Die Heilkraft der Feste erfahren - Den Jahreskreis neu entdecken - Hans Gerhard Behringer - E-Book

Die Heilkraft der Feste erfahren - Den Jahreskreis neu entdecken E-Book

Hans-Gerhard Behringer

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Beschreibung

Wie wird das Leben ganz und heil? Was gehört zu uns, will akzeptiert und integriert werden, damit wir ein erfülltes Leben haben? Dass wir uns entwickeln können hin zu mehr Reife, Weisheit und Zufriedenheit? Hans Gerhard Behringers Werk bietet eine völlig neue Deutung der christlichen Feste. Seine konkrete und lebensnahe Begleitung wirkt anhand zahlreicher Übungen tief ins Leben hinein und schenkt so neue Lebensfreude.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Hans Gerhard Behringer

Die Heilkraft der Feste erfahren

– Den Jahreskreis neu entdecken

Patmos Verlag

Inhalt

Hinführung

Ein Buch über die Tiefendimension des Jahreskreises

Und die multikulturelle Perspektive?

»Bedienungsanleitung«

Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension

Der Jahreskreis – ein heilsamer Kreis

Existenzielle Themen: die Vielfalt des Lebens

Der integrierte Mensch

Achtsamkeit als Zugangsweg: Schlüssel der Lebens- und Welterfahrung

Die Kunst der Wahrnehmung

Die zugänglichsten Feste

Sehnsucht und Erwartung: die Adventszeit

Vorbereitungszeiten: lebenswichtig!

Adventszeit als Lebenshilfe

Zeit der Erwartungen

Die Sehnsucht nach Hoffnung

Licht im Dunkel: Weihnachten und der Weihnachtsfestkreis

Der Anfang im Winter

Wir kommen aus dem Dunkel

Die Geschichte meiner Geburt

Stille Nacht, heilige Nacht?

»Einmal werden wir noch wach …«

Der Weihnachtsstress oder: die Enttäuschung

»Wo viel Licht ist …«

Im Unscheinbaren Gott erkennen

Das unterscheidend Christliche

In Gegensätzen das Ganze

Das innere Kind

Heilung des inneren Kindes

Aufforderung zur Neugeburt

Geburt in uns

Wage zu träumen! Die Bedeutung des Träumens und der Träume in den Weihnachts-Traditionen

Abschluss und Neubeginn: Silvester und Neujahr

Silvester

Neujahr: Neubeginn

1. Januar

Vom Suchen und Finden: das »Dreikönigsfest«/Epiphanias

»Die Heiligen Drei Könige mit ihrem Stern …«

Die Geschichte von der Suche und vom Ziel

Nur in der Nacht …!

Gefunden

Die Weisen in uns: Magier, Schwarzer und König – auch ich!

Ein Blick zurück

Freudenzeiten

Gewinn durch Verzicht: Fastenzeit/Passionszeit

Der Körper – dein Freund

Leibfeindliche Tradition

Neue Körperverbundenheit

Hilfreiche Affirmationen

In Rhythmen leben

Was bedeutet Fasten?

Offen werden

Gewinn durch Verzicht

Von der Freiheit loszulassen – die »Entdeckung der Langsamkeit«

Verschiedene Zielsetzungen

Fasten – Weg nach innen

Öffnung nach oben

Innere Weiterentwicklung und Integration

Die Wende

Gelassenheit siegt: empfangen und annehmen: »Mariä Verkündigung«/Verkündigung des Herrn (25. März)

»Maria« – eine Lebenshaltung

Durch mich kommt Gott zur Welt

Lasst uns Gott gebären!

Grundhaltung der Meditation

»Mir geschehe«

Die »streitbare« Kriegerin

Die Ohnmacht der Liebe

Integriertes, vollständiges Leben

Abschied gestalten und ringen um den Weg: Gründonnerstag

Eucharistie und Abendmahl: Lebenshilfe?!

Gott erwartet uns in allen Dingen

Der Herr als Knecht

Gebet als Lebenshilfe? Ringen mit Gott!

Als Jesus mit dem Tode rang …

Die Not und Notwendigkeit von (All-)Einsamkeit

»Dein Wille geschehe«

Judas und Petrus

War Judas Jesu Schatten?

Ein Brief an Judas: »Danke, Judas!«

Ist in jedem alles?

Krisen durchleiden und bewältigen: Karfreitag

Man muss es selbst erfahren haben …

»Was wissen die, die nicht gelitten haben?«

Heillose Fixierung?

Passion und Karfreitag: Verletzung, die nötig ist

Jesus »für uns« gekreuzigt?! – Stellvertretung? Solidarität!

»Sterbe-Hilfe«: Sieben Schritte

Erleben und erleiden, wie es ist

Unsere Zerreißprobe

Der Weg des Heilers

Stationen der Einweihung

Vergib ihnen, denn sie wissen nicht …

Verlassen

… und Jesus schrie laut: unser Fragen und Schreien

Raum für Klage

Ostern ohne Karfreitag?

Erst Tod, dann Auferstehung

Begrabene Hoffnungen, Träume, Ideale: Karsamstag

Leben aus der Stille

Begrabene Hoffnungen

Begraben: Leblos!

»Begraben – hinabgestiegen in das Reich des Todes«

»Prinzip Hoffnung« – das »Stirb und werde«: Ostern und der Osterfestkreis

Wie ein Weizenkorn …

Osteranfang

Erfahrungen mit Tod und Auferstehung heute

Einwände?

Ostern – eine Geschichte der Frauen!

Und sie erkannten ihn nicht …

Der Zweifler

Begegnung mit dem Auferstandenen

Ich glaube an das Leben, weil …

Der Schwerpunkt

Ostern: Feier des Lebens

Trennung, Abschied und Neuanfang: Himmelfahrt/Auffahrt

Durch Trennung und Abschied dem eigenen Leben entgegen

Den Schmerz zulassen

Die heilsame Befreiung – »Der Guru muss weg!«

Mündig – unabhängig – selbstständig

Abschied und Neubeginn: Vergegenwärtigung in uns

Zeugen kämpfen nicht

Wir seine »Stellvertreter«?!

Mündigkeit, Begeisterung und Freiheit: Pfingsten

»Das heilige Gespenst«?

Fest der Fruchtbarkeit, Freiheit und Vereinigung

Heiliger Geist? Die heilige Geistin

Die Weiblichkeit Gottes

Fruchtbarkeit des Geistes: Kreativität

Fest der Freiheit: Beschreibung von Pfingst-Träumen

Geist der Freiheit

Das wichtigste Fest?!

Mündig durch den Geist

Gaben des Geistes – Kriterien zur »Unterscheidung der Geister«

Fest der Vereinigung und der Verständigung

Sprache, die alle verstehen: Die soziale Dimension von Pfingsten

Umwertung aller Werte

Erwachsen werden

Das »große Geheimnis«: Trinitatis – Dreifaltigkeitsfest

Das Geheimnis wahren?!

Verstehensversuche

Ein dynamisches Beziehungsverhältnis oder: Gott im Beziehungsdreieck

Der Sommer

Feste der Verbundenheit und Rückschau – der Herbst

Der Herbst

Unsere Verbundenheiten

Ein Umwelt- und Innenweltfest: Erntedankfest

Arbeitsdankfest?!

Lebens-Dank

Danken durch Genießen

Ökologie: die Grenzen achten

Immer kritisch und in Bewegung bleiben: Reformationsfest (31. Oktober)

Eine Chance für den Zweifel

Lob der Freiheit – oder: Gottes erwachsene Kinder

Wir Priesterinnen und Priester

Spiritualität im Alltag

Ichstarke, heilsame Regression

Vorbilder und Orientierungspunkte: Allerheiligen (1. November)

Heilige? Orientierungspunkte!

Vorbilder und Leitfiguren

Gemeinschaft der Heiligen

Woher – wohin? Abschied nehmen – Abschied geben: Allerseelen (2. November)

Auf der Spur unserer Ahnen

Unsere Wurzeln

Ein Abschiedsritual

Standortbestimmung und Neuorientierung: Bußtag

Bilanz und Umkehr

Innehalten – Reflexion – Neuorientierung

Grenzenlos wachsen? Oder ökologisch-ethische Wende?

Mit dem Sterben leben: Totensonntag/Ewigkeitssonntag

Was ist für uns so schwer daran?

Den Tod annehmen

Mitten im Leben

Ungelebtes Leben leben

Abschiedlich leben

Perspektivenwechsel: Zielgerecht leben

Sterben können heißt loslassen

Der Verlust der Sicherheiten

Unsere höchste Würde: Christkönigsfest

Totensonntag – Ewigkeitssonntag – Christkönigsfest

Antihierarchisch und antiautoritär!

Der Jahreslauf als Lebenszyklus

Initiation: Einübung ins Leben

Spiegelungen: das Jahr im Leben – das Leben im Jahr

Nie fertig!

Zum Schluss

Wie ein Reiseführer und ein Rezeptbuch!

Anmerkungen

Hinführung

Über diesem Buch steht eine Grundwahrheit, die Hermann Hesse seinen weisen Siddhartha so ausdrücken lässt: »Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr. Nämlich so: eine Wahrheit lässt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit … Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig.«1

Ein Buch über die Tiefendimension des Jahreskreises

Menschen feiern gerne. In Ost und West, in Nord und Süd ist das allen Gesellschaften, Völkern, Kulturen und Generationen gemeinsam: Im Laufe des Jahreskreises gibt es eine große Fülle von Festen, auf die sich die allermeisten freuen und gerne mitfeiern, manche gehen auf sie mit gemischten Gefühlen zu. Dennoch sind sie ein Grundbestandteil unseres Lebens. Sie werden in die Jahresplanung mit hineingenommen, bestimmen zum Beispiel das Schuljahr, werden von Kindergärten gefeiert, in Seniorenkreisen und Altenheimen bedacht, und bestimmen die Urlaubsplanungen in Firmen, Betrieben und Behörden und weithin das Familienleben. Immer mehr Menschen suchen nach Riten und Ritualen, um die altüberkommenen Feste neu zu gestalten. Strömungen des so genannten New Age und viele neu entstehende Gruppen nehmen das auf. Esoterische Gemeinschaften und auch spirituelle Bewegungen oder gar Kulte greifen diese Offenheit der Menschen von heute auf. Wie spiegeln sich die alten Rituale in den neu entstehenden? Was wird dabei auf- und angenommen, was wird umgeformt und umgedeutet? Inwiefern könnten wir die altvertrauten Feste wieder beleben und neu fruchtbar werden lassen, um diesem Interesse entgegenzukommen?

Dieses Buch hat seit 1997 insgesamt 8 Auflagen erlebt2 und einen breiten Leser/innenkreis bewegt und bereichert. Heute nun liegt es in Ihren Händen, mit einem neuen Titel, in neuem Gewande, um – sorgsam neu bearbeitet und aktualisiert – noch einmal einer vielfältigen Leserschaft Impulse zu geben für ein erfüllendes und gelingendes Leben. Als ein Begleitbuch durchs Jahr zeigt es immer wieder neue Dimensionen auf, die uns stärken, aufbauen und weiterbringen.

Im Folgenden wird angeregt, Inhalte des Lebens und des Glaubens, wie sie von den Festen des Kirchenjahres im Jahreslauf repräsentiert werden, »ganzheitlich« erfahrbar und zugänglich zu machen. Es soll daher kein wissenschaftliches Buch sein im Sinne der Darstellung von akademischen Auseinandersetzungen, auch kein belehrendes Buch, sondern ein Buch, das eigenes entdeckendes Lernen ermöglicht. – Was heute zunehmend mehr zählt, ist der existenziell-existenziale Tiefen- und Praxisbezug. Immer wieder haben mir in meiner psychotherapeutischen Praxis, in der Seelsorge, bei Trainings, Vorträgen, Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen Menschen deutlich gemacht, dass so etwas fehlt: eine Hinführung zum Festkreis, zu seiner Tiefendimension, ein Materialbuch als Ent­deckungshilfe, als Lebenshilfe für jede und jeden.

Denn in den Festen lebt etwas, was prägt, fest verwurzelt ist in der eigenen Seelentiefe, was nicht nur Lehre ist, nicht nur »Wort«. Tradition lebt hier in Farben, Formen, Bildern, Gerüchen und Geschmäckern, Gesängen und Musik, in Anschau-, Antast- und Mitmachbarem, im Tun und Sich-Beteiligen und Mit-Hineingenommensein in die Gemeinschaft, ob als Teilhaber/in oder Zuschauer/in eines Festes, einer Vorführung, eines Spieles oder einer Prozession, oder allein mit sich oder im kleinen, vertrauten Kreis.

Es könnte sein, dass wir hier auch in ökumenischer Weise von­einander zu lernen hätten: evangelische, katholische und orthodoxe Christen, vom Reichtum des in verschiedenen Gegenden von Menschen praktizierten Glaubens- und Erlebensgutes.

Das ist das Besondere am Jahreskreis: Er spricht alle an, wirkt sich auf jeden aus, wird von jedem erlebt – mehr oder weniger bewusst. Vielleicht kann ein vertieftes Erleben seiner verschiedenen Feste, Stadien und Etappen das erreichen, worum sich so viele mühen: Die Strömungen und Herausforderungen unserer Welt mit ihrem Suchen und Fragen nach Spiritualität und einer »neuen Zeit« anzunehmen, grundlegend anzuerkennen und zu verstehen und mit den ursprünglichen, lebendigen und lebensschaffenden Intentionen des christlichen Festkreises zu verbinden.

Und die multikulturelle Perspektive?

Mag sein, dass manche von Ihnen beim Lesen erwarten, eine integrative Zusammenschau von Festen und Feiern verschiedener Kulturen zu finden in ihrer Wirkung auf das Leben und die Kultur. Fakt ist: Viele Menschen heutzutage wissen gar nicht mehr, was Advent bedeutet, wozu das Drei-Königs- oder Epiphaniasfest gut sein soll – außer einem Feiertag in manchen (Bundes-)Ländern. Himmel- oder Auffahrt ist für manche nur der Vatertag – als Pendant zum Muttertag. An Pfingsten ist vielen nur wichtig, dass es dabei einen freien Montag gibt oder gar Ferien – wie bei Weihnachten und Ostern.

Und heutzutage kennen zwar viele Halloween und seine Bräuche, aber dass dahinter früher das Reformations- und das Allerheiligenfest standen, ursprünglich ja sogar ein keltischer Feiertag, ist vielen unbekannt. Und statt des Martins- oder Lichterfestes am 10. November feiern manche Kindertageseinrichtungen heute sogar ein »Sonnen-, Mond- und Sternenfest« …, um nur einige Beispiele zu nennen.

Man könnte zwar bei Festen und Feiern neben der abendländisch-christlichen Kultur tatsächlich auch noch die Fülle von Traditionen anderer Religionen und Völker einbeziehen, die heute mit und bei uns leben: jüdische, islamische, buddhistische oder hinduistische Feste, Gedenktage und Bräuche. Mir geht es aber in diesem Buch entscheidend darum, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, etwas davon erfahren und erspüren, was die traditionellen Feste im deutschsprachigenRaum, die das Jahr durchziehen und auch strukturieren, für Ihr konkretes Leben bedeuten. Dass Sie auf dem Weg durch dieses Buch erleben: Das sind nicht nur Chiffren und alte, abgelegte Worthülsen, sondern das ist Hilfe zur Lebensbewältigung, Begleitung für gelingendes Leben, Ermöglichung einer Vertiefung, eines neuen Verständnisses und Lebens- und Praxisvollzuges.

Was Ihnen früher vielleicht nur vage bekannt war, wozu wir im Jahreslauf ab und zu innehalten, Pause machen, den Normalablauf unterbrechen, Fest- und Feiertage genießen: Was das bedeutet, wozu es gut ist, inwiefern es heilsam ist: das will dieses Buch eröffnen und vermitteln. So können Sie die Schätze unserer eigenen Kultur wieder erkennen, neu entdecken, verstehen und heben. Damit wir nicht etwa Angst vor dem Fremden haben oder das Fremde ablehnen müssen aus Unkenntnis der eigenen Werte …

»Bedienungsanleitung«

Dieses Buch soll demnach verschiedenen Zielen, Erwartungen und Zwecken dienen: Als Adressaten stelle ich mir einerseits Menschen vor, die mit den christlichen Festen oder den Festen im Jahreskreis gar nichts (mehr) verbinden können, die diesen Inhalten fernstehen; andererseits jene, die im Altgewohnten, obwohl sie es kennen, nach lebendigen Erfahrungen suchen, die den ganzen Menschen ansprechen. Menschen also, die bewusst im Schatz des christlichen Kulturkreises suchen.

Und für all jene, denen die christlichen Feste und Traditionen unserer Kultur bisher nur wenig zu sagen haben und eher fremd sind, kann es – so hat es die Erfahrung der letzten 20 Jahre mit dem Buch und seiner Wirkung gezeigt – ganz neue Zugänge schaffen, Perspektiven eröffnen, heilsame Dimensionen erschließen und fürs Leben hilfreiche Weisheiten und Erfahrungen vermitteln. Ganz konkret, lebensnah und praxisorientiert begleitet es Sie hin zu größerer Tiefe, Lebensfreude und einer wirksamen Bewusstseinserweiterung und neuen Balance.

Wenn Sie das Buch als Entdeckungs- und Arbeitsbuch für sich selber verwenden, so ist es sicher ratsam, es nicht auf einmal zu lesen, sondern »portionenweise«. Sie könnten auch den Weg eines Jahres ganz bewusst damit verfolgen, die jeweiligen Abschnitte, die der Jahreszeit entsprechen, intensiver er- und durchleben, sich von den Gedanken und Impulsen zu eigenen Ideen und Erfahrungen anregen lassen. Das Buch will Zugänge eröffnen zu neuen Lebens-, Erfahrungs- und Wirklichkeitsräumen. Das Geschriebene erhebt keineswegs den Anspruch, dass »es so sei« – nur so, und nicht anders –, sondern möchte einladen, sich den Wirklichkeiten zu stellen, die mit den Festen gemeint und ausgedrückt werden. Denn die Wirklichkeit und die Wahrheit sind ja immer noch viel größer als das, was mir mit Worten, Gedanken und Interpretationen auszudrücken möglich ist. Und diese Gedanken sollen nicht Ihrer eigenen Begegnung mit dem »ganz Anderen« im Wege stehen, der oder das hinter dem Gemeinten steht und in den Festen und auch sonst in unserem Leben wirkt.

Manche der angebotenen Überlegungen, Impulse und Rituale zur Vertiefung sind zunächst notwendigerweise sehr persönlich auf Einzelne bezogen, ganz individualisierend. Denn auch jedes Weitergeben braucht erst die eigene Erfahrung, Berührtheit und Betroffenheit. »In Dir muss brennen, was Du in anderen entzünden willst«, sagte Augustinus. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für die sinnvolle Verwendung für andere. Denn solche meditativ-inneren Zugänge können gut ins Gespräch hinein geöffnet werden bei Veranstaltungen und Gruppenprozessen jeglicher Art.

Das Buch ist eine Fundgrube für Menschen, die als Multiplikator/innen in Gruppen, Gemeinden, in Schulen verschiedenster Art, (Fach)akademien und Hochschulen, generell in der Arbeit mit Jugendlichen, Erwachsenen und auch mit Senioren tätig sind: Es gibt Arbeitsmaterial für viele Diskussionen, Selbsterfahrungseinheiten, Vorträge und Seminare. Leitende und/oder Gruppenteilnehmer/innen können Texte daraus lesen, die Impulse gemeinsam bearbeiten und dann ihre Erfahrungen miteinander austauschen.

Betrachten Sie doch bitte alles als ein »Kaltes Buffet«, von dem Sie sich nehmen, was Ihnen wohlschmeckend, verdaulich und gut erscheint. Oder betrachten Sie es als einen kreativen Steinbruch, aus dem Sie sich je nach Bedarf ein Thema herausnehmen können – z.B. zu Advent, Maria, Karfreitag oder Erntedank. Man kann dann das Vorgegebene einfach in den eigenen Rahmen einflechten, oft vielleicht sogar, ohne sehr viel verändern zu müssen. Die angebotenen »Impulse« sind jahrelang erprobt und bewährt und eignen sich fast alle ebenso gut für Meditation und Begegnung mit sich selbst allein wie für die gemeinsame Erfahrung in Gruppen.

Eine Fülle von theologischen, tiefenpsychologischen, philosophischen und dem Leben abgelauschten Gedanken, von Impulsen zur Hereinnahme der Gefühlswelt und des gesamten Bereiches der Affekte und Emotionen, Hinweise für die praktische Umsetzung im konkreten Lebensalltag sind versammelt.

Der Wirkungsprozess solcher Gedanken geht ja in beide Richtungen: von innen nach außen wie auch von außen nach innen: Wer innerlich Neues erkannt und erfahren hat, wer sich neue Räume erschließen konnte, wird anders handeln, leben, feiern. Natürlich haben neue Rituale und Feststrukturen auch eine Rückwirkung nach innen! Und in der Tat: Uns fehlen heute oftmals neue Rituale für Familienfeste, Gottesdienste, neue Formen des Feierns. Die aber entwickeln sich/werden entwickelt als Auswirkung, als Frucht der erweiterten Innenerfahrung! Darum haben die ganz individuellen Zugänge so große Bedeutung, da der Schatz des christlichen Festkreises sich dann neu erschließt, wenn er zuerst aktuell und individuell ausgegraben und dann mit anderen geteilt wird.

So denke ich, dass durch die intensive Eigenerfahrung in der Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen, durch die Bearbeitung der vielen »Impulse«, die immer wieder den Text auf unser konkretes Leben beziehen und zur Eigenbeteiligung hinführen und auffordern, viele Ideen, eigene Umsetzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten entstehen, in die auch mühelos andere in Gruppenprozessen einbezogen werden können.

Am schönsten wäre es, wenn wir in einen Dialog miteinander kämen: Ich habe Ihnen meine Entdeckungen und Erfahrungen seit über 30 Jahren beschrieben und in der Hoffnung anvertraut, dass sie für Sie nun fruchtbar werden können. Wie wäre es, wenn Sie mir ein Echo gäben, von Ihren Erfahrungen mit dem Buch erzählten, Weiterführendes, Vertiefendes oder auch Kritisches mit mir teilten? Ich habe versucht, durch eine oftmals fast gesprächshafte, dialogische und teilweise sehr persönliche Schreibweise diesen Prozess einzuleiten und zu fördern. Sie brauchen mich nur auf meiner Homepage zu besuchen unter www.hgbehringer.de. Dort finden Sie auch meine Kontaktadressen.

Aber abgesehen davon wäre es gut – wie auch immer Sie dieses Buch verwenden und einsetzen wollen –, wenn Sie immer wieder in den Austausch mit anderen Menschen und mit deren Erfahrungen beim Lesen und Durcharbeiten der folgenden Seiten träten. Gönnen Sie sich viel Muße und Zeit, das Gelesene »durchzukauen«, »wiederzukäuen«, in sich zu bewegen, zu verdauen und dann in sich umzusetzen, Fruchtbares daraus werden zu lassen, oder auch nicht Benötigtes abzulehnen oder wieder loszulassen. Ich hoffe, dass meine Worte Ihnen Wege eröffnen, die Sie dann selber frei gehen können, ohne dass jemand von uns wüsste, wohin diese Wege Sie führen und was »dabei herauskommt«.

So machen wir uns denn auf diesen Weg ins große, offene, unbekannte und letztlich unbegreifliche Land der Wirklichkeit: Lassen wir uns davon ergreifen!

Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension

Feiern heißt, mein Leben steuern, bewusst eingreifen in meinen »Lebens-Lauf«, den Lauf der Geschäftigkeit des Alltags, und Zäsuren schaffen, Zeiten des Auftankens, Kraftschöpfens, Zu-mir-Kommens und Neuwerdens. Heute, da gilt »Zeit ist Geld«, und da die Zeit – wie alle Rohstoffe – immer knapper zu werden scheint, müssen wir das vielleicht erst wieder lernen3: Weithin ist die Dimension des Zur-Ruhe-Kommens, des Feierns verloren gegangen, in Vergessenheit geraten, der Schnelllebigkeit und Hetze allen Tuns zum Opfer gefallen.

Dieses Buch möchte und kann mit dazu verhelfen, dass wir diese verlorene Dimension wiedergewinnen, dass wir wieder lernen, in und bei uns zu Hause zu sein, in dem großen, vielräumigen, vielseitigen Haus, das wir sind. Oder in einem anderen Bild: dass wir auf dem Weg, den wir gehen, in unserem Lebenslauf, gelegentlich langsamer werden und zur Ruhe kommen können. »Zur Ruhe kommen« – darin drückt sich Verschiedenes aus: dass die Ruhe eigentlich schon da ist, dass sie auf uns wartet, uns zu empfangen und zu umfangen bereit ist, und dass auch dieses ein Prozess ist, ein Werden, ein Weg. Wir werden dahin »kommen« – aber auch das braucht Dauer und Zeit. Vielleicht ist es ja sogar ein langer Weg. Und: Das kommt nicht von selbst, es geschieht nicht von allein – wir müssen uns aufmachen, auf den Weg, müssen dorthin gehen, wo die Ruhe ist, um »zur Ruhe zu kommen«.

Impuls: Was ist Ihr Zugangsweg »in die Ruhe«, um »zur Ruhe zu kommen«? Welchen Anlauf, welche Vorbereitung brauchen Sie? Können Sie gleich und sofort umschalten auf Ruhe? Manche Menschen brauchen erst Stress/Aktivität/Körperbewegung. Andere nutzen Musik, Kreativität. Was hilft Ihnen?

Zeiten der Pause, der Ruhe, der heilsamen Unterbrechung unseres Lebens und Alltagsflusses sind unverzichtbar. Sie sind wie Ankerpunkte für ein Schiff, das unterwegs ist; wie Einkehrstationen, wie Raststätten, wo wir buchstäblich »Einkehr halten«; wie Tankstellen, die wir bei Verkehrsmitteln als selbstverständlich empfinden und immer wieder anfahren und wo wir auch etwas dafür auszugeben bereit sind! Wie viel mehr aber ist der Mensch doch als ein Auto …

Impuls: Was sind Ihre Rastpunkte, Einkehrstätten – und wie gestalten Sie das Feiern? Wo und wie feiern Sie? Haben Sie dafür bestimmte Rituale? Was gehört unbedingt dazu, was ist schön, wenn es dabei ist, was aber auch verzichtbar? Was unterstützt Sie auf dem Weg zu Ihrer Ruhe?

Wieder feiern lernen – manche können das nur noch mit großem Pomp und Aufwand, mit Hilfe von viel Investition und Geld, Organisation und Animation. Andere können es leichter, brauchen nicht viel dazu, haben noch nicht verlernt, auch den Abend jedes Tages zu feiern – den »Feier-Abend«; müssen sich nicht die Zeit oder die Ruhe vertreiben durch Freizeitstress, Aktivitäten, das Fernsehen oder sonst wie. Manche suchen Gemeinschaft, andere feiern gerne und lieber allein oder zu zweit – ganz personal und individuell.

Der Jahreskreis – ein heilsamer Kreis

Das bewusste Begehen und Feiern der verschiedenen Zeiten und Feste des Jahreskreises im Kirchenjahr, wie wir es hier im Folgenden üben wollen, kann für uns zu einem bewusstseinserweiternden, ja therapeutischen und heilenden Weg werden und dadurch große Bedeutung gewinnen. Denn das Jahr bietet mit seinen Festen eine bunte und umfassende Palette der Vielfalt von Lebenssituationen, Freuden und Krisen, wie sie im Leben eben vorkommen. Schon in der Form des Zyklus – des Kirchenjahres-Kreises – liegt etwas Lebensnahes, Lebensbejahendes und Lebensförderndes: Das Kirchenjahr ist ein Kreis, der sich alljährlich wiederholt. Das bedeutet, dass im Laufe eines Jahres alle Punkte dieses Kreises, alle Feste, alle Einzelstationen dieses Zyklus »durchlaufen werden«, nichts wird übersprungen. Das Gegensätzliche, das Ungeliebte und das Geliebte, das Dunkle und das Helle kommen vor. Es gibt dabei also im Grunde kein »wichtigstes« Fest, keinen allein wichtigen Aspekt, kein herausragendes Geschehen: Jede Etappe, Erfahrungsweise, jede »Station« dieses Kreises steht gleichberechtigt neben den anderen. Alle sind mit der Mitte gleichermaßen verbunden, haben in diesem Kreis dieselbe Mitte und zugleich ihre Ausrichtung zur Mitte hin.

Existenzielle Themen: die Vielfalt des Lebens

Jeder Aspekt unseres Lebens, jede Regung unserer Seele, alle freudigen und schweren Erfahrungen und die damit verbundenen Inhalte und Emotionen, alles ist in diesem großen Kreis des Jahres repräsentiert, aufgenommen und angenommen. Der Jahreskreis lässt nichts Wesentliches im Leben aus, nichts muss tabuisiert werden, nichts bagatellisiert, nichts kann ungestraft ausgeblendet, ausgespart, verpönt oder gar verteufelt bleiben/werden, aber auch nichts ist einzigartig herausragend und etwa ganz allein wichtig. Denn die Überbewertung ebenso wie die Tabuisierung in bestimmten Bereichen dieser breiten Palette von Lebensäußerungen, wie sie das Kirchenjahr »feiert«, von bestimmten Bereichen des Gefühls, des Lebens, des Ganzen – würden krank machen und seelische und soziale Störungen hervorrufen. In diesem »heilenden Kreis« jedoch gehört alles dazu und ist alles unverzichtbar. So ist der Jahreskreis wirklich Lebenshilfe, indem er alle Aspekte des Lebens in die Gesamtheit, in die Gesamtgestalt des Lebens als Teilaspekte aufnimmt, von denen nur alle zusammen das Ganze ausmachen.

Dies ist der Psychotherapie und Psychoanalyse ähnlich: Freud nennt als Grundhaltung der Analyse die der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit«. Damit ist Achtsamkeit gemeint, Offenheit für alles, was im Inneren aufsteigt. Nichts wird kritisiert, nichts ist schlecht, verboten, tabu; alles ist sagbar und soll möglichst »unzensiert« ausgedrückt werden. Das entspricht auch dem Grundmodell der sogenannten humanistischen Psychologie: Erst alle lebendigen Teile zusammen, ins Ganze integriert, ergeben die Fülle und Integrität eines Lebens, bilden zusammen die »gute Gestalt«. Dies entspricht zugleich der Weisheit westlicher und östlicher Spiritualität, der Mystik verschiedenster Zeiten und Kulturen, auch der »Meditation als Wahrnehmung dessen, was ist«. Ich schaue, nehme wahr, ich bin Zeuge dessen, was in mir und um mich ist. So wie Vervollkommnung, Ganzwerdung und Vollendung erst durch das »Durchwohnen« aller »inneren Räume« unserer »Seelenburg« geschehen (ein Bild der christlichen Mystikerin Teresa von Avila), so kann das tiefe Erfahren, Erfassen, ja Ergriffenwerden von den Facetten und Anteilen des Jahreskreises Hilfe bieten auf unserem Weg zur Ganz- und damit Heilwerdung. Denn jedes Jahr bietet und repräsentiert die ganze Fülle und Bandbreite dessen, was ist – im einzelnen menschlichen Leben wie in der Gemeinschaft und Gesellschaft.

Der integrierte Mensch

Wenn wir dies begehen, im Denken und Spüren, im Tasten und Riechen, Schmecken und Hören und Schauen, es mit allen Sinnen erfassen, erfahren und reflektieren, dann werden wir behutsam in alle Bereiche des Lebens, zu denen eben Licht- und Schattenseiten, das Schwere und das Beglückende gehören, begleitet. Und gerade darin ist der Jahreskreis »praktische Seelsorge«, »Lebenshilfe und Therapie«, Bewusstseinserweiterung, die hineinführt in die Fülle des Lebens und vorbereitet auf seine verschiedenen Seiten, diese inszeniert und darstellt, begleitet oder rückblickend verarbeiten hilft. Im symbolischen Erleben der unterschiedlichen Seiten der Realität bietet der Jahreskreis Konfrontation und Bewältigungshilfen für alle Lebensphasen an.

Es geht nicht nur um das kognitive Verstehen der Feste, sondern um ein tieferes, existenzielles Erleben und Mit-Leben-Füllen. Wir werden nun in einer zugleich tiefenpsychologischen und tiefentheologischen Weise die Feste zu ergründen suchen, wir werden existenziell und existenzial an sie herangehen und ihren ganz konkreten Bezug zu unserer Lebens- und Alltagswirklichkeit suchen. Solches Begehen und Feiern der Feste ermöglicht die Hereinnahme der seelisch-emotionalen und körperlich-pragmatischen Seite unseres Wesens, ist damit ganzheitlich und darin Lebensschule und helfende Begleitung zugleich – eben Lebenshilfe als Hilfe zur Lebendigkeit!

Achtsamkeit als Zugangsweg: Schlüssel der Lebens- und Welterfahrung

Wenn die hebräische Sprache ausdrücken will, dass man etwas besonders intensiv, mit besonderem Nachdruck, mit Bewusstheit und Intensität tun will, dann kennt sie eine Sprachform, mit der das verwendete Verb sozusagen wiederholt wird. Im Deutschen könnte man das etwa so wiedergeben: gehend gehen, singend singen, sprechend sprechen, lesend lesen.4

Impuls: Versuchen Sie das doch gleich einmal auszuprobieren: Statt weiter zu lesen, stehen Sie auf und gehen einige Schritte. Gehen Sie langsam und in bewusstem Bodenkontakt. Versuchen Sie zu spüren, wie Ihr Fuß den Boden berührt, drückt, und wie der Boden antwortet. Machen Sie einmal schnellere oberflächlichere Schritte, wie Sie vielleicht sonst gewohnt sind zu gehen, wenn Sie in Eile sind, um daran den Unterschied zu spüren. Jetzt gehen Sie wieder ganz langsam, sozusagen in Zeitlupe: behutsam den Boden berührend, erspü­rend, wie Ihre Fußsohle, Ihre Zehen Kontakt mit dem Boden, dem Teppich oder der Unterlage aufnehmen. Gehend gehen. Anders wäre: Denkend gehen, oder singend gehen, oder redend gehen. »Spürend gehen« kommt dem am nächsten, was gemeint ist. Achtsam werden und wirklich wahrnehmen, wie sich das anfühlt, vom Boden getragen zu werden und mich meinen Füßen zu überlassen. Wirklich vom Kopf in die Füße gehen!

Diese kleine Übung lehrt uns die Bedeutung der Langsamkeit in Verbindung mit Spürsamkeit und Wahrnehmung – mit einem Wort ausgedrückt: Achtsamkeit. Und wenn wir nun miteinander den Weg durchs Jahr be-»gehen«, den Jahreskreis von Fest zu Fest, von Phase zu Phase durch-»schreiten«, so wird es uns dann zum Gewinn werden, wenn wir uns einüben in diese Haltung der Achtsamkeit. Achtsamkeit umfasst den ganzen Menschen in der Konzentration auf den jeweiligen Augenblick. Ganz da sein, volle Präsenz im Hier und Jetzt. Und bewusstes Wahrnehmen dessen, was ist. Nicht bewerten, nichts beurteilen, alles darf sein, wie es ist. Achtsam sein für meine Gefühle, die auftauchen, für die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, für Erinnerungen, Gefühlsbilder, Planungen und Ziele, Körperreaktionen und Stimmungen, die aus der Seele aufsteigen und im Körpergefühl sich ausdrücken.

Wir wollen einen Weg durch das Jahr betrachten, der uns dann zum Lehrer, Helfer, zur Lebenshilfe werden kann, wenn wir uns darauf einlassen, ihn achtsam zu gehen. Denn wenn wir Feste und Feiern als lebensschaffendes, lebensbejahendes und zum Leben und zur Lebendigkeit helfendes Element erkennen und leben wollen, so ist die Grundvoraussetzung eine Einübung in die Achtsamkeit: Achtsamkeit im Erleben der Jahreszeiten, im Umgang mit den eigenen Gefühlen und Empfindungen dabei, mit Erinnerungen, Bildern, Gedanken, die in uns auftauchen. Achtung vor uns selbst, unserem Innern, unseren Reaktionen haben wir in unserer vom Intellekt und vom Willen, Planen und Tun bestimmten Lebensweise weithin verlernt. Wir haben oft die Fähigkeit verloren, zu achten und zu be-achten. Auch das Kleinste und Unscheinbarste verdient Beachtung, an einem Spazierweg, bei einer Begegnung, in einem Gespräch, in meinen Träumen, in meinem Seelenhaushalt und meiner Gefühlswelt. Und auch das gehört zu mir, was ich bisher noch nicht annehmen konnte, was ich an mir noch nie mochte, was ich anders haben und verändern möchte, auch das verdient liebevolle Hinwendung, Zuwendung und Beachtung, denn es gehört zu mir – wie vieles andere mehr. Dies heißt, es wahrnehmen, ernst nehmen, nicht verachten, sondern achten, mit Respekt empfangen und zulassen.

Die Kunst der Wahrnehmung

Wenn wir dem Leben begegnen wollen, wie es wirklich ist, wenn wir nach wahrer Lebenshilfe suchen, müssen wir das Leben wieder leise lernen. Denn es besteht nicht nur aus den lauten Tönen, aus den großen Gesten und Posen, aus dem, was durch Anstrengung und Leistung erworben wird. Wir müssen auf die Langsamkeit des Wachstums achten, auf die sanften Stimmen hören, Respekt auch gerade vor dem Kleinen, Schwachen und Geringen entwickeln. Sonst werden wir einseitig und nur bestimmt von den grellen Farben und den schrillen Tönen, wir überhören den leisen Klang der Stille und verlernen, ihr zu lauschen. Ein Weg, das zu lernen und das Leben in seiner Vielfalt zu verehren, bewusst zu erfahren und einzuüben, sind die verschiedenen Stationen des Jahreskreises, die verschiedenen Festzeiten des Kirchenjahres. Alljährlich kehren darin in geduldiger Wiederholung die verschiedensten Facetten und Ausdrucksformen von Lebendigkeit, von Lebenserfahrungen wieder und bieten sich uns an, uns mit ihnen vertraut zu machen und mit ihnen zu befreunden. So kann der Weg durchs Jahr für uns zum Einführungsweg in ein meditatives, reicheres, tieferes und weiteres, spirituelles Leben hinein werden.

Fangen wir also an, in dieser achtsamen Haltung den Weg durchs Kirchenjahr zu gehen. Bevor Sie die folgenden Kapitel lesen, halten Sie bitte erst noch einen Moment inne:

Impuls: Setzen Sie sich hin, schließen Sie die Augen und schauen Sie sich einfach selber zu. Seien Sie ein achtsamer innerer Beobachter dessen, was ist. Spüren Sie in sich hinein, wo Anspannung ist oder Schmerz, oder wo Gegenden in Ihrem Körper sind, wo Sie sich wohlfühlen, wo es warm und angenehm ist. Einfach nur wahrnehmen heißt: Ich verurteile nichts, beurteile nichts, beklage nichts, heiße nichts willkommen. Alles darf sein, wie es ist. Und ich achte es. Hören Sie mit einem Ohr nach außen, welche Geräusche, Klänge oder Laute an Ihr Ohr dringen, mit dem anderen Ohr nach innen, ob Ihr Körper Geräusche von sich gibt oder welche Stimmen, Laute und Gedanken in Ihnen klingen. Oder ist da ein Echo? Worauf? Schauen Sie Ihren Gedanken zu, ohne sie etwa abschalten, bremsen oder anhalten zu wollen. Lassen Sie sie vorüberziehen, wie Wolken am Himmel oder wie Vögel, die vorbeifliegen. Seien Sie einfach der Beobachter, der keinen der Gedanken begrüßt, aber auch keinen wegschickt, der keinem nachgeht, den Gedanken nicht folgt, aber auch keine herbeilockt, keine ruft. Und schauen Sie den Bildern zu, die in Ihrem Innern vielleicht aufsteigen, Gefühls­bildern, Erinnerungen aus der Vergangenheit, vor langer Zeit oder vor kurzem, Filmen, die in Ihnen ablaufen, Tagträumen oder was auch immer geschieht. Nur in der Haltung des Beobachters, eines wachsamen Zeugen bleiben, nicht mitspielen, nicht hinein­gehen, sondern freundlich und wohlwollend alles wahrnehmen und beachten. Schau­en Sie Ihrem Atem zu, wie er in Sie strömt und Sie wieder verlässt, ohne dass Sie sich mühen müssen. Und lernen Sie daran eines der wesentlichen Grundgesetze des Lebens: wie alles in Wellen geht. Und wie das Wesentliche nicht erkämpft werden muss. Vielleicht spüren Sie zum Abschluss ein Lächeln auf Ihrem Gesicht – oder auch nicht. Bleiben Sie noch eine Weile mit geschlossenen Augen sitzen und spüren dem nach. Dann öffnen Sie wieder die Augen.

In solch einer inneren Haltung, geleitet von der meditativen Kunst der Wahrnehmung und der Achtsamkeit, werden uns die Feste zu wirklicher Lebens-, Entwicklungs- und Entfaltungshilfe werden.

Die zugänglichsten Feste

Wenn ich bei meinen Vorträgen, Seminaren und Gruppen nach dem wichtigsten, beliebtesten und zugänglichsten Fest frage, so zeigt sich fast immer dasselbe Ergebnis: Zwei Drittel bis drei Viertel sagen »Weihnachten«, für den Rest ist es Ostern (mit Karfreitag!). (Als am unbeliebtesten und unzugänglichsten gelten Pfingsten, Trinitatis/Dreifaltig-/Dreieinigkeit und Buß- und Bettag.)

Nach Auskunft von Jugendlichen in der Ausbildung und jungen Erwachsenen sind es besonders zwei Feste im Jahr, die bekannt und beliebt sind und gefeiert werden, ob Menschen nun einen religiösen Hintergrund haben oder nicht: Erntedankfest und »Drei-König«/Epiphanias. Bei anderen Befragungen ergaben sich immer nur Weihnachten und Ostern als die liebsten Feste. Wenn wir nun diese vier Feste miteinander vergleichen, nach dem Gemeinsamen suchen, was vielleicht Grund dafür sein könnte, dass sie im Bewusstsein der Bevölkerung, auch von Jugendlichen, die sonst mit Kirche so gut wie »gar nichts am Hut haben«, so präsent sind, dann fällt Folgendes auf: Alle vier sind Feste, die mit Ritualen, Gaben und Geschenken zu tun haben, wo unser ganzer Mensch im Schmecken, Sehen, Riechen und Fühlen angesprochen wird. Bei Weihnachten und »Drei-König« kommt noch der Aspekt des Spielens, der Darstellung, des Rollenspiels mit hinzu.

Gerade an solchen Auskünften zeigt sich, welch große Bedeutung Feste und Rituale haben, wie sie im Bewusstsein und im Erleben verankert sind, auch ohne tieferen religiösen Hintergrund oder ohne genaueres Verstehen dessen, was die Wurzeln solcher Feste sind oder was ursprünglich damit gemeint war: In einem Kurs für Erzieherinnen in kirchlichen Einrichtungen innerhalb der neuen Bundesländer Deutschlands kannten von 16 Teilnehmerinnen fünf die Person »Jesus« überhaupt nicht, wussten nicht, wer er ist oder welche Bedeutung er gehabt haben könne. Alle von ihnen hingegen kannten das Weihnachtsfest. Und auch für die fünf bedeutete es ein Fest für die Familie, wo es um unser Miteinander, um Frieden untereinander, den Zusammenhalt der Familie und um das Schenken geht.

Im Beschenktwerden, im Mitgestalten und Mittun sind wir also besonders empfänglich. Denn das gehört wohl zu all diesen Festen: die große Erwartung vorher, die Planungen, das Basteln, Selbstmachen, Einkaufen, Zusammenstellen in der Vorbereitungszeit – das Empfangen, Genießen mit allen Sinnen beim Feiern selbst und das spielerische Umgehen miteinander.5

Die folgende Grafik gibt einen Überblick über den gesamten Festkreis. So können Sie sich mit der Lage des jeweiligen Festes im Jahres-Zyklus vertraut machen und mit seiner Benennung.

Die meisten Feste und Festzeiten haben bei evangelischen und katholischen Christen denselben Namen. Bei Unterschieden ist das in der folgenden Abbildung vermerkt mit (ev) für evangelische oder (k) für katholische Bezeichnungen.

Sehnsucht und Erwartung: die Adventszeit

Vorbereitungszeiten: lebenswichtig!

Der Jahreskreis der christlichen Feste, das so genannte Kirchenjahr, beginnt vier Wochen vor Weihnachten. Sozusagen mit einem »Vorspiel«. Mit dem ersten Advent beginnt die Vorweihnachtszeit und damit der gesamte kirchliche Festkalender. Vor das erste große Fest – Weihnachten – hat man eine Einstimmungsphase gesetzt, eine Vorbereitungszeit vorgeschaltet, in der früher sogar gefastet wurde, die eine Einkehrchance sein sollte, um innerlich sich einzustellen auf das, was kommt. Advent heißt ursprünglich (lateinisch) Ankunft: Ankunft Gottes als Kind, als Mensch, bei/unter uns. Nun ist das im Jahresfestkreis immer so, dass große Feste eine Vorbereitungszeit haben, dass Innehalten, Umschalten und Einschwingen Raum bekommen. Damit wir innerlich nachkommen. Darin ent­decke ich große Lebensweisheit und etwas Lebenswichtiges: Langsam werden, sich einstellen, ruhig werden, offen werden und sich öffnen für das Neue – das kommt, so sahen wir, in unserer Welt weithin zu kurz.

Dass Entwicklungen ihre Zeit brauchen, dass Veränderung dauert, dass Wandlung ein Weg ist, der nicht von heute auf morgen, nicht einfach und schnell und schon gar nicht etwa machbar ist, ist eine der Grundwahrheiten, die uns in den langen Vorbereitungszeiten angeboten wird, die das Kirchenjahr uns vor den großen Festen zumutet. Unsere Welt funktioniert ja meist anders: Fotos werden mittlerweile binnen weniger Sekunden geschossen und verbreitet, Kleider in einer Stunde gereinigt, das Essen ist mit dem Mikrowellenherd in wenigen Minuten oder gar Sekunden zubereitet und heiß, die Entfernungen zwischen Städten und Ländern schwinden, indem Bahn, Flugzeuge und Autos immer schneller zu rasen in der Lage sind. »Zeit ist Geld«, so lernen und hören wir immer wieder, und glauben das womöglich auch, und versuchen, die Zeit zu vermehren, indem wir sie konzentrierter, knausriger und geiziger »ausgeben«, indem wir immer genaueres, gezielteres und bewussteres Zeitmanagement anwenden, um so jene wunderbare Zeitvermehrung zu erreichen, an deren Ende jedoch oft nicht etwa mehr Ruhe, Zufriedenheit und Gelassenheit stehen, sondern meist erneute Hetze und Eile. Kennen Sie das auch?

Ganz anders der heilsame Zyklus des Kirchenjahres: Hier sind vor und nach jedemFest lange Zeiten eingeplant, Zeiten der Vorbereitung, des Höhepunktes und des Nacherlebens, Vertiefens und Nachgenießens. – Wie gesagt: Wir leben anders. Wir sind nicht nur eine Gesellschaft der »Hamburger« geworden, sondern gleichsam auch der »Psychoburger« – so drückte es ein Freund von mir einmal aus: Denn auch der Heilungsprozess muss heute schnell gehen – nicht nur in der Medizin mit Hilfe von Antibiotika, Kortison und anderen Wundermitteln unserer Zeit. Auch in der Psychotherapie soll Heilung rasch gehen, in wenigen Sitzungen, an wenigen Wochenenden – nicht etwa Jahre dauern, wie in der Psychoanalyse oder in anderen Langzeittherapien. Alles muss machbar sein, möglichst einfach gehen; das soll uns den Weg durch Schmerzen, Trauer und sonstige überwältigende Gefühle hindurch ersparen. Und: Es muss schnell gehen. Wie oft habe ich in den entsprechenden Ausbildungskursen solcher Kurzzeittherapien die Trainer polemisieren hören und lächeln sehen über jenen langsamen Werdegang von Veränderung in den Langzeittherapien, über den mit großen Zeiträumen rechnenden Werdegang von Wachstumsprozessen, über die Zumutung von Schmerz und Dauer für wirkliche und wirksame Veränderungsprozesse in den so genannten alten Schulen der Psychotherapie oder der Spiritualität.

Denn in den spirituellen Bewegungen gilt derselbe Trend: Man möchte große Erfahrungen in kürzester Zeit, Tiefen oder Höhen schnell, für viel oder auch wenig Geld, bequem und leicht zugänglich erfahren. Der langwierige Weg von stetiger Übung über Jahre hinweg, wie er in den traditionellen alten Meditationsschulen gang und gäbe und denen selbstverständlich war, die ihn gegangen waren – das alles ist heute bei vielen in Misskredit geraten, man schmunzelt und lächelt und weiß (!?): »Das geht viel schneller: ein Intensivworkshop, eine Intensivwoche in der Toskana oder in der Südsee, ein Training bei dem oder bei jener, dort oder eben noch woanders …«

Wirkliches Wachstum aber braucht Zeit. Vielleicht spielen auch deshalb Pflanzen, besonders Bäume, im ganzen Kreis der Feste immer wieder so eine wichtige Rolle. Sie nehmen uns hinein in den Kreislauf des Werdens und Vergehens, der Phasen von Expansion und Stabilisierung. Da gibt es Wachstumsschübe und stille Zeiten, die keine Stagnation bedeuten, sondern Festigung, »Konfirmation/Firmung«, als Voraussetzung von weiterem Wachstum.

Und alles braucht auch Vorbereitung, Einstimmung und Hinführung. Das müssen wir vielleicht neu lernen: Essen braucht die Zeit der Zubereitung – abgesehen von 5-Minuten-Gerichten oder solchen, die »Genuss in Sekunden« versprechen. Arbeit braucht das Herrichten von Werkzeugen, Hilfsmitteln, Maschinen, ein Warmlaufen, einen Anlauf-Prozess – der uns natürlich oftmals wieder gar nicht kurz genug ist und nicht schnell genug gehen kann! Sogar der Computer muss immer erst hochgefahren werden … Ein Konzert braucht die sorgfältige Einstimmung der Instrumente aufeinander, Chöre brauchen das Einsingen, Sportler das Warmlaufen, die Dehnungsgymnastik; auch Meditation und Entspannung brauchen Vorbereitung, und auch menschliche Begegnung ein Kennenlernen, ein In-Kontakt-Kommen, ein Interesse-Finden und Warmwerden. Und natürlich bedarf auch die intime Begegnung, die Liebe, eines Vorspiels, einer Ouvertüre, wo die Liebenden sich aufeinander ab- und einstimmen, einschwingen, einstellen, wo sie Zeit, Ruhe und Gelassenheit haben, sich dem anderen zu öffnen, im je eigenen Tempo, in der je besonderen Art und Weise.

Merken Sie: Eine Vorbereitungszeit ist uns im Leben weithin zwar selbstverständlich, im Beruf, in der Freizeit – und doch übersehen und vergessen wir das oft. Wir sind vom sonstigen Lebenstempo getrieben, von Schnelllebigkeits- und Knopfdruckdenken, von der Atemlosigkeit und Hast, die uns normalerweise treiben. »Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet – man lebt wie einer, der fortwährend etwas versäumen könnte … Man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit, für Umwege, überhaupt für alles Beschauliche« klagte sogar schon Friedrich Nietzsche6 Und so vergessen wir leicht dieses Lebensgesetz, dass alles eine Wartezeit, eine Ouvertüre, einen Vorgeschmack braucht. Das zu erinnern, das zu lehren, das zu lernen – dazu hilft Advent: vier Wochen Vorbereitung – Wartezeit. Damit wir bewusst erleben und üben können: Wenn Gott ankommen soll in der Welt und in unserem Leben, dann braucht das Vorlaufzeit; und wenn Leben, Liebe und Glück in unserem Leben landen sollen, dann braucht das auch Vorlaufzeiten – nicht »zack-zack!«, wie beim Drive-In von McDonalds oder bei der Bank! Nicht wie die Wirkung von Drogen: gleich und sofort – ohne Warten, ohne Zeit, ohne Mühe und Eigenbeteiligung. Sondern: warten lernen, Geduld und Zeit haben, Bereitschaft und Offenheit spüren.

Impulse: 1. Wie geht es mir beim Thema »Warten«? (Adventszeit ist Er-wartung auf eine Ankunft!) Was löst Warten bei/in mir aus? 2. Wie plane ich mein Leben? Plane ich die Vor- und Nachbereitung von Begegnungen, Terminen, Höhepunkten ein? Was rate ich anderen – was tue ich selbst? (Tauschen Sie sich über die Impulse auch mit anderen aus, im Freundes-, Bekann­tenkreis oder in einer Gruppe!)

Adventszeit als Lebenshilfe

Wenn man an einem Dezembertag durch die Straßen einer beliebigen Stadt in Deutschland geht, so wird spätestens nach einigen Minuten jedem eines deutlich und klar: Hier muss irgendetwas los sein! Irgendetwas »stimmt« hier nicht, irgendetwas macht, dass die Menschen alle aufgeregter, geschäftiger, eiliger und unruhiger sind als sonst. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines ausländischen Besuchers, der unsere Kultur, Geschichte und Tradition nicht kennt. Im Dezember ist in unseren Straßen vieles anders als sonst: Da sind die Lichtergirlanden, die Lampen auch in den Auslagen der Schaufenster, die Geschäfte sind voller als sonst. Es liegt viel Musik in der Luft, auch der Duft von Glühwein und Plätzchen, die auf der Straße angeboten werden. Wenn man sich in diesem bunten Gewühl ein bisschen treiben lässt, so fängt man vielleicht an, sich zu fragen: Was ist es eigentlich, das diese Menschen hier in Bewegung bringt? Was ist das Besondere an dieser Zeit? Eine Zeit und ein Fest, das danach kommt, dem sich absolut nichts und niemand in unserer Gesellschaft ganz entziehen kann: Weihnachten!

Was kann es sein, was die Menschen jetzt gewinnen oder zu gewinnen suchen? Kann es auch sein, dass das Ganze eine Kehrseite hat, dass die Menschen hier etwas verlieren oder gar vor etwas fliehen? Mir wünschte einmal in der Woche nach dem ersten Advent ein Kollege ironisch schmunzelnd eine »stille Zeit«, und beide wussten wir, als wir einander anschauten, dass das ein Urwunsch wäre, der aber mit absoluter Sicherheit nicht in Erfüllung geht, weder im dienst­lichen noch im privaten Bereich. Sie mag ja so gedacht sein, als eine »stille Zeit«, diese Lichterzeit, die Besinnungszeit: als Einkehrtage und Vorbereitungswochen auf das Weihnachtsfest. Aber das ist nun ganz anders geworden. Warum wohl?

Jedenfalls spricht das Weihnachtsfest offenbar alle Menschen durch seine Grundaussage vom Schenken an – einst das Schenken Gottes an die Welt, die Liebesgabe Gottes an die Menschen. Dieser Grundgedanke lässt sich offenbar sehr gut für eine Konsumgesellschaft und für die Anhebung der Umsatzzahlen in der Wirtschaft verwerten. Viel ist darüber geklagt worden, wie schlimm das sei, wenn Menschen nur noch an den Konsum denken, Weihnachten vom Geschäfterummel missbraucht und das Christkind zur Verkaufsförderung und Umsatzsteigerung benutzt wird. Doch darüber uns nur zu empören, könnte verhindern, dass wir tiefer fragen: Was geschieht hier, das sich durchaus eignet, auch missbraucht zu werden? Und noch tiefer gefragt: Was wird vielleicht bedrohlich für uns, beängstigend und tief, sodass wir in die Oberflächlichkeit des Vermarktens entfliehen müssen? Was weicht uns so sehr auf, was rührt uns so tief an, dass wir es mit aller Gewalt durch Hetze, Eile, Hektik wieder zudecken und im Festtagsstress »erwürgen« müssen? Geht es um eine Sehnsucht, um Erwartungen und Wünsche, die da angesprochen werden, die da aufbrechen (könnten) in diesen Wochen, den Wochen der Advents- und Vorbereitungszeit, die wir nur mit neuer Sucht, durch die Erfüllung erfüllbarer Wünsche, durch Kaufrausch, Suche nach Geschenken, Suche nach den Dingen und Befriedigung im Greifbaren bannen können?

Das Grundthema von Advent greift allertiefste Wünsche, Hoffnungen, Ursehnsüchte auf, die wir in uns tragen, die jeder kennt und fühlt: Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, danach, vom Ganzen, vom Leben, von allem zutiefst angenommen, geliebt und bejaht zu sein – in religiöser Sprache ausgedrückt: von Gott geliebt zu sein. Die Hoffnung, dass der Urgrund des Lebens nicht außen bleibt, nicht weit entfernt sich dieses Theater hier nur anschaut, sondern selbst hineingeht, teilhat, mitbetroffen ist und auch mitleidet, d.h. die Sehnsucht, ganz tief und ganz gründlich »ur-verstanden« zu sein. Dass einer sich einfühlt in mich, dass einer meinen Weg, mein Leben, meine Ängste, meine Nöte, meine Hoffnungen und Freuden, Wünsche und Begierden kennt. Da sagt der christliche Glaube in jenen Wochen: Das ist geschehen, der Lebensquell, der Urgrund von Vertrauen, Hoffnung, Liebe ist erschienen, greifbar nah und menschlich, ist aufgetreten in einem Menschen: in Jesus.

Und doch scheint diese Botschaft so unerhört zu sein, dass sie buchstäblich un-erhört bleibt in dem Trubel unserer Vorweihnachtsgeschäfte. Oder geht sie uns zu sehr unter die Haut? Wollen Sie einmal reflektieren und zu ergründen versuchen, warum ausgerechnet in der Adventszeit, die doch als die exemplarisch »stille« Zeit, die Lichterzeit, die ruhige Besinnungszeit ausgewiesen wird, warum gerade in dieser Zeit allenthalben besonders viel Hektik und Stress, Termine und Aufgaben einander jagen und uns hetzen? Welche Kräfte – in uns und um uns herum – sind das, die uns gerade vom Wesentlichen, von der Zentrierung, von der Meditation, von der Mitte fernhalten und uns wie in einer Zentrifuge herumwirbeln?! Welche Kräfte verhindern Stille in gerade der Zeit, wo sie ausdrücklich angesagt ist? Seit alters her wurden in den Wochen vor Weihnachten diese tiefen Wünsche, unsere Hoffnungen auf Erfüllung, unsere Hoffnungen überhaupt, angesprochen, zugelassen, in den Blickpunkt gerückt und thematisiert. Kann es sein, dass wir das nicht aushalten? Dass wir das Thema Sehnsucht nur mit Sucht beantworten können, um es wieder zum Schweigen zu bringen? Dass wir das Thema Hoffnung nur im Rausch ertränken können, im Rausch von Kaufdrang und Geschäftigkeit, auch im Rausch von Alkoholika oder sentimentaler Musik? Kann es sein, dass wir die Sehnsucht, die uns umtreibt, um sie ja nicht zu spüren, körperlich umlenken, ausdrücken, buchstäblich »ausagieren«, um nicht zu spüren, um nicht zu fühlen, um nicht innerlich gewahr zu werden, was uns treibt, was uns umtreibt, was in uns nagt an Fragen, Drängen, Hingerissenheit und Hergezogenheit? Kann es sein, dass der Sog unserer inneren Stimme, auch unserer inneren Leere, dass die Gefahr des Bewusstwerdens dieser Seelenschreie, dieser Not so groß sind, dass wir alle – ja die ganze Gesellschaft – ein großangelegtes, massives, intensives »Spektakel« anzetteln und aufführen müssen, um diesem Sog zu entkommen, um diesen Fragen zu entfliehen, um diese Gefühle zu übertönen, übertünchen, überlisten …? Gehen Sie doch selbst einmal los und schauen:

Impulse: 1. Stellen Sie sich in eine belebte Geschäftsstraße während der Advents­zeit, an einen geeigneten Platz und schauen den Passanten ins Gesicht. Was sehen Sie? Was fühlen Sie? Was geschieht mit Ihnen? Was vermuten Sie und ahnen Sie, wie es diesen Menschen geht? Welche Stimmung entsteht in Ihnen dabei? 2. Stellen Sie sich wieder in eine belebte Geschäftssituation oder mitten in ein Kaufhaus, und versuchen Sie, einige Minuten ganz still zu sein, Ihre »stille Zeit« zu haben, eine Insel der Ruhe, der Einkehr und der Stille zu finden! Wie ergeht es Ihnen dabei? Oder setzen Sie sich hin – ganz still – vor eine Kerze und schauen einfach. Versenken Sie sich in das Licht und lassen Sie es wirken! 3. Sprechen Sie mit Freunden und Bekannten oder in einer Gruppe darüber, wie sie diese Wochen empfinden, oder sich vorstellen und wünschen würden, ob es für sie möglich ist, das so zu gestalten, wie sie wollen, oder ob sie es als nahezu unentrinnbar empfinden, was hier mit uns allen geschieht und gemacht wird. Und überlegen Sie gemeinsam, was man selbst dem entgegensetzen könnte. 4. Gehen Sie in eine Advents- oder Weihnachtsveranstaltung und achten Sie darauf, was die Klänge, Lichter, Gerüche und Inhalte in Ihnen bewirken! Was taucht an Gefühlen und Erinnerungen auf? Was wird spürbar an Empfindungen? Welche Re­gungen des Gefühls nehmen Sie wahr? Finden Sie durch diese Beobachtungen eine Antwort auf die Frage, was uns an der Advents- und Weihnachtszeit so anziehend und zugleich so schwer ist? 5. Wagen Sie in einer ruhigen Situation, sich einmal Ihre tiefen Sehnsüchte, Hoffnun­gen und Erwartungen anzuschauen! Was fehlt in Ihrem Leben? Wohin drängt es Sie? Worauf richtet sich dieser Hunger, dieser Durst, diese Sehn-Sucht? Spüren Sie auch das Ziehen, Bohren, den damit verbundenen Schmerz! Und drücken Sie all dies aus: auf Papier, in einem Heft oder einem vertrauenswürdigen Menschen gegenüber: »Das bin ich – das vermisse und ersehne ich – so bin ich!«

Zeit der Erwartungen

Advent thematisiert die Erwartung von etwas Neuem, einer »Ankunft«. Ursprünglich ist es die Erwartung der Geburt Jesu, eines Kindes durch Maria. In ihrer Person begegnet uns das Thema »Warten, Offenheit, Empfangen« gleichsam symbolisch personifiziert. Da diese ihre Haltung in der Festtradition jedoch ganz ausdrücklich ausführlich und symbolisch beim Fest »Mariä Verkündigung« am 25.3. gefeiert wird, werden wir sie dann dort eingehender betrachten. Hier können wir uns aber bereits selbst fragen:

Impuls: Wie steht es um meine Erwartungen? Sage ich manchmal zu mir: Du erwartest eben zu viel? Oder sagen andere Menschen zu mir: »Wie konntest Du denn das erwarten – Du erwartest viel zu viel! « Oder prägt mich mehr das Gegenteil, dass ich manchmal gar nichts mehr erwarte? Dass ich weder von mir selbst noch etwas erwarte, noch von anderen? Oder gar von Gott! Oder dass ich schon gar nichts Gutes erwarte, sondern viel eher schwarz sehe und von der Zukunft, von den anderen – und womöglich auch von mir selbst – nur Schlechtes erwarte? »Was habe ich denn noch zu erwarten?« sagt mancher resigniert, und manche erinnert sich an viele enttäuschte Erwartungen. Gehören Täuschung und Erwartung für mich in dieselbe Schublade? Oder gehören für mich Neugier, Zuversicht, Hoffnung und Erwartung zusammen? Wenn ich zurückschaue: Welche Erwartungen hatte ich mit zwanzig, mit dreißig, mit vierzig, mit fünfzig? Welche Erwartungen habe ich jetzt? Sind das realistische oder unrealistische Erwar­tungen?

Wenn vier Wochen lang Er-wartung gefeiert wird, das Warten auf eine große Erfüllung, dann bedeutet das Ermutigung: Erwarte etwas vom Leben! Erwarte etwas und gib nicht auf! Es gibt Erfüllung. Und zugleich gehört zum Thema Erwartung auch die Einsicht, dass nicht alle Erwartungen in Erfüllung gehen. »Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche«, so Dietrich Bonhoeffer, der in seinem Leben Zeuge dafür gewesen ist, dass vieles anders gehen kann, als man es plant und erwartet; er hat sogar mit seinem Leben für solche Erfahrungen bezahlt. Wie steht es also um die Nichterfüllung meiner Wünsche und Hoffnungen? Wie entstehen Enttäuschungen und wie verkrafte ich sie? Ihnen geht ja immer eine (Selbst-)Täuschung vo­raus, daher Ent-täuschung! Was bedeutet es für mich, wenn in der Weihnachtsgeschichte und der Geschichte Jesu symbolisch ausgedrückt wird, dass er unscheinbar, klein und verwechselbar war, dass man ihm seine Göttlichkeit und sein Königtum wahrlich nicht an­sehen konnte? Nach dem Bericht des Matthäusevangeliums musste Herodes sogar alle kleinen Jungen bis zum Alter von zwei Jahren töten lassen, um sicher zu sein, dass er damit den Hoffnungsträger »miterwischt« hat. Viele Zeitgenossen Jesu trugen schwer daran, dass er nicht so aussah, wie sie sich die Erfüllung der Verheißung vorgestellt hatten. Ein Erlöser, ein Weltenheiland und Erretter, ein »Star« musste doch anders sein und auftreten … – Enttäuschte Erwartungen. Unscheinbare Gottesnähe. Verwechselbare Offenbarung. Immer gehört – wie zum Licht der Schatten – die Rückseite mit dazu, zu Erwartungen – so wichtig sie sind – die Möglichkeit, die »Gefahr« der Enttäuschung.

Impuls: Versuchen Sie einmal, Erwartungen als Präferenzen, als »Wünsche« oder »Vorlieben« zu empfinden und zu formulieren, ver­suchen Sie, diese von »Forderungen« zu unterscheiden. Das macht frei! Ich bin gelassener, wenn ich sagen kann: Es wäre mir lieber, wenn Du …, oder dass ich …, – als etwa verbissen zu verlangen: Du musst …, ich muss … Denn hier lauern Machtkampf und Enttäuschung, dort liegt eine Chance für Erfüllung!

Die Sehnsucht nach Hoffnung

Ja, Sie haben richtig gelesen, es ist wirklich so paradox formuliert: Es ist von einer Sehnsucht nach Hoffnung die Rede, nicht von der Sehnsucht nach Erfüllung. Adventszeit ist ja Hoffnungszeit, Zeit der Sehnsucht, des Wartens auf Erfüllung, auf Erlösung. Es ist lebensnah und realistisch, dass diese Gefühle und Sehnsüchte wochenlang betrachtet, erlaubt, thematisiert und gelebt werden.

Aber es scheint etwas ganz Eigenartiges um die menschliche Hoffnung zu sein, um die Fantasie, um Erwartungen und Sehnsüchte. Oftmals machen wir die Erfahrung, dass Erfüllung von Hoffnungen, wenn sie eingetreten ist, eine seltsame Leere hinterlässt und irgendwie auch enttäuscht. Dann ist zwar Erfüllung da – und doch ist man nicht glücklich und zufrieden. Haben Sie so etwas auch schon erlebt?

Dem Volk Israel ist es jedenfalls so gegangen: Jahrhundertelang hatte es einen Erlöser erhofft, einen Befreier, einen Messias, einen Davidssohn, der – wenn er kommt – alles ändert, durch den alles anders wird, durch den die Welt neu, die Gefangenschaft beendet, die Besatzungsmacht vertrieben wird, alle Hoffnungen und Wünsche erfüllt werden. Man hat in diesen Messias alle Hoffnungen und Wünsche hineinprojiziert. Und als er dann kam …?! – Dann hat er ihnen nicht »gepasst«, nicht ins Bild gepasst, das sie sich gemacht hatten.

Wir machen uns ja immer Bilder von dem, was kommen soll, von dem, was wir ersehnen. Und was dann kommt, ist meist oder fast immer anders. Es herrscht Realität – das andere war Traum! Das Eingetretene ist nicht so ideal, nicht so allumfassend wunderbar, wie in unserer Vorstellung. So ist Hoffnungsgeschichte auch immer eine Enttäuschungsgeschichte. Träume können perfekt sein – Erfüllung ist anders. Sie ist das Ende des Träumens, somit auch ein Abschied davon.

Sind uns unsere Hoffnungen vielleicht lieber? Ist es vielleicht im buchstäblichen Sinne wahr, dass der »Mensch ohne Hoffnung nicht leben kann«, dass er also sich beinahe bedroht fühlt, wenn Erfüllung eintritt, weil ja dann die Hoffnungskraft nicht mehr tätig sein kann, weil der Hoffnungsstrom nicht mehr fließt, weil für Hoffnung keine Notwendigkeit mehr besteht. Eine Freundin sagte zu mir, als sie ihre große Liebe beschrieb: »Der Mann passt in allen Dingen, es gibt nichts, aber auch gar nichts, was ich an ihm auszusetzen hätte oder was mir fehlt – das Einzige: Er lässt mir keinen Raum zum Träumen. Alle Wünsche erfüllt er mir, alle Sehnsüchte stillt er mir.«

Nach Paul Watzlawick gibt es »nichts Tragischeres und Dramatischeres für den Menschen, nichts, was schwerer zu ertragen ist, als Hoffnungen, die sich nie erfüllen – oder aber Hoffnungen, die in Erfüllung gehen.« Er hat damit wohl etwas herausgefunden und in Worte gefasst, das sehr viele Menschen kennen und was vielleicht auch Sie selbst in Ansätzen erlebt haben: Wenn Hoffnung und Erwartung in Erfüllung gehen, dann stirbt etwas. Das ist wie ein Verlust. Die Hoffnung stirbt, denn sie ist nicht mehr. Sie braucht nicht mehr zu hoffen. Man sagt: »Es werden mehr Tränen geweint über erfüllte Hoffnungen, als über unerfüllte.«

In der Psychologie ist uns das vertraut: Hohen Zeiten folgt oft eine »depressive Nachschwingung«, Höhepunkten ein Nachwehen, eine Welle, nach deren Höhepunkt auch Tiefpunkt kommt. So kennt man Depressionen nach dem Examen, nach Premieren, nach dem Erreichen eines hohen Zieles, nach Erfolg, auf den man lange hingelebt hat. Es gibt auch Depression nach großen Festen – die depressiven Tage nach den Feiertagen sind ein Beispiel davon. Allgemein bekannt ist der »blaue Montag«, der nicht nur deshalb blau heißen muss, weil man am Wochenende vielleicht zu viel getrunken hätte. Dieses Blau ist eigentlich ein Wort für die kleine seelische Verstimmung, die manchmal nach uns greift, etwa nach einem Wochenende, vielleicht gerade nach einem besonders schönen! Im Amerikanischen gibt es die Bezeichnung »the Blues« für diesen Seelenzustand. Und viele kennen solche depressiven Tage nach den Weihnachtstagen …

Impulse: 1. Wie ergeht es Ihnen oder Freunden, die Sie kennen, nach Festtagen und nach Tagen besonderer Freude und besonderen Glückes und Erfolges? 2. Suchen Sie nach Beispielen, sammeln Sie, wie Menschen das Loch und die Leere nach besonders schönen Ereignissen zu füllen und zu bewältigen versuchen. (Beispiele: Schauspieler nach Premieren; Sportler nach dem Gewinn einer Medaille; Politiker und ihre Anhänger nach dem Gewinnen der Wahl; Fußballclubs und ihre Fans nach dem gewonnenen Spiel; Orchester und Chöre nach der Aufführung usw.) Besprechen Sie das Erfahrene mit andern!

Vielleicht verhelfen diese Gedanken, die Beispiele und auch das, was Sie selbst gefunden haben, Ihnen dazu, besser zu verstehen, wie ambivalent unsere Gefühle in der Vorweihnachtszeit sind, wie gemischt, wie vermischt es uns dabei ergeht. Und vielleicht erklärt das auch ein wenig jene oben beschriebene, rätselhafte Umtriebigkeit und Unruhe mit, die gerade in der Vorweihnachtszeit unsere Straßen, Geschäfte, ja unser ganzes städtisches und dörfliches Leben erfüllt. Es äußert sich da vielleicht auch ein Davonlaufen vor der Erfüllung, damit uns die Sehnsucht nach der Hoffnung nicht verloren geht, damit ja die Hoffnung nicht stirbt …! Wir sehnen uns nach Erfüllung – und wehe sie kommt. Und vielleicht ist es notwendig, zutiefst menschlich und für unsere Selbstkenntnis und Selbstbegegnung unerlässlich, dass wir uns etliche Wochen lang der Kraft der Hoffnung in uns stellen, auch der Notwendigkeit unserer Erwartungen und Sehnsüchte, auch ihrer oftmaligen Unerfüllbarkeit bzw. dem Dilemma, dass es uns manchmal gar nicht gut geht, wenn das, was wir uns wünschen, in Erfüllung geht.

Impulse: 1. Wie gehen Sie mit Ihren tiefsten Sehnsüchten um? Haben Sie (noch) welche? Lassen Sie sie sprechen – fühlen Sie sie? Oder haben Sie sie abgetötet, stumm gemacht, weil sie sonst wehtun? 2. Überlegen Sie einmal, wo Sie die oben beschriebene »Sehnsucht nach Hoffnung/Angst vor Erfüllung« vielleicht auch bei anderen oder in der Geschichte finden! Finden sich diese Strebungen möglicherweise auch in der Bindungsangst vieler Singles, im Unmut Heimatvertriebener oder mancher Asylbewerber, oder auch in Klagen mancher Arbeitsloser – lieber hoffen und sich eine Situation traumhaft wünschen und vorstellen können, als mit einer Erfüllung leben, die anders ist, als erwartet, weniger perfekt und ideal …? Erwartungen, möglicherweise unrealistische Vorstellungen und Wünsche bleiben so erhalten, unkorrigiert und unkorrigierbar. Man kann sie auf diese Weise bewahren, »retten«, sie müssen sich nicht wandeln oder gar »sterben«. Finden Sie Beispiele – auch aus Ihrem eigenen Leben?! Es ist gut, sich auch in Gruppen darüber auszutauschen.

An Weihnachten nun feiern wir diese Ankunft des Ersehnten, Erwarteten, die Erfüllung – natürlich verbunden mit all den eben entdeckten Gedanken und Gefühlen. Kurz nach der Sonnenwende, dem Winteranfang, ist es da: das große Fest, das den Weihnachtsfestkreis eröffnet.

Licht im Dunkel: Weihnachten und der Weihnachtsfestkreis

Der Anfang im Winter

Eigenartig: Das Jahr beginnt bei uns im Winter – ob wir das Kalenderjahr betrachten, das 10 Tage nach dem Winteranfang beginnt, oder das religiöse, das Kirchenjahr, das wenige Wochen vor dem Winteranfang anfängt: In jedem Fall liegt der Anfang in der dunkelsten und kältesten Zeit des Jahres. Liegen vielleicht Anfänge immer im Dunkel, im Verborgenen, im von außen Unsichtbaren? Etwa so, wie sich die Natur zurückgezogen hat, in ihrer Brachzeit Ruhe findet, neue Kräfte schöpft, Erholung braucht, eine Zeit des Stillstandes, des Gewährenlassens, der Zurückgezogenheit, des Zu-sich-Kommens, im buchstäblichen Sinne der Inne-Werdung – alles ist ja ins Innere der Erde zurückgezogen: die Keime, die Tiere und letztlich auch – zumindest in unserem nördlichen Kulturkreis – die Menschen, die sich aus der Kälte in den Schutz wärmender Stuben und Wohnungen zurückziehen.

Im Dunkel also, fast im Geheimen, beginnt das neue Jahr und das neue Leben: die Geburt des Kindes an Weihnachten, des »Lichtes der Welt«, sowie die »Wieder-Geburt« des Lichtes bei der Wintersonnenwende. Am tiefsten Punkt der Dunkelheit, der Kälte und der Zurückgezogenheit beginnt der Winter und zugleich das Neue: außen sichtbar das Wiederkommen des Lichtes und seiner Wärme – fühlbar jedoch noch die klirrende Kälte, das Fehlen des Wachstums.

Der Winter ist »Brachzeit« auch für uns Menschen, für die Seele, Zeit für Ruhe, zum Innehalten, Insichgehen und Erkennen des Verborgenen, des Neuen im Dunkel, der Geburt in der Nacht.

Wir kommen aus dem Dunkel

Für den Jahresanfang gibt es bei den Völkern der Erde und in der Kulturgeschichte verschiedene Zeitpunkte. Die Christenheit feiert den Anfang ihres Jahreskreises in der dunkelsten Zeit des Jahres: Der 1. Advent bildet den Anfang des Kirchenjahres. Das ist auch eine uralte keltische Tradition. Warum nun dieser dunkle Beginn?

Uralte Schöpfungskenntnis, altes Naturwissen, drückt sich darin aus: Der Anfang alles Lebens liegt »im Dunkel«. Nicht nur in der Schöpfungsgeschichte der Bibel war am Anfang Finsternis und wurde als Erstes das Licht geschaffen. Auch unser eigener, ganz individueller Anfang geschah im Dunkel des Mutterleibes, in der Tiefe der Gebärmutter, als sich Samenzelle und Ei miteinander vereinten und miteinander verschmolzen – ein Geschehen im Dunkeln. Auch für die meisten Tiere gilt das. Aber auch für die Pflanzenwelt: Die Samenkörner und Zwiebeln müssen in die Tiefe des Erdreichs gesenkt werden, um dort keimen zu können. (Dieses Urwissen des Lebens wird uns bei Karsamstag und Ostern wiederbegegnen.)

Das Dunkel als etwas Fruchtbares. Ein Taizé-Lied heißt: »Im Dunkel unserer Nacht entzünde das Feuer, das nie mehr verlöscht«. In einem alten Weihnachtslied wird das so ausgedrückt: »Mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht«. In der tiefsten Kälte, zur Halbzeit der Nacht, das heißt, da wo die Nacht am dunkelsten ist, da geschieht die Wende, da entsteht das Neue, entsteht neues Leben. Biologisch – so haben wir gesehen – tatsächlich auch. Psychologisch –so haben es viele erfahren und wir werden uns solche Erfahrungen im Lauf unseres Weges durch das Jahr immer wieder vergegenwärtigen – gilt das genauso, dass Neues und die Wende oft genau da eintreten, wo »nichts mehr weitergeht«. Symbolisch feiern wir das, wenn in der dunklen Jahreszeit im November und Dezember die Lichterzeit beginnt, die das Eintreten und Ankommen des »Lichtes der Welt« ankündigt. Mit dieser theologischen Deutung wird die Ankunft Jesu umschrieben.

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