Die Häuser meines Vaters - Walter Müller - E-Book

Die Häuser meines Vaters E-Book

Walter Müller

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Beschreibung

Phantomschmerz im Familienalbum Ein fremder Mann, dem er täglich begegnet ist: VATER – für Robert Krämer junior sind das nur fünf leere Buchstaben, ein Wort ohne Gesicht. Denn von Krämer senior weiß er nichts. Und so geht der Sohn auf Spurensuche im Geröll der eigenen Vergangenheit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Walter Müller

Die Häuser meines Vaters

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Man liebt die Toten [...]BaugrubeDIE HÄUSER MEINES VATERS.DAS VERRÜCKTE JAHR.DER TRICK MEINES VATERS.VATER-TALK.FÜNF BUCHSTABEN.MEIN TRIUMPHALER AUFTRITT.VATERSPRACHE.VATER FEHLTE NICHT.KRÄMER & KRÄMER, EINS.OHNE VORFÄLLE, NICHTS BESONDERES.WORÜBER MAN SCHREIBEN MÜSSTE.VATERSPINNEREIEN.STEINIGE WEGE.… UM EINEN GROSCHEN.AUFREGUNG IM HÜHNERSTALL.STAMMBAUM, PROVISORISCH.EstrichWAS ICH VON VATER WEISS.UND DANN BAU ICH DIR EIN HÄUSCHEN.DER KNIFF MEINER MUTTER.VON DER KRAFT DES SCHWEIGENS.NOCH SO EIN TRICK MEINER MUTTER.NACHTRAG ZU SCHWESTER SADO.DER BARBAR.PSSSSSSSST!VON DEN ANDEREN MÄNNERN.HERR PUTZ HAT ANGERUFEN.TOTER VATER, GUTER VATER.MäuerchenHIER IST – DEIN VATER!WAS ICH VON MEINEM VATER GERNE GELERNT HÄTTE.KRÄMER & KRÄMER, ZWEI.VOM ZWEIHÄNDIG-PINKELN.VON RITTERN UND ROSEN.EIN BRIEF AN VATER, 1969.SO SIND WIR, VATER UND ICH.MEIN ERSTER SCHULTAG.DIE VÄTER DER ANDEREN.WIE VATER MICH AUS DER WEIBERABTEILUNG HOLTE.AUFEINANDER ZU, ANEINANDER VORBEI.FISCHERLATEIN.SO EINE ART WUNDERKIND.WAS GUT DARAN IST, WENN MAN SEINEN VATER NICHT PERSÖNLICH GEKANNT HAT.BaumaßnahmenWAS ICH VON MEINEM VATER BESITZE.DREI ZÄHNE, EINE LOCKE, EIN BEIN.PHANTOMSCHMERZEN.MEINE RECHTE GROSSE ZEHE.STAND DER ERMITTLUNGEN.ZWEI TELEFONGESPRÄCHE.SAGENHAFTE VERLEUMDUNGEN.WAS IRGENDWIE NOCH ZU KLÄREN WÄRE.EIN WIEGENLIED.KRÄMER & KRÄMER, DREI.»CAPRIFISCHER«, GEPFIFFEN.EIN KIND DER LIEBE.DER RICHTER IST EIN IDIOT, VATER!WER VERLIERT, MUSS ROSI VÖGELN.KRÄMER & KRÄMER, VIER.ABENDGEBET.FassadenLILIOM BITTET UM VERZEIHUNG.HAUSORDNUNG.MEIN VATER, DER VAMPIR.DER WINΚ MIT DEM ZAUNPFAHL.KRÄMER & KRÄMER, FÜNF.WORÜBER ICH SCHREIBE.FluchtwegeHAUS STÜRZT EIN. SCHUTT UND GERÖLL.MUTTER IM GROSSFORMAT.AUFS MORGENGRAUEN ZU.VERGILBTE KUVERTS.BELASTENDES MATERIAL.UNSERE HÄUSER.»REST IN PEACE!«DEIN SOHN – DEIN VATER!LANGSAMER ABSPANN.

Man liebt die Toten um ihrer Fehler willen. Darum gibt es keine toten Engel.

ELIAS CANETTI

 

für Magdalena, Martinund Robert Krämer jun.in memoriam Robert Krämer sen.,wer auch immer er war

Baugrube

Baugrube: ausgehobene Vertiefung für die Gründung eines Bauwerkes. Der Mutterboden wird so abgetragen, daß kein Humus verloren geht.

Der Große Brockhaus, 1. Band, A-Bef,Wiesbaden 1977

DIE HÄUSER MEINES VATERS.

Mein Vater hat viele Häuser gebaut, große, kleine, riesenhafte, Wolkenkratzer, Paläste, ganze Siedlungen. Muss ein tüchtiger Maurer gewesen sein, mein Vater. Maurer saufen, das ist eine Tatsache. Zeig mir einen Maurer, der nicht säuft. Einen Einzigen. Geht gar nicht; die Hitze, der Staub, die Kraftanstrengung.

»He, Vater«, brülle ich, am Fuße des Baugerüstes stehend, »du hast die Brotzeit vergessen!« Dann klettert Vater von den Holzplanken, fährt mir mit seiner braun gebrannten Hand durchs Haar, küsst mich auf die Stirn, nimmt den Jausensack mit den belegten Broten und den drei Bierflaschen und steigt wieder hoch.

Und am 1. Mai ziehen wir durch die Straßen, er mit der Arbeiterfahne in der Faust; er kann sie mit einer einzigen Hand hochstemmen, stundenlang. Vater redet nicht, kein Wort, aber er lächelt, während wir so durch die Stadt marschieren. Er brüllt auch keine Parolen mit; und wenn er singt, dann so leise, dass ich es nicht höre. Seine Lippen bewegen sich. Aber kein Ton ist zu hören. Auch so ein Kunststück, das mein Vater beherrscht.

Jetzt der Clou: Nach der Kundgebung vor dem Haus der Partei nimmt er mich mit ins Gasthaus »Zu den drei Hasen«. Erst kürzlich, zwanzig Jahre nach Vaters Begräbnis, hab ich in der Wirtsstube dieses Metallschild entdeckt, auf dem alle verstorbenen Stammtischfreunde namentlich verewigt sind, auch mein Vater. Natürlich auch mein Vater.

Ich war schon in Dutzenden Häusern, die mein Vater gebaut hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Beweisen lässt sich natürlich nichts. Ungerecht, dass immer nur die Namen der Bauherren, der Architekten oder der zuständigen Bürgermeister in Chroniken und auf Gedenktafeln aufscheinen. Meinen Vater hätten sie auch dazuschreiben können, da und dort wenigstens. Immerhin hat er die Drecksarbeit gemacht.

Inzwischen habe ich zwei Objekte ausfindig gemacht, die mein Vater gebaut hat, nachweislich. Noch dazu im Alleingang. Den Fußboden im Häuschen seiner Schwester, meiner Tante, der ich neulich zum allerersten Mal begegnet bin. Und diese kleine, inzwischen arg verwitterte Einfassung aus vier kerzengeraden Steinleisten, rautenförmig angelegt, für den Blumenschmuck auf dem Grab seiner Mutter, meiner Großmutter-väterlich. Handgemacht. Vom Sohn für die Mutter.

So war er: mein Vater.

DAS VERRÜCKTE JAHR.

1978 war ein verrücktes Jahr. Meine Frau ließ sich von mir scheiden, die Zeitung, bei der ich arbeitete, wurde eingestellt, ich erhielt meinen ersten Literaturpreis. Nichts Weltbewegendes, aber immerhin. Ach ja, mein Vater starb. Ich las davon in der Zeitung. Robert Krämer, Maurerpolier i.R., 55.

Ist er das?, fragte ich Mutter am Telefon.

Das ist er, sagte sie.

 

Eigentlich müsste es heißen: 1978 war ein verrücktes Jahr. Mein Vater starb, die Zeitung, bei der ich arbeitete, wurde eingestellt, meine Frau ließ sich von mir scheiden, ich erhielt meinen ersten Literaturpreis.

Nichts Weltbewegendes, aber immerhin.

Das mit dem Preis war im Juni. Vater starb im Jänner.

DER TRICK MEINES VATERS.

Ich hatte Vater nie kennen gelernt, obwohl er, wie ich später erfuhr, mein ganzes Leben lang, all die Jahre hindurch, in derselben Stadt gelebt hat. Jetzt war er also gestorben, und ich ging zu seinem Begräbnis, anonym. Tot mit 55. Ich war damals 28.

Ein kalter Tag im Jänner, ich trat als Letzter ans offene Grab, unbekannterweise. Nach der zweiten Familie meines toten Vaters, seiner Witwe, meinen Halbgeschwistern, wie ich mir ausrechnen konnte. Nach den ehemaligen Arbeitskollegen vom Bau. Vater war krankheitsbedingt in Frühpension gewesen, ein paar Jahre schon, hat ein Abschiedsredner behauptet. Nach der Stammtischrunde von den »Drei Hasen«, nach den Kameraden vom Sparverein (»Schlummere sanft, lieber Freund!«), nach der Hausgemeinschaft oder wer immer das war, nach all denen also ich. Krämer junior, Erstgeborener.

Ich warf, wie die anderen auch, eine Schaufel Erde auf den Sarg, bekreuzigte mich, wie es sich gehört, und nahm vom Beerdigungsassistenten, wie die anderen auch, ein Erinnerungsbillett in Empfang, das ich sofort in meiner Manteltasche verschwinden ließ. Dann zog ich mich wort- und grußlos zurück. Wetten, dachte ich beim Weggehen, dass ich keinem aufgefallen bin? Irgendeiner ist als Letzter ans offene Grab getreten. Irgendeiner. Fragt uns nicht, wer das war.

Bei der Autobushaltestelle schlug ich das Billett mit dem Sterbebildchen auf – und erblickte das Gesicht eines Mannes, den ich vom Sehen kannte. Gütiger Gott! Das Gesicht war mir vertraut – von gemeinsamen Fahrten mit dem Bus. Den kenne ich doch. Es reißt mir den Boden weg. Aber das ist nur der Alkohol. Der mit der Alkoholfahne am offenen Grab – wer war das? Das war ich, der Sohn. Und der im Sarg, das war der Mann aus dem Bus. Der Vater. Wir hatten uns bestimmt ein paar Dutzend Mal gesehen, unbekannterweise, im Laufe der Jahre. Wenn ich auf dem Weg in die Schule war und er, denke ich mir, auf dem Weg zur Arbeit. Ich: vom Cello-Unterricht heim, er ins Wirtshaus, zu den Stammtischfreunden. Das also wäre mein Vater gewesen. Der Mann aus dem Bus. Einmal im Staubmantel, ein andermal im Wintermantel, groß karierte Hemden, hellbraunes Haar, ein bisschen gewellt wie das meine. Nie mit jemandem plaudernd, einfach durch das Busfenster ins Freie starrend. Mein Vater, unbekannterweise. Die perfekte Tarnung.

Dass sich Menschen wegzaubern können, entmaterialisieren, soll es, so berichten die Mythen und Heiligengeschichten, gegeben haben. Dass Menschen abhauen und nie wieder gesehen werden, gibt es tagaus, tagein. Mein Großvater konnte das. Dass einer verschwindet und gleichzeitig da ist, das hat nur mein Vater geschafft.

Das Vaterbildchen in der Hand, wartete ich auf den Bus, aber es kam keiner. Ewigkeiten lang kein Bus. Keine Menschen unterwegs. Alle verschwunden, weggeblendet. Es gibt keine Menschen mehr. Und der Vater liegt im Grab, drüben am Friedhof, neben den »Drei Hasen«.

Haltestelle »Obuskehre«, unser streng geheimer Treffpunkt all die Jahre hindurch. »Blumen-Kainz« und »Zuckerl-Kern«. Auf der anderen Straßenseite die »Zeugstätte«. Die üblichen Schülerwitze: Hier werden die Kinder gezeugt. War aber bloß die Feuerwehrzentrale samt Garagen und dem ganzen Zeug.

»Obuskehre«. Umsteigestelle. Aus dem »M«- in den »S«-Wagen. Aus der Stadt hinaus in die Vorstadt. Zur Mutter. »S« wie Sohn. Krämer und Sohn. Von der »Obuskehre« aus bist du in einer Minute bei den »Drei Hasen«, in zwei Minuten beim Friedhof, in fünf an Vaters Grab.

Jetzt standen sie wohl noch am Grab, um das Grab herum: Vaters Leute. Trauer-Smalltalk. Ich hätte hingehen und mich vorstellen können. Ich bin es, Krämer, der Sohn. Ich ging aber nicht hin. Ich wartete auf den gottverdammten Bus, das Sterbebild im Mantelsack kaputtknetend.

Vielleicht war er ganz einfach mein Schutzengel und durfte sich nicht zu erkennen geben. Vielleicht hat er so viel Kraft dafür aufgewendet, unerkannterweise in meiner Nähe zu sein, dass er darüber selbst immer kraftloser wurde und zu früh sterben musste. Wenn es aber umgekehrt gewesen sein sollte, dass also ich sein Schutzengel war, dann hätte mir das, verflucht noch mal, irgendwer sagen müssen! Wer macht die Menschen miteinander bekannt? Gott? Der Teufel? Die Hebamme? Niemand?

Schade, dass es keine Videos oder Schmalfilmstreifen (mit versteckter Kamera) gibt: »Vater und Sohn im Bus, einander nicht erkennend«. Ein Mann und ein Bub, ein Mann und ein Jüngling, zwei Männer, der eine so alt, dass er der Vater des anderen sein könnte. Die Blicke der beiden kreuzen sich auf holprigen Fahrten zu verschiedenen Morgen- und Abendzeiten, Frühling oder Advent im Jahre Schnee und die Jahre davor und danach. Ein Schüler und ein Maurer. Student und Frührentner. Blickkontakte. Vater und Sohn, zwei Fremde.

Wir wären ein geheimnisvolles Duo geworden, Krämer & Krämer, das hätte irrwitzige Clownsnummern ergeben. Wir wären mit unseren Nummern auf Bustournee gegangen und hätten inmitten der Passanten gespielt, rund um die Uhr. Die Busgäste aber hätten nicht einmal etwas bemerkt. Am Schluss, nachdem sich unsere Blicke mal wieder wie zufällig berührt haben würden, hätten wir uns miteinander bekannt gemacht, maßlos staunend, dass wir den gleichen Namen tragen. Mein Vater, der Typ vom Sterbebildchen, den ich von gemeinsamen Busfahrten her kannte, ohne ihn zu kennen.

Endlich kam der Bus und brachte mich zur Arbeit. Die Redaktionskonferenz war längst vorbei, aber das war mir egal. »Beim Arzt«, sagte ich, als mich wer fragte. Dann hockte ich mich an meine Schreibmaschine und versuchte mich unter größter Anstrengung an Einzelheiten jener Theaterpremiere zu erinnern, die ich am Abend zuvor in unauffälliger Betrunkenheit an mir hatte vorbeigleiten lassen.

Natürlich hatte ich getrunken. Viel zu viel getrunken. Die Premiere, das Begräbnis. Ich kam niemals nüchtern zu solchen Ereignissen. Nicht ins Theater, nicht auf den Friedhof, nicht damals. Ohne Atem zu holen, tippte ich meinen Bericht in die Maschine. Ich war kein schlechter Schreiber.

Man hatte den »Liliom« gegeben. Den »Liliom« kenne ich auswendig. Über den »Liliom« von Franz Molnár schreibe ich Kritiken, ohne in der Aufführung gewesen zu sein, schreibe ich Hymnen, auch wenn die Vorstellung eine Katastrophe war. Schwer betrunken, kann ich immer noch was Vernünftiges schreiben über den »Liliom«.

Ich tippte, als ginge es um mein Leben. Dabei kam ich vom Begräbnis meines Vaters, den ich nicht gekannt hatte. Oder schon gekannt, aber nur vom Sehen. Und nicht gewusst, wer der Mann gewesen ist. Dieser unauffällige Fahrgast – das war mein Vater. Aber das ging niemanden was an.

Eine halbe Stunde später war der Bericht fertig. Die Chefin lobte Brillanz und Lebendigkeit meiner Schreiberei, strich mir einen Haufen Rufzeichen weg, machte mich mit der Planung der nächsten Abendtermine bekannt und meinte, so nebenbei, ich solle nicht so viel trinken.

Stell dir vor, Vater, niemand hat was gemerkt, von meiner Anwesenheit bei deinem Begräbnis nicht und nicht von meinem Rausch im Theater, außer der Chefin, aber die sagt nichts weiter. Sonst niemand. So unauffällig komme ich durchs Leben.

VATER-TALK.

Talkshows rund um die Uhr. Zwanzig-Minuten-Schicksale. Tragödien, Komödien, fein portioniert. Wiederholungen im Nachtprogramm. Immer wieder diese Geschichten. Es kommen Söhne, die schluchzen, und Väter, die unbeeindruckt bleiben. Und umgekehrt.

 

Hier ist dein Vater.

Das ist dein Sohn.

Werdet ihr euch wieder sehen?

Schon möglich.

 

Jetzt führen sie einen vor, der bringt den Blick nicht hoch. Steht einfach so da und starrt zu Boden. Mittleres Alter. Brillenträger.

Was wissen Sie, ruft die Talkmasterin, über Ihren Vater?

Er weiß nichts über seinen Vater, nichts.

Steht im Scheinwerferlicht und schweigt, als hätte er die Frage nicht verstanden. Vater? Vater!

Aber da ist ohnehin die Sendezeit abgelaufen, und alle vertrollen sich in die Studiokantine. Alle bis auf den Mann, der immer noch auf der Bühne steht, im Dunkeln, festgefroren.

FÜNF BUCHSTABEN.

Vater. Auf einmal »Vater«. »Retav« von hinten nach vorne. Fünf Buchstaben. »Mutter« hat sechs.

vvtttt! Windstoß, heiße Luft. Sonst nichts.Vater hat man begraben, irgendeinen. Meinen Vater nämlich. Der Tod gehört zum Leben. Alle Menschen sterben, auch Väter. Was du ererbt von deinen Vätern. Und so weiter.

 

Vater. Komisches Wort. Fremdwort. Irrwitzig.

Brennt in der Kehle. Muss man es flüstern?

Reimt sich auf Kater, Krater, Pater, Prater. Theater.

Stabat Mater. Desolater, disparater, rabiater Vater.

Ochsenbrater. Psychiater.

 

Blödes Wort im Ohr.

Material. Geht nicht mehr weg.

 

Und sonst? Was fällt dir sonst ein?

Nichts als läppische Spielereien?

Kinderliederreime.

Denk nach. Aber der Kopf bleibt leer.

Irgendwas? Um Himmels willen.

Irgendwas.

MEIN TRIUMPHALER AUFTRITT.

Der erste Meilenstein in meinem Leben: Ich bin zu meiner eigenen Taufe zu Fuß gegangen. Das kommt nicht alle Tage vor. Ich kenne niemanden, der zur eigenen Taufe zu Fuß gegangen wäre. Natürlich gibt es Menschen, die sich erst im Erwachsenenalter taufen lassen, und solche, die hochbetagt vom einen Glauben zum anderen übertreten und zu Fuß zum Pfarrer kommen bzw. mit dem Auto oder dem Taxi. Aber das meine ich nicht.

Für gewöhnlich, als Neugeborener, wird man zur Taufkirche getragen. Mich hat mein Taufpate an der Hand geführt. Und ich bin neben ihm hergetrippelt. Am Tag meiner Taufe war ich ein Jahr, elf Monate und zwölf Tage alt. Da wäre man doch ein Idiot, wenn man sich tragen ließe.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich gekleidet war bei meiner Tauffeier. Es gibt kein einziges Foto. So viel ist sicher: Ich trug kein Babyhemd und steckte in keinem blütenweißen Steckkissen wie alle anderen Täuflinge. Der Jahreszeit (März) und den Fotovergleichen nach werde ich wohl einen Übergangsmantel, vermutlich in Dunkelblau, getragen haben, darunter womöglich die erste matrosenanzugartige Uniform. Eine Zeit lang tauchte ich bei allen offiziellen Anlässen im Matrosenanzug auf. Matrosenmütze auf dem Kopf. Egal – was zählt, ist die Art der Anreise: zu Fuß.

Warum ich so spät getauft worden bin? Nun, das war so ein Trick von mir. Ich habe irgendwann, ziemlich früh jedenfalls, en passant verlauten lassen: »He, Leute, wartet noch eine Weile mit der Taufe – ich würde ganz gern zu Fuß kommen!« Hab ich natürlich nicht gesagt, ich konnte ja noch gar nicht sprechen. Aber irgendwie müssen es meine Angehörigen wohl so verstanden haben. Wir zögern die Taufe hinaus, bis der Junge laufen kann. Sein Wunsch sei uns Befehl. So warteten wir das Fünfzigerjahr ab, das Einundfünfzigerjahr, und im Zweiundfünfzigerjahr warteten wir, bis der Frühling ausgebrochen war.

Das ist jedenfalls meine Lieblingsversion von dieser seltsamen Taufgeschichte. Die liebe ich, die erzähle ich jedem, der mich nach meinem Namen fragt.

Es gibt aber auch ein böses Gerücht, das besagt, ich sei deshalb so spät getauft worden, weil kein Schwein mein Pate sein wollte, weil sich alle denkbaren Kandidaten weigerten, indem sie ein Kreuzzeichen machten und sagten: Ein Kind von diesem Vater? – Sonst noch was? Mit so einem wollen wir nichts zu tun haben. Wie der Vater, so der Sohn – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – wie der Herr, so s’ G’scherr! Oder die sanftere Variante: Nicht böse sein – aber ohne uns!

Fast zwei Jahre zogen also ins Land, und ich war immer noch ein Heidenkind, das einzige weit und breit, in meinem Alter. Wer ungetauft stirbt, landet im Fegefeuer. Auch die Kinder. Meine Großmutter hatte ein Söhnchen, einen Nachzügler, im vorletzten Kriegsjahr geboren. Der hieß Wernerle und starb mit 13 Monaten. Wernerle kommt nicht in den Himmel, sagte der Pfarrer, Wernerle muss sich die ewige Seligkeit erst verdienen. Im Fegefeuer, halb tot, halb lebendig, Feuer bleibt Feuer.

Wernerle hat niemandem etwas getan, sagt Großmutter. Aber der Pfarrer bleibt hartherzig. Wernerle kommt ins Fegefeuer. Kein Engelamt wie bei den getauften Kindern, kein Priester am Kindergrab. Wernerle ist grad erst ein Jahr alt, und schuld an seinem Tod ist der Krieg. Kein Erbarmen, kein Trost. Großmutter tritt aus der Kirche aus. Und nie wieder ein. Ich, der Bub Martin, soll nicht im Fegefeuer landen, ich, der Bub Martin, muss getauft werden, unbedingt. Aber keiner erbarmt sich. Wegen Vater. Billige Ausrede. Wahrscheinlich kann mich keiner über dem Taufbecken halten. Ich bin ein schwerer Junge. Schwächlinge allesamt. Die Männer in meiner Familie waren eine ziemliche Enttäuschung.