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Ein poetisches Debüt über die Unterdrückung von Frauenrechten. »Ein außergewöhnlicher Roman, der Körperlichkeit und Nicht-Zugehörigkeit in Sprache übersetzt.« Olga Grjasnowa »Ein unverheiratetes, unschuldiges Mädchen lässt sich leicht von einer verheirateten Frau unterscheiden: Der erste und wichtigste Unterschied sind die Augenbrauen.« Die aserbaidschanische Community, die in Russland in der Diaspora lebt, ist streng konservativ. Schon als Kind kann sich die Erzählerin schwer in die patriarchale muslimische Gesellschaft einfügen. Eine Krankheit drängt und befreit sie zugleich aus ihrer Rolle der schönen, heiratsfähigen Tochter … Jegana Dschabbarowa zeigt uns in ihrem ersten Roman eine verborgene Welt. Sie erzählt ihre eigene und die Geschichte der Frauen ihrer Familie ganz direkt und entlang ihres Körpers und verblüfft mit Eleganz und der poetischen Kraft ihres Erzählens.
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein poetisches Debüt über die Unterdrückung von Frauenrechten. »Ein außergewöhnlicher Roman, der Körperlichkeit und Nicht-Zugehörigkeit in Sprache übersetzt.« Olga Grjasnowa»Ein unverheiratetes, unschuldiges Mädchen lässt sich leicht von einer verheirateten Frau unterscheiden: Der erste und wichtigste Unterschied sind die Augenbrauen.« Die aserbaidschanische Community, die in Russland in der Diaspora lebt, ist streng konservativ. Schon als Kind kann sich die Erzählerin schwer in die patriarchale muslimische Gesellschaft einfügen. Eine Krankheit drängt und befreit sie zugleich aus ihrer Rolle der schönen, heiratsfähigen Tochter …Jegana Dschabbarowa zeigt uns in ihrem ersten Roman eine verborgene Welt. Sie erzählt ihre eigene und die Geschichte der Frauen ihrer Familie ganz direkt und entlang ihres Körpers und verblüfft mit Eleganz und der poetischen Kraft ihres Erzählens.
Jegana Dschabbarowa
Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Roman
Aus dem Russischen von Maria Rajer
Paul Zsolnay Verlag
Für Großvater und bibi
Nicht in einen Mantel, in einen Sawan hat der Vater dich gehüllt.
Abu’l-Qasem Ferdausi
Meine Mutter sagte: Die Dunkelheit in meinem Bauch
ist die einzige Dunkelheit, die du beherrschst.
Athena Farrokhzad
Kein Leben ist es wert, zur Vorlage für einen Roman zu werden.
Orhan Pamuk
Das Vergangene ist nie tot.
William Faulkner
Der ovale Spiegel warf zwei große, dichte, schwarze Augenbrauen zurück, die gemäß Mutters striktem Verbot nicht gezupft werden durften. Und zwar nicht nur, weil Allah seinen Geschöpfen untersagt, irgendetwas an ihren Körpern zu verändern, sondern auch, weil ich nicht verheiratet war. Das wichtigste Ereignis im Leben eines jeden aserbaidschanischen Mädchens ist zweifellos die Hochzeit, nur sie schenkt einem das Recht auf Veränderung, selbst wenn Allah diese Veränderung missbilligt. In kleinen Bergdörfern ließ sich ein unverheiratetes, unschuldiges Mädchen leicht von einer verheirateten Frau unterscheiden: Der erste und wichtigste Unterschied waren die Augenbrauen.
Dünn wie mit Tusche gemalt, gleichmäßig, ja geradezu künstlich, teilten sie dem Umfeld mit, dass das Mädchen nun zur Frau geworden war — und das paradiesische Gesträuch üppiger Augenbrauen der Vergangenheit angehörte. Aber in der normalen russischen Schule rissen die meisten Mädchen, sich in kleinen runden Spiegeln aus dem Kiosk betrachtend, seelenruhig mit einer erbarmungslosen Metallpinzette die widerspenstigen dicken Härchen aus. Ich dachte lange darüber nach, was am Augenbrauenzupfen so verkehrt sein mochte, waren doch meine Klassenkameradinnen am nächsten Tag dieselben, sogar ein bisschen glücklicher. Meine Augenbrauen wucherten Tag für Tag stärker über den Lidern, okkupierten immer mehr Haut, und hatten meine Freundinnen wenigstens helle Lianen, waren es bei mir zwei riesige dunkle Adlerflügel. Das Problem der Augenbrauen beschäftigte mich auch, wenn wir Vaters Verwandtschaft in Baku besuchten. Träge lagen dort in einem kleinen Zimmer feste Matratzen und bunte, ornamentverzierte Decken aufeinander. Die meisten Matratzen hatten meine Tanten und Großmütter eigenhändig befüllt: Erst wurde das Schafsfell lange gewaschen, dann sorgfältig im Hof unter der Sonne Bakus ausgebreitet, bis es ans Befüllen ging — den langwierigsten und qualvollsten Schritt. Saubere, rosenverzierte Bezüge wurden randvoll gestopft, Mama und bibi*1 drückten das Fell fest zusammen, als stopften sie den aufgeschlitzten Bauch einer Truthenne, dann nähten sie die Ränder von Hand zu. Anschließend wurde der Matratzenkörper noch mit großen Stichen in der Mitte perforiert, und zwar mit der größten, dicksten Nadel, mit der zu nähen schwer und gefährlich war: Schnell zeigten sich blutige Sternbilder an Händen und Werk. Auf ebensolchen, mit Liebe genähten, aufeinandergeschichteten Matratzen saßen meine Cousinen und ich und schauten schweigend zu, wie die erwachsenen Frauen mit funkelnden Ringen an den Fingern einander mit einem seidenen Faden die Augenbrauen zupften. Ich weiß noch, wie ich mich fragte, woher ihre Hände wohl diese geheimen Bewegungen kannten, wo hatten sie gelernt, den Faden so zielsicher und schnell zu führen, dass er einwandfrei das Überflüssige entfernte und das Richtige erhielt? Kaum hatte die Haut den schmerzlichen Verlust erlitten, rötete sie sich, als beweine sie jedes Härchen. Zwanzig Minuten später befanden sich anstelle der alten Augenbrauen neue: in die Haut eingraviert wie ein Ornament in eine Vase. Kalt, ruhig, um ihre Vergangenheit nicht wissend, verliehen sie dem Gesicht ihrer Besitzerin einen neuen Ausdruck, einen, der nur denen eigen ist, welche die Kraft des eigenen Willens erfahren haben und die Möglichkeit, den eigenen Körper zu verändern. So einen Gesichtsausdruck hatte eine Kindheitsfreundin, als ich sie an einem heißen Sommertag in Baku nach ihrer Hochzeit traf: Da war Erleichterung, nun musste sie nicht mehr die schwere Bürde der Unschuld tragen und an die Stelle all der rügenden »verboten« traten unzählige »endlich erlaubt«.
Einerseits mochte ich es, mit meinen vielen Cousinen, Tanten und anderen weiblichen Verwandten zu tun zu haben — lebten sie doch in einer Welt, deren Regeln mir vertraut waren, und verstanden all das, was ich meinen Klassenkameradinnen unmöglich erklären konnte. Andererseits waren sie selbst zu den strengsten Hüterinnen dieser Regeln geworden, die einst für sie erfunden worden waren: Tat jemand etwas Schmachvolles oder etwas, das nicht der Tradition entsprach, konnte man sicher sein, dass dank der geschwätzigen Vertreterinnen der Diaspora alle davon erfuhren. Deswegen konnte ich meinen Cousinen auch nicht von meinem süßen, verbotenen Wunsch erzählen, mir die Augenbrauen zu zupfen, und ich beneidete insgeheim meine Klassenkameradinnen, deren Leben nicht durch ein unendliches Konvolut von Verboten erschwert wurde und die selbst über ihre Körper verfügen konnten.
Nach langen Überlegungen fasste ich mir ein Herz: An einem Wochenende stahl ich Mutters Pinzette und zupfte unauffällig ein paar der unliebsamsten und auffälligsten Härchen zwischen den Augenbrauen. Es war getan: Die Pinzette kehrte an ihren Platz zurück, und die wie Herbstlaub abgefallenen Härchen wurden vom glatten, weißen Körper des Waschbeckens gespült. Obwohl ich eine gewisse Freude empfunden hatte — konnte ich doch nun in Gesellschaft meiner Klassenkameradinnen und Freundinnen entspannter sein —, hatten die herausgezupften Härchen nichts verändert: Die Welt war nicht zusammengebrochen, und mein Körper war nicht wertlos geworden. Wie waren die Augenbrauen der Frauen, die mich umgaben, warum waren sie so?
Seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich Mutter ähnlich sehe, davon zeugten nicht nur die Fotos in den Familienalben, sondern auch die Worte von ausnahmslos allen, die zu Besuch kamen. Nachdem sie ein paar Minuten in mein Kindergesicht und dann in Mutters Gesicht geschaut hatten, schlussfolgerten sie freudig: »Ganz die Mutter.« Ich weiß noch, wie sehr es mich irritierte, dass alle so beharrlich nach Ähnlichkeiten suchten. Als wären sie nicht durch die Tatsache der Zeugung und Geburt gegeben. Vielleicht versteckte sich hinter dem Wunsch, eine Ähnlichkeit auszumachen, die Frage, ob sich auch unsere Schicksale ähneln würden? Ähneln sich die Schicksale der Heldinnen in Nizamis Epen?
Nur meine Augenbrauen hatte ich von Vater. Männerbrauen in einem Frauengesicht: markante schwarze Bögen, und unter jeder Augenbraue einzelne Härchen wie verstreute Teekrümel. Warum haben alle Frauen in der »östlichen« Literatur diese Augenbrauen — geschwungen wie ein Sichelmond und schwarz wie die Nacht? Warum sollen nur die Augenbrauen schwarz sein? Was für Augenbrauen hatte Scheherazade? Sicherlich schwarze.
Auch die Augenbrauen meiner Mutter sind schwarz. Sie wirken immer ein wenig fragend; jedes Mal, wenn sie mich ansieht, steht in ihren Augenbrauen geschrieben: Warst du heute eine würdige Tochter? Nur selten heben sich ihre Augenbrauen vor Freude — das passiert meistens bei Hochzeiten. Hochzeiten waren schon immer ihre liebsten Feste. Nicht nur, weil sie bis heute die wichtigste Möglichkeit der Sozialisierung innerhalb der Diaspora sind, sondern auch, weil eine Hochzeit ein langersehnter Anlass ist, das Haus zu verlassen, sich schön anzuziehen, ein neues Kleid zu kaufen, sich zu schminken, die geliebten, immer gleichen Ringe und Ohrringe anzulegen, mit Freundinnen zu tratschen, und offiziell, ohne Scham, ein Glas Wein zu trinken. Sie liebt Hochzeiten, weil sie dann nicht kochen muss, ihren harten Alltag und den Haushalt vergessen und einfach ein Teil der Gesellschaft sein kann. Bei einer Hochzeit lernte sie vor dreißig Jahren auch meinen Vater kennen, genau genommen, lernte er sie kennen, und noch genauer, wählte er sie unter den anderen aus. Einer der Gründe, warum er sie wählte, waren natürlich ihre dichten, unangetasteten Augenbrauen, unter denen sie zum Tanz des Brautpaars hervorlinste. Konnte sie wissen, dass ihr bescheidener gesenkter Blick zum Grund für seine Verliebtheit würde?
Die gleichen Augenbrauen hatte auch meine Großmutter mütterlicherseits, mit der Zeit hörte sie ganz auf, sie zu zupfen, und sie ähnelten ihrem verwilderten Garten, den sie lieber mochte als Menschen. Nur ihn und die Nähmaschine betrachtete sie mit Zuneigung und Zärtlichkeit, als würde sie sie streicheln; Gegenstände und Pflanzen enttäuschten sie im Gegensatz zu Menschen nie. Menschen bekamen von ihr nur karge, harte Blicke wie trocken Brot. Man musste seine Nützlichkeit beweisen, um diesen Blick zu erweichen, und deswegen mussten alle, die jeden Sommer in ihr georgisches Haus kamen, ihren Aufenthalt abarbeiten: weiße und rote Vogelkirschen pflücken, Haselnüsse pflücken und schälen, Bohnen pflücken und in große grobe Säcke für den Verkauf abfüllen, Koriander und Petersilie im Garten pflücken — und dennoch, was man auch tat, ihr Blick unter den grimmigen grauen Augenbrauen blieb unverändert: ruhig und abwesend wie festes Eis.
Den gleichen, scheinbar ewig bösen und ernsten Blick hatte meine Schwester; sie kam, wie alle versicherten, ganz nach dem Vater, mit Ausnahme der Augenbrauen, die sie von der Mutter hatte. Den finsteren Blick hatte sie von der Großmutter geerbt: deren zusammengezogene Augenbrauen und den kalten Blick. Sogar auf einem süßen Foto, das sie als Einjährige zeigt, funkeln zwei böse braune Augen unter dichten, dunklen Löckchen. Mich beneidete sie vor allem um meine Augenbrauen und entrüstete sich immer wieder: Warum hatte sie die üppigen Augenbrauen der Mutter bekommen, die zwischen den Brauen zusammengewachsen waren, in dem Bereich, den man mit dem schönen lateinischen Wort Glabella bezeichnet? Von uns allen musste sie am meisten unter den Angriffen von Klassenkameraden und Klassenkameradinnen leiden, deswegen zögerte sie nicht eine Sekunde und kaufte sich eine eigene Metallpinzette: Niemand sollte es je wieder wagen, über sie zu lachen.
Mit der Zeit vergaß ich meine Augenbrauen, ihre Breite und Dichte kümmerte mich nicht mehr, ich hatte begriffen, dass Augenbrauen wie Lebenserfahrung nicht gleich sein können. In ihnen steckt immer etwas von ihrer Besitzerin. Erst einige Jahre später in einem kalten grauen Krankenhausflur beschäftigten mich meine Augenbrauen wieder. Ich saß dort in einer endlosen Warteschlange mit Menschen, deren Gesichter und Körper entstellt waren, asymmetrisch, verzerrt — etwas Unmenschliches lag in den Gesichtern, etwas, das größer war als das Leben. In ihnen war so viel Leid, dass ich mich zwischendurch nach draußen schleppen musste, um diese Gesichter durch das ruhige Weiß des Winterhimmels auszulöschen.
Wir saßen schon zwei Stunden dort: Man konnte meinen, der Neurologe hätte sich in seinem Sprechzimmer eingemauert oder wäre dort gestorben. Endlich ging die Tür auf, und die Menschen wurden schleppend einer nach dem andern eingelassen. Dort, hinter der ersehnten Tür, saß der einzige Neurologe der Region, der Injektionen von Botulinumtoxin ins Muskelgewebe verabreichte. Die Menschen verließen sein Büro verwandelt: Eine Frau mit Schiefhals trug erleichtert und stolz ihren langen, geraden Hals hinaus wie ein Wappen; ein junger Mann lächelte, um die wiedererlangte Symmetrie seiner Gesichtsmuskeln zu demonstrieren.
Als ich endlich dran war und mich freudig zur Tür bewegte, stellte ich mir schon vor, wie mein entstelltes Gesicht seine ursprüngliche Form annehmen würde. Wie die zwei hässlichen Scherben meiner Augenbrauen mit ihren schiefen Rändern einer gesplitterten Teeschale, die durch die Krämpfe der Gesichtsmuskeln verursacht worden waren, verschwinden; wie meine Augenbrauen in der Form eines Pfeils oder eines Sichelmonds am Nachthimmel wiederkehren, und ich mein wiedergewonnenes Gesicht nach draußen in die frostige Kälte trage.
Im Zimmer war es stickig. Alles war so, wie es in Sprechzimmern meist ist: von einem kühlen Blau und teilnahmslosen Weiß; der Arzt schob seine Brille auf die Nasenspitze, blätterte schweigend durch die Krankenakte, tastete meine Schultern-Gesicht-Hände ab und ließ dann ruhig fallen: »Botox wird Ihnen nicht helfen, es ist zu viel betroffen.« Ich blieb sitzen, ich war nicht bereit, aufzustehen und ohne das mir versprochene Wunder zu gehen, also öffnete er dezent die Tür und nickte.
Vor einem halben Jahr waren es meine Augenbrauen, die es einem anderen Neurologen ermöglichten, eine Diagnose zu stellen. Es war bei einem der vielen Arztbesuche, von denen ich mir nichts erhoffte. Kein Arzt hatte mir beantworten können, was mit meinem Körper los war, warum ich meine Arm- und Beinmuskeln nicht kontrollieren konnte; die meisten schlussfolgerten träge: »Stress« oder »Psychosomatik«, und schoben mich gähnend vor die Tür. An jenem Tag hatte ich schon entschieden, dass ich in die psychiatrische Abteilung fahre, wenn auch dieser Arzt sagt, es sei »psychosomatisch«.
Der Arzt war jung, wahrscheinlich keine vierzig, sein großer Körper und dichter Bart beruhigten mich gleich. Ich wusste, er würde sich nicht irren. Nachdem er alle Unterlagen ausgefüllt hatte, untersuchte er mich, dabei setzte er sich mir direkt gegenüber und bat mich, die Augenbrauen hochzuziehen, zu senken, zu lächeln, plötzlich wurde sein warmes, gleichmäßiges Lächeln von Unruhe abgelöst, er griff schnell nach meiner Akte und ging hinaus. Als er wiederkam, sagte er, ich müsse morgen um sieben nochmal wiederkommen, wir würden zum Chefarzt gehen. So lieferten meine schwarzen Augenbrauen die Antwort auf meine Fragen, ihre Funktion war es nicht mehr, mein Gesicht zu rahmen oder zu schmücken, Unschuld oder Reinheit zu symbolisieren, sie hatten aufgehört, eine genetische Zufälligkeit zu sein: Sie wurden zu Vorboten eines großen Unglücks, zu einer roten Leuchtrakete auf hoher See, und endlich war da jemand, der sie deuten konnte.
In der Schule hatten alle beliebten Mädchen blaue oder grüne Augen, mir wurde also schnell klar, dass ich Pech gehabt hatte, denn meine Augen waren braun. An ihnen war nichts interessant, sie waren gewöhnlich wie Baumrinde, eine massive Tischplatte oder der Lappen, den die Putzfrau zum Bodenwischen nutzte — viel zu viel Hässliches und Alltägliches war braun. Die Augen all meiner Cousinen und Verwandten waren braun. Nicht zu vergleichen mit einem ruhigen blauen Himmel, einem tosenden blauen Ozean, wunderschönen grünen Blättern, sich wiegendem grünen Gras oder fabelhaften blauen Flüssen — warum nur war alles Schöne blau und grün? Warum war so wenig Schönes braun?
Offenbar war die Erde bis ins Innerste vergiftet: Die verwesenden Körper der Kolonisatoren von damals hatten es geschafft, der Welt ihre Norm aufzuprägen, der zufolge Blau immer schön und Braun hässlich war. Selbst ein kleines Mädchen aus einer Welt, in der alle braune Augen hatten, wünschte sich, sie hätte blaue. Blau, wie sie einige von den Frauen des Sultans oder türkische Schauspielerinnen hatten — sie hatten das Blau ihrer Augen sicherlich von ihren Müttern, Großmüttern und Urgroßmüttern, die in den Harems der Sultans oder die Trophäen des Osmanischen Imperiums gewesen waren. In den stickigen Wohnungen bei meinen Cousinen in Baku schauten wir gebannt türkische Musikvideos, wir sahen die blauen Augen der türkischen Schauspielerinnen und Pop-Sängerinnen und bedauerten, dass es in unserer Familie keine solchen Augen gab. Wir hatten einander nichts zu sagen — meine Schwester und ich sprachen schlecht Aserbaidschanisch und unsere Cousinen gar kein Russisch, deswegen war das Einzige, was wir gemeinsam tun konnten, uns Dinge anzuschauen. Gegenstände, Bücher, den Fernsehbildschirm. Im Grunde wollten wir die Familiengeschichte so umschreiben, dass ein paar entfernte blauäugige Schönheiten darin vorkamen, die hauptsächlich ihrer Schönheit und ihres ungewöhnlichen Äußeren wegen versklavt worden waren. Damit die einst erfahrene Gewalt uns ungewöhnlich machte, uns aus der Masse unseresgleichen abhob und in die Gemeinschaft der anderen, der schönen Mädchen einschloss. Aber warum war Schönheit nicht von Gewalt zu trennen, und warum musste eine Frau eine andere versklaven, um »normativ« zu werden?
Irgendwann hatte die Idee, meine Augen nicht mehr braun zu machen, ganz von mir Besitz ergriffen: Traurig blätterte ich durch Hochglanzmagazine, in denen alle Schauspielerinnen und Models natürlich blaue Augen hatten; traurig betrachtete ich meine blauäugigen Klassenkameradinnen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, meine Augen unbedingt zu ändern, ich musste groß werden und mir die blauesten aller Kontaktlinsen kaufen, damit meine Augen endlich nicht mehr braun waren. Wenn sie schon nicht blau würden, dann hoffentlich wenigstens denen von Vater ähnlich: Er hatte honigbraune Augen mit einem Schimmer Grün. Sosehr ich auch versuchte, mir einzureden, meine Augenfarbe wäre nicht braun, oder mich mit den richtigen Lidschatten zu schminken — meine Augen blieben braun. Einmal brach ich zufällig vor einem Spiegel in Tränen aus, und als ich einen Blick hineinwarf, bemerkte ich, dass meine Augen etwas heller geworden waren, ein Honigschimmer und etwas Grün waren darin aufgetaucht, wie bei Vater, nur nicht ganz so ausgeprägt, kaum zu erkennen. Endlich beruhigte ich mich, sie waren also nicht nur braun, sie hatten einen Hauch Grün, auch wenn er erst nach vielen Tränen zum Vorschein kam: Meine Augen wurden nur in den Minuten der Verzweiflung heller, als wäre das Leid ein Bleichmittel — der notwendige Preis für das »Schöne«.
Blau war sogar der heimische göz monjuk, oder wie ihn einige Imame nennen: das Auge Satans — das Hauptmerkmal aserbaidschanischer Häuser. Ein blaues Auge mit einer schwarzen Pupille in der Mitte. In jedem Haus hängt es über der Eingangstür, damit alle Familienmitglieder vor dem bösen Blick geschützt sind; Anstecknadeln aus Perlen in Form des Auges finden sich an der Kleidung von Kindern. In İçərişəhər*2 hängt das Auge Satans in kleinen Geschäften oder Ateliers der einheimischen Künstler gegenüber vom Eingang. Seit frühester Kindheit weiß ich, dass das Schlimmste, was man von Fremden zu befürchten hat, der böse Blick ist, deswegen kennen alle Frauen in der Familie einige Mittel, wie man sich und seine Liebsten vor ihm schützt. Außer dem kleinen Auge kam noch üzerlik*3 zum Einsatz, ein Kraut, ohne das ein Zuhause kein Zuhause war. Sobald der letzte Gast die Tür hinter sich zugezogen hatte, holte Mutter ein üppiges Bund üzerlik
