass er in der einen oder anderen Form kommen und alles andere in den Schatten stellen wird. Es ist ein Prozess, in dem wir miteinander lernen, unsere Probleme ganz anders zu lösen, als wir es bisher versuchen. Mein Entwurf ist ein Beitrag dazu. Ich möchte helfen, diesen Prozess bewusst zu gestalten, damit wir nicht irgendwie in ihn hineinstolpern, uns nicht miteinander verständigen und daraufhin alles verbocken.

In der Gestaltung von Prozessen liegt seit vielen Jahren der Schwerpunkt meiner Arbeit. Ich gestalte Prozesse, in denen Menschen gemeinsam Probleme lösen, um dann ihre Ideen und Entwürfe gemeinsam erfolgreich umsetzen zu können. Den Prozess, für den ich hier einen Entwurf vorlege, nenne ich: »Die große Kokreation«. Sie ist dringend notwendig. Die Alternativen zu ihr sind meiner Meinung nach düster und nicht wünschenswert, denn sie würden bedeuten, dass wir unsere globalen Probleme nicht angehen oder wir unsere Aufgabe schlecht machen – zu schlecht, um zu überleben. Auf diesem Weg befinden wir uns derzeit. Mit der großen Kokreation hoffe ich dagegen, dass wir einen planetaren Prozess beginnen, in dem wir uns miteinander verständigen und ausrichten und mit Kreativität gemeinsam Lösungen für unsere Probleme gestalten. Das Ziel ist nichts Geringeres als die Neuerfindung unserer planetaren Zivilisation.

Damit die große Kokreation gelingt, werden wir eine unglaubliche Zahl »kleiner Kokreationen« erleben: es gilt, alle die unzähligen Prozesse und Projekte in unserem unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumfeld mit anderen Augen zu betrachten und mit einer anderen Haltung anzugehen. Viele von uns haben längst damit begonnen, viele werden noch dazukommen. Dieses Buch richtet sich an alle, die im Kleinen wie im Großen – beruflich, privat, persönlich und gemeinschaftlich – diese neuen zukunftsfähigen und »lebensdienlichen« 1 Projekte entwickeln, ausprobieren und umsetzen sowie damit einen Beitrag zur großen Kokreation und damit zur Entwicklung einer regenerativen, nachhaltigen, friedlichen und lebenswerten Zivilisation in Fülle leisten wollen.

Die zentrale Methode, die ich im Global Resonance Project verwendet habe, um an diesem Entwurf des gemeinsamen Prozesses zu arbeiten, nenne ich – Überraschung! – »Resonanzarbeit«. Sie ist nach meinem Verständnis ein zentraler Schritt in jedem kokreativen Prozess. Wir werden uns im zweiten Band intensiv damit beschäftigen, wie sie funktioniert.

An dieser Stelle nur so viel: Es geht darum, sich methodisch auf so vielen Ebenen wie möglich einem Thema – in diesem Fall dem Zustand unserer planetaren Zivilisation und wie wir ihn positiv verändern können – zu nähern und dieses Thema aus allen möglichen Perspektiven zu beleuchten: mental, emotional, physisch. Resonanzarbeit folgt keiner festen Strategie, sondern ist mäandernd, verknüpfend, assoziativ. Sie stellt vielfältige Verbindungen und Beziehungen her, um Kreativität, Ideen und Innovationen anzuregen. Im Idealfall entsteht daraus am Ende ein kokreativer Entwurf. Genau das versuche ich hier.

Als ich dieses Buch anfing, wusste ich weder, welche Form es haben würde, noch zu welchem Ergebnis ich am Ende kommen würde. Ja, ich wusste noch nicht einmal, ob es mir überhaupt gelingen würde, zu einem Ergebnis zu kommen. Rückblickend würde ich das nicht noch einmal erleben wollen: Es war ein unglaublicher Stress! Aber das Vorgehen hatte eben auch Methode, und in diese hatte und habe ich Vertrauen. Die jetzige Form des Ergebnisses ist vollständig von dieser Methode geprägt. Das Ergebnis ist weder akademisch noch populär, es ist weder fachlich noch literarisch. Der Prozess ist von allem etwas, aber hauptsächlich ist er von Neugier getrieben und investigativ. Er ist integrativ und assoziativ, er ist kreativ und entwurfsorientiert. Er ist ein Angebot zum Selbsterdenken, zum Entwickeln und kritischen Mitgestalten. Ich habe mich lange während des Global Resonance Projects und des Schreibens an diesem Buch gefragt, wie ich das, was dieses Buch ist, nennen soll. Dann wurde mir das Offensichtliche klar: dieses Buch ist ein abstrakter Raum, in und mit dem genau das passiert, was auch in kokreativen Werkstätten passiert. Es bietet die Möglichkeit der Auseinandersetzung in einem Feld – in diesem Fall ist das die planetare Zivilisation –, damit dann aus dem eigenen Impuls heraus und mit den eigenen Potenzialen und Möglichkeiten transformatorische Projekte entwickelt und in die Umsetzung gebracht werden können, sodass am Ende eine reale Veränderung in der Welt entsteht. Das Format eines Buches ist dazu natürlich nur bedingt geeignet, aber es ist eine Initialzündung, auf die noch viele folgen können und hoffentlich folgen werden.

Ich habe dieses Buch alleine geschrieben, hatte dabei aber selbstverständlich viel Hilfe. Viele werden sich vielleicht wundern: Wie kann eine Buch über Kokreation alleine geschrieben werden? Braucht es dazu nicht einen großen Workshop mit vielen Menschen, die am Ende im Konsens über alles gemeinsam abstimmen? Ja und nein! Der Workshop dazu war mein Leben und Umfeld der letzten drei Jahre, und darauf haben unzählige Personen, Orte, Dinge, Veranstaltungen und Ideen einen Einfluss gehabt: bewusst oder unbewusst, mal stärker, mal schwächer, mal konstruktiv und mal in Opposition. Wo immer möglich und relevant, habe ich die Einflüsse und Impulse transparent benannt. Tatsächlich sind viele Aspekte und Teile dieses Buches in Workshops und Projekten mit anderen Menschen entstanden. Nur waren das nicht immer Workshops, um dieses Buch zu schreiben, sondern Workshops mit anderen Zielen: zum Beispiel, um Konzepte zur digitalen Governance von Kommunen zu entwickeln oder neue Demokratiekonzepte für nordafrikanische Staaten zu diskutieren. Oder um Vorschläge zu entwickeln, wie eine nationale Gesetzgebung besser funktionieren könnte.2 Solche Projekte sind ein Teil meines beruflichen Alltags, in dem ich mit Projektteams und Konsortien zusammenarbeite. Ein großer Teil der Gedanken, Konzepte, Modelle und Begriffe zu diesem Buch sind aber auch schon viele Jahre vor dieser Zeit und dem Global Resonance Project entstanden, insbesondere in meiner Zusammenarbeit mit meiner Frau und Partnerin Prof. Sonja Hörster3. Und das ist auch der noch größere Kontext und Hintergrund für dieses Buch und damit die noch größere Werkstatt: meine Arbeit am Institut für Partizipatives Gestalten (IPG), das ich mit Sonja gegründet habe, sowie unsere Arbeit davor mit der Gründung der Permakultur Akademie in Deutschland und der Planungswerkstatt, einem Büro für partizipative Landschaftsarchitektur.4

Seit diesen Anfängen ist sehr viel passiert und hat sich sehr viel entwickelt. Sonja und ich hatten das IPG ursprünglich gegründet, um Menschen zu ermächtigen, miteinander und füreinander bessere Umwelten und eine lebendige, nachhaltige Zukunft gestalten zu können. Mit dem Institut begleiten wir seit vielen Jahren insbesondere Kommunen, also lokale Verwaltungen, aber auch die Politik, zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaftsunternehmen und wissenschaftliche Institutionen, gemeinsam mit den jeweils betroffenen Menschen, Bürger:innen, Mitarbeiter:innen, Mitgliedern, Kolleg:innen und Kund:innen für ihre komplexen Herausforderungen gute Lösungen zu entwerfen und, wenn möglich, auch umzusetzen. Diese Arbeit nennen wir »partizipatives Gestalten«, »entwurfsorientierte Partizipation« oder schlicht »Kokreation«. Das Ziel von Kokreation ist es immer, eine Zukunft vorzubereiten, die nachhaltiger, lebendiger und lebenswerter ist als das, was wir vorgefunden haben.5 Damit das gelingt, reicht es meist nicht, einfach die erstbeste Lösung für ein Problem zu übernehmen und sie als Projekt erfolgreich bis zur Umsetzung zu managen. Um das Gelingen zu ermöglichen, ist so gut wie immer auch ein kultureller Wandel und eine Transformation der Strukturen notwendig, in denen sich die neuen Projekte entwickeln sollen. Man muss sozusagen einen guten Boden bereiten und ein passendes Ökosystem entwickeln, das wussten wir aus der Permakultur. Denn auch das innovativste Projekt geht in einem toxischen Umfeld zugrunde, so wie eine tolle Pflanze nicht in jedem Ökosystem gedeihen kann.

Das heißt für unsere Arbeit: Während die beteiligten Menschen eine konkrete Veränderung für ihre Welt entwerfen, verändern sie sich und ihre Institutionen gleich mit. Sie schaffen die Voraussetzungen für das, was sie eigentlich in die Welt bringen wollen, und umgekehrt. Das ist wirklich Kokreation, und das macht unsere Arbeit so überaus komplex und anspruchsvoll. Gleichzeitig ist sie aber auch abwechslungsreich, herausfordernd, bereichernd und, wenn echte Transformation gelingt, extrem befriedigend, denn dann haben ja auch wir uns transformiert, sind gewachsen und haben uns entwickelt. Wir machen diese Form von Kokreation seit über 19 Jahren, haben in dieser Zeit selbst viele persönliche und kollektive Transformationen erleben dürfen und konnten dabei unsere Ansätze und Methoden immer weiter entwickeln und verfeinern. Ohne dieses Transformationswerkstatt, die wir uns mit unserer Arbeit selbst geschaffen haben, wäre dieses Buch unmöglich gewesen.

Als ich 42 Jahre alt wurde, nach vielen Jahren dieser Arbeit im IPG, kam einer dieser größeren Wendepunkte, die jedes Leben hat. Ich erinnerte mich, dass mein ursprüngliches Interesse als Jugendlicher und später als Student der Philosophie gar nicht der Partizipation, Kokreation oder Demokratie gegolten hatte, sondern dass mich immer eine ganz andere tiefere Frage angetrieben hatte: »Wie konnte es sein, dass wir die einzige Spezies sind, die bewusst ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört?«

Der Grund, aus dem ich überhaupt mit Permakultur, Partizipation und Kokreation angefangen habe, lag ursprünglich in meiner Überzeugung, dass wir die Frage unseres ökologischen Überlebens nur gemeinsam lösen können, wenn wir miteinander lernen, unsere Lebensgrundlagen bewusst zum Besseren zu gestalten. Und mir war immer klar, dass ein rein technisches Wissen nicht ausreichen würde. Ohne eine nachhaltige, regenerative Kultur und ohne die damit einhergehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und materiellen Strukturen, ohne eine entsprechende Governance würden wir keine reelle Chance haben. Andererseits: Hätten wir diese neue Kultur erst einmal auf den Weg gebracht, würde das die Entwicklung nachhaltiger Lösungen exponentiell steigern. Es lag daher nahe, mit der Erfahrung, den Werkzeugen, den Methoden und dem Wissen unserer beruflichen Praxis wieder zu meiner Ursprungsfrage zurückzukehren: »Wie kann es sein, dass wir als Spezies unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören?« Und ich konnte nun ergänzen: »Was kann Kokreation beitragen, dass sich diese Dynamik zum Positiven wendet?«

Es war für mich nach all den Erfahrungen in lokalen Projektkontexten an der Zeit, wieder die planetare Perspektive in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu rücken. So gründete ich mit der Unterstützung von Freund:innen und Kolleg:innen die Cocreation Foundation6, erhielt die notwendige finanzielle Unterstützung und startete das Experiment des Global Resonance Projects, aus dem dieses Buch entstanden ist.

Dieses Buch ist …

•… ein Forschungsbericht des Global Resonance Projects. Es dokumentiert meinen Prozess und die Ergebnisse meiner Resonanzarbeit.

•… eine theoretische und methodische Einführung in Kokreation. Als solche klärt es Begriffe und stellt Modelle vor. Es wagt die große Klammer zwischen philosophisch-paradigmatischer Erläuterung und theoretischer Modellbildung für die Praxis. Ich stelle nicht die detaillierten Methoden der täglichen Arbeit vor. Das hat einen Grund: Methoden werden in kokreativen Prozessen immer kontextspezifisch aus dem Prozess selbst heraus entwickelt. Dazu möchte ich mit diesem Buch befähigen.

•… ist damit auch ein Training durch individuelle Aneignung: Ich zeige Grundhaltungen und -techniken kokreativer Arbeit von der persönlichen und lokalen bis zur planetaren Ebene durch mein eigenes Tun und Denken. Damit lade ich dazu ein, in der eigenen Praxis mit diesen Ansätzen zu experimentieren, zum Beispiel in der Prozessbegleitung, im Verwaltungshandeln, in der politischen Arbeit, im lokalen Engagement, im globalen Aktivismus, in der persönlichen Entwicklung, in der Transformations- und Projektarbeit innerhalb von Organisationen und Unternehmen und in vielen weiteren Bereichen, in denen du aktiv bist.

•… zu guter Letzt eben auch ein erster Entwurf: ein Design oder vielleicht auch erst mal nur eine Sammlung von Entwurfsskizzen aus einer Entwurfswerkstatt – ein erster Aufschlag, ein Moodboard als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen und Prozesse. Ich unterbreite Vorschläge, mit welchen Prozessen wir weitergehen können, wofür es sich zu engagieren lohnt, welche Praxis, welche Formate, welche Räume, welche Governance-Formen und -Strukturen uns jetzt weiterhelfen können, damit » … wir selbst der Wandel werden, den wir in der Welt sehen wollen«.7

Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Die Einleitung ist ein Schnelleinstieg ins Thema: ein erstes Andocken an mein Verständnis von Kokreation, ein konkretes Projektbeispiel, eine gedankliche Hinleitung zu den Mustern lokaler und globaler Transformation.

Das »Werkzeugkapitel« wird eventuell irritieren. Wenn du ein philosophisches Interesse mitbringst und den paradigmatischen Kick suchst, bist du hier richtig. Ich bin Philosoph, und daher halte ich diese Auseinandersetzung mit unserem Weltverstehen und damit, wie es unser Handeln und Gestalten leitet, für fundamental wichtig. Ich habe mich aber bemüht, nicht akademisch zu schreiben, sondern eher so, als säßen wir bei einem Tee oder bei einem Glas Wein beisammen und würden uns inspirierende Gedanken darüber machen, wie wir die Welt anders denken könnten. Warum ich ein philosophisches Kapitel mit »Werkzeuge für die große Kokreation« überschrieben habe? Begriffe und ontologische Modelle 8 sind mächtige Werkzeuge kokreativer Arbeit. Gemäß dem Permakulturprinzip: »Gestalte immer vom Allgemeinen ins Detail«, nehme ich mir hier das Allgemeinste vor, auf dem unsere konkrete Arbeit fußt. Daraus entsteht so etwas wie die Grundkonzeption eines ontologischen Verständnisses, das uns bei der großen Kokreation helfen wird, denn wie sollen wir das Neue gestalten, wenn wir in den alten Begriffen und Modellen denken? Im »Werkzeugkapitel« stelle ich nicht nur neue ontologische Werkzeuge vor, sondern weise auch auf die Notwendigkeit des Werkzeugmachens selbst hin. Ich werbe dafür, dass wir alle Werkzeugmacher:innen werden!

Und dann kommt die eigentliche Substanz des Buches: die Werkstatt, die in Werkräume zu unterschiedlichen Themen unterteilt ist. Das bedarf einer kurzen Erläuterung. Viele Verfahren und Formate unserer Arbeit tragen im Namen die Begriffe »Werkstatt«, »Labor«, »Camp«, »Konferenz« oder ähnliche9. Wir haben uns irgendwann entschieden, unsere kokreativen Verfahren als »Werkstätten« zu bezeichnen. Um innerhalb dieser Werkstätten einzelne Teilveranstaltungen, Räume oder Themenbereiche zu benennen, haben wir den Begriff »Werkraum« eingeführt. So hatte unsere Stadtwerkstatt Berlin-Mitte beispielsweise Werkräume zu den Themen »Verkehrsplanung« und »Gestaltung des Rathausforums«. Die Analogie ist, dass jede größere Werkstatt unterschiedliche Räume hat, in denen unterschiedliche Maschinen stehen, unterschiedliche Materialien (Themen) verarbeitet werden oder unterschiedliche Gewerke ihren Platz finden. Jeder Werkraum hat seine eigene Qualität, seinen eigenen Arbeitsprozess, sein eigenes Material, seine eigene Atmosphäre und seinen eigenen fraktalen Erkenntnis- und Entwicklungsprozess. Gemeinsam ist den Werkräumen, dass sie einen Beitrag zum großen Ganzen der Werkstatt leisten und dass sie Räume sind, in denen Dinge verhandelt, ausprobiert und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht werden. Werkräume sind Orte, an denen kreativ, transparent und offen gedacht, entwickelt, entworfen und ausprobiert wird.

Jede Werkstatt erfordert Regeln und Haltungen, aus denen sich im Laufe der Zusammenarbeit eine eigene Kultur etabliert. Für dieses Buch schlage ich drei Grundsätze vor:

1.Gleiche Augenhöhe und Werkstatt-Du

In kokreativen Werkstätten begegnen wir uns auf Augenhöhe und benutzen das Werkstatt-Du. Das hilft, uns unabhängig von Reputation, Titel, Macht oder Einfluss außerhalb der Werkstatt auf das Wesentliche zu fokussieren: die gemeinsame Intention und der gemeinsame Entwurf. Deswegen spreche ich dich hier mit du an und nenne alle Menschen, mit denen ich direkt zusammengearbeitet habe beim Vornamen, nachdem ich sie vorgestellt habe. Wenn ich über Dritte schreibe, sozusagen außerhalb der Werkstatt, nutze ich den vollen Namen.

2.Potenzialentfaltung ohne Abstimmung

Wenn es unser Anliegen ist, das Beste aus uns allen herauszuholen, dann müssen wir jede:n in seinen und ihren Potenzialen, Perspektiven und Ideen fördern. In einer Werkstatt setzt sich die Idee durch, die ein Problem am besten löst. Daher geben wir uns Raum und fördern uns darin, Dinge auszuprobieren, ins Unreine zu sprechen, zu testen, zu iterieren. Manches, was ich hier schreibe, schreibe ich genau so: ungeschützt, offen und transparent, wie in einem Brainstorming auf der Suche nach der besten Idee. Ich lade in der Auseinandersetzung mit diesem Buch zu einer Haltung ein, diese Ideen mit weiteren Ideen zu beantworten.

3.Transpersonaler Prozess

Das Wertvollste, das wir in eine Kokreation einbringen können, ist unser eigener Prozess, der immer auch den Prozess der Kontexte widerspiegelt, in denen wir uns bewegen. So bearbeiten wir die Welt am effektivsten. Das erfordert von uns allen den Mut, uns transparent zu machen und verletzlich zu zeigen. An vielen Stellen dieses Buches tue ich das. Ich tue das insbesondere auch in Form einer Einladung, es mir gleich zu tun.

In unseren Werkstätten ist es üblich, dass man von Werkraum zu Werkraum schlendern kann. Auch mit diesem Buch kannst du das so halten. Ein Buch hat zwar eine lineare Struktur, dennoch kannst du zwischen den Werkräumen nach eigenem Interesse wandern.

Was wird in den Werkräumen passieren? Die Arbeit in den Werkräumen ist häufig komplex, fraktal, nicht immer vollständig, und das ist auch so gewollt. Die kreative Entwurfsarbeit in Werkstätten ist meist assoziativ und wechselt beständig zwischen Divergenz und Fokussierung. So habe auch ich gedankliche Meditationen in Form kurzer reflexiver Essays, thematische Einführungen zu wichtigen Aspekten globaler Kokreation, Erklärungen und Erläuterungen von Begriffen und methodischen Modellen, Fallbeispiele, Reflexionen meines eigenen Prozesses im Global Resonance Project vorgenommen und in die Werkräume Anregungen und Empfehlungen für die eigene Praxis integriert. Dir selbst ist die Aufgabe der Übersetzungs- und Anpassungsarbeit in deine eigenen Projektkontexte überlassen. Ich bin mir sicher, dass du das sowieso tun wirst, es sei hier aber ausdrücklich gesagt. Es gibt keine Schablonen, aber viel Material zur Aneignung. Arbeite damit so an deinen eigenen Projekten, wie es dir taugt!

Zum Schluss noch ein Lesehinweis: Ich empfehle dir, dieses Buch gemeinsam mit anderen zu lesen, insbesondere, wenn du das Buch nicht nur konsumieren, sondern auf deine eigenen Prozesse und Projekte anwenden möchtest. Warum nicht gleich mit dem eigenen Projektteam lesen? Suche dir außerdem Unterstützung, wenn es durch die Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen zu Krisen und schmerzlichen Transformationsmomenten kommen sollte. Mit diesem Buch teile ich meine Überzeugung, dass Traumata überlebt und Krisen bewältigt werden können. Eine positive Zukunft ist immer möglich, und das Leben ist lebenswert. Die Auseinandersetzung mit den dunklen personalen und kollektiven Aspekten ist ein Teil davon, den wir regenerativ integrieren können. Dafür braucht es einen sicheren Rahmen, für den wir sorgen müssen, bevor wir in die Auseinandersetzung gehen. Schaffe dir diesen Rahmen so, wie du ihn benötigst.

Lass uns jetzt beginnen: Mit einem ganz kleinen und dem wahrscheinlich größten Projekt!

1 Ich habe diesen Begriff von J. Daniel Dahm übernommen: Dahm, J. Daniel, 2019

2 Ich nehme hier Bezug auf Digitalisierung konkret vor Ort im Auftrag des Umweltbundesamtes: Institut für Partizipatives Gestalten, 2022a, die Tunis Innovation in Politics 2021 Conference der Friedrich Naumann Stiftung: Friedrich Naumann Stiftung, 2021 und das Projekt Forwarding a participatory legislative reform in Zusammenarbeit von Cocreation Foundation, Mehr Demokratie e. V., Open Society Foundation unter anderen: Cocreation Foundation, 2023.

3 Sonja ist meine Frau, Geschäfts- und intellektuelle Partnerin. Sie ist Landschaftsarchitektin und mittlerweile, auch dank unserer Arbeit am Institut für Partizipatives Gestalten, Professorin für Partizipation in der Landschaftsarchitektur an der Hochschule Weihenstephan-Triersdorf: Hörster, Sonja, 2021.

4 Institut für Partizipatives Gestalten, 2022b, Permakultur Institut e. V., N. A. und Die Planungswerkstatt.

5 Womit ich immer noch einem Pfadfinder-Code folge, den ich als Jugendlicher wohl tief in mir verankert habe: »Hinterlasse einen Ort immer besser, als du ihn vorgefunden hast«.

6 Michael Pachmajer, Sonja Hörster, Roman Huber, Alistair Langer, Anna Demel, Jennifer Packard, Karde Wirtz, Daniela Becker, Hans Sauer Stiftung, Tomas Björkmann, Nikolaus Rohr, Dorothee Apfeld, Hermann Arnold, Heinz Kaiser, Anna Schätzl, IPG GmbH.

7 Das Zitat wird meistens Mahatma Gandhi zugeschrieben, stammt aber wohl von der New Yorker Autorin Arleen Lorrance: Krieghofer, 2021.

8 Ontologie ist die Lehre vom Sein. Sie geht der Frage nach, wie die Welt beschaffen ist, während die Epistemologie die Erkenntnislehre ist, die danach fragt, was wir wissen können.

9 Klassische Formate aus den Bereichen Partizipation und Innovation sind: Planungswerkstatt, Zukunftswerkstadt, Stadtwerkstadt, Dorfwerkstatt, Entwurfswerkstatt, Bürgerwerkstatt, Barcamp, Reallabor, Stadtlabor, Innovationscamp, Zukunftskonferenz, Open Space Konferenz und viele mehr. Manche dieser haben spezifische Abläufe, viele Begriffe werden heute aber generisch verwendet.

Intro: Das größte aller Projekte

Einen Baum pflanzen

Alles ist immer irgendwie ein Projekt, ganz gleich, ob Hobby, Arbeit, Vorhaben, Maßnahme, Aufgabe oder Tätigkeit. Wenn wir etwas für die Zukunft entwickeln, wenn wir planen, gestalten, bauen, begleiten, umsetzen, Dinge bewegen, etwas besser machen wollen, dann ist es in der Regel ein Projekt, zum Beispiel: einen Baum pflanzen.

Abbildung 1: Projekt Baum.

Ich möchte einen Baum pflanzen, und schon habe ich ein neues Projekt. Ich muss mir überlegen, welchen Baum ich pflanzen möchte, wo ich den Baum pflanzen möchte, zu welcher Zeit es gut ist, ihn zu pflanzen, wie ich den Boden vorbereiten sollte, welche Werkzeuge und welche Hilfe ich dafür benötige. Ich muss mir auch überlegen, wo ich den Baum herkriege, wie ich ihn transportiere und wie ich ihn pflege, damit er gut anwächst. Was eben noch ein einfacher Entschluss war, einen Baum zu pflanzen, ist kurze Zeit später ein vollständiges Projekt.

Ich gehe aus der Tür unseres Hauses in Richtung des Wendeplatzes der kleinen Straße, an der unser Haus steht, suche mir ein schönes Fleckchen im Vorgarten, in der Nähe zum Zaun meines Nachbarn und zu dessen Einfahrt, entscheide mich innerlich für eine Buche und überschlage die Kosten. Es müsste in diesem Monat noch genug in der Haushaltskasse sein, um den Baum, den Transport, die Werkzeuge und etwas guten Boden kaufen zu können. Während ich in meinem Vorgarten stehe, kommt mein Nachbar von der Straßenseite gegenüber vorbei und grüßt mich aus dem Auto: »Jascha, was hast du vor?« Ich berichte ihm von meiner Idee, einen Baum zu pflanzen. »Tolle Idee!«, sagt er. »Aber hatten wir nicht letzten Sommer darüber nachgedacht einen Baum hier auf dem Wendeplatz zu pflanzen und einen Grillplatz für die Nachbarschaft anzulegen?« Stimmt, ich erinnere mich, darüber hatten wir tatsächlich mal in einer lauen Sommernacht nach etwas Bier und einem gemeinsamen Picknick mit den Nachbar:innen gesprochen. Wir hatten an dem Abend unsere kleine Gemeinschaft an dieser Straße genossen und davon geträumt, den hässlichen Wendeplatz zu begrünen und zu einem Ort für die Nachbarschaft zu machen. Das war eine schöne Idee gewesen, aber niemand hatte sie damals weiterverfolgt. »Lass uns das Projekt von damals doch wieder aufgreifen«, schlägt mein Nachbar vor, »wenn du eh schon dabei bist, einen Baum zu pflanzen.« Ich reagiere verhalten. Ich wollte nur mal kurz einen Baum in meinem eigenen Vorgarten pflanzen. Jetzt könnte schnell ein längeres Projekt mit anderen daraus werden. Darauf habe ich gerade weder Lust noch habe ich die Zeit. Und beim Baum pflanzen würde es auch nicht bleiben. Wir müssten dann erst einmal einen Termin mit allen Nachbarn finden, wir würden einen Plan machen, uns regelmäßig zusammenfinden, Geld einsammeln müssen. Wahrscheinlich würde es bei einem Baum nicht bleiben. Es würden wahrscheinlich Wünsche nach einer Feuerstelle, einem Pizzaofen, einem Grill, einer Bank mit Tisch, nach einer Lichterkette, einer Schaukel laut werden. Wir würden uns auseinandersetzen und Entscheidungen treffen müssen. Ich zucke die Achseln und sage: »Ja, vielleicht, lass mal einen Termin machen.« Insgeheim habe ich die Hoffnung, dass ich jetzt in Ruhe gelassen werde und mein Nachbar unser kleines Gespräch vergisst. »Ok«, sagt er: »Ich komme Dienstag Abend, um alles Weitere zu besprechen. Warte doch bis dahin mit deinem Baum, sonst haben wir nachher zwei große Bäume zwischen unseren Häusern, die sich Licht und Platz wegnehmen. Und es soll am Ende ja auch gut aussehen!« Und damit fährt er weg. Während in mir das vage Gefühl aufsteigt, dass ich die Kontrolle über meinen Baum und mein kleines Projekt verliere, kommen meine Kinder nach Hause. »Was machst du da?«, fragen sie mich. Es kommt selten vor, dass ich verloren im Vorgarten stehe. »Ich will einen Baum pflanzen«, sage ich, jetzt schon etwas unsicherer in der Stimme. »Toll«, rufen sie, »ist der groß genug, um darauf zu klettern? Können wir ein Baumhaus bauen? Hat der Früchte? Ich will Kirschen! Ich fände Äpfel besser!« Bevor ich etwas erwidern kann, sind sie weg. Kurz darauf kommt mein Nachbar jenseits des Zauns aus seinem Haus, um den Rasen zu mähen. Er gibt mir zu verstehen, dass er sich einen Baum überhaupt nicht vorstellen kann. Dann würden Blätter, eventuell Obst und Äste auf seine Auffahrt und seinen Rasen fallen. Wer macht die dann weg und haftet für eventuelle Schäden an seinem Auto? Zudem habe seine Frau eine Bienenallergie und daher wäre es ihm lieber, wenn ich gar nichts pflanzen würde, was Bienen anzieht. Ach ja, Schatten möchte er auch nicht, sonst vermoost sein Rasen. Kaum hat er das gesagt, kommt meine Partnerin gestresst von der Arbeit nach Hause. Sie ist wütend: »Ich habe es satt! Die Benzinpreise sind schon wieder gestiegen, die verdammten Energiekonzerne haben die Kosten erhöht, und es wird Zeit, dass wir mehr für die Umwelt tun. Wir haben doch schon lange vor, eine eigene Photovoltaikanlage aufs Dach zu bauen. Dann können wir auch unser Auto verkaufen und ich fahre mit einem E-Bike zur Arbeit.« Während sie das sagt, sehe ich vor meinem inneren Auge, wie das Budget zum Bäume pflanzen für mindestens die nächsten zwei Jahre auf Null sinkt und ein weiteres, noch größeres Projekt auf mich zurollt. Ich fühle mich entmutigt, frustriert und komplett ausgepowert. Zwei Stunden habe ich im Vorgarten gestanden, mit Menschen gesprochen, ich habe potenziell zwei neue große Projekte auf meine To-Do-Liste bekommen, sehe Ärger mit dem einen Nachbarn aufziehen, werde den anderen enttäuschen müssen und die Kinder wahrscheinlich auch. Mir fehlt es plötzlich an allem: Zeit, Ressourcen, Motivation. Der schöne Nachmittag ist im Eimer. Die Tatkraft und die Aufbruchstimmung auch. Sollen die sich doch alle um ihren eigenen Mist kümmern. Mein kleines Projekt, mit dem ich mir und anderen eine Freude machen und etwas Gutes tun wollte, ist komplett aus dem Ruder gelaufen. Ich habe nichts erreicht und kann diesen Nachmittag nicht mit einem Ergebnis feiern.

Irgendwie hatte ich gedacht, ich könnte selbstständig eine Entscheidung treffen, etwas Eigenes umsetzen und hätte dabei nur ein paar kleine logistische Fragen zu lösen. Ein befriedigendes, schönes Projekt, dass sich in ein bis zwei Nachmittagen umsetzen ließe. Doch plötzlich hat dieses Projekt soziale, ästhetische, ökologische, ökonomische und politische Dimensionen angenommen.

Wer bezahlt für den Baum und das Pflanzen? Hat der Baum einen größeren oder geringeren ökologischen Nutzen im Vergleich zur Photovoltaikanlage hinsichtlich der zu investierenden Mittel? Was hat Priorität: der Baum, der Nachbarschaftsplatz oder die eigene Stromautarkie? Wen muss ich eigentlich in meine Entscheidung miteinbeziehen, und wie werden die Entscheidungen am Ende getroffen? Was machen wir, wenn sich keine gemeinsame Lösung findet? Wer vermittelt im Konfliktfall? Wer setzt sich durch? Gibt es eigentlich irgendwelche Gesetze oder kommunale Bestimmungen zum Pflanzen von Bäumen? Darf der Baum überhaupt im Vorgarten stehen? Muss da nicht die Feuerwehr Zugang zum Haus haben, und laufen nicht vielleicht Kabel oder Rohre genau an der Stelle, die von den Wurzeln beschädigt werden könnten?

Abbildung 2: Projekt Baum im Kontext.

In dem Moment, wo ich beginne, mit anderen über mein Projekt zu sprechen, haben alle was zu sagen, haben alle eine Meinung und Bedenken oder gute Vorschläge und vermeintlich viel bessere Ideen als ich. Lebte ich alleine, ohne Nachbar:innen, Familie, Gemeinschaft … dann könnte ich einfach einen Baum pflanzen. Nun habe ich ein Projekt, an dem unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichen Rechten, Bedürfnissen, Ideen, Auffassungen und Meinungen beteiligt sind und beteiligt werden wollen. Alle haben ihre Eigenarten und ihre Geschichte, alle bringen ihre Verletztheit, aber sicherlich auch ihre Potenziale und Stärken mit. Sie sind mitnichten alle gleich und können daher auch nicht gleich behandelt werden. Sie wollen aber trotzdem als Menschen gleich ernst genommen und beteiligt werden. Hat meine Familie auf unserem Grundstück mehr zu sagen als unsere Nachbarn? Meine Partnerin mehr als die Kinder? Können die Kommune und der Staat uns allen Vorschriften machen? Und sollte ich nicht trotzdem auch diejenigen fragen, die eigentlich keine Rechte bei uns auf dem Grundstück haben, damit sie unsere Freunde bleiben und nicht zu Feinden werden? Könnte es eine Lösung geben, an der sich alle beteiligen und die für alle gut wäre? Oder wäre immer jemand am Ende verärgert oder enttäuscht? Und was ist, wenn meine Nachbarn plötzlich bei sich auf dem Grundstück Dinge tun wollen, die mir nicht gefallen? Wäre ich dann nicht auch froh, gefragt zu werden? Aber könnte ich darauf bestehen?

Abbildung 3: Projekt Baum im größeren Kontext.

Während ich ins Bett gehe, wünschte ich, ich wäre Diktator unserer kleinen Nachbarschaft. Dann könnte ich bestimmen, was richtig wäre, und die anderen hätten die Probleme und müssten die Arbeit tun. Alle Projekte würden schlicht top-down organisiert. Oder ich wäre einfach so reich, dass ich alle Häuser der Straße aufkaufen und nur die Nachbarn zur Miete wohnen lassen könnte, die meine Meinung teilen. Ich schlafe unruhig und mit schlechten Träumen ein, wissend, dass auch ich eigentlich in einer solchen Welt nicht leben wollen würde.

Die Welt retten

Bis zum Morgen habe ich mich wieder abgeregt und bin klarer im Kopf. Ich beschließe, alle Nachbar:innen in der nächsten Woche zu einem kleinen Gespräch einzuladen, ihnen mein Vorhaben zu erläutern und auch noch mal alle zu fragen, ob sie Lust hätten, gemeinsam unsere Straße zu gestalten und, ja, warum nicht, den Wendehammer zu einem Gemeinschaftsplatz umzugestalten. Am Ende, wenn ich alle gehört habe, würde ich über den Baum in unserem Vorgarten gemeinsam mit der Familie eine Entscheidung treffen. Ich habe dann wenigstens alle Meinungen gehört, abgewogen und guten Willen gezeigt. Mitentscheiden lassen möchte ich die anderen außerhalb der Familie aber nicht. Und vielleicht führt das Treffen ja dazu, dass wir uns mal wieder gemeinsam darüber verständigen, wie wir eigentlich in unserer Straße leben wollen, und vielleicht haben wir es nachher etwas schöner, gemeinschaftlicher, grüner und insgesamt harmonischer.

Zugegeben, mein Projekt ist damit nochmal etwas größer geworden, aber am Ende habe ich wahrscheinlich mehr bewegt und mir weniger Stress eingehandelt, als wenn ich eigenmächtig gehandelt hätte. Im Grunde ist das ja mit allen Projekten so – auf der Arbeit, in der Familie, unter Freunden, im Dorf, in der Stadt, im Land. Immer müssen wir die gleichen Fragen miteinander klären. Wie wollen wir in Zukunft miteinander leben? Was wollen wir unternehmen, dass es besser wird? Wer hat die guten Ideen und arbeitet sie aus? Wer trifft die Entscheidungen? Wer macht die Arbeit und wer finanziert das Ganze? Wird die Welt damit wirklich besser oder sind nur die Interessen Einzelner berücksichtigt? Haben wir auch an die Umwelt, die Natur, die zukünftigen Generationen gedacht? Sind alle Aspekte, Themen, Konflikte und Optionen bedacht? Tragen wir mit dem Projekt zu mehr Freiheit, Frieden, Schönheit, Gerechtigkeit und zu einer guten Zukunft für alle bei? Das alles sind im weitesten Sinne Governance-Fragen, also Fragen danach, wie wir uns regieren, organisieren und wie wir als Gesellschaft unser Zusammenleben strukturieren wollen. Wenn wir das so machen, dass alle gemäß ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten, und ja, auch ihrer Interessen einbezogen werden und miteinander ihre Zukunft gestalten, dann nennen wir es Kokreation. Die Art und Weise, wie wir uns als Gruppen und Gesellschaften, ja als Zivilisation so organisieren, dass wir möglichst immer kokreativ unser jetziges und zukünftiges Zusammenleben gestalten, heißt kokreative Governance.

Mit Blick auf all die Herausforderungen, vor denen wir als planetare Zivilisation stehen, bin ich der Überzeugung, dass wir es auch in diesem Fall mit einem Projekt zu tun haben. Es ist das Projekt zur Gestaltung unserer gemeinsamen Welt und der Rettung des Planeten. Dieses läuft gerade gewaltig aus dem Ruder. Wir befinden uns in diesem Projekt in der Phase, in der ich bei meinem Baumprojekt nach all den Gesprächen völlig verwirrt, verärgert, frustriert und hilflos im Garten stehe. Das Risiko ist hoch, es steht alles auf dem Spiel, die Zeit ist knapp, und es gilt, acht Milliarden Menschen zu beteiligen. Aber der Frust bringt uns nicht weiter. Ich bin der Überzeugung, dass wir auch dieses Projekt nur kokreativ bewältigen können. Das, was da gerade auf uns als Projekt zukommt, nenne ich die große Kokreation, und ich bin überzeugt davon, dass wir sie feiern werden!

Abbildung 4: Projekt Welt retten.

Fallbeispiel: Ein Globus voller Dörfer

Ein Dorf ist ein Mikroglobus. Es ist die nächste Ebene der Organisation menschlicher Gemeinschaften, die nach der Nachbarschaft und der Straße kommt. Das Dorf ist auch die erste Gemeinschaft, in der – zumindest idealerweise – alles vorhanden ist, was das Überleben menschlicher Gemeinschaften ausmacht: Wohnen, Leben, Arbeiten, Produktion, Kultur, Sport, Politik, Infrastruktur, Daseinsvorsorge. Hinzu kommen Konflikte, Zusammenarbeit, gemeinsames Feiern und gemeinsames Trauern, Krisen, historische Erfahrungen und Zukunftshoffnungen, Liebe, Glück und das gute Leben, aber auch Feindschaften, Hass, Missgunst, Kämpfe um Ressourcen, politische Ränkespiele, Hierarchien, Macht und Anerkennung. Es gibt so etwas wie eine von Bräuchen, Orten und Landschaften geprägte gemeinsame Identität. Wie überall zeigen sich auch hier individuelle Unterschiede in Religion und Ausbildung, Hobbys und Interessen, Lebensweisen und politischen Ansichten. Die gesellschaftlichen Muster und Rollen, die wir im Dorf finden, finden wir auch in der Region, in einem Land und schließlich global wieder. Die individuellen Unterschiede können noch so vielfältig sein, im gesellschaftlichen Zusammenleben und -wirken, in der Governance, gibt es immer diese fraktalen, sich wiederholenden Muster, die wir in allen gesellschaftlichen Systemen in unterschiedlichen Ausprägungen wiedererkennen können. 

Auch wenn uns die digitalen Kommunikationstechnologien scheinbar grenzenlose Austausch- und Kontaktmöglichkeiten eröffnet haben, dürfte sich der Kreis der engeren und dauerhaften Kontakte fürs Individuum nicht großartig verändert haben. Kannte man früher vielleicht 50 Leute gut und stand in entfernter Beziehung zu 300 weiteren, so sind diese Kontakte heute eventuell über die ganze Welt verstreut, rein zahlenmäßig aber sicher nicht wesentlich anders. Auch wenn wir viele Freunde und Follower in den Social Media haben, ist die Intensität des direkten Austauschs und seine Kontinuität weniger durch die Technik als durch die individuell zur Verfügung stehende Zeit und das jeweilige Interesse bestimmt. Und so wie sich im Dorf Einfluss, Gestaltung und Durchsetzungsmacht bei politischen (Bürgermeister:in), wirtschaftlichen (Unternehmer:innen, Landwirt:innen, Grundbesitzer:innen) oder religiösen Führungspersönlichkeiten (Pastor:innen, Imame, Rabbiner:innen) konzentrieren, kommen sie im Globalen entsprechend bei den Präsident:innen der großen Staaten, den mächtigen Wirtschaftsbossen und Megareichen oder auch beim Papst oder dem Dalai Lama zusammen. Auch soziale Dynamiken, Konflikte und Entscheidungen folgen im Kleinen wie im Großen ähnlichen Mustern. Häufig denken wir, dass globale Belange in jeder Hinsicht größer dimensioniert oder vielleicht auch ganz anders sein müssten. Tatsächlich erweist sich die Art und Weise, wie wir Konflikte lösen und Zukunft gestalten, also wie wir unser gesellschaftliches Zusammenleben organisieren und politisch handeln, im globalen Rahmen als nicht sehr viel komplexer, ausgereifter oder grundsätzlich anders als im dörflichen Zusammenhang. Im Gegenteil scheint mir manchmal die Vermutung nahe liegend, dass die globale Politikarena gegenüber lokalen Politik- und Kommunikationsformen weniger fortschrittlich ist und antiquierte Verhaltensmuster voraussetzt, die man sich lokal nicht mehr erlauben könnte. 

Im Grunde sind nicht nur die Muster vergleichbar, es gibt auch einen Wirkzusammenhang von Lokalem und Globalem und eine Wechselseitigkeit. Was sich als Trends in den lokalen Gemeinschaften durchsetzt, treibt globale Trends an, und das, was global passiert, wirkt sich bis in den Alltag der Dörfer aus. Megatrends, wie Bevölkerungsentwicklung, Klimawandel und Digitalisierung, sind über die gesamte Spanne von der lokalen zur globalen Ebene eng miteinander verknüpft. Das Dorf ist eine menschliche Schicksalsgemeinschaft, die Prüfungen zu bestehen und Aufgaben zu lösen hat. Sie muss sich die Grundlagen für ein gutes Leben schaffen und den Frieden in der Gemeinschaft sichern, für einen stabilen Wohlstand sorgen sowie die Daseinsvorsorge in allen Lebensbereichen organisieren. Sie hat aber auch den Wandel zu gestalten, muss sich anpassen, verändern und erneuern, wenn Zeit und Umstände es erfordern. Das Gleiche gilt für unsere planetare Zivilisation. 

Dem Anschein nach gelingen solche Prozesse den zahlenmäßig kleinen Gemeinschaften häufig besser als der globalen Weltgemeinschaft. Das Dorf ist in seiner Sozialstruktur für uns Nahbereich, wir sind unmittelbar betroffen von unserem Handeln und unseren Entscheidungen. Wir können diesen Bereich überblicken und gestalten, die Auswirkungen sind für uns konkret sichtbar und spürbar. Leider lassen sich aber viele lokale Probleme nicht lösen, wenn diese nicht auch auf planetarer Ebene gelöst werden. Vielleicht findet auch deswegen hier ein langsamer Wandel in unserer Aufmerksamkeit statt. Mein Eindruck ist, dass uns globale Themen mittlerweile in existenzieller Hinsicht immer näher rücken und wir oft mehr über das Rindfleisch aus Argentinien wissen als über die Lebensbedingungen der Tiere beim Landwirt nebenan. Beides lässt sich zum Beispiel über unsere Kaufentscheidungen beeinflussen, und somit wirkt sich auch lokales Handeln global aus, wenn es zum Trend wird.

Ich möchte einen solchen Mikroglobus vorstellen: eine ganz eigene Welt mit einer ganz eigenen Identität und gleichzeitig ein Dorf wie viele andere auch. Diesem Dorf ist etwas gelungen, das jede soziale Gemeinschaft – egal ob Dorf, Großstadt, Nation oder die globale Zivilisation – einmal bewältigen muss. Jede Gruppe erreicht irgendwann den Punkt, an dem sie sich aufkommenden Krisen stellen und sich transformieren muss. Manchen gelingt das gut, und sie schaffen es, eine neue Phase in ihrer Geschichte einzuleiten. Andere scheitern daran, reiben sich auf und verschwinden für immer. Viele lavieren sich durch und schaffen es irgendwie, weiterzuexistieren – keine berauschende Aussicht, aber auch keine Existenzgefahr.  

Das Dorf ist deshalb hier von Interesse, weil die Menschen es dort geschafft haben, sich den Herausforderungen ihrer Gemeinschaft zu stellen, sich damit auseinanderzusetzen, sich zu entwickeln, kurz: sich ihre Zukunft kokreativ zu erarbeiten. Es wurde sehr vieles richtig gemacht, und selbst da, wo Fehler gemacht wurden oder Dinge nicht gelungen sind, ist die Dorfgemeinschaft ihren Weg gegangen. Sie hat sich ihrem Prozess gestellt und mit außergewöhnlicher Kreativität, Innovationsfreude, Risikobereitschaft und engagierter Kooperation Dinge bewegt. 

Oberndorf 

Sonja und ich hatten gerade das Institut für Partizipatives Gestalten gegründet. Aus der ökologischen Planung, dem Permakultur-Design und der partizipativen Landschaftsarchitektur kommend, wollten wir mit dem neuen Institut Menschen unterstützen, gemeinsam eine lebendige und nachhaltige Zukunft zu gestalten. Wir suchten nach Möglichkeiten, ins Arbeiten zu kommen und unsere methodischen Konzepte und Ideen auszuprobieren. Sonja wurde bei dieser Suche auf die Dorferneuerung aufmerksam, also die staatlich geförderten Programme zur zukunftsweisenden Erneuerung und Anpassung der Dörfer als Wohn-, Arbeits-, Sozial- und Kulturraum. Voraussetzung für eine Teilnahme an den Programmen ist ein sogenannter Dorfentwicklungsplan, der mit Unterstützung eines Planungsbüros erstellt und dann zur Prüfung eingereicht werden muss. In diesem Wettbewerb, der heute unter dem Slogan »Unser Dorf hat Zukunft« läuft, sind mittlerweile auch Fördermaßnahmen aus den Bereichen Klimawandel, demografische Entwicklung, Wirtschaft und Soziales enthalten. 

Auf dieser Suche stieß Sonja auf Oberndorf/Oste, eine Gemeinde im Landkreis Cuxhaven, deren Bevölkerung bereits durch ihr öffentliches Engagement, ihre Kreativität und besonderen Ideen aufgefallen war. Zu dieser Zeit hatte Oberndorf mit einigen Problemen zu kämpfen, unter anderem mit dem drohenden Verlust einer eigenen Gemeindevertretung und damit eines eigenen Haushalts durch vergangene und geplante Gemeindefusionen. Im Zuge dessen sollte auch die örtliche Schule geschlossen werden, was absehbar eine Verödung des Ortskerns und des öffentlichen Lebens zur Folge hatte. Gefragt waren also neue Impulse für die Gemeinde, für den Erhalt von wichtiger Infrastruktur und für eigenständige wirtschaftliche Perspektiven.  

Wir beschlossen, uns um die Begleitung einer Planerstellung zur Dorferneuerung zu bewerben. Da die Oberndorfer selbst bereit waren, die Dinge anders anzupacken und Neues auszuprobieren, und es auch vom zuständigen Amt für einen etwas anderen Entwicklungsprozess grünes Licht gab, bekamen wir den Zuschlag. 

Das Wie ändern 

Ein üblicher Dorferneuerungsprozess folgt einem eingeübten Verfahren, das heißt, es ist vorgegeben, wie man zu einem Ergebnis kommt. Das Dorferneuerungsverfahren bestand bis dato vor allem aus einer Abfolge von Bürgerversammlungen und Arbeitsgruppen. Dort werden Themen oder Maßnahmen vorgeschlagen und diskutiert, um anschließend von den beauftragten Planer:innen aufbereitet und in einen Dorfentwicklungsplan gefasst zu werden.  

Im schlimmsten Fall führt dieses Vorgehen zu einem Wunschkonzert: Alle äußern ihre Wünsche, und es wird doch nur darüber verhandelt, welche Wünsche in welchem Umfang im Rahmen des vorhandenen Budgets umgesetzt werden können. Dass auf diese Weise eine wegweisende Zukunftsperspektive, eine gemeinsame Strategie, ein positiver Wandel nicht entstehen kann, darüber geben viele Dorfentwicklungspläne trauriges Zeugnis ab. Wir dagegen sahen unsere Rolle und Aufgabe als Planer:innen keinesfalls darin, einen bunten Strauß an zum Teil völlig disparaten Wünschen schön zu arrangieren oder gar überzeugen oder missionieren zu müssen. Vielmehr ging es uns darum, die Oberndorfer darin zu unterstützen, die für ihr Dorf relevanten Inhalte und Themen selbst zu erarbeiten, um auf dieser Grundlage in die Gestaltung einer besseren, nachhaltigen Zukunft zu kommen. Wir wollten ergebnisoffen arbeiten, eine Plattform für zukunftsweisende Ideen bieten und alles an Innovation und Kreativität fördern, was in Oberndorf möglich war. All das war über die herkömmlichen Bürgerversammlungen und Arbeitskreise aber kaum zu erreichen. So mussten wir damit beginnen, das Wie zu ändern. Wir mussten ein neues Verfahren mit neuen Formaten und ermächtigenden, kreativen Methoden entwickeln, um ergebnisoffen, zukunftsorientiert und einfallsreich miteinander arbeiten zu können. 

Die Bürgerversammlungen waren in diesem Verfahren allerdings vorgegeben und konnten nicht verändert werden. Deswegen reduzierten wir sie auf ihre Kernfunktion, nämlich den Rahmen für die Präsentation von Zwischenergebnissen und das formale Einsammeln von Rückmeldungen aus der Bevölkerung zu bieten. Gleichzeitig entwickelten wir die Arbeitskreise zu dem Format, das später das Oberndorfer Forum werden sollte. Jedes Forum widmeten wir einem Transformationsthema, wie Landwirtschaft, Wirtschaft, Klima, Nachhaltigkeit, Innenentwicklung und Soziales.

Räume und ihre Gestaltung entscheiden fundamental über die Art und Weise, wie wir miteinander arbeiten und kommunizieren. Für die Arbeitskreise in Dorferneuerungsprozessen sind gewöhnlich öffentlich zugängliche Räume, wie Gaststätten, Schulen, Veranstaltungshallen und ähnliches, vorgesehen, die mit der immer gleichen Vereinsbestuhlung bestückt werden: ein Tisch als Stirnseite für ein Präsidium und im rechten Winkel dazu lange, oft auch zum geschlossenen Rechteck gestellte Tischreihen für das teilnehmende »Publikum«. Die vorsitzende Leitung erteilt das Wort und strukturiert die Diskussion, alle übrigen müssen sich zu Wort melden, um ihre Beiträge zur vorbereiteten Themenliste einzubringen.

Auch dieses Wie mussten wir für unsere Zwecke ändern. Was wir brauchten, war eine Bestuhlung nach Art einer Agora. Dieses Rund fordert gewissermaßen auf zum Austausch unter Gleichen, die zunächst alle Beiträge – ob in der Sache mehrheitsfähig oder nicht – zulassen und sich damit beschäftigen. Um Einzelaspekte und -themen dann eingehender konkret bearbeiten zu können, haben wir zusätzlich separate Arbeitsbereiche für Kleingruppen eingerichtet.  

Derselben Grundidee, die zur Einrichtung des Raums als Agora und als Werkstatt führte, folgten wir auch beim Ablauf des Forums. Den Auftakt einer Versammlung machte eine Begrüßungsrunde mit anschließendem Austausch von Neuigkeiten – dies nicht nur zur Betonung des Gemeinschaftsgefühls, sondern auch, um alle schlicht auf den neusten Informationsstand zu bringen. Dem Einstieg folgte ein Impulsvortrag, der ins jeweils vereinbarte Thema einführte und eine Präsentation dazu passender spannender Innovationen und Projekte aus anderen Dörfern und Regionen bot. Darunter waren Dorfladenkonzepte, Tauschringe und Nachbarschaftshilfe, Bürgergenossenschaften, Bürgerbusse und vieles mehr. Das war gewissermaßen ein Hinweis auf das, was möglich ist, und ein Beleg dafür, dass sich viele Menschen bereits auf den Weg in ihre Zukunft gemacht hatten.

Anschließend führten wir in passgenaue Methoden ein, um den Teilnehmenden zu selbständigem und kreativem Gestalten und Entwerfen von Ideen zu verhelfen. Zu den von ihnen verfolgten Ideen und Projekten fanden keine Abstimmungen statt, es wurde alles, was an Ideen, Kraft und Motivation vorhanden war, aufgenommen und weiterverfolgt. Die meisten Ideen und Projekte entstanden auf diese Weise im Forum, das sich zum Rückgrat des gesamten Prozesses ausbilden sollte und bis heute existiert. Fast unnötig zu sagen, dass sich auch in einer Forumssitzung der alles entscheidende Moment für die Transformation Oberndorfs ergab.

Da das Forum nicht genug Zeit lässt und auch gar nicht als Rahmen für detaillierte Projektentwicklung und Durchführungsfragen konzipiert ist, ergänzten wir es durch sogenannte Dorfwerkstätten. In mehrtägigen kreativen Zusammenkünften wurden hier Konflikte geklärt, Lösungen entwickelt, Pläne gezeichnet, Modelle gebaut, Geschäftsmodelle konzipiert und Aktionen geplant. Hier schrieben die Oberndorfer ihren eigenen Dorfentwicklungsplan.  

Den Prozess verstehen 

Das neue Verfahren war also eingeführt. Jetzt war die Frage, wie genau wir die Oberndorfer bei ihrer Transformation unterstützen konnten. Klar war, dass sich Entscheidendes verändern musste. Was und wie – das galt es herauszufinden. Es war für uns das erste Mal, dass wir unser Modell für kokreative Transformations- und Gestaltungsprozesse – das Feld-Prozess-Modell – vorstellen und zur Anwendung bringen wollten.

Abbildung 5: Feld-Prozess-Modell.

Ich nutzte die erste Dorfwerkstatt, um das Modell einzuführen, unser Vorgehen transparent zu machen und klar darzulegen, was wir uns von einem gemeinsamen Entwicklungsprozess versprachen. Anhand einer aufgezeichneten dreidimensionalen Spiralblase – von da an unser standardmäßiges Demonstrationsobjekt – erklärte ich die vier Phasen, die für den bevorstehenden Prozess mit offenem Ende zu durchlaufen sind.

In der ersten Phase, der Phase der Resonanz beziehungsweise des Eintauchens ins Feld, geht es darum, sich aus dem Ist-Zustand heraus vorzubereiten auf den Weg ins noch Unbekannte. Hierfür müssen alle relevanten Themen, Fragen, Konflikte, Probleme und Herausforderungen gesammelt und zudem alle vorhandenen Ideen und Visionen gesichtet und diskutiert werden. Ziel ist es, herauszuarbeiten, worum es im Kern gehen soll. In diesem Fall waren die zentralen Fragen, was es heute bedeutet, Oberndorfer:in zu sein, was es in Zukunft bedeuten könnte und welche Pfade dorthin wünschenswert, notwendig und für alle gangbar sind. Es sollte also ein gemeinsames Verständnis und ein gemeinsames Gefühl entwickelt werden, was im Moment wichtig ist und wo Beziehungen und Verbindungen herstellbar sind. Je besser das gelingt, desto intensiver wird der Prozess und desto schneller wird er an kritische Punkte führen, die alle Beteiligten miteinander durchleben müssen. Ganz so, als liefe alles geradewegs auf einen dunklen Tunnel zu, der ins Unbekannte führt, von dem die Beteiligten maximal eine Ahnung, aber kein gesichertes Wissen haben.  

Dieser Tunnel markiert die zweite Phase, die sogenannte Krise. In ihr werden die Beteiligten sich aufkommenden und zu lösenden Fragen, Aufgaben, Konflikten und Schwierigkeiten stellen müssen. Sie werden vielleicht erleben, dass sich vieles schwieriger gestaltet als zunächst gedacht. Alte Verletzungen und aktuelle Interessenskonflikte werden auftauchen, Ressourcen fehlen oder Ideen an der Realität scheitern. Möglicherweise gilt es, schwierige Entscheidungen zu treffen und gewohnte Dinge zu verändern, Wünsche und Vorstellungen aufzugeben und vielleicht für immer zu verwerfen, Ängste zu überwinden, liebgewonnene Wahrheiten über Bord zu werfen und Verhalten zu ändern. Diese Phase, in der es eng und unangenehm werden und der Druck hoch sein kann, ist die Voraussetzung für eine echte Transformation – für den echten Übergang vom alten zum neuen Ort. Ist der Tunnel aber erst einmal durchschritten, öffnet sich der Blick wieder und erfasst neue Horizonte und Möglichkeiten. 

Die dritte Phase, die Phase der Kokreation, beginnt gewissermaßen im Unbekannten am anderen Ende des Tunnels. Diese Phase ist die Belohnung für eine anstrengende Reise, sprich die vollzogene Transformation. Der ausgehaltene Blick in eigene Abgründe, die bearbeiteten Konflikte und gefassten Entscheidungen, der Mut und das Vertrauen ins Neue und der feste Entschluss, dieses Neue zu wagen und auszuprobieren, erlauben es jetzt, dieses aufkommende Neue aktiv mit viel Fantasie und Kreativität mitzugestalten. Neue Entscheidungen geben neue Orientierung und neue Perspektiven für die Kokreation der bis dahin offenen Zukunft. Jetzt, nach erfolgreichem Durchleben der Krise, kann die Gestaltung der Zukunft beginnen. 

Sehr viele Entwicklungsprozesse enden genau an diesem Punkt.Der Workshop ist beendet, die Beteiligten gehen mit sich und dem Erreichten zufrieden nach Hause. Doch um zu einem dauerhaften Erfolg zu werden, fehlt diesem Prozess noch eine Phase, nämlich die der Kultivierung. Jetzt geht es darum, etwas aufzubauen und langfristig zu entwickeln. Es geht darum, Dinge neu einzurichten und später auch die Früchte des Erfolgs zu ernten. Insgesamt soll wieder Stabilität erreicht werden. Auch wenn neue Projekte und Ideen begeisternd sind und Vorschläge und Empfehlungen weiterhelfen, ist es eine Verschwendung von Energie und eine Enttäuschung für alle, die mitgemacht haben, wenn sich am Ende nichts davon in Strukturen und Handeln umsetzen lässt.

Engagement kennt nur eine einzige Bestätigung: Wirkung. Wer sich nicht als wirksam erlebt, macht beim nächsten Mal nicht mehr mit. Jeder Mensch, der Einsatz zeigt, möchte eine Veränderung sehen. Nachhaltige Zukunft gelingt daher nur, wenn auch diese Phase ausreichend beachtet und von Anfang an mitbedacht und vorbereitet wird.

Das Gute an dem Programm der Dorferneuerungen ist, im Gegensatz zu vielen anderen Programmen, dass auch die Umsetzung finanziell und in Form weiterer Begleitung durch Planer:innen gefördert wird. Das bedeutete für Oberndorf, dass auch diese vierte wichtige Phase gemeinsam gestaltet werden konnte. Dieser Prozess war die Nagelprobe für unseren Ansatz. 

Ein Dorf neu denken 

Zwei besondere Momente katapultierten uns durch die Krise in Oberndorf und machten Ergebnisse möglich, die das Dorf zu einem außergewöhnlichen Vorzeigeprojekt machten. Der erste Moment war das Forum zum Thema Soziales. Da wir in der Vorbereitung nicht genau erkennen konnten, wie und woran wir in diesem Forum arbeiten sollten, entschieden wir uns für eine offene Aussprache zur Dorferneuerung. Hier Auszüge aus meinem Gesprächsprotokoll: »Wir rennen ins Leere! Jeder ist momentan für sich unterwegs! Was bleibt wirklich hängen? Wie entsteht eine dauerhafte Kontinuität? Wir müssen anders sein! Wir brauchen nachhaltige Maßnahmen und privates Engagement! Wir müssen uns unserer gemeinsamen Potenziale bewusst werden! Wir brauchen einen gemeinsamen Rahmen, nicht nur punktuelle Planung.« Es wurde sehr offen darüber diskutiert, dass und wodurch in der Vergangenheit Menschen oft entmutigt wurden, Engagement versiegte und Ideen nicht umgesetzt wurden. Die Verantwortung dafür wurde schnell anderen angelastet. Nun waren sich alle einig, dass es insbesondere diese verdeckten Konflikte waren, deren Zustandekommen bearbeitet werden musste. Die Aussprache war immens wichtig und befreiend, wurde den Teilnehmenden doch klar, wie entscheidend die Formen des sozialen Umgangs in letzter Konsequenz für Erfolg oder Misserfolg sind. »In gewisser Weise hat die Form dieses Forums geschickt den Inhalt vorweggenommen«, so das Resümee einer Teilnehmerin. Das hatten wir zwar nicht direkt geplant, sind aber längst überzeugt, dass die Erfahrung einer offenen und transparenten Kommunikation selbstverständlich eine Wirkung entfaltet. Nicht zufällig begründete dieses Forum das spätere Motto der Initiative: »Die Oberndorfer: Wir machen’s zusammen!« 

In der auf dieses Forum folgenden Dorfwerkstatt galt es, alle Projektideen und Maßnahmen gemeinsam weiterzuentwickeln, die bis dahin entstanden waren, und für eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation zu sorgen. All das gemeinsam zu denken, war eine überfordernde Aufgabe für uns und die Teilnehmenden. Immer wieder blitzten Gedanken und Ideen auf wie: »Wir brauchen Strukturen, die uns besser unterstützen.« »Wir benötigen einen guten Rahmen, damit wir die Projekte auch wirklich durchführen können.« Es war die Rede von neuen Organisationsformen: Genossenschaften und Stiftungen, die man gründen müsste, um ein Vehikel zur Umsetzung all der Vorhaben zu haben, falls Oberndorf seine Entscheidungs- und Finanzierungsstrukturen durch die drohende Gemeindefusion verlieren sollte.  

Nach diesem ersten Dorfwerkstatt-Treffen überlegten Sonja und ich, wie am nächsten Tag weiterzumachen sei. Es gab viele ganz konkrete Probleme, deren Lösung letztlich am Verlust der Strukturen zu scheitern drohte. Die Schule konnte nicht gerettet werden, solange die Entscheidungsgewalt darüber bei der Gesamtgemeinde lag. Das Geld aus den regenerativen Energieprojekten konnte nicht in neue Dorfprojekte umgeleitet werden, da ein gemeindeeigenes Solardach seine Gewinne direkt in das Budget der Gesamtgemeinde einspeisen würde. Beispiele dieser Art gab es viele. 

Das war der Auslöser für den zweiten entscheidenden Moment des Prozesses. Ich hatte plötzlich das Bild einer widerständigen Gemeindestruktur vor Augen, wie bei Asterix, dem Gallier: »Während Gallien komplett von den Römern besetzt ist, hält ein kleines Dorf unbeugsamer Gallier den Eindringlingen noch stand.« Warum nicht parallele Strukturen aufbauen, die Oberndorf so widerstandsfähig machten wie das kleine gallische Dorf? Wie könnten Parallelstrukturen einer zukunftsfähigen Dorfgemeinschaft aussehen, mit denen wir alle Probleme auf einmal lösen könnten? Es bräuchte Organisationsstrukturen: Wie verlaufen die Entscheidungsprozesse im Dorf? Es bräuchte Ablaufstrukturen: Wie wird die gemeinsame Projektarbeit organisiert? Und es bräuchte räumliche Strukturen: Wo gibt es die Räume für eine kreative Zusammenarbeit? Ich fühlte mich ein bisschen so, als hätten all die Aussagen des Tages von mir Besitz ergriffen, um in mir ein sinnvolles Bild zu formen. Das ist ein Effekt, den wir immer wieder in kokreativen Projekten feststellen. Der Prozess sucht sich einen oder mehrere Teilnehmende als Prozessore:innen, in denen der der neue transformative Ansatz heranreift.

Am nächsten Morgen präsentierte ich der Werkstatt das Scribble auf der nächsten Seite.

Abbildung 6: Oberndorfer Strukturmodell.

Mit der Entwicklung neuer Zukunftsstrukturen als Kern der »Dorferneuerung Oberndorf« könnten die Bedingungen für eine gute Zusammenarbeit und zur Durchführung der anstehenden Projekte geschaffen werden, ohne die Gesamtgemeinde einbinden zu müssen. Plötzlich passte alles zusammen. Das Forum würde zu einem neuen Rat der Engagierten mit eigenen Regeln zur Entscheidungsfindung werden. Eine Genossenschaft sollte Projekte betreiben, um Einnahmen zu generieren, die in weitere Dorfprojekte reinvestiert werden konnten. In einem Coworking Space sollten Projekte, Vereine und die neue Genossenschaft zusammenarbeiten können. Die Dorferneuerung musste also vor allem auf den Aufbau dieser Zukunftsstrukturen ausgerichtet sein – alles Übrige würde sich daraus fast von selbst ergeben, und die Probleme würden sich lösen lassen.

Das ändert alles! 

Oberndorf hat mit seinem Dorferneuerungsprozess eine Menge erreicht. Ich bin überzeugt, dass das zum einen an den Zukunftsstrukturen und zum anderen an dem gemeinsam erarbeiteten neuen Verständnis der Zusammenarbeit lag. Am Ende konnten die Oberndorfer unglaublich viel bewegen. Es kam zu einer ganzen Reihe von Gemeindebetrieben, Projekten und kulturellen Veranstaltungen, angefangen beim blauen und grünen Klassenzimmer und dem Streuobstwiesenprojekt, über die Gründung einer Energie-Bürgergenossenschaft und einer Kulturkneipe, bis zu einem neuen Konzept für das Heimatmuseum. Dazu kamen die Erneuerung öffentlicher Räume, die Weiterführung des Forums, der Aufbau einer nachhaltigen Fischzucht durch eine Bürgeraktiengesellschaft und vieles andere mehr. Am Ende wurde sogar im alten Schulgebäude, nachdem die Samtgemeinde die Grundschule geschlossen hatte, eine neue freie Schule gegründet. Einige Projekte begleiteten wir in der Umsetzungsphase, viele wurden ganz ohne unser Zutun realisiert. Manche Projekte wurden ein unerwarteter Erfolg, andere scheiterten. Die Zukunftsstrukturen entwickelten sich anders als ursprünglich geplant, aber sie etablierten sich und ermöglichten Neues.

Oberndorf gewann Preise, Beteiligte wurden auf Konferenzen eingeladen, die Presse berichtete, ein Film wurde gedreht und ein Buch geschrieben.10 Fast alle Projekte erhielten Zuspruch in den Verwaltungen und erhielten Fördermittel, und viele Dörfer der Region schauten aufmerksam auf das, was die Oberndorfer an immer weiteren Innovationen hervorbrachten.

Der größte Erfolg, der durch all dies ausgelöst wurde, war, dass wieder neue Familien nach Oberndorf zogen. Dadurch verringerte sich der problematische Leerstand bis zu dem Punkt, an dem es irgendwann keine Wohnungen und Häuser mehr in Oberndorf gab. Das wiederum hat langfristig Wirkung auf die Gemeinschaft und das Engagement für das Dorf. Es ist eine regenerative Aufwärtsspirale in der Entwicklung Oberndorfs entstanden: Oberndorf hat wieder eine Zukunft, die von den Oberndorfern selbst gestaltet wird.

Heute würde ich sagen: Die Oberndorfer Zukunftsstrukturen waren unser erstes kokreatives Governance Design. Durch die Transformation der persönlichen Haltungen und der Dorfstrukturen hatten wir mit der Dorfbevölkerung etwas geschaffen, das eine dauerhafte, zukunftsgerichtete Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglichte.  

Die Welt als Dorf

Als wir drei Jahre später erneut zu einer Werkstatt in Oberndorf waren, bezog ich mich noch einmal auf das Feld-Prozess-Modell, das jetzt für die Beteiligten kein abstraktes Konzept mehr war, sondern die Beschreibung realer Erfahrungen. Alle, die mitgemacht hatten, hatten konkrete Bilder und Situationen aus allen vier Phasen vor Augen: die ersten Foren und das Zusammenwachsen als Gruppe, die Phase der Resonanz; das Forum Soziales und die folgende Dorfwerkstatt in der Phase der Krise und Transformation; die Zukunftsstrukturen und das dadurch aufsteigende Feuerwerk an Projekten und Maßnahmen als Phase der Kokreation; und schließlich die folgende Umsetzung dieser Projekte als die Phase der Kultivierung. 

»Als ich davon zum ersten Mal hörte, hielt ich Sie für ein bisschen funny. Jetzt verstehe ich genau, was Sie meinen.« Dieses nachträgliche »Bekenntnis« eines älteren Herrn bringt den Prozess, den jede:r Beteiligte durchlebt hat, genau auf den Punkt. Auch wir hatten eine Erkenntnis, nämlich die, dass sich kokreative Haltungen wie ein Fraktal vererben. Begonnen hatten wir mit der Veränderung des Wie, also der Verfahren, Formate und Methoden der Zusammenarbeit. Sie ermöglichte es allen Beteiligten, kokreativ und offen miteinander umzugehen. Daraus erwuchs wiederum die Erkenntnis, dass auch das Dorf als Ganzes ein neues Wie in Form von kokreativen Zukunftsstrukturen benötigte, die es gemeinsam zu entwickeln galt. Diese Zukunftsstrukturen ermöglichten dann die vielen konkreten transformativen Projekte und Maßnahmen, die nach außen als etwas Besonderes sichtbar wurden und Oberndorf so viel Anerkennung einbrachten. Die kokreative DNA hatte sich über alle Ebenen fortgesetzt, ohne dass wir als Berater:innen irgendetwas steuern oder kontrollieren mussten. Wir hatten nur die Saat gesetzt und die optimalen Wachstumsbedingungen geschaffen. Alles andere passierte aus dem Prozess heraus und durch die Kokreation der Teilnehmenden in diesem Prozess.

Hätte man die Projekte nicht auch direkt entwickeln können, ohne neue Strukturen, Formate, Verfahren und die ganze abstrakte und methodische Vorbereitung? Ja, sicherlich! Irgendwelche Projekte entstehen immer. Aber um Projekte zu ermöglichen, die miteinander funktionieren, die zueinander konsistent sind und sich gegenseitig unterstützen, die den Rückhalt und das Engagement des ganzen Dorfes genießen, die innovativ sind, Lebendigkeit entfalten und wirklich eine nachhaltige bessere Zukunft ermöglichen, dazu braucht es diese Formen der Kokreation, die auf einem neuen Wie basieren.

Wäre es möglich, dieses neue Wie nicht nur für ein Dorf, sondern planetar zu realisieren? Wie transformiert sich Kultur? Wie wandelt sich die DNA einer Zivilisation? Welche neuen Haltungen, Verfahren, Methoden, Strukturen und Institutionen braucht es, um unsere planetaren Probleme lösen zu können? Wie kann es uns gelingen, uns unseren Herausforderungen zu stellen und kokreativ eine bessere Zukunft zu entwickeln? 

Tatsächlich halte ich den – zugegeben gewagten – Vergleich zwischen einem Dorf und dem gesamten Planeten in dieser Hinsicht für tragbar und zielführend. Wir können – und müssen – auch für planetare Strukturen ein neues Wie schaffen, eine neue DNA unserer globalen Zivilisation codieren und neue produktive und kreative Formen von Zusammenarbeit ermöglichen. Die Vereinten Nationen und Institutionen, wie die Weltbank oder die Weltgesundheitsorganisation, waren schließlich auch ein Entwurf planetarer Strukturen. Diese wurden nach dem Zweiten Weltkrieg anhand der besten Strukturen entwickelt, die damals bekannt waren und global als fortschrittlich galten. Die Vereinten Nationen wurde analog zu unseren Erfahrungen mit föderalen Demokratien entwickelt. Heute sind wir jedoch an einem Punkt, wo wir neue Entwürfe benötigen, die besser auf unsere Zeit angepasst sind. Föderale Demokratien sind vielleicht nicht mehr die innovativste und passendste Form, nach der wir ein neues planetares Wie konzipieren sollten. Haben wir andere Paradigmen, Haltungen und Vorstellungen von diesem neuen Wie? Ich glaube, dass wir das im Kleinen schon haben, nämlich in genau diesen Nischen demokratischer Innovationen, die wir insbesondere auf lokaler Ebene finden.