Die größten Lügen der Weltgeschichte - Johannes Seiffert - E-Book

Die größten Lügen der Weltgeschichte E-Book

Johannes Seiffert

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Beschreibung

Johannes Seiffert entführt seine Leser unterhaltsam, spannend und mitunter provokativ ins weite Feld der bewussten Fälschungen und Umdeutungen von historischen Begebenheiten bis hin zur regelrechten Lüge, um die Geschichtsschreibung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Anhand von zehn exemplarischen Fällen entschlüsselt er Mythen und Mythologien vom mittelalterlichen Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen (1194–1250) bis hin zum 42. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Bill Clinton. Er geht der Frage nach, ob Albert Speer ein harmloser Zeitgenosse und mittelmäßiger Architekt war, der nur durch Zufall in die höchste Führungsebene des Nazistaates unter Hitler gespült wurde, oder ob Speer im Zentrum eines der raffiniertesten Täuschungsmanöver der Geschichte stand. Die Anfänge russischer Staatlichkeit, der "Regierungswechsel" in der Ukraine 2013/14, das Oktoberfestattentat in München 1980 … – über all das und vieles mehr bringt der Autor Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Irreführungen ans Tageslicht. Johannes Seiffert deckt die Lügen auf, betrachtet kritisch angeblich unumstößliche Tatsachen und analysiert, wie es wirklich gewesen ist. Zeitgeschichte, die sich spannender als jeder Krimi liest!

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Johannes Seiffert

Die größten Lügen der Weltgeschichte

Fälschungen, Tricks und Propaganda

edition berolina

ISBN 978-3-95841-558-4

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: Aus dem Freskenzyklus an den Wänden der Silvester-Kapelle der Basilika Santi Quattro Coronati in Rom: Oratorium des Hl. Silvester. Quelle: Wikimedia Commons, Peter1936F

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

www.buchredaktion.de

Gewidmet

meinen Eltern

und

Dmitri Chworostowski

(1962–2017)

Vorwort

Zwei Jahre sind vergangen, seitdem der erste Band über bestimmte bis heute wirksame Täuschungsmanöver in der Weltgeschichte erschien. Die Welt ist in der Zwischenzeit nicht ärmer geworden an Lug und Trug. In den USA regiert ein Politclown nach Maßstäben, die mit dem Begriff »Staatsmann« nicht mehr viel zu tun haben. Er scheint völlig freizudrehen, verfolgt dabei aber neben seiner öffentlichkeitswirksamen Provokationsshow konsequent eine neoliberale Umverteilungsagenda von unten nach oben – macht also genau das, was die etwas staatsmännischer schauspielenden Staatsdarsteller auf dem POTUS-Thron vor ihm beziehungsweise deren KollegInnen in der westlichen Hemisphäre auch getan haben und tun. Außenpolitisch hat Trump das Feld bisher weitgehend Russland überlassen, das den USA in Syrien und anderswo erfolgreich Paroli bietet. Die psychologische Kriegsführung gegen Russland setzt sich dagegen auf vielen Gebieten fort, vom Sport (mit den angeblichen Dopingskandalen) über die angeblichen Einmischungsversuche in die US-Präsidentschaftswahlen (was vom US-Establishment für Winkelzüge gegen Trump benutzt wird) bis hin zur Fortsetzung der völlig ungerechtfertigten Wirtschaftssanktionen. Dabei werden aktuell großangelegte Täuschungsmanöver fortgesetzt beziehungsweise neu begonnen, so in der Ukraine seit 2014 (inszeniert von einer bisher aufgrund generell divergierender Interessen eher seltenen direkten Koalition von USA und EU), in Venezuela (mit dem Versuch, die halbwegs sozialistische Maduro-Regierung wirtschaftlich in die Knie zu zwingen), auf dem Gebiet der Informationstechnologie (mit der aufrechterhaltenen Bedrohung des seit nunmehr fast sechs Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London ausharrenden Julian Assange) sowie im Mittleren Osten/Nordafrika (MENA) (mit dem »Kampf gegen den Terror«, also der militärischen Durchsetzung geostrategischer US-Interessen) und vieles anderes mehr.

Höchste Zeit also, einen Blick auf weitere, lehrreiche Täuschungsmanöver zu werfen, in einem Zeitraum, der von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Die Analyse dieser Täuschungsmanöver soll einen Ausweg aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Immanuel Kant) bieten und die Fortsetzungen beziehungsweise Variationen dieser Täuschungsmanöver in unserer unmittelbaren Gegenwart sichtbar werden lassen.

Zimmerwald, Anfang 2018

Johannes Seiffert

Papsttum und Zölibat

Es ist einer der größten Treppenwitze der Weltgeschichte. Ausgerechnet die Institution, die sich Frömmigkeit, Ehrlichkeit, Barmherzigkeit, Solidarität, die zehn Gebote (dar­unter vor allem das neunte) und – last but not least – ihren Würdenträgern völlige sexuelle Enthaltsamkeit als Ideale auf die Fahnen geschrieben hat, beruht auf nichts anderem als Lug und Trug. Und das schon seit zweitausend Jahren. Oder, um genauer zu sein, seit rund anderthalb Jahrtausenden. Warum das so ist, dazu im Folgenden mehr. Es geht dabei um eine bis heute weltweit anerkannte, machtvolle und mit immensen Finanzmitteln ausgestattete Institution, die von sich behauptet, Vertreterin des Wahren, Guten und Schönen zu sein: das Papsttum – und die von diesem vertretene Sexualmoral. Es geht also um die oberste Führungsebene der Katholischen Amtskirche und ihre totalitäre Ideologie. Weder das Amt des Papstes noch der Vatikanstaat, noch der Führungsanspruch des Papstes in der Christenheit, noch die »christliche Sexuallehre« sind, wie von der Katholischen Kirche behauptet, unmittelbar nach dem Tod Jesu Christi beziehungsweise in dessen Auftrag geschaffen worden. Das geschah erst viele Jahrhunderte später, und ihre schiere Existenz widerspricht dem Willen Jesu diametral. Sie sind, um es kurzzufassen, das Ergebnis zahlloser zielgerichteter bis unverschämter Fälschungen, Täuschungen und Lügen, welche die römisch-katholische Kirche seit anderthalb Jahrtausenden verbreitet.

Gehen wir die einzelnen Elemente dieses Lügengebäudes einmal durch und überprüfen sie auf ihre Stichhaltigkeit beziehungsweise auf ihre Entstehungsgeschichte. Schon der erste Papst, also der Mann, der angeblich das »Papsttum« wenige Jahre nach dem Tod Jesu Christi begründete (jegliche Beweise dafür fehlen), ist eine frei erfundene, fiktive Figur namens Petrus oder Simon Petrus. Zwar gibt es unter den Jüngern Jesu eine Person gleichen Namens. Es gibt allerdings keinerlei belastbare Beweise dafür, dass diese Person tatsächlich jemals Palästina verließ, schon gar nicht, dass diese Person als erster Papst amtierte. Als Beinamen erhielt diese Person im Laufe der Ausschmückung dieser Zwecklegende den aramäischen Zusatz »Kephas« (Fels, Stein), aus dem im Griechischen »Petros«/»Petrus« (Fels, Stein) wurde; das entsprechende, angebliche Jesuswort vom »Fels, auf dem ich meine Kirche errichten werde«, ist ebenfalls frei erfunden. Ist also mit »Petrus« schon der angeblich erste »Papst« historisch nicht nachweisbar, so gilt dies auch für seinen Titel: Es gibt selbst Jahrhunderte nach Christi Geburt noch keine Institution dieses Namens und schon gar nicht in Rom. Der Titel »Papst« ist innerhalb der römisch-katholischen Kirche erst seit dem 5. Jahrhundert nachweisbar. Vorher wurden die Gemeindevorsteher – die zunächst den einfachen Gläubigen keineswegs übergeordnet waren, sondern Koordinationsaufgaben hatten – »Bischöfe« oder »Älteste« genannt. Der allererste Bischof, der sich überhaupt »Papst« nannte, amtierte Tausende von Kilometern von Rom entfernt. Es handelte sich um den östlichen katholischen Patriarchen im ägyptischen Alexandria, Heracleas, um die Mitte des 3. Jahrhunderts, einer von insgesamt fünf Patriarchen der frühen Kirchengeschichte. Zu diesem Zeitpunkt war der Bischof von Rom noch eine untergeordnete Charge innerhalb der Struktur der Katholischen Kirche. In Rom folgten einzelne Nennungen knapp ein Jahrhundert später, der erste römische Bischof, der die reguläre Dienstbezeichnung »Papst« für sich durchsetzte, war Leo I. im 5. Jahrhundert. Zu Petrus ist noch das Folgende zu sagen: Dieser ist der Legende nach verheiratet gewesen! Immerhin ein schönes Argument dafür, wie schwachsinnig die kirchliche Institution des Zölibats ist, die Behauptung also, Päpste beziehungsweise alle katholischen Priester hätten immer schon zölibatär, also sexuell enthaltsam, gelebt. Wie konnte aber der Legende zufolge dieser angeblich im fernen Morgenland geborene, als Jünger Jesu erwähnte, häufig als etwas tumb beziehungsweise jähzornig geschilderte, verheiratete Simon plötzlich auf den obersten Thron der Christenheit gelangen? Greift man auf der Suche nach Hinweisen innerhalb der Zwecklegende auf die bekanntlich über viele Jahrhunderte entstandenen, immer wieder redigierten und für den jeweiligen Verwendungszweck zurechtgebogenen Evangelien zurück, so wurde dort im Laufe der Zeit und innerhalb der vielen verschiedenen Fassungen aus dem Mitläufer Simon die Zentralfigur Petrus, der der Primus inter Pares der Apostel gewesen sein und Jesus schon immer am nächsten gestanden haben soll. Andererseits wird ein »Shimon« (dem vermutlich ein ganz anderes Schicksal beschieden war als das in der Bibel und anderswo behauptete) gleichzeitig in als halbwegs authentisch angesehenen Jesus-Worten in die Nähe des Satans gerückt beziehungsweise mit diesem gleichgesetzt. Was zumindest eine merkwürdige Voraussetzung dafür gewesen wäre, das oberste Amt der Institution Kirche anzustreben.

Und dann gibt es ja noch den bereits erwähnten, berühmten Ausspruch von dem Felsen, auf dem die Kirche gebaut werden soll. Er ist bis heute Leitmotiv der katholischen Herrschaftslehre und in riesigen, unübersehbaren goldenen Lettern in der Kuppel des Petersdoms zu Rom verewigt: Tu es Petrus, et super hanc petram ædificabo Ecclesiam meam, et portæ inferi non prævalebunt adversus eam (»Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen«, Matthäus 16,18). Dieses scheinbar fundamentale Bekenntnis zu Petrus, zum römischen Bischofsamt und zur Katholischen Kirche ist aber – so der heutige Stand des Wissens – eine nachträgliche, Jahrhunderte später vorgenommene Einfügung in den Evangelientext (und kommt überhaupt nur in einem der vier Evangelien vor). Damit sollte offenbar retrospektiv die infame, unverschämte Verkehrung der urchristlichen Ideen in ihr amtskirchliches Gegenteil legitimiert werden. Ausgerechnet dieser »Fels« wäre es dann ja, der Jesus nicht weniger als dreimal in einer Nacht verleugnet. Seine neue, kirchengeschichtliche Rolle beginnt nach der Erscheinung des auferstandenen Christus. Und hier beginnt wohl historische Wahrheit, in freie Erfindung überzugehen. Denn nun plötzlich habe der tumbe Petrus – vom »Heiligen Geist« befeuert – eine erste Predigt gehalten. Und diese sei ein rauschender Erfolg gewesen, es habe massenhafte Bekehrungen von Umstehenden zur neuen Religionsgemeinschaft der »Christen« gegeben.

Wie geht die jeglicher Wahrscheinlichkeit Hohn sprechende Legende weiter? Durchaus phantasievoll: Als Apostel und Missionar sei Petrus auf verschiedenen Reisen kreuz und quer durchs Land getourt und habe für die Bekehrung der Massen in ganz Palästina gesorgt. Dabei soll er auch – wie könnte es anders gewesen sein – ein paar Wunder gewirkt haben, ganz in der Nachfolge seines am Kreuz gestorbenen und wiederauferstandenen Herrn. Schließlich und endlich soll er es sogar nach Rom geschafft haben – wofür aber wiederum jegliche historischen Belege fehlen. Erst viele Jahrhunderte später tauchen »plötzlich« diese und andere Geschichten auf, Lügengeschichten, die ex post einer Legitimierung des römischen Bischofsamts und – noch schlimmer – dessen Primat dienen, dessen Vorherrschaft über die restliche Katholische Kirche. Die Geschichte wird dabei nach und nach immer phantasievoller ausgeschmückt, bis hin zum angeblichen Märtyrertod unter Nero, der die Juden und Christen nach dem von ihm verursachten Brand Roms als Sühnemaßnahme habe verfolgen und hinrichten lassen. Petrus habe dabei darauf bestanden, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt zu werden, da er nicht würdig sei, in gleicher Art wie sein Herr zu sterben, also eine Art Kreuzigung hoch zehn, da dieser Kreuzestod auf diese Weise noch schmerzhafter und peinigender als der von Jesus Christus gewesen sein soll. Petrus habe in seinem Leiden Christus also noch übertroffen, eine einmalige Unverschämtheit.

Immer weiter wird die Geschichte in der Folge angereichert. Im 5. Jahrhundert wird Petrus dann schon konkret eine 25-jährige Amtszeit als Bischof angedichtet und ein gemeinsamer Tod als Märtyrer mit dem ebenfalls noch – der Legende zufolge – nach Rom gekommenen Paulus. Begraben worden sei Petrus auf dem Vatikanshügel. Dort ließ im 4. Jahrhundert Kaiser Konstantin ein erstes Kirchengebäude zu Ehren des angeblichen Märtyrers Petrus über dessen vermeintlicher Grabstätte errichten. An dessen Stelle steht heute die Peterskirche, zentrale Kultstätte des katholischen Christentums. In der Vierung der Kirche, zwischen Kirchenschiff und Chor, soll angeblich das Grab des Petrus im Boden vorhanden sein. Der Vatikan ließ – um den historischen Anspruch zu untermauern – nach dem Zweiten Weltkrieg dort archäologische Grabungen durch katholische Archäologen durchführen, die wunschgemäß bestätigten, dass dort unzweifelhaft das Grab des Apostels und Märtyrers Petrus nachzuweisen sei. Von der übrigen archäologischen Wissenschaft wird dieser Befund jedoch als zweifelhaft zurückgewiesen, ein sicherer Nachweis für das dortige Vorhandensein eines Grabes von Petrus als unmöglich angesehen.

Obwohl die historische Forschung mittlerweile zweifelsfrei ergeben hat, dass das »Bischofsamt« als »Führungsamt« erst in späteren Jahrhunderten entstanden und für Rom ohnehin erst ab dem 5. Jahrhundert sicher nachweisbar ist, beharrt die katholische Lehre jedoch bis heute auf einer (fiktiven) lückenlosen Reihe von Bischöfen, beginnend mit dem ersten Bischof von Rom, Petrus, unmittelbar nach dem Tode Jesu Christi. Ja, sie ist unbedingt auf eine solche Amtszeit des Petrus angewiesen, legitimiert sie doch den Führungsanspruch des »Papstes« über die katholische Glaubensgemeinschaft (und die Welt) durch die Sukzession, die lückenlose Abfolge römischer Bischöfe, von der auch die von Petrus begonnene und von diesem an alle seine Nachfolger weiterverliehene Vorrangstellung herrühre. Dieser habe also gleich einem weltlichen Kaiser seine Macht innerhalb einer Erbmonarchie vererbt. Pseudowissenschaftlicher Unsinn, wie heutzutage feststeht. Da es überhaupt keine Anhaltspunkte für römische Bischöfe vor dem 2. Jahrhundert gibt (und für ihre Vorrangstellung erst seit dem 5. Jahrhundert), sind die angeblichen, vom Vatikan verbreiteten lückenlosen Bischofslisten gerade für die ersten beiden Jahrhunderte reine Erfindung, um nicht zu sagen: Lüge.

Mit ihrer von Paulus begründeten Körper- und Sexualfeindschaft setzten sich gerade die römischen Christen (eine frühe, von Petrus und Paulus aber völlig unabhängige Gemeinde ist seit dem Jahr 50 n. Chr. nachgewiesen) von ihrem Zeitalter, ihrer unmittelbaren Umgebung in Rom ab. Sie setzten sich auch und gerade von den damals herrschenden Clans in Rom ab, die ein – gelinde gesagt – entspanntes Verhältnis zu Perversitäten aller Art aufwiesen. Hatte zur Zeit der Geburt von Jesus noch Kaiser Augustus geherrscht und das römische Weltreich sich auf dem Höhepunkt von Macht und Ausdehnung befunden, eine Ära langen Friedens geherrscht (das legendäre augusteische Zeitalter), eine Ära von Recht und Anstand (Augustus ließ unter anderem den Dichter Ovid wegen Verstoßes gegen diese Vorschriften ans Schwarze Meer verbannen), so begann mit dem Tod von Augustus im Jahre 14 unserer Zeit eine Ära des Niedergangs der Sitten und der Moral. Schon sein Nachfolger Tiberius geriet angesichts der Umtriebe in seinem Zweitpalast auf Capri in die »Schlagzeilen«. Der Kaiser soll sich dort eine ganze Kohorte von Lustknaben gehalten haben, die ihm im Warmwasserbad des Palastes unter Wasser per Fellatio (Oralsex) zu Diensten sein mussten und darob vom Kaiser seine »Fischlein« genannt wurden. Der zwischen 63 und 64 n. Chr. nach Rom gekommene, aus Spanien gebürtige Dichter Martial erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die Variante der Irrumatio (»Kehlenfick«/»Deepthroating«) auch zur Bestrafung von Delinquenten angewendet wurde.

Nero wurde bekannt als angeblicher Brandstifter Roms, eine schwarze Legende, deren Wahrheitsgehalt heute gegen null eingeschätzt wird. Die Auswirkungen des Brandes hatten wiederum direkte Folgen für die christliche Gemeinde Roms und die jüdische Bevölkerung Palästinas. Um den Wiederaufbau Roms zu finanzieren, ließ Nero zum einen die Tempelschätze vieler nicht-römischer Gottheiten, so auch den großen jüdischen Tempel in Jerusalem, plündern, was zum dortigen Aufstand und zum Rachefeldzug des Titus führte, welcher die Vertreibung der Juden aus Palästina nach sich zog und damit den Beginn der jüdischen Diaspora markiert. Außerdem ließ Nero es zu, dass die Christen in Rom der Brandstiftung beschuldigt wurden. Einige von ihnen wurden gefangen genommen und im Circus den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, teilweise nächtens in den Straßen verbrannt. Insgesamt fielen wohl zwischen zweihundert und dreihundert Christen diesen »Verfolgungen« zum Opfer, was ungefähr zehn Prozent der damaligen Gemeinde entsprach. Von Mordexzessen mit Tausenden von Opfern, einer Auslöschung der christlichen Gemeinde in Rom, wie von der Katholischen Kirche behauptet, kann allerdings keine Rede sein.

Hier kommt nun auch wieder Petrus ins Spiel. Der soll im Zuge dieser Christenverfolgung nach dem großen Brand in Rom gefangen genommen und auf dem Vatikanhügel, wo sich der von Nero erbaute neue Circus befand, gekreuzigt und begraben worden sein. Zuvor gab es der Sage nach noch eine Begegnung zwischen dem Apos­tel und seinem obersten Boss außerhalb der Porta San Sebastiano im Süden Roms, dabei habe Petrus den ihm erschienenen Jesus gefragt: »Domine, quo vadis?« (»Herr, wohin gehst du?«), und dieser habe geantwortet: »Nach Rom, um mich kreuzigen zu lassen.« Daraufhin sei der eigentlich zur Flucht entschlossene Petrus umgekehrt und habe sein Martyrium angetreten. Am Ort der angeblichen Begegnung steht seit dem 9. Jahrhundert die Kirche Santa Maria in Palmis, besser bekannt als Domine Quo Vadis? (in ihrer heutigen Gestalt von Francesco Barberini im 17. Jahrhundert neu errichtet). Diesem Zitat entnahm Henryk Sienkiewicz den Titel seines erfolgreichsten Romans Quo Vadis? (1895), eine Liebesgeschichte zwischen einem römischen General und einer Christin, innerhalb derer auch die Apostel Petrus und Paulus vorkommen. Sienkiewicz erhielt hierfür den Literaturnobelpreis, das Buch wurde gigantomanisch in Hollywood verfilmt.

Gleichzeitig mit Petrus soll auch der Apostel Shaulus (Paulus) in die Stadt gekommen und ebenfalls den Verfolgungen zum Opfer gefallen sein. Auffällig ist, dass Paulus in einem überlieferten Brief an die römische Christengemeinde (entstanden zwischen 56 und 60 unserer Zeit) die Gemeindemitglieder in der Anrede einzeln grüßt, Petrus aber überhaupt nicht erwähnt. Auch die biblische »Apostelgeschichte« erwähnt zwar die (ebenfalls erfundene, Jahrhunderte später hineinredigierte) Romreise des Shaulus (Paulus), erwähnt in diesem Zusammenhang aber ebenfalls Petrus mit keinem Wort. Die beiden in der Bibel enthaltenen Gemeindebriefe des Petrus beinhalten ebenfalls keine Hinweise auf eine Missionstätigkeit des »Kephas« in Rom. Erst im 2. Jahrhundert unserer Zeit tauchen Berichte von einem angeblichen Romaufenthalt von Shimon (und Sha’ul) auf. Wird Petrus zunächst einfach nur als Besucher erwähnt, so entsteht daraus im Lauf der Zeit die Behauptung, er sei nicht nur Besucher, sondern – wenn auch nur kurz – Bischof von Rom gewesen. Anfangs des 5. Jahrhunderts wird dann, wie erwähnt, daraus schon eine 25-jährige Herrschaft als Bischof. Dem »Kirchenvater« Hieronymus zufolge soll Paulus vom Jahr 40 bis zum Jahr 68 Bischof von Rom gewesen sein. Dagegen heißt es in der Bibel (hier war die spätere Anpassung der Texte unvollständig), Petrus sei bis zum Apostelkonzil von 48 Leiter der Gemeinde in Jerusalem gewesen (vgl. Apg 15,7 und Gal 2,11–14). Danach gibt es keine weiteren historisch belastbaren Hinweise auf das weitere Wirken von Petrus, schon gar nicht als Bischof in Rom. Allerdings sorgte der Erfolg der gern geglaubten Petrus-Legende dafür, dass alle großen Patriarchate – außer Rom auch noch Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel – Petrus als ihren ersten Bischof beanspruchten, um auf diese Weise von der Ehrwürdigkeit einer solchen (fiktiven) Traditionslinie profitieren zu können. Nur in Rom wurde das allerdings über zweitausend Jahre so aggressiv vertreten, dass mittlerweile keine ernsthaften innerkirchlichen Gegenstimmen zum Primat von Rom mehr vorhanden sind. Im derzeit gültigen Kodex des Kanonischen Rechts (Fassung von 1983) heißt es daher normativ:

»Der Bischof der Kirche von Rom, in dem das vom Herrn einzig dem Petrus, dem Ersten der Apostel, übertragene und seinen Nachfolgern zu vermittelnde Amt fortdauert, ist Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche hier auf Erden, deshalb verfügt er kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann.«

Damit ist der gegenwärtige Zustand zementiert, der durch die weitgehend unwidersprochen hingenommene Vorrangstellung des »Papstes« innerhalb der Katholischen Kirche in der westlichen Welt geprägt ist.

Von Jesus selbst ist im Matthäus-Evangelium nur ein Satz überliefert, der allgemein beschreibt, dass es Menschen gebe, die in Ehelosigkeit lebten »um des Himmelreiches willen« – dabei handelt es sich aber keinesfalls um ein Gebot und schon gar nicht um ein Gebot der Ehe- und Sexlosigkeit für Kirchenvertreter.

Im selben, 1983 verabschiedeten und bis heute gültigen kirchlichen Rechtskodex (Codex Iuris Canonici) wird im eklatanten Gegensatz zur Sinnenfreude und Körperbetontheit des Urchristentums in Canon 277, Absatz 1 – wie gesehen völlig willkürlich – befunden:

»Die Kleriker sind gehalten, vollkommene und immerwährende Enthaltsamkeit um des Himmelreiches willen zu wahren; deshalb sind sie zum Zölibat verpflichtet, der eine besondere Gabe Gottes ist, durch welche die geistlichen Amtsträger leichter mit ungeteiltem Herzen Christus anhangen und sich freier dem Dienst an Gott und den Menschen widmen können.«

Das ist natürlich der blanke Hohn, das Leidens- und Terrorinstrument des »Zölibats« als »Gabe Gottes« zu bezeichnen! Damit steht die Kirche – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – in diametralem Gegensatz zu dem, was von der mythisch-mystischen Figur Jesus, »dem Gesalbten« (Christus) an Äußerungen überliefert ist. Ob diese Verbindung von Katholischer Kirche und Zölibat beziehungsweise sexueller Enthaltsamkeit, sexueller Selbstkasteiung und allgemeiner Körper- und Sinnenfeindlichkeit damit zu tun hat, dass eben gerade auf dem Vatikanischen Hügel, etwa an der Stelle, wo heute der Petersdom steht, in römisch antiker Zeit eines der wichtigsten Heiligtümer des Kybele- und Attiskults lag, das sogenannte Phrygianum, wäre noch zu erforschen. Auffällig ist, dass es sich bei diesem Kult ausgerechnet um einen Kult der Selbstkasteiung und des freiwilligen Zölibats handelte, der in seinem kultischen Furor so weit ging, die Selbstentmannung, die Autokastration seiner Priester und Anhänger zu fördern und zu fordern. Teil des Phrygianums war das Taurobolium, ein großer Opferaltar, auf dem in regelmäßigen Abständen Ochsen geschlachtet wurden. Das Blut lief durch ein offenes Gitter hinunter und floss auf die unter dem Altar befindlichen Neophyten und Neuanhänger, die sich daraufhin, von der wirbelnden, ekstatischen Musik animiert, nun selbst zu kasteien und zu kastrieren begannen. Möglicherweise sind Geist und Gebot dieses Kultes als Teil des Genius Loci auf die Katholische Kirche und ihre obersten Vertreter übergegangen, mit Auswirkungen bis heute.

Man kann aber nicht über Petrus sprechen, ohne Paulus zu erwähnen. Betrachtet man die Sache nüchtern, müsste man die »Katholische Kirche« eigentlich »Paulinische Sekte« nennen. Niemand vorher oder nachher hat den ursprünglichen Gedanken der angeblichen Jesus-Figur, wie man sie mühsam aus den am wenigsten verfälschten, frühesten Schriften herausfiltern muss, stärker verändert, drastischer in ihr Gegenteil verkehrt als Paulus. Eben nach diesem als Sha’ul (latinisiert Saulus) getauften Menschen wird seit mehr als hundert Jahren eine eigene, die »paulinische Theologie« benannt. Paulus, von Beruf Zeltmacher, setzte einige der verheerendsten Verfälschungen des ursprünglichen Gedankens frei. Und das Erstaunliche ist, dass ihm dabei fast zweitausend Jahre lang so viele Menschen unkritisch folgten. Paulus machte aus einer lebensbejahenden, kosmopolitischen, frauenfreundlichen, körperfreundlichen Philosophie ein Theorem des Frauenhasses, der Feindseligkeit, des Chauvinismus, der Lebensverachtung und der Leibfeindlichkeit. Durch ihn gewann die Askese ihre völlig ahistorische, verheerende, nichtsdestoweniger jedoch überdominante Stellung in der Katholischen Kirche, durch ihn wurde die Frau in der Kirche zu einem Wesen zweiter (oder dritter) Klasse, durch ihn wird der entsetzliche Irrweg des Mönchtums in die Welt gesetzt. Diese Reihe ließe sich noch lange fortführen. Es dauerte jedenfalls nicht lange, und Frauen waren vom Priesteramt – das sie bis dahin häufig ausgeübt hatten – komplett ausgeschlossen (bis heute). Doch damit nicht genug. Bald wurden auch menstruierende oder schwangere Frauen als »unrein« vom Gottesdienst insgesamt ausgeschlossen, durften diesem also auch nicht mehr als einfache Gläubige beiwohnen.

Paulus verdrehte und verfälschte den ursprünglichen Sinn, die Zielsetzung des Christentums auf einzigartige Weise. Und hatte damit fast zweitausend Jahre lang Erfolg. Erst im 20. Jahrhundert setzte mit der Säkularisierung, mit der Erosion der Anhängerschaft, mit der zunehmenden »Entkirchlichung« der westlichen Industriegesellschaften eine Entwicklung ein, an deren Ende die Marginalisierung der Katholischen Kirche, ihre Reduktion zu einer von vielen Sekten auf der Welt stehen dürfte. Dass Paulus aber dennoch so erstaunlich langanhaltenden Erfolg mit seinen Sinnesfälschungen hatte, sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Auch andere verbrecherische Ideologeme weisen eine lange Erfolgsgeschichte auf. Damit lässt sich also keine historische Vormachtstellung, kein Anspruch auf Ehre und Ruhm begründen. Stattdessen muss er bei nüchterner Betrachtung als Initiator einer zweitausendjährigen Leidensgeschichte angesehen werden, die bis heute andauert: der Geschichte der Katholischen Kirche und der von ihr ausgehenden repressiven »Moralvorstellungen«, die zu Unterdrückung, Leiden, Folter, Mord und Völkermord führten.

Im Namen dieser paulinischen Kirche wurden »Ungläubige missioniert«, indem man sie umbrachte, so zum Beispiel in zahllosen »Kreuzzügen« zur »Befreiung« der damals längst regulär in arabischem Besitz befindlichen Stadt Jerusalem, wurden ganze Kontinente entvölkert (Nord- und Südamerika), wurden »Ungläubige« als »Ketzer« ins Gefängnis geworfen, degradiert oder gar verbrannt, wurden der Empfängnisverhütung kundige weise Frauen als »Hexen« verbrannt, wurde mit der Inquisition eine der verabscheuungswürdigsten Institutionen geschaffen, wurde die Geschichte zensiert (durch den von der Kirche zusammengestellten »Index der verbotenen Bücher«, der nur noch kirchenfreundliches Schrifttum für die Gläubigen zuließ, die in ewiger Unmündigkeit gehalten werden sollten). Im Namen dieser repressiven, moralinsauren Kirche wurden viele Generationen ihrer Anhänger im Glauben an die eigene Schlechtigkeit, die eigene Sündhaftigkeit gehalten. Es liegt nahe, die Frage zu stellen, warum Paulus so von der Leibfeindlichkeit, von der Misogynie (Frauenfeindlichkeit) und Verachtung des Eros getrieben war. Geht man dem weiter nach, stößt man schnell auf ernstzunehmende, kirchengeschichtliche Forschungen, denen zufolge diese von Paulus in die Welt gesetzte Wahnvorstellung vermutlich auf dessen chronische Impotenz, auf seine Unfähigkeit zum Geschlechtsverkehr zurückzuführen ist. Diese Impotenz brachte ihn dazu, alles Weibliche, alles mit Sexualität Verbundene zu hassen und zu verdammen und seinen Anhängern rundheraus zu verbieten. So entstand aus einer privaten Zwangsneurose weltgeschichtlicher Horror. Damit steht Paulus keineswegs allein. Man denke nur daran, welche privaten Probleme Hitler dazu motivierten, zwangsneurotisch unendliches Leid über viele Völker zu bringen.

Im Falle von »Paulus« kooperierte die auf der Basis seiner neurotischen Ideologie geschaffene »Amtskirche« willig mit Diktaturen, förderte die Ausbeutung der Unterschichten in Staaten, in denen sie als Staatskirche das Sagen hatte, forderte ihre Anhänger wörtlich zu kritiklosem, unbedingtem Gehorsam auf und verbot zeitweise jegliche Freudenempfindung als »unchristlich«. Die von ihm begonnene Hierarchisierung der vorher basisdemokratischen Glaubensgemeinschaft führte zu der heute noch existierenden, diktatorisch geführten, totalitären »Amtskirche« samt ihrer inhärenten Verschwendung, dem aufgeblähten, überflüssigen Apparat an in Saus und Braus lebenden »Würdenträgern« (man denke nur an den Bischof »Bling Bling« in Limburg), dem maßlosen Anspruch, über Wohl und Wehe aller Menschen auf dieser Erde zu entscheiden. In seinem Namen entstand nicht zuletzt die »Verbrecherorganisation Papsttum« samt eigenem Staat. (Vgl.: Johannes Seiffert: Der Vatikan. Sex, Lügen und Verbrechen. Berlin 2014.)

Auch Paulus soll in Rom zum Märtyrer geworden sein, im Umfeld des großen Brandes und der anschließenden Christenverfolgung. Als römischer Bürger wurde er angeblich nicht gekreuzigt, sondern mit dem Schwert enthauptet. Sein Grab soll sich in der Kirche San Paolo fuori le Mura befinden, archäologisch gesicherte Spuren – Fehlanzeige. Anderen Überlieferungen zufolge kam Paulus nicht in Rom ums Leben, sondern reiste munter weiter bis nach Spanien.

Die weiteren »Päpste« nach Petrus waren ebenfalls pure Erfindung, nachträglich ausgedacht als Belege für die ununterbrochene Liste der »apostolischen Sukzession« in der Nachfolge des ersten »Papstes« Petrus. Der Gipfel der kirchlichen Lügenbeutelei wird dann mit der »Kon­stantinischen Schenkung« erreicht, also jener angeblichen Übertragung staatlicher, weltlicher und geographischer Macht von Kaiser Konstantin auf die Päpste, die – das sei an dieser Stelle vorweggenommen – niemals stattgefunden hat. Somit ist die gesamte Konstruktion des Vatikanstaats, der Machtzentrale der Katholischen Kirche, auf einem Lügengebäude ohnegleichen aufgebaut, mithin ohne rechtlichen Belang, also gegenstandslos. Recht besehen, könnte der italienische Staat diese ausländische »Exklave« auf seinem Staatsgebiet kurzum einkassieren, da sie keinen juristischen Bestand hat, außer der Tradition, also dem Gewohnheitsrecht, was aber in völkerrechtlicher Hinsicht nicht relevant ist.

Im Kern geht es um eine etwa im Jahr 800 gefälschte Urkunde. Diese wurde auf die Jahre 315/317 zurückdatiert und mit der gefälschten Unterschrift und dem gefälschten Siegel des römischen Kaisers Konstantin I. versehen. Darin wird »Papst Silvester I.« (»Pontifex« angeblich von 314–335) und seinen sämtlichen Nachfolgern die politische Oberherrschaft über Rom, Italien, die gesamte Westhälfte des Römischen Reiches, ja, letztlich des gesamten Erdenrunds mittels Schenkung übertragen. Die »Päpste« nutzten ab dem 9. Jahrhundert diese Fälschung, um ihre Vormacht in der Christenheit, aber auch ihre territorialen Ansprüche in Italien und anderswo zu begründen. Bereits im 15. Jahrhundert wurde von findigen Humanisten nachgewiesen, dass diese Urkunde gefälscht sein muss – zu viele historische Fehler waren den Fälschern unterlaufen. Die Aufdeckung der Fälschung hatte aber keine größeren Weiterungen zur Folge. Die Kirche durfte behalten, was sie sich unrechtmäßig angeeignet hatte, business as usual. Erst Luthers (wie man seit 2017 mal betonen darf) durchaus eigennützige, die eigene Karriere befördernde »Reformation« brachte den Umstand dieser unverschämten Anmaßung erneut aufs Tapet.

Bis ins 19. Jahrhundert konzedierte die Katholische Kirche, die Urkunde sei zwar gefälscht, behauptete aber wider besseren Wissens, es habe die Schenkung dennoch gegeben. Im 20. Jahrhundert musste sich die Kirche auch von dieser liebgewonnenen Tradition trennen, da ihr kein Mensch mehr Glauben schenkte. Der Titel des Falsifikats lautet Constitutum Constantini (Anweisung Konstantins). Es besteht aus der Confessio (Glaubensbekenntnis) und der eigentlichen Donatio (Schenkung). Im Confessio-Teil wird berichtet, Kaiser Konstantin sei gegen Ende seines Lebens vom Aussatz befallen worden. Die heidnischen Priester hätten ihm geraten, im Blut unschuldiger Kinder zu baden, um die Krankheit loszuwerden. Die Kinder seien zusammengetrieben worden. Doch kurz vor ihrer geplanten Ermordung habe Konstantin die Wehklagen ihrer Mütter gehört und daraufhin Mütter und Kinder verschont. In einem Traum sei er von den Aposteln Petrus und Paulus an Papst Silvester verwiesen worden, der ihm bei der Heilung der Krankheit helfen könne. Silvester habe sich seinerzeit am Berg Soracte bei Rom vor der Christenverfolgung versteckt. Konstantin sei dann tatsächlich von dem herbeigeholten Silvester mittels Taufe geheilt worden (in Wirklichkeit wurde Kon­stantin erst auf dem Sterbebett von Bischof Eusebius von Nikomedia getauft). Nach der Heilung habe sich Konstantin zum christlichen Glauben bekannt.

Aus Dankbarkeit, so wird im Donatio-Teil weiter ausgeführt, habe Konstantin dem römischen »Bischof« weitreichende Zusagen gemacht. So habe Konstantin dem römischen Patriarchat (Bischofssitz) den Vorrang über die anderen vier Patriarchate, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria und Jerusalem, verliehen. Außerdem habe der Kaiser dem römischen »Bischof« kaiserliche Insignien und Vorrechte verliehen (Diadem, Purpurmantel, Zepter und Prozessionsrecht). Schließlich sei dem »Bischof« die Herrschaft über Italien und den gesamten Westen überlassen worden. »On top« habe Konstantin dem »Bischof« sogar einen der prachtvollsten Kaiserpaläste Roms, den Lateranpalast, als Wohnsitz geschenkt und sich als Zeichen der Subordination als »Strator« betätigt, sprich: das päpstliche Pferd während einer Prozession zu Fuß am Zügel geführt (was eigentlich der Führer des stadtrömischen Adels zum Zeichen der Unterwerfung beim Kaiser machen musste). Nach Veröffentlichung und Durchsetzung der Fälschung mussten alle nachfolgenden mittelalterlichen Kaiser dem jeweiligen »Papst« den »Strator« machen, wenn sie von diesem gekrönt werden wollten, was für die Gültigkeit des Amtsantritts aufgrund der Fälschung unumgänglich geworden war: Der »Papst« hatte sich nämlich zwischenzeitlich auch noch das Krönungsrecht für die Kaiser, die obersten weltlichen Herrscher des Abendlandes, angemaßt und damit entscheidende Macht über die politische Elite des Okzidents erlangt: Wer Kaiser werden wollte, musste sich von nun an dem jeweiligen »Papst« unterwerfen, ihm »Geschenke« machen, meist weitreichende politische Zusagen, und natürlich Geldgeschenke nicht zu knapp.

Konstantin habe dann seinen Regierungssitz von Rom nach Konstantinopel im Ostteil des Reiches verlegt (was in der Realität völlig unabhängig von irgendwelchen Deals mit der Kirche geschah), während der römische »Bischof« die Herrschaft über den Westteil des Reiches übernommen habe. Mit der Fälschung begründete die Katholische Kirche seitdem ihren Anspruch auf Staatlichkeit und die Weisungsbefugnis über alle anderen Ortskirchen und nahm für ihren »Papst« einen Rang in Anspruch, der dem kaiserlichen übergeordnet war. Das führt bis heute dazu, dass der »Papst« sich allen weltlichen Mächten als übergeordnet ansieht und als Herrscher im »Vatikanstaat«, der bis heute von allen maßgebenden Ländern der Erde als unabhängiger Staat mit allen Rechten anerkannt ist, niemandem untertan ist. Selbst Hitler wagte nicht, den Vatikanstaat anzutasten nach der militärischen Besetzung Italiens ab Herbst 1943 (nach dem Sturz Mussolinis). Und dies nicht nur aus Pietät: Tatsächlich hatte der Vatikan Aufstieg und Machtübernahme von Faschismus und Nationalsozialismus, also von Mussolini und Hitler, entscheidend gefördert und als erster »Staat« und »moralische Autorität« – durch den Abschluss der jeweiligen Konkordate – die außenpolitische Isolation der beiden Diktatoren durchbrochen. Damit wurde die übrige Staatengemeinschaft ermutigt, ihrerseits normale Beziehungen zu beiden Diktatoren aufzunehmen. Natürlich waren die beiden Konkordate sehr vorteilhaft für den Vatikan. Beide Diktatoren waren überaus dankbar für den »höheren Segen« der obersten Moralinstitution der westlichen Welt. Der Vatikan sicherte sich mit den Konkordaten seine Machtbasis in Italien und Deutschland und erhielt auch sonst zahllose Vergünstigungen im Tausch gegen die politische Anerkennung.

Erstmals angewendet wurde die gefälschte Urkunde offenbar in den fünfziger Jahren des 8. Jahrhunderts unserer Zeit, als die Langobarden auf ihrem Vormarsch die römischen Besitztümer von »Papst« Stephan II. belagerten und dieser sich an Frankenkönig Pippin III. wandte, um von diesem politische und militärische Unterstützung zu erhalten. Der »Papst« verwies in seinem Bittschreiben auf die gemäß beiliegender Kopie vorhandene »Schenkung« Kaiser Konstantins, die von allen christlichen Königen verteidigt werden müsse. Der willfährige Frankenkönig stellte auf Grundlage der Fälschung dem »Papst« eine weitere, diesmal echte, Urkunde aus und bestätigte dem »Papst« durch die »Pippinische Schenkung« erneut seinen Herrschaftsanspruch über die von den Langobarden bewohnten Gebiete Mittelitaliens und erweiterte so die territoriale Ausdehnung des bis dato stadtrömischen Kirchenstaats. Doch es gab auch Widerstand gegen den »offensiven Einsatz« der Fälschung durch die Katholische Kirche. So bestritt Kaiser Otto III. im Jahr 1001 unserer Zeit die Rechtsgültigkeit der gefälschten Urkunde, was jedoch folgenlos blieb, da Otto schon im Januar 1002 starb – vermutlich als Opfer einer Vergiftung. Man muss nicht lange überlegen, wer als Anstifter dieser Vergiftung in Frage käme. Ein weiteres Mal setzte der »Vatikan« die gefälschte Urkunde im Streit mit dem byzantinischen Patriarchen Michael Kerullarios ein, als »Papst« Leo IX. um die Mitte des 11. Jahrhunderts zunächst in liturgischen Streitfragen mit dem Amtskollegen in Konstantinopel aneinandergeraten war. Der Streit verlagerte sich bald hin zur Frage, ob es unter den fünf christlichen Patriarchaten eines gebe, das den anderen übergeordnet sei, und ob dies ausgerechnet Rom sei. Auf der Basis der »Konstantinischen Schenkung« behauptete der »Vatikan« nun, erstes unter den Patriarchaten zu sein (Konstantinopel komme an letzter Stelle). Der Patriarch von Konstantinopel reagierte, indem er während der Verhandlungen mit dem »päpstlichen« Abgesandten die Kaiserinsignien anlegte und so für sich den Rang beanspruchte, den die römischen Bischöfe auf der Grundlage der Fälschung zu usurpieren versuchten. Tatsächlich war der Patriarch von Konstantinopel, dem letzten Regierungssitz des (ost-)römischen Reiches, noch am ehesten der Amtsnachfolger der Kaiser, da er ihre politische Machtposition in der letzten Reichshauptstadt Byzanz übernommen hatte. Der Streit endete angesichts der anmaßenden, unnachgiebigen, aggressiven Haltung des Vatikans schließlich mit der »Kirchenspaltung« von 1054. Die Ostkirche weigerte sich (zu Recht), sich der »römischen« Führung zu unterwerfen. Diese vom Vatikan provozierte Kirchenspaltung dauert bis heute an. Die Ostkirchen werden seitdem vom Vatikan abwertend als »orthodox« bezeichnet.

Seit dem Mittelalter ist die »Konstantinische Schenkung« fester Bestandteil des Kirchenrechts. Nach Otto III. haben Kirchengegner (die darob als »Häretiker« verfolgt und häufig ermordet wurden) sowie einzelne europäische Herrscher immer wieder die Gültigkeit der Fälschung bestritten, drangen damit aber nicht durch. Notgedrungen – da sie auf den »päpstlichen« Segen angewiesen waren – anerkannten die Prätendenten auf den Kaiserthron die »Anmaßung« und verstärkten somit die Stellung des römischen »Bischofs«. Friedrich Barbarossa wurde vom gegen den »Papst« und seinen römischen Herrschaftsanspruch opponierenden stadtrömischen Adel bei seiner Thronbesteigung 1152 über die Fälschung informiert. Die stadtrömische Freiheitsbewegung wollte damals die »Schenkungen« aufkündigen. Der einflussreiche Abt Bernhard von Clairvaux äußerte ebenfalls Zweifel an der »Konstantinischen Schenkung«, mit ihr sei das Gift von Prunk und Pomp in den Klerus gedrungen. Doch letztlich siegte die Anmaßung der römischen Popen, und die Kaiser und Mächtigen der Erde unterwarfen und unterwerfen sich dem römischen Potentaten. Es waren der deutsche Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues und wenig später unabhängig von ihm der italienische Humanist Lorenzo Valla, die bereits im 15. Jahrhundert umfassend nachwiesen, dass die »Schenkung« gefälscht ist. Durch die Reformation wurde diese Erkenntnis weiter bekannt gemacht. Die Katholische Kirche quittierte das mit Achselzucken. Der Vatikan gab die Fälschung schließlich im 20. Jahrhundert zu, wies aber darauf hin, dass der berechtigte Anspruch des »Papstes« auf weltliche Macht keines Geschenkes römischer Kaiser bedürfe. Und so existiert das auf diesem Lügengebilde aufgebaute weltliche Kirchenmachtsystem samt »Vatikanstaat« bis heute.

Anfänge russischer Staatlichkeit – Waräger oder Russen

Die Anfänge staatlicher Strukturen auf dem Gebiet des heutigen Russlands sind seit über 150 Jahren Gegenstand einer wissenschaftlichen, politischen und medialen Auseinandersetzung. Dabei wird viel Aufwand getrieben, um einen eigentlich ganz einfachen Sachverhalt zumindest innerhalb der Westblock-Presse anders aussehen zu lassen, als er eigentlich war. Es wird also permanent, bis heute, an einem Lügengespinst gesponnen, um auch in diesem Detail die psychologische Kriegsführung gegen Russland fortzusetzen. Dabei geht es um die Frage, ob die Russen selbst im 9. Jahrhundert n. Chr. erste Anfänge einer staatlichen Regierungsform auf ihrem Siedlungsgebiet schufen oder ob das in den Händen von skandinavischen Einwanderern, skandinavischen »Herrenmenschen« – überspitzt ausgedrückt (Übertreibung dient der Verdeutlichung) – lag, die den tumben Russen mühsam beibringen mussten, wie man einen Staat organisiert.

Die westeuropäische Geschichtswissenschaft, sekundiert von den westlichen Medien, hat sich seit anderthalb Jahrhunderten, gestützt auf schwache Indizien in einer viele Hundert Jahre nach den angeblichen Ereignissen entstandenen ukrainischen Chronik darauf festgelegt, dass es skandinavische Einwanderer waren, die sogenannten »Waräger« (oder Ost-Schweden), die auf russischem Siedlungsgebiet erste staatliche Strukturen schufen, dass also die Anfänge russischer Staatlichkeit in ausländischer Hand lagen. Das passte natürlich in das allgemeine, seit dem 16. Jahrhundert von interessierten Kreisen (gerade auch in Schweden, das zeitweilig in regelmäßigen Abständen militärische Angriffe auf Russland unternahm) betriebene und finanzierte Russland-Bashing, das in Westeuropa – von einigen kürzeren Phasen einer neutralen bis wohlwollenden Beurteilung Russlands – vorherrschend war und bis heute ist. Verstärkt ist dies seit den Ereignissen in der Ukraine 2013/14 der Fall, als die EU mit freundlicher Hilfe der USA und ihrer geballten Geheimdienstmacht einen Staatsstreich in Kiew inszenierte, den gewählten Präsidenten aus dem Amt treiben ließ und eine prowestliche Regierung installierte, um das Kernland Osteuropas endgültig ins westliche Lager zu ziehen und somit die geostrategische Position Russlands im Zuge der NATO-Osterweiterung weiter zu schwächen.

Wie ging denn nun die Geschichte um die Anfänge russischer Staatlichkeit wirklich vor sich? Betrachten wir die Fakten. Die Besiedlung der unwegsamen Weiten Russlands begann spät, vor rund hunderttausend Jahren. Zum Vergleich: In Westeuropa lassen sich vor 1,2 Millionen Jahren, nördlich der Alpen vor 600.000 Jahren, erste Spuren menschlicher Zivilisation nachweisen. Die Siedlungstätigkeit in Russland verdichtete sich vor circa 40.000 Jahren. Schon früh erfolgte hier die Zähmung und Züchtung von Pferden als Transport- und Jagdhilfsmittel. Die Bevölkerung gliederte sich in Nomadenstämme, die auf festen Routen durch die Landschaften zogen. Im letzten vorchristlichen Jahrtausend begannen Skythen und andere östliche Reiternomaden, erste größere Reiche zu schaffen. Gleichzeitig drangen griechische Eroberer von Westen her im Süden des Landes vor und gelangten über die Krim bis zur Dnjepr-Mündung. Im Norden siedelten sich finno-ugrische und baltische Stämme an.

Slawische beziehungsweise »russische« Siedlungsgebiete lassen sich zunächst am mittleren Dnjepr, nördlich von Kiew, nachweisen, also auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, die ja ebenso lautstark wie falsch ihre kulturelle Unabhängigkeit von Russland zu betonen nicht müde wird. Die slawischen Stämme verbreiteten sich in der Folge radial und drängten die anderen Stämme zurück, die finno-ugrischen nach Norden, die baltischen nach Westen. Den Lebensunterhalt erwirtschafteten die Slawen als Ackerbauern und Viehzüchter. Aufgrund der schwierigen klimatischen Verhältnisse war die Wald- und Holzwirtschaft bis ins 20. Jahrhundert einer der wichtigsten Erwerbszweige und Grundlage für Bautätigkeit und Energieversorgung (als Heizmaterial). Durch die Größe des Landes, die Distanzen und die schwierigen geographisch-meteorologischen Verhältnisse kam Gewässern schon früh die Bedeutung von Hauptverkehrsadern zu. Siedlungsplätze überregionaler Bedeutung lassen sich zunächst ausschließlich an großen Flüssen nachweisen, in Ortschaften wie Weliki Nowgorod, Staraja Ladoga und Kiew.

Die nun zu verzeichnenden Anfänge russischer Staatswerdung sind – wie eingangs schon beschrieben – umkämpftes Gebiet. Die Bedeutung dieser Frage kann man daran ermessen, dass der russische Präsident Wladimir Putin eigens dieses Thema aufgriff. Er bat nachdrücklich um eine ausgewogene Darstellung, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bislang gab es hauptsächlich zwei Deutungen, um die zwischen Historikern und Politikern unterschiedlicher Couleur erbittert gerungen wurde und wird. Es geht darum, welche Rolle die »Wikinger« beziehungsweise die »Waräger« bei der staatlichen Einigung der verschiedenen Kleinfürstentümer im Kernbereich des heutigen europäischen Teils Russlands hatten. »Wikinger« beziehungsweise »Waräger« stammten – zumindest darüber sind sich beide Lager einig – aus Skandinavien und waren im 9. Jahrhundert in die Gardarike (das Städtereich), also das Gebiet zwischen Ostsee und Nowgorod, gekommen, wo sie – teils regelmäßig plündernd, teils Handel treibend – wirtschaftliche Beziehungen aufbauten. Der Name »Waräger« wurde historisch denjenigen »Wi­kingern« zugeteilt, die sich im Osthandel engagierten beziehungsweise auf Kriegsfahrt nach Osteuropa zogen oder sich dort als Söldner verdingten. In neutralen Teilen der Wissenschaft wird das Ringen um die richtige Deutung der altrussischen Anfänge als weiterhin offen beschrieben.

Die Frage, welche Rolle die »Waräger« in Russland wirklich spielten, scheidet die Geister. Es geht im Kern darum, ob die skandinavischen Haudegen dienende oder herrschende Funktionen ausübten. Seit dem 18. Jahrhundert sind deutsche und skandinavische Forscher darum bemüht, unter Rückgriff auf »Chroniken«, die Jahrhunderte später entstanden, herauszustreichen, dass die »Wikinger«/»Waräger« von den einheimischen Slawen ins Land gerufen worden seien, um die Herrschaft über die zerstrittenen örtlichen Clans zu übernehmen – eine einigermaßen weltfremde, parteiische Sicht der Dinge, das sei vorweggenommen. Denn damit hätten die Einheimischen die Wikinger als eine Art »Herrenrasse« anerkannt, die der eigenen überlegen ist – die bedenklichen Konnotationen solcher Theoreme liegen auf der Hand. Denn es handelt sich bekanntlich bei dieser Vorstellung eines schwachen Russlands, das der Führung durch vom Westen entsandter Spezialisten bedarf, um den vielfach formulierten Wunschtraum vieler Mitteleuropäer und Spindoktoren am Potomac. Dieser Traum schien nach 1991/1993 zeitweise Wirklichkeit zu werden, als neoliberale Spinner, frisch den entsprechenden Kaderschmieden entfleucht, jede noch so idiotische Transformationsidee nicht etwa im Labor ausprobieren, sondern auf das größte Flächenland der Erde anwenden durften, so jene angeblich wundersam heilsame »Schocktherapie«, derer Russland bedürfe, um den Anschluss ans 21. Jahrhundert zu schaffen – fünf Jahre später war Russland pleite und sämtliche lukrativen Staatskonzerne in der Hand von mafiösen Oligarchen, die darob in kürzester Zeit zu Milliardären mutierten. Möglicherweise war das aber kein »Kollateralschaden«, sondern das eigentliche Ziel der Aktion.

Ähnliches geschah ab 1990 auf dem Gebiet der DDR, als westdeutsche Strategen – wie von langer Hand geplant, bekanntlich wurde das Vorhaben »Wiedervereinigung« beziehungsweise »Tag X« seit den fünfziger Jahren in verschiedenen BRD-Ministerien minutiös vorbereitet, inklusive der vorab geplanten, ebenso prioritären wie umgehenden Auflösung jeglichen Volkseigentums und Zerschlagung aller staatlich dominierten Wirtschaftsstrukturen – 17 Millionen Menschen in der gerade aufgelösten Deutschen Demokratischen Republik per Federstrich ihrer Arbeitsplätze beraubten und mir nichts, dir nichts 98 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze »zu treuen Händen« vernichtet wurden. Mit Steuergeldern aus Westdeutschland wurden diese nun auf staatliche Sozialleistungen angewiesenen 17 Millionen neuen BRD-Bürger zu Konsumenten der BRD-Konzerne umprogrammiert, ein gigantisches Umverteilungsprogramm, das Gewinne in Milliardenhöhe (»Vereinigungssonderboom«) in die Kassen jener BRD-Konzerne spülte, denen die neue BRD-Regierung (»Schröder/Fischer«) 1998 dann auch noch so gut wie alle Steuerpflichten erließ. Die Höhe der deutschen Sozialleistungen verhindert bislang die Entstehung einer »kritischen« Masse von Unzufriedenheit. Dass ein Viertel der vereinigten deutschen Bevölkerung dauerhaft dazu verurteilt wurde, Kostgänger des Staates zu werden, bleibt historisches Unrecht und ökonomisch ein Unding.

Die Gegenthese zur russischen Staatswerdung sieht so aus, dass die örtlichen einheimischen Herrscherclans die »Wikinger«/»Waräger« – nachdem sie unfreiwillig erste Bekanntschaft mit deren »Kampfkraft« gemacht hatten – als Servicekräfte, als Militärdienstleister, sprich: als Söldner einkauften. Die »Nordmänner« (die unter anderem in der französischen Normandie, in England und in Sizilien eigene, »normannische«, beziehungsweise »Wikinger«-Staatsgebilde schufen) waren für zwei Dinge bekannt: für ihre weitgespannten Handelsbeziehungen (bis Grönland) und für ihre Kämpferqualitäten. Letztere waren das Ergebnis jahrzehntelangen, permanenten Kriegstrainings, einer »Wikinger«-Tradition. Im Rahmen der »Leidang« genannten Verpflichtung eines jeden Ortes, ein Kriegsschiff zu unterhalten und mit kampferprobten Männern zu bemannen, wurde jede neue Männergeneration einem harten Waffen- und Nahkampftraining unterzogen. Als Händler, Plünderer oder als Söldner gelangten die Wikinger auch nach Byzanz, wo sie beispielsweise über vier Jahrhunderte die Leibwache des Herrschers stellten. Gleich bei ihrem ersten Einsatz in byzantinischen Diensten 989 unserer Zeit notierten die Chronisten als Besonderheit dieser Truppe, dass sie nach gewonnener Schlacht sogar noch fliehenden Feindsoldaten nachsetzte, um sie mit ihren Äxten in Stücke zu hauen. Die Fürsten der Kiewer Rus leisteten sich – das ist historisch unstrittig – ebenfalls Wikinger-Leibwächter beziehungsweise Spezialeinheiten, дружина (Druschina) genannt. Ein später Wiedergänger dieses Begriffs waren die schon von Verzweiflung kündenden Versuche Himmlers, gegen Ende des absehbar verlorenen Zweiten Weltkriegs im Rahmen des SS-Sicherheitsdienstes russische Spezialeinheiten in deutschen Diensten unter dem Namen »Druschina-Verbände« zu schaffen. Diese standen unter dem Befehl des SS-Hauptsturmführers Klaus von Lepel, der wiederum SS-Obersturmbannführer Dr. Rudolf Oebsger-Röder unterstellt war, dem Gründer und ersten Leiter des »Unternehmens Zeppelin«. Einige Kampf- beziehungsweise Terrorzellen des »Unternehmens Zeppelin« auf sowjetischem Staatsgebiet blieben bis in die 1950er Jahre hinein aktiv und wurden von westlichen Geheimdiensten alimentiert.

Die skandinavischen Söldner übernahmen in den frühen russischen Herrschaftsstrukturen auch Teile der Verwaltungstätigkeit, speziell, was die etwas heikleren Bereiche anging, etwa das Eintreiben von Steuern und Tributen. Generell waren die »Mörderbanden« der »Wikinger«/»Waräger« seit ihrem ersten Auftreten im Mitteleuropa des 8. Jahrhunderts für ihre Raubzüge berüchtigt, die den Beginn ihrer »Handelstätigkeit« darstellten. Alle europäischen Küstenstädte südlich und östlich Skandinaviens wurden damals in regelmäßigen Abständen von Horden plündernder, raubender, vergewaltigender Wi­kinger heimgesucht, die die Städte angriffen, niederbrannten, alles Wertvolle mitnahmen (dazu gehörten auch arbeitsfähige Kinder und Erwachsene, die in den jeweiligen Heimatorten der Wikinger dann als Sklaven ihr Leben fristen mussten oder in Drittländer verkauft wurden) und dann das Weite suchten, bevor die alarmierten Hilfstruppen anderer Fürsten sich ihnen entgegenstellen konnten. Mordlust und Zerstörungswut waren ihre hervorstechenden Merkmale. Die Wikinger fuhren dabei gern von der Küste des jeweiligen Opferlandes aus die großen Flüsse hinauf, so etwa in Frankreich die Seine, aber auch den »deutschen« Rhein, und kamen so 882 bis Bonn und Andernach, die Maas hinauf bis Lüttich, die Mosel hinauf bis Trier. Ähnlich hielten sie es im Baltikum und in Karelien, von wo aus sie den Wolchow hinauf- und dann die Wolga hinunterfuhren bis zum Schwarzen Meer beziehungsweise zum Kaspischen Meer. Besonders gefürchtet waren die Wikinger-Spezialeinheiten der Berserkir, welche sprichwörtlichen »Berserker« alle anderen Wikinger in ihrer Grausamkeit noch übertrafen. Ihre unmenschliche Folterfreude erinnert an die in russischen Medien kolportierten Verbrechen der ukrainischen Freikorps seit 2014 – nicht im Feld, im Kampf, sondern gegenüber wehrlosen Gefangenen und Zivilisten.

Im Laufe des 10. Jahrhunderts stellten die Wikinger ihre nunmehr auf immer mehr Abwehrmaßnahmen treffenden und daher »unwirtschaftlich« werdenden Raubzüge ein und verlegten sich auf die ethisch gebilligten Tätigkeiten als Händler und »christliche Streiter«, die beispielsweise in Süditalien als Söldner im Dienste der langobardischen Fürstentümer die byzantinischen Vorposten im Süden der italienischen Halbinsel angriffen, dort bald selbst die Herrschaft über Städte und Regionen übernahmen und schließlich sogar – nach der vom damaligen Papst bei ihnen in Auftrag gegebenen Eroberung des zu diesem Zeitpunkt noch arabischen Siziliens – ein eigenes Königreich begründeten. Bei den Kampfeinsätzen der Wikinger auf eigene oder fremde Rechnung kam es immer wieder auch zu Auseinandersetzungen untereinander, bei denen sich auf beiden Seiten der Front skandinavische Söldner­abordnungen gegenüberstanden: so etwa in Süditalien, als im Auftrag der dortigen byzantinischen Statthalter eine Eliteeinheit der »warägischen Garde« von Byzanz nach Italien verlegt wurde, um die Normannen (mittlerweile in Frankreich ansässige »Wikinger«) zu bekämpfen. Damit standen sich beispielsweise im Oktober 1018 am Fluss Ofanto zwei »Wikinger«-Heere gegenüber, die im Dienst und Sold unterschiedlicher Herren gegeneinander kämpften. Die Schlacht endete mit einem Sieg der byzantinisch besoldeten »Waräger« über die »Normannen«.

Günstiger war der Ausgang, was die Eroberung des arabischen Siziliens in päpstlichem Auftrag anging. Der damals amtierende Papst hatte Normannenclanchef Robert Guiskard schon vorab – als sich die Insel noch in arabischem Besitz befand – den Titel eines »Herzogs von Sizilien« verliehen, um die Normannen noch stärker zum Kampf gegen die vom Papst aus als »unerwünschte Araber auf christlichem Boden« bezeichneten regionalen Machthaber anzustacheln. Tatsächlich hatten die Araber auf Sizilien seit Jahrhunderten ein äußerst liberales Herrschertum etabliert, in dem die Angehörigen verschiedener Religionen (Christen, Juden, Muslime) und Volksgruppen friedlich nebeneinander lebten und jeder ungestört seinen Glauben ausüben konnte. Die Normannen brauchten insgesamt dreißig Jahre zur Eroberung der Insel (1061–1091) und beendeten im Auftrag des Papstes umgehend die zuvor von den Arabern ausgeübte Toleranz. Eben jene Araber (die zeitweise zwei Drittel der Inselbevölkerung stellten), aber auch die hier ansässigen Juden wurden von den Normannen größtenteils vertrieben, die nicht-christlichen Gebetsstätten zerstört oder zu christlichen Kirchen umgewidmet.

Warum sollten russische Adelsclans also im 9. Jahrhundert die als Händler und Söldner, als »Mörderbanden«, mithin als private Sicherheitsdienstleister im heutigen Sprachgebrauch bekannten Wikinger einladen, ohne weiteres die Herrschaft in ihrem Gebiet zu übernehmen? Dass das mit den eigentlichen geschichtlichen Abläufen wenig zu tun gehabt haben dürfte, sagt einem – unabhängig von den Quellen, die bei unvoreingenommener Betrachtungsweise ebenfalls in diese Richtung weisen – auch der gesunde Menschenverstand. Warum also wurde diese These überhaupt in die Welt gesetzt? Offenbar ging es den deutschen und skandinavischen Forschern zu diesem Zeitpunkt, als diese These erstmals publiziert wurde, also um die Mitte des 18. Jahrhunderts, darum, eigenständige Ursprünge russischer Staatswerdung zu leugnen und stattdessen eine Vorstellung zu propagieren, der zufolge die unselbständigen und zu eigener Herrschaftsorganisation nicht fähigen »tumben« russischen Vorfahren norwegisch-schwedische (beziehungsweise deutsche) Hilfe nötig gehabt hätten, um ihr Herrschaftsgebiet zu einigen und historisch wirksam werden zu lassen.