Die hellen Tage - Zsuzsa Bánk - E-Book
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Die hellen Tage E-Book

Zsuzsa Bánk

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Beschreibung

In einer süddeutschen Kleinstadt erlebt das Mädchen Seri helle Tage der Kindheit: Tage, die sie im Garten ihrer Freundin Aja verbringt, die aus einer ungarischen Artistenfamilie stammt und mit ihrer Mutter in einer Baracke am Stadtrand wohnt. Aber schon die scheinbar heile Welt ihrer Kindheit in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat einen unsichtbaren Sprung: Seris Vater starb kurz nach ihrer Geburt, und Ajas Vater, der als Trapezkünstler in einem Zirkus arbeitet, kommt nur einmal im Jahr zu Besuch. Karl, der gemeinsame Freund der Mädchen, hat seinen jüngeren Bruder verloren, der an einem hellblauen Frühlingstag in ein fremdes Auto gestiegen und nie wieder gekommen ist. Es sind die Mütter, die Karl und die Mädchen durch die Strömungen und Untiefen ihrer Kindheit lotsen und die ihnen beibringen, keine Angst vor dem Leben haben zu müssen und sich in seine Mitte zu begeben. Zsuzsa Bánk erzählt die Geschichte dreier Familien und begleitet ihre jungen Helden durch ein halbes Leben: Als Seri, Karl und Aja zum Studium nach Rom gehen, wird die Stadt zum Wendepunkt ihrer Biographien – und zur Zerreißprobe für eine Freundschaft zwischen Liebe und Verrat, Schuld und Vergebung. Nach ihrem hochgelobten Debütroman »Der Schwimmer« schreibt Zsuzsa Bánk die bewegende Geschichte dreier Kinder, die den Weg ins Leben finden. »Die hellen Tage« ist ein großes Buch über Freundschaft und Verrat, Liebe und Lüge – über eine Vergangenheit, die erst allmählich ihre Geheimnisse enthüllt, und die Sekunden, die unser Leben für immer verändern.

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Zsuzsa Bánk

Die hellen Tage

Roman

Roman

Fischer e-books

Für Louise und Friedrich

Zirkusmädchen

Ich kenne Aja, seit ich denken kann. Ich habe kaum eine Erinnerung an eine Zeit vor ihr, an ein Leben, in dem es sie nicht gegeben hat, keine Vorstellung, wie sie ausgesehen haben könnten, Tage ohne Aja. Aja gefiel mir sofort. Sie sprach laut und deutlich und kannte Wörter wie Wanderzirkus und Schellenkranz. Zwischen anderen sah sie winzig aus, mit ihren kleinen Händen und Füßen, und als müsse sie dem etwas entgegensetzen, sprach sie in langen Sätzen, denen kaum jemand folgte, als wolle sie beweisen, dass sie laut reden konnte, ohne Pause und ohne Fehler. Sie zog in dem Jahr zu uns, in dem für uns Kinder nichts lustiger war, als unsere Namen rückwärts aufzusagen und uns laut Retep oder Itteb zu rufen. Aja hieß immer nur Aja.

 

Wir fanden uns, wie sich Kinder finden, ohne zu zögern, ohne Umstände, und sobald wir unser erstes Spiel begonnen, unsere ersten Fragen gestellt hatten, verbrachten wir unsere Tage miteinander, fädelten sie auf wie an einer endlosen Kette und hielten jede Unterbrechung, mit der andere uns trennten, für eine Zumutung. Wenn Aja zu mir kam, öffnete sie unser Hoftor lautlos. Niemand konnte unser Tor lautlos öffnen und schließen, weil es ein großes Tor auf Rollen war, das jeden Besuch vor den letzten Schritten zur Haustür ankündigte und dessen Geräusch wir bis unters Dach und bis in die hintersten Winkel des Gartens hören konnten. Nur Aja öffnete unser Tor so leise, dass es niemandem auffiel, auch nicht, dass sie über den Hof lief, und ich wunderte mich, wie still sie sein, wie unbemerkt sie kommen und gehen konnte.

 

Wir müssen uns im Sommer begegnet sein, im Sommer, der Aja umgab, als gehöre er ihr, als gehörten sein Licht, sein Staub, seine langen hellen Abende ihr, und durch den sie sich ohne Jacke und Schuhe, mit einem gelben Hut, den sie im Schrank ihrer Mutter gefunden hatte, bewegte wie durch ein großes, lichtes Haus, dessen Zimmer ohne Türen ineinanderliefen. Wir küssten und umarmten uns schnell, wie Mädchen es häufig tun, auch wenn es Aja sonst mit niemandem tat, auch später nicht, und wir ließen nicht mehr voneinander, auch wenn ich nicht weiß, warum Aja ausgerechnet mich aussuchte, mich einlud und in ihr Leben bat, ein Leben, das anders war als alles, was mir zuvor begegnet war, anders als alles, was ich kannte, und das mir fern erschien, größer und weiter als meines, und sich abspielte an einem Ort ohne Zeit und Grenzen. Ich weiß nicht, was es war, das sie in meine Nähe drängte, an anderen vorbei zu mir schob und an mich band, was es überhaupt sein kann, das uns dazu bringt, uns füreinander zu entscheiden. War es meine Art, über Wiesen zu springen, einen Stein übers Wasser zu werfen, ein Lied zu singen, oder war es nur, weil es sonst niemanden gab, der den Platz neben Aja hätte einnehmen können, in diesen Tagen, an diesem Ort? Sind wir bloß zusammengeblieben, weil auch später niemand kam, der mich hätte ablösen können? Ich habe Aja nie danach gefragt, und heute spielt es keine Rolle mehr. Heute sind wir, wer wir sind, und wir fragen nicht danach, wir suchen nicht nach Gründen.

 

Das Seltsamste an Aja aber war ihre Mutter. Sie war nicht so wie die Mütter, die ich kannte, die in unserer kleinen Stadt, in den schmalen Straßen rund um den großen Platz, im langen spitzen Schatten des Kirchturms lebten, mit ihren bunten Autos und bunten Einkaufsnetzen, die jeden Morgen am Zaun in ihre Briefkästen sahen, während Ajas Mutter die Post an der Tür entgegennahm. Das Erste, was mir an ihr aufgefallen war, waren die lackierten Fußnägel gewesen, weil sie auch die Haut bemalt hatte, als habe sie mit Lack nicht sparen und einen violetten Streifen auf ihre Zehen setzen wollen. Sie war größer als andere Frauen, sogar größer als die meisten Männer, und Aja schien neben ihr zu verschwinden. Sie hatte lange, schmale Beine, von denen sie sagte, wie Holzbeine sähen sie aus, und es stimmte, ein bisschen sahen sie aus wie die Beine des Küchentischs, den sie im Sommer hinaus in den Garten trug, unter die Zweige der Birnbäume, die ihr Geflecht aus Schatten auf die schmutzige Tischplatte warfen. Hinter einem Maschendraht hielt sie Hühner, die ihr jemand überlassen hatte, und Aja und ich durften jedes Mal eine Handvoll Mais ins Gras streuen und die schmale Tür öffnen, bevor Ajas Mutter auf ihren flachen Schuhen hinging und ein Huhn schnappte, seinen Hals umdrehte und dann später, wenn sie es langsam rupfte, weiße und braune Federn ins kniehohe Gras segeln ließ.

 

Aja lebte mit ihrer Mutter in einem Haus, das kein Haus war, nur ein Häuschen, gehalten von Brettern und Drähten, eine Hütte, an die neue Teile geschraubt wurden, wenn der Platz nicht mehr reichte, wenn es zu eng geworden war, selbst für die wenigen Möbel, die Ajas Mutter gehörten, für die Schachteln und Kisten, die sie stapelte, und die Schuhkartons, die sie sammelte, für die vielen Briefe, die sie darin aufbewahrte. Wie Spinnennetze zogen sich Kabel und Klebeband durch zwei kleine Zimmer, eine winzige Küche und einen schmalen Flur, für die Lampen, die auch tags brannten, selbst wenn die Sonne schien und Licht in alle Ecken des Hauses drang. Damals wusste ich nichts von Häusern, nichts davon, wie sie zu sein, wie sie auszusehen und wo sie zu stehen hatten, dass sie eine Straße und Nummer brauchten und es nicht reichte zu sagen, hinter Kirchblüt steht es, dort, wo die Felder beginnen und die Kieswege sich kreuzen, nicht weit vom Bahnwärterhäuschen, und es sieht aus, als würde es schweben. Ich wusste nicht, dass es jemand erlauben musste, zu hämmern und Hühner halten zu dürfen, dass irgendwer verfügte und entschied über das, was Ajas Zuhause war, und ich ahnte nichts von den Vormittagen, die Ajas Mutter in den Gängen vor den Amtsstuben verbrachte. Für mich war Ajas Haus ein Haus mit allem, was es dazu brauchte, auch wenn es kein Türschloss hatte und Aja deshalb nie einen Schlüssel bei sich trug. Ajas Mutter ließ das schiefhängende Gartentor offen, auch die Tür zum Haus, und wenn jemand wissen wollte, ob sie keine Angst habe, vor Einbrechern, vor Dieben, musste sie lachen, auf ihre Art, ein bisschen zu spät, ein bisschen zu leise, als sei sie erst jetzt auf etwas gestoßen worden, das ihr nie in den Sinn gekommen wäre. Was, sagte sie, soll man bei uns schon holen?

 

Manchmal überfiel Ajas Mutter der Schlaf, bevor sie einen Satz zu Ende gesagt, einen Gedanken ausgesprochen hätte, und nachts, wenn Aja wach wurde und für ein Glas Wasser in die Küche ging, saß sie neben dem Lichtkegel einer Lampe, als warte sie auf den Morgen, jedenfalls erzählte es Aja so. Ihre Mutter hatte Schrammen an den Händen, grüne Flecken an Knien und Schienbeinen und sah komisch aus mit ihren schmutzigen Pflastern und Verbänden, die sie aus Stoffresten zusammenknotete. Beim Zwiebelschälen schnitt sie sich mit einem Messer, das sie hoch an einen Haken gehängt hatte, damit Aja es nicht nehmen konnte, sie stieß sich den Kopf an den Schränken, verfing sich in Kabeln und riss etwas mit, das dann zerbrach und das sie zu anderen Scherben und Splittern in einen Eimer legte, die sie nicht mehr zusammenfügen konnte. Sie ging durch ihr Haus, ihren Garten und durch alle Straßen der kleinen Stadt, als gebe es keine Hindernisse, als könne nichts in ihrem Weg stehen, als müssten ihr die Dinge weichen und nicht umgekehrt. Als könne sie auch keinen Gedanken daran verschwenden, als seien ihre Gedanken zu kostbar, als habe sie zu wenige und müsse mit ihnen sparsam sein.

 

Bevor ich mich am Abend aufmachte, bevor wir uns trennten, um uns wiederzusehen, spätestens am nächsten Tag, am nächsten Morgen, schlugen wir zum Abschied ein Rad. So wie andere sich die Hände reichten und umarmten, schlugen wir am schiefhängenden Tor ein Rad, dort, wo der Rasen flachgetreten war und der Löwenzahn zwischen die Latten drängte, Aja und ich mit der gleichen schnellen Bewegung in die eine, und Ajas Mutter zwischen uns in die andere Richtung. An manchen Abenden blieb sie weiter weg, als könne sie uns stören, als wolle sie uns noch Zeit lassen, als hätten wir nicht genug gehabt davon, als brauchten wir diese eine Minute, diese wenigen Augenblicke noch, bevor ich gehen würde. Wenn ich den schmalen Weg hinablief und mich umdrehte, sobald ich das Bahnwärterhäuschen sehen konnte, hatte sich Aja am Zaun hochgezogen, die Knie zwischen die Latten geschoben und winkte mit beiden Händen, als wolle sie sagen, vergiss nicht, morgen wiederzukommen.

 

Obwohl ihr Haus keine Anschrift hatte, bekam Ajas Mutter Briefe, die in einem dicken Umschlag aus Packpapier steckten, auf dem unter ihrem Namen nur Kirchblüt stand, in kleinen schiefen Buchstaben, und der Postbote brachte sie an die Tür, schon weil es immer Briefe gab, für die sie ihre Unterschrift leisten musste. Auch als schon ein Kasten aus Blech am Zaun hing, mit einem Schlitz, in den er die Post hätte werfen können, blieb er dabei, sie in ihre Hände zu legen und ihren Namen zu sagen, als müsse er sich jedes Mal aufs Neue vergewissern, wer sie war, ob wirklich die, für die der Brief gedacht war. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen wir ihren ganzen Namen hörten. Sonst bestand Ajas Mutter darauf, von allen Évi genannt zu werden, nicht Éva, und schon gar nicht Frau Kalócs. Auf dem Amt würde man sie so nennen, sagte sie, das reiche, und nur dem Briefträger erlaube sie noch, ihren ganzen, ihren vollen Namen zu sagen. Wenn er sein Fahrrad an den Pfosten lehnte, das schiefhängende Tor aufschob und Licht in der Küche sah, wenn er ein Geräusch, ein Klappern hörte, klopfte er ans Fenster und wartete, bis Évi die wenigen Schritte zur Tür gelaufen kam und ihre Post entgegennahm, in Packpapier gewickelte Briefe in federleichten blauen Kuverts, die sie dann tagelang auf dem kleinen Tisch neben dem Fliegengitter liegenließ, wo Aja und ich sie viele Male hochnahmen und drehten und wendeten, und weil Aja glaubte, sie könne riechen, von wo der Brief geschickt worden war, roch sie an ihm. Sie hielt ihn an ihre Nase, an meine, sie wedelte damit und fächelte uns Luft zu, und wenn ihre Mutter uns entdeckte und fragte, nach was riecht er, dieser Brief, sagte Aja, nach Amerika, er riecht nach Amerika.

 

Sobald die ersten kühlen Nächte anfingen, den Sommer zu verdrängen, kam Besuch in Ajas Haus. Er kam von weit her, wie Évi sagte, mit einem Schiff, einem Zug und einem Bus, und nach seinen Briefen hatten Aja und Évi ihn seit Wochen schon erwartet, ohne genau zu wissen, an welchem Tag er kommen würde. Jeden Samstag hatte Évi ein Huhn in den Topf geworfen und dann mit uns gegessen, sie hatte sich die Fußnägel lackiert, erst rot, dann rosa, hatte vor dem Spiegel, den sie aufklappen und aufstellen konnte, ihr Haar mit Nadeln aus einem blauen Tuch hochgesteckt und später gelöst. Sie hatte den Schmutz von den Böden gefegt, die kurzen Gardinen in einer Wanne im Garten gewaschen, nass aufgehängt und in Falten gelegt. An den Nachmittagen hatte sie über die Feldwege und an den Abenden auf den Kalender geschaut, bis irgendwann jemand am schiefhängenden Tor stand. Aja und ich konnten ihn vom Fenster aus sehen, mit einem dunklen Koffer in der einen, einem Hut in der anderen Hand, den er abgenommen hatte, als sich Évi in der Tür gezeigt, als sie das Fliegengitter gelöst, einen Fuß auf die Stufen gesetzt und zwei Strähnen aus ihrer Stirn gestrichen hatte, um über die losen Platten zum Tor zu laufen, die Hände auszustrecken und an seine Wangen zu legen. Aja sagte, er sei ihr Vater, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf, und wenn Aja nicht in der Nähe war, sagte sie, ein Mann, der sie einmal im Jahr besuche, könne nicht Ajas Vater sein. In diesen Wochen sammelte Aja die Seile und Bälle, die sie im Garten verstreut hatte, am Abend ein, sie aß, was Évi auf den Tisch stellte, und nach der Schule ging sie schnell nach Hause und nicht wie sonst mit mir und den anderen über Obstwiesen und Felder zum Bahnwärterhäuschen, wo wir im Gras lagen und warteten, bis die Schranken sich senkten und die rostroten Waggons der Güterzüge vorbeiratterten. Zigi hieß ihr Vater. Aja nannte ihn so, auch ihre Mutter nannte ihn so, manchmal Zigike oder Zigili oder Zigikém oder Zig-Zig, und ich fragte mich, wie man so heißen konnte, ob das überhaupt ein Name war, Zig-Zig.

 

Zigis Haare hingen ins Gesicht, seine wirren Locken, die in alle Richtungen wuchsen und die er nur selten schneiden ließ. Zwei seiner Zähne waren dunkler und standen übereinander, ein bisschen wie Menschen in einer Menge, die aneinander vorbeizuschauen versuchen. Er sah aus, als habe er Hunger, als habe er in letzter Zeit zu wenig gegessen, und weil Évi glaubte, er solle es in diesen Wochen nachholen, verließ sie ihre Küche kaum noch und stellte alle zwei, drei Stunden Würstchen und Brezeln, süßen Tee und Zuckerkringel auf den Tisch. In Zigis Brusttasche steckte ein rotes Tuch, in das Aja sich schneuzte, wenn sie nichts anderes fand, und das sich absetzte von Zigis dunkler Kleidung, über die Évi sagte, Zigi sehe darin aus, als gehe er zu seiner eigenen Beerdigung. Zigi trug keine Strümpfe und immer dasselbe Paar dunkler Schuhe, dessen Leder an den Seiten Risse zeigte und in dem seine schmalen Füße breiter wirkten, und obwohl er die Bänder nicht knotete, lösten sich die Schuhe beim Laufen nie von seinen Füßen. So wie andere eine Mücke verscheuchten oder Sahne in ihren Kaffee rührten, sprang Zigi rückwärts auf die Hände, kam auf die Füße, sprang wieder rückwärts auf die Hände, viele Male hintereinander, als fliege er durch Évis Garten in Kreisen, die er mit den Beinen in die Luft zeichnete, über Stühle und Bänke, die nie in seinem Weg standen. Wenn er mit seinem Kaffee am Küchenfenster lehnte, wussten wir schon, gleich würde er die Knie an die Brust reißen, die kleine Tasse unter seinen Füßen von einer Hand in die andere geben und, sobald er stand, in einem Zug leer trinken, Aja reichen und sich vor uns verbeugen, bis seine spitze Nase zwischen die Knie stieß und wir die Libelle unter seinem Nacken sehen konnten, die er vor Jahren mit etwas schwarzer Farbe und einer feinen Nadel in die Haut hatte zeichnen lassen.

 

Wir liebten Zigis Kunststücke und konnten uns nicht sattsehen an ihnen. Aja sagte, sobald sie aufwache, stelle sie sich noch im Nachthemd in den schiefen Türrahmen und warte, bis Zigi die Decke zurückschlage, seine Hände auf den Boden setze, die Beine hochreiße und so neben ihr in die Küche gehe. Wenn ich mittags kam, balancierte Zigi zwischen den Birnbäumen auf einer Kugel, die er unter dem Blechdach neben den Hühnern hervorgeholt hatte, wo Évi die leeren Blumentöpfe stapelte. Wenn er mit den Armen ruderte, wenn er die Kugel mit nackten Füßen über Maulwurfshügel rollte und den Rücken weit nach hinten bog, wenn es aussah, als müsse er kippen und fallen, zerrte Aja Évis Korbsessel nach draußen und saß dann wie auf einem Thron unter seiner hohen Lehne, die weit über ihren Scheitel reichte, im Schneidersitz, die flachen Hände auf den Schenkeln, die Knie unter den Armlehnen. Sie folgte Zigis Bewegungen, und wenn er anfing, ihr Blickfeld zu verlassen, drehte sie den Kopf nach ihm, Aja, die ihren Namen rückwärts sagen konnte, ohne dass er anders geklungen und sich verändert hätte, wie oft wir ihn auch auflösten und zusammenfügten, wie oft wir ihn auch auseinandernahmen und über uns kreisen ließen, mit derselben Leichtigkeit, mit der Zigi durch die Luft in Évis Garten sprang, vor und zurück unter zwei Bäumen, wenn er abhob und diesen Namen rief, Aja.

 

Jedes Jahr brachte Zigi Dinge, mit denen Aja und ich nichts anzufangen wussten, über die Évi sich aber freute wie über nichts sonst. Diesmal waren es die Reste einer Tapete, auf der rote Rosen rankten und die für eine Seite ihrer winzigen Küche reichten. Zigi nahm das Regal ab, sah zu, wie Geldscheine hinabsegelten, die er in einem Briefumschlag geschickt und die Évi hinter Tellern und Tassen versteckt hatte, und klebte die Tapete an einem Vormittag rund um das Fenster, durch das wir über den Pfad aus losen Platten zum schiefhängenden Tor schauen konnten. Er legte kein Zeitungspapier aus, schmierte mit einem breiten Pinsel Kleister auf die Wand, ohne dass etwas auf den Boden getropft wäre, schnitt die Bahnen im Stehen, mit schnellen, kurzen Bewegungen, mit einem von Évis scharfen Messern, nur nach dem Maß seiner Augen, drückte sie mit beiden Händen an und strich sie glatt mit dem roten Tuch, das er aus der Brusttasche seiner schwarzen Jacke genommen und unter sein Hemd gesteckt hatte. Am Abend saß Évi in ihrer Küche, umgeben von roten Rosen, die nach nichts dufteten, aber dort rankten, als wollten sie hochwachsen, durch das Fenster hinaus ins Freie.

 

Die Zeiten mit Zigi waren Évi heilig, die wenigen Wochen, in denen er in ihrem Bett schlief und an ihrem Tisch aß, wenn sie vorgeben konnte, sie seien eine Familie wie jede andere. Évi zog sich zurück, sobald Zigi Haus und Garten mit ihnen teilte, und sie blieb stiller, als wolle sie mit den verfügbaren Sätzen haushalten und Zigis Aufmerksamkeit nicht zerstreuen, als dürfe sie Aja und Zigi nichts von ihrer Zeit rauben, aus der Aja so viel mitnehmen musste, damit es für ein Jahr reichen würde. Wenn ich am Zaun entlanglief, sah ich Évi unter tiefhängenden Zweigen an einen Baum gelehnt, die Hände vor dem Bauch gefaltet, als wolle sie sich verstecken und habe keinen besseren Platz dafür gefunden. Sie glaubte, erst wenn Aja abends auf Zigis Schoß eingeschlafen sei und ihr Kopf auf seiner Brust liege, dürfe sie selbst anfangen, mit ihm zu reden, jedenfalls sagte sie es so, nur in den Stunden am späten Abend und in der Nacht, als könnten Zigi und sie erst dann zueinanderfinden und als gehöre er sonst allein Aja.

 

Sobald Évi auf einer Leiter Pflaumen in einen Eimer warf, sobald sie die Wäsche durch den Garten trug und hinter den Sonnenblumen an die Leine hängte, lief Zigi mit uns zum kleinen Waldsee, hob uns über Zäune, über Sträucher und Baumstümpfe, und manchmal riss er die Arme hoch, um mit einer Rolle rückwärts über unsere Köpfe zu springen. Wir verbrachten ganze Nachmittage damit, zwei Stöcke zu einem Kreuz zu legen und Zigi zuzusehen, wie er sich durch die Luft drehte und genau davor zum Stehen kam. Wenn er Aja auf eine Schulter setzte und mich auf die andere, hielten wir uns fest an seinem Kopf und legten die Hände vor seine Augen, und selbst dann, selbst wenn Zigi nichts sehen konnte, lief er ohne zu zögern und ohne zu stolpern weiter, mit den gleichen schnellen Schritten, als brauche er seinen Blick gar nicht fürs Laufen, als wisse er auch so schon, wo auf seinem Weg Äste und Steine liegen könnten. Sobald der Abend das blaue Licht des späten Sommers in Évis Garten goss, drängten sich Kinder am Zaun und zogen sich an den Latten hoch, damit sie nichts versäumten, wenn Zigi den Kopf in den Nacken legte und auf der Stirn ein Tablett mit Gläsern balancierte, wenn er am Zaun entlanglief, Évi im Vorbeigehen roten Saft einschenkte und Aja die Gläser über die Latten reichte, bis Zigi den Kopf senkte, das Tablett mit einer Hand auffing, unter den Arm klemmte und mit Aja anstieß. Wenn sie auf dem Schulhof, auf ihren Wegen durch Kirchblüt gefragt wurde, ist das dein Vater, der mit der Stirn Gläser auf einem Tablett durch euren Garten trägt, sagte sie, ja, das ist mein Vater, und sie ließ es klingen, als passe niemand besser in ihre Welt, als habe niemand einen festeren Platz in ihr als Zigi.

 

Zigi fing mit seinen Übungen an, auch wenn ihm keiner zusah, wenn er nicht wusste, dass Aja und ich uns hinter Gardinen versteckt hatten, hinter einem Busch, um ihn zu beobachten, wenn er Holzreifen aus dem Verschlag hinter den Hühnern holte, um sie an Armen und Beinen kreisen zu lassen, und so den Feldweg hinablief, um hinter dem Mais zu verschwinden. Wenn Zigi nichts dergleichen tat, wurden wir unruhig, wenn er wie jedermann ging, ohne auf die Hände zu springen, wenn er seinen Kaffee trank und die Knie nicht hochriss dabei, wenn er sich auf einen Stuhl setzte, ohne ihn vorher durch die Luft geworfen zu haben, wenn er einfach nur den kleinen Block aus dem Futter seiner dunklen Jacke nahm und mit Ajas Stiften etwas zeichnete, das gerade fingernagelgroß war, und den Rest des Papiers weiß ließ. Jedes Jahr untersuchte Zigi Évis Häuschen, strich mit den Händen übers Holz, über Bretter und Leisten, die schiefen Rahmen der Fenster, ihre tiefen Risse, durch die im Sommer Ameisen schlüpften. Er band das rote Tuch um sein rechtes Hosenbein und trug darunter einen Hammer, mit dem er auf Nägel klopfte, die sich gelöst hatten, oder Bretter hochstemmte, die verrutscht waren. Évis Haus sollte winterfest sein, bevor Zigi sich aufmachen würde. Er hatte Angst, Aja und Évi könnten frieren, die Kälte könne durchs Fliegengitter, unter der Tür hereinkriechen, in den langen dunklen Monaten, die einem zu frühen Herbst folgten, und wir gewöhnten uns schnell an den hohlen Klang, wenn er von Schelle zu Schelle an die Regenrinne klopfte, der uns sagte, es ist Zigi, er schaut nach dem Haus.

 

Gerade als der Sommer in den Herbst überging, schlug er die Wand in Évis Zimmer mit einer Axt ein, stieß den Fensterrahmen heraus und setzte eine Glastür ein, die er bei einem Schrotthändler an der Landstraße hinter Kirchblüt auf einen Karren gebunden und über den Feldweg am Mais entlanggezogen hatte, damit Évi nicht mehr durch ein Fenster musste, wenn sie hinter dem Haus zu den Hühnern wollte. Als sie wie zum Dank Zigilein und Zig-Zig sagte, brachte Zigi Pinsel, Schaufeln und Eimer und fing an, die Steine zu verputzen und das Holz zu streichen, damit es getan war, bevor der erste Frost kommen und Zigi schon abgereist sein würde. Vor den Fenstern konnten wir seine Füße in schmutzigen Schuhen von der Leiter baumeln sehen, die er Stunde um Stunde ein Stück weiter schob, bis er das Haus zweimal umkreist hatte. Wenn Zigi sie am Abend stehen ließ, kletterten wir auf die Leiter, und wenn er am nächsten Tag hochstieg, liefen wir in den Garten, um zuzusehen, wenn Zigi Putz auftrug, weil er selbst das anders machte, weil selbst das Kratzen und Schmieren und Klopfen bei ihm anders aussah. Wir schauten auf seine schmalen Fußknöchel, die wie Pfeilspitzen zur Seite zeigten, als könnten sie jeden Augenblick losschnellen. Seine schwarze Hose zog Zigi nicht einmal jetzt aus, da er mit einer Schaufel Mörtel auftrug, auch die Schuhe nicht, auf die sich Staub legte und die trotz der immer losen Senkel nie von seinen Füßen fielen.

 

Solange es der Herbst zuließ, saßen Aja und ich an den Nachmittagen in einem großen Tuch, das Évi zwischen zwei Bäume gespannt hatte. Sie und Zigi redeten in ihrer Sprache, und sie lachten so leise, als wollten sie es vor uns geheim halten, während wir in den Abend schaukelten, die Schatten länger und dunkler wurden, bis sie alles zudeckten und Évi vergaß, Aja ins Bett und mich nach Hause zu schicken. Dann stieg sie über die wenigen Stufen zum Fliegengitter und verschwand mit Zigi im Haus. Wir konnten sie in Évis Zimmer vor der neuen Glastür sehen, wenn sie sich an den Händen fassten, an den Schultern, wenn Zigi den Arm hob und Évi drehte, wenn sie ohne Musik mit schnellen Schritten durch den schmalen Flur tanzten, die Mäntel an den Kleiderhaken streiften und Zigi seinen Hut schnappte, um ihn Évi aufzusetzen. Wenn wir so schaukelten und schauten, Aja und ich, dann glaubten wir fest, dann wussten wir, so hatte es zu sein, und so würde es eines Tages auch für uns werden.

 

Nach Wochen reiste Zigi ab und ließ nichts zurück als feuchten Putz, der wegen des Wetters nicht trocknen wollte, und eine Tapete voller Rosen, die hinaus in den Garten strebten. Er fuhr an einem Tag, den er nicht angekündigt hatte, von dem Aja und Évi aber gewusst hatten, er würde kommen, schon als Zigi mit dem Hammer an die Regenrinne geklopft hatte, von Schelle zu Schelle, rund ums Häuschen, dem er eine schmutzig weiße Farbe gegeben hatte. Spätestens als Zigi in seinen Papierblock einen Bus, einen Zug und ein Schiff gezeichnet hatte, spätestens da hatten sie es gewusst. Sie brachten ihn zur Haltestelle, wo er den Bus zum Bahnhof nahm, um in einen Zug zu steigen, der ihn zu einem anderen Zug brachte, mit dem er am Abend die Stadt erreichte, wo das Schiff im Hafen lag, das er über eine breite Treppe bestieg. Eine Treppe, über die er nicht schnell und leicht hinaufging, sondern für die er Zeit brauchte, so schrieb er es jedenfalls in seinem Brief, den Aja heimlich las, nachdem der Postbote ihn Wochen später gebracht, mit dessen ersten Sätzen Zigi aber schon gleich nach dem Ablegen begonnen hatte. Wenn sich der Bus unter den Kastanien am Ende der Straße zeigte, griff Évi nach Ajas Hand, und wenn die Türen sich öffneten, zog sie Aja heran und legte den Arm um ihre Schulter, während Zigi seinen Koffer mit den wenigen Kleidern in den Bus warf, auf die Stufen sprang, mit einer Hand die Stange fasste und sich so zurücklehnte, als wolle er noch schnell mit dem Scheitel den Asphalt berühren, ein Bein vorgestreckt, den Rücken weit nach hinten gebogen, um mit dem schwarzen Hut in der Hand ein letztes Mal zu winken. Évi musste Aja und mir später immer wieder erzählen, wie sie ihm nachgeschaut hatten, als der Bus Zigi weggetragen hatte, mit diesem letzten Kunststück, das er für den Abschied aufgehoben hatte. Auch wenn es Aja selbst gesehen hatte, wollte sie es immer wieder aus Évis Mund hören. Wir fanden nie heraus, wie Zigi den Fahrer dazu brachte, die Türen offen zu lassen, ob er Geld dafür bekam oder mit Évi und Aja Mitleid hatte, wenn sie im Herbst allein zurückblieben, und er die Türen deshalb nicht schloss – bis zur nächsten Biegung, hinter der Zigi seinen Hut aufsetzte, seinen Koffer nahm, ausstieg und zu Fuß weiterging, weil ihm der Bus doch zu schnell fuhr, wie er später schrieb, und er es nicht mochte, sich so schnell zu entfernen, von der Haltestelle, an der Aja und Évi noch eine Weile standen, als wüssten sie nicht, wohin, von dem schmalen Pfad, über den sie langsam, mit kleinen zögernden Schritten, Hand in Hand zurückgingen zu ihrem Haus, das schmutzig weiß unter Birnbäumen stand und an das Zigi in den letzten Tagen noch zwei, drei Bretter genagelt hatte, in der Hoffnung, sie könnten den Winter fernhalten.

 

Neben seinem Geruch, der verfliegen würde, sobald Évi die Fenster öffnete, hatte Zigi zwischen den Kaffeetassen vom Morgen einen Stapel Zeichnungen zurückgelassen, und Aja nahm einige Blätter davon mit in ihr Zimmer, ließ sie in Schubladen unter Strümpfen und Hemden verschwinden oder klemmte sie ins Fenster, und Évi steckte sie mit Nadeln über ihrem Bett fest, damit sie vom Kopfkissen aus sehen konnte, was Zigi auf weißem Papier für sie dagelassen hatte, ein winziges Bund gelber Blumen, einen winzigen Zirkuswagen, ein winziges Dachfenster und darunter auf einem winzigen Laken ein winziges Kind. Mit der Zeit verschwanden die Bilder. Sie fehlten im Flur, sie fehlten in der Küche, in Ajas Zimmer, sie fielen herunter und rutschten unter den Backofen, hinter die Schränke und Betten, und Évi und Aja machten sich bald nicht mehr die Mühe, sie aufzuheben.

 

Évi ließ sich nichts anmerken, wenn Zigi verschwunden war, wenn er sich verabschiedet hatte, um in einem Jahr wiederzukommen, wenn er sie mit Aja zurückgelassen hatte, in einem Haus, das er selbst auf wenige Steine gesetzt und aus Holzplatten und dicken Nägeln gezimmert hatte und vielleicht deshalb aussah, als würde es schweben. Évis Leben lief weiter, auch wenn es ihr schwerfallen musste und sie schon das Kaffeekochen Kraft zu kosten schien, und Ajas Leben auch, nach einer stillen Pause, sobald Évi die Kinder vom Lattenzaun weggeschickt hatte, weil Zigi nicht mehr durch die Luft springen und Gläser mit rotem Saft auf der Stirn balancieren würde, sobald Aja begriffen hatte, Zigi würde nachts nicht mehr in der Küche sitzen und unter einem gelben Licht krumme Figuren zeichnen, die sie am Morgen ausmalen durfte. Wenn wir durchs Haus liefen, blieb jetzt immer etwas an unseren Strümpfen hängen, und es dauerte, bis Évi sich wieder fing und ihr auffiel, wie viel Staub und Schmutz an unseren Füßen klebte.

 

Den Winter über hielt sich Aja fest an Zigis Briefen, an den Zeichnungen, die er für sie in den Umschlag steckte, Männchen mit Pfeilen, die ihr zeigen sollten, welche Bewegungen er gerade einübte, und die wir sofort nachzuturnen versuchten. Aja nahm die Briefe in ihren Hosen und Kleidern mit und zog sie aus den Taschen, wenn wir auf unseren Wegen anhielten, am Bachlauf hinter dem Bahnwärterhäuschen. Zigi hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich meinen Namen zu merken, weil er sich niemals Namen merkte, wie Évi sagte, weil es ihm unwichtig und unsinnig erschien, auch weil sein eigener Name nicht sein wirklicher Name war, sondern einer, den er sich selbst gegeben hatte, in einem Jahr, das sich von Évi schon weit genug entfernt hatte, als Zigi zum ersten Mal ein Schiff bestiegen hatte, das ihn über den Ozean trug und fortriss aus allem, was ihn davor umgeben hatte, um an der Küste, die das Schiff wenige Tage später erreichte, unter einer Zirkuskuppel Tabletts auf seiner Stirn zu balancieren. Aber wenn er schrieb und seinen Brief enden ließ mit: Ich umarme Dich, Dich und Deine kleine Freundin, dann wusste ich, ich war gemeint.

 

Im Frühling, als ein wärmeres Wetter das erste Grün in Évis Garten setzte und uns über die Felder in den nahen Wald lockte, war es für Aja mit einem Mal besser zu ertragen, ohne Zigi zu sein, leichter noch im Sommer, der laue Nächte brachte und seinen weiten hellen Himmel über uns auswarf, wenn Évi im Korbsessel unter den Birnbäumen saß und mit nackten Füßen übers Gras strich, allein zwischen Stühlen und Tischen, als warte sie auf jemanden. Zigi hatte uns einmal erzählt, es schneie nicht nur im Winter, sondern im ganzen Jahr, wir könnten den Schnee nur nicht sehen. Also legten wir uns an Sommertagen zu Löwenzahn und Butterblumen und schauten hoch zum Kirchblüter Himmel, und wenn ihr die Wolkendecke dicht genug schien, sagte Aja, seht nur, es schneit.

Schnee

Ajas Geburtstag fällt auf den heißesten Tag des Jahres. In den Zeiten, in denen Évi kaum Geld hatte und sie im Sommer in Kirchblüt blieben, gab sie für Aja ein Fest, von dem die Kinder in den Straßen rund um den großen Platz noch lange redeten, nach dem sie im Frühling schon fragten und von dem ich heute manchmal glaube, Évi habe es für sich selbst gegeben. Sobald Aja am Morgen über die Felder lief, auf ihrem Kopf eine Krone aus rotem Papier, die sie neben ihrem Kissen gefunden hatte, legte Évi schon Decken ins Gras, stellte Blechbüchsen auf und hängte Zuckerstangen mit Bindfäden an eine Leine, die sie zwischen den Bäumen durch den Garten gespannt hatte. In zwei Blechwannen, die sie aus dem Verschlag hinter den Hühnern holte, goss sie kaltes Wasser, das bis Mittag warm genug war und in das wir bis zum Abend springen durften. Aja lud auch die Kinder ein, die sonst niemand einlud, die ohne Geschenk kamen und die Aja nur kannte, weil sie an jedem Zaun stehen blieb, in den schmalen Straßen hinter der kleinen Brücke, die nach Kirchblüt führte, über einen Graben, im Sommer rot von Klatschmohn. Évi sagte nie, was Aja an diesem Tag anziehen sollte, es störte sie nicht, wenn wir über Stühle und Tische sprangen, in die Bäume kletterten und uns mit Früchten bewarfen, und sie schimpfte nie, wenn etwas zerbrach oder am nächsten Tag fehlte. Es war ihr gleich, wann die Kinder abgeholt wurden, ob spät am Abend, wenn sie müde und schmutzig im kniehohen Gras lagen und ihre nassen Kleider an der Leine hingen, ob sie überhaupt abgeholt wurden. Wenn dann Eltern die Pforte langsam öffneten und sich im Garten umschauten, als dürften sie es nicht, brachte Évi Perlwein mit Erdbeeren, die sie am Abend zuvor mit Zucker bestreut hatte, und füllte ihn unter einem Sonnenschirm mit einer Kelle in Gläser, die sie über Jahre gesammelt hatte und unter denen es nicht zwei gleiche gab.

 

Sobald die Sonne ein letztes Licht auf die drei Linden vor dem Zaun warf, hob Évi die kleineren Kinder in einen Karren aus Holz, den sie von einem Bauern geliehen hatte und mit einem Seil an Weizen und Mais vorbei durch den Staub zog. Die größeren liefen neben Aja vorneweg, die noch immer ihre Krone aus rotem Papier trug und ihrer Mutter den Weg zu den Häusern zeigte. Wenn wir vor einem Tor hielten und ein Kind aus dem Wagen sprang, ging Évi mit ihm, als wolle sie sehen, was sich hinter diesen Türen verbarg, als wundere es sie, dass andere Häuser verschlossen waren und man einen Schlüssel brauchte, um die Türen zu öffnen, und wenn sie zurückkam und das Seil wieder in die Hände nahm, lief sie die ersten Schritte still, als habe ihr etwas die Sprache genommen. Ich blieb über Nacht bei Aja, Évi hängte Lichter in den Baum und ließ uns unter Ästen im großen Tuch schaukeln und wenig später einschlafen, während sie im Schein einer Kerze ihre Fußnägel lackierte, als gebe es keine bessere Zeit dafür. Sie ließ alles stehen, bis sie am Morgen aufstand, Butterbrote für uns strich und hinausging, sich an den Birnbaum lehnte und ihren Blick ein letztes Mal wandern ließ. Dann fing sie an, die Gläser und Teller einzusammeln, die Tischtücher mit den rosaroten Flecken, die Bälle und farbigen Bänder, die ins Gras gefallen, die Kleider und Strümpfe, die nass geworden und liegen geblieben waren. Den Klang dieses Nachmittags wolle sie noch einmal hören, sagte sie uns durchs Fenster, als hätten wir damals verstehen können, was sie meinte, mit diesem Gefühl der Unruhe, das sie überfiel, weil Aja größer wurde, und das sie besser aushalten konnte, wenn sie die Stimmen, die Lieder und Rufe dieses Nachmittags nachklingen ließ, um sich später, wann immer ihr danach sein würde, daran erinnern zu können.

 

Als Évi schon etwas Geld hatte, fuhr sie mit Aja in den großen Ferien in die Berge, und Aja feierte Geburtstag mit irgendjemandem, den ihre Mutter auf einer Sonnenterrasse, auf einem Gipfel angesprochen und dazugebeten hatte. Aja hatte von jedem dieser heißesten Tage des Jahres ein Foto, auf die Rückseite hatte Évi geschrieben Ajas zehnter, Ajas elfter Geburtstag, in ihrer großen Schrift mit den schiefen Buchstaben, von denen jeder in eine andere Richtung strebte, das Jahr, den Ort und die Namen der Fremden, von denen sie nichts wussten und die sie nie mehr treffen würden. Wenn Aja in die Berge gefahren war, tat es weh, an sie zu denken, schon weil ich glaubte, sie habe schnell andere gefunden, mit denen sie abends ein Rad schlagen und über Wiesen laufen konnte. Erst später, als wir schon erwachsen waren, sagte Aja, auch sie habe ihre Geburtstage im Garten vermisst, mit mir, den bunten Bändern und Wannen aus Blech, jedes Mal, wenn sie in den Bergen gewesen sei und Évi mit Fremden auf sie angestoßen habe. Lieber hätte sie neben mir unterm Birnbaum gelegen und ihrer Mutter, kurz bevor wir einschliefen, zugesehen, wie sie ihre Nägel lackierte.

 

Ich gehörte früh zu Aja und Évi, zu ihrem Haus und Garten. Ich gehörte auf den Rasen hinter den drei Linden, mit seinen Maulwurfshügeln und Butterblumen, über den wir ohne Schuhe und Strümpfe sprangen, in den schmalen Flur, durch den wir einander jagen durften, auch wenn wir an Mänteln und Taschen hängen blieben und über Kisten und Kartons stolperten, in die winzige Küche, wo die Zweige des Flieders anklopften, wenn Évi vergessen hatte, sie zurückzuschneiden, und durch deren Fenster der Regen drang, wenn Évi nicht schnell genug Tücher davorgelegt hatte. Eine Weile musste meine Mutter geglaubt haben, das mit Aja könne sich geben, wie eine kurze heftige Krankheit wäre es bald ausgestanden, bis sie begriff, es war anders mit uns, sie brauchte nur am Zaun zu stehen, zu rufen und winken, und konnte sehen, es war anders mit uns.

 

Obwohl Évi sie jedes Mal bat hereinzukommen, blieb meine Mutter am Tor, wo sie über alles nur zu staunen schien, über die schiefhängenden Schaukeln, die Stühle ohne Lehnen, die Hühner hinterm Maschendraht und das geflickte Dach, dem man den jüngsten Herbst und Winter ansehen konnte, am meisten aber über Évi, die sich zwischen alldem mit ihren leichten, fliegenden Schritten bewegte, mit ihrem bunten Kopftuch, mit dem sie ihr wirres Haar zurückhielt, mit ihren schmutzigen Händen und kurzen Kleidern, die sie im Sommer trug und die ihre langen Beine mit den blauen Flecken nicht verhüllten. Heute glaube ich, meine Mutter störte sich nie daran, dass ich durch einen Garten tobte, in dem das Holz aus den Bänken brach und der Rost sich in die Regenfässer fraß, aber es störte sie, dass Évi über all das hinwegsehen konnte, dass es ihr gleich war, ob das Tor schief in den Angeln hing, ob ein Fenster undicht war, weil sich ihr Blick auf etwas anderes richtete, das für meine Mutter unsichtbar bleiben musste. Vielleicht fragte sie sich auch, wovon Évi lebte, wovon sie die Dinge bezahlte, die sie abends in einen Topf warf und morgens auf Ajas Brote strich, die wenigen Dinge in ihren Schränken und auf den schmalen Regalen. Wenn mich Aja nach der Schule zu Plätzen führte, die ich noch nie gesehen hatte, wenn wir an Zäunen und Mauern stehen blieben, um die Spuren nachzuzeichnen, die das Moos zwischen die Steine gesetzt hatte, konnte es sein, dass wir Évi aus einem Haus kommen sahen, in einer hellen Schürze, die Haare unter einem Tuch versteckt, mit einem Eimer in der Hand, den sie in eine große Tonne leerte. Manchmal entdeckten wir ihre langen Beine auf einer Leiter, ihre Arme und Hände, wenn sie mit einem Tuch über Fensterscheiben wischte, und dann liefen wir zur anderen Straßenseite und gingen schnell weiter, weil wir aus irgendeinem Grund glaubten, Évi wolle dabei nicht von uns gesehen werden.

 

Dass Évi anders war, hatte ich schnell begriffen. Es lag nicht nur an dieser einen Strähne, die sich wand und sträubte und sich nicht fügen wollte, nicht daran, dass sie zum Schlafen Licht brauchte, in kurzen Kleidern ging und jeder die grünen Adern in ihren Kniekehlen sehen konnte. Etwas unterschied sie von den Frauen in Kirchblüt, schon weil sie einem Gespräch kaum folgen konnte, was nicht an der Sprache lag, die sie von Sommer zu Sommer besser beherrschte, sondern daran, dass sie mit ihren Gedanken immerzu woanders zu sein schien, auf den Amtsstuben mit ihren Schreibtischen oder in einem Zirkus auf der anderen Seite eines Ozeans. Évi war mit Aja anders als andere Mütter mit ihren Kindern, wenn sich Évi unter den Platanen des großen Platzes fangen ließ und Aja hinter ihr herlief, in nicht mehr als einem Hemdchen, weil es ihr im Kleid heiß geworden war und Évi sich nicht darum kümmerte, was man deshalb in Kirchblüt über sie hätte denken können. Alles schien leicht, ihre Tage waren hell, wenn sie im Schatten der Bäume Grashalme zupften, wenn sie Hand in Hand an den Geschäften und Auslagen vorbeigingen und redeten, immerzu redeten, bis Évi sich auf eine Bank setzte und Aja zusah, wie sie Tauben verscheuchte. Wenn ich abends auf meinem Weg nach Hause umkehrte, weil ich meine Jacke hatte liegenlassen, konnte ich Évi und Aja auf ihren krummen Stühlen vor dem Haus sitzen sehen, dicht zusammengerückt unter dem Küchenfenster, um so auf die Dunkelheit zu warten, Ajas Kopf an Évis Schulter, ihre Füße auf Évis Schenkeln.

 

Évis Tür stand für jeden offen, in einer der Ecken fand sich immer ein Platz zum Schlafen, und in einer der Schubladen fanden sich Decken, die sie verteilen konnte. Wenn im Winter ihre Freunde kamen, schien Évi alles zu vergessen, was hinter der Pforte lag, auch den schmalen Weg am Bachlauf entlang und die Brücke über den Klatschmohn, die zum Städtchen führte, als versinke Kirchblüt im selben Augenblick, in dem ihre Freunde am schiefhängenden Tor auftauchten und es beim Öffnen durch den Staub schoben. Kirchblüt schien zu verschwinden, wenn sie über die losen Platten aus Waschbeton zum Fliegengitter gingen, die wenigen Taschen und Tüten ausbreiteten und ihre Rasiermesser in der Küche auf die Spüle legten. Dann holte Évi Stühle aus dem Garten und stellte sie an den Tisch, wo sie kaum Platz hatten, und schlug Nägel in die Wand, damit ihre Freunde ihre Jacken aufhängen konnten. Wenn auf den eisbestäubten Feldern Nebel lag, erzählten sie uns von ihrer Zeit mit Zigi, als er hoch über ihren Köpfen an einem Trapez geschaukelt war und sie die Musik dazu gespielt hatten, und Aja und Évi übersetzten für mich, wenn sie nicht weiterwussten. Sie reichten Aja und mich von Schoß zu Schoß, nannten Évi im Scherz Éva oder Kalócs Éva, nur um zu sehen, wie sich ihr Gesicht verzog, ließen Karten in ihren Hemdsärmeln verschwinden und fischten sie aus ihren Hüten. Aja sagte, sie schliefen so wenig wie Évi, sie gingen erst ins Bett, wenn Aja längst schon weggedämmert war, mit dem Klang ihrer Stimmen und Lieder im Ohr, standen aber vor ihr auf, rollten die Decken zusammen und warteten in der Küche, bis Aja wach wurde. Sie legten zwei Kissen auf ihren Stuhl, schoben ihn an den Tisch heran und redeten, als sei Aja eine Königin und als seien sie ihre Untertanen. Aja ging nicht länger allein zur Schule, in diesen Wochen war immer jemand neben ihr, der ihre Hand hielt, so wie Zigi es getan hatte, auch mittags, wenn wir fern der vorgezeichneten Pfade zum Wald gingen, um dort über Baumstümpfe und Gräben zu springen.

 

Évis Freunde kamen, wenn sie übers Land fuhren und Kirchblüt auf ihrem Weg lag, wenn sie gerade keinen anderen Platz hatten, an dem sie bleiben konnten, wenn sie nicht weit vom Neckar, hinter den ersten dichten Wäldern hierhergefunden hatten, weil sie nach wenigen Wochen Winter ihr Leben auf der Straße aufgeben mussten und an Évis schiefhängendem Tor über den Zaun riefen, es ist zu kalt fürs Akkordeon. Aja sprach am Maschendraht zu den Hühnern, damit sie genügend Eier legten, und Évi überließ ihren Freunden das Bett und zog selbst auf die Liege, räumte im Schrank Fächer leer, die niemand brauchte, ließ ihre Freunde aus ihren Töpfen nehmen und von ihren Tellern essen, und wie zum Lohn hörten sie nicht auf, sich über Évis Haus zu freuen, über die Lampen, die am Abend Licht auf ihre Kartenspiele warfen, über den Ofen, der sie dabei wärmte, über die Tür, die sie schließen konnten, und über Évi, die ihnen zusah, wenn sie Kaffee aus kleinen Tassen tranken und von dem Brot aßen, das Évi in ein gestreiftes Küchentuch geschlagen und zusammen mit einem großen Messer auf den Tisch gelegt hatte. Évi hatte genügend Platz für alle, die ein wenig bleiben wollten, es wurde ihr nie zu laut oder zu eng, sie fragte auch nicht, wann ihre Freunde weiterziehen wollten, und nahm nichts von dem Geld, das sie an den Samstagen auf einem der Plätze in der nächsten Stadt erspielt und in die Schublade des Küchentischs geworfen hatten. Ich hatte angefangen, mir etwas von Évis Art auch für mein eigenes Leben zu wünschen, obwohl ich es damals so nicht hätte sagen können, und auch später noch habe ich oft an diese Winter in ihrer Küche denken müssen, als Aja und ich längst nicht mehr durch ihren Garten sprangen, sondern an einem Meer spazierten und nach Schiffen suchten, die es durchkreuzten.

 

Wenn der Schnee auf dem Zaun, wenn die Eiszapfen vor den Fenstern geschmolzen waren, machten sich Évis Freunde auf und spielten am Gartentor ein letztes Mal: a lányok, a lányok, a lányok angyalok, die Mädis, die Mädis, die Mädis von Chantant, bevor sie das Gefühl mitnahmen, das Aja durch die bunten hellen Tage getragen hatte, und Évi mit dem Nachhall ihrer kurzen lauten Abende zurückließen. Wenn sie hinter der Brücke über den Klatschmohn verschwunden waren, mit einer tiefen Verbeugung, einem letzten Winken, fing Évi an, vor den Rosentapeten ihre Stühle zu rücken, sie hinauszutragen und zu verteilen auf ihre alten Plätze, und wenn ich Aja allein zur Schule kommen sah, wusste ich, Évis Freunde hatten die Decken zusammengerollt und die Kissen zurückgelegt, sie hatten ihre Rasiermesser von der Spüle genommen und die Karten eingepackt. Sie hatten Aja ein letztes Mal in die Luft geworfen und aufgefangen, hatten Évi ein letztes Mal umarmt und zum Abschied eines ihrer liebsten Lieder gesungen, und jetzt war Évi dabei, die leeren Stühle zu rücken und sie hinaus in den Garten zu tragen.

 

Wenn Évis Freunde in der kältesten Zeit des Jahres einmal nicht kamen, weil sie einen anderen Ort zum Bleiben gefunden hatten, legte sich etwas auf Évi und Aja, das ich kaum durchdringen konnte, als seien sie verhüllt von etwas, das ich nicht einfach anfassen und wegziehen konnte. Sobald der Herbst die Blätter von den Linden gerissen hatte, fürchtete Aja schon den ersten Schnee, und etwas hielt sie zurück, wenn die Luft ihn ankündigte und der Himmel sein schmutzigstes Weiß zeigte, wenn wir in dicken Mänteln am Zaun standen und Aja auf dem eisigen Boden zum Abschied kein Rad schlagen wollte. Selbst wenn wenig Schnee gefallen war und der nächste Morgen ihn schon mitnehmen würde, wurde Aja darüber stiller, als habe sie die Lust zu reden verloren. Sobald der Frost die Zweige einsperrte, hängte Évi Meisenbälle und Pfaffenhütchen vors Küchenfenster, und Aja und ich durften auf der Spüle sitzen, die Füße im Becken, und den Vögeln zuschauen, wenn sie sich festkrallten und zu picken anfingen. Wir verbrachten ganze Nachmittage so, klopften ans Fenster und begannen, die Vögel zu zählen, sie zu rufen und ihnen Namen zu geben. Nur wenn Schnee fiel, schaute Aja an ihnen vorbei und sah den Flocken nach, als male sie sich aus, wie sie ihnen ausweichen könnte, wenn sie über die losen Platten zum Tor und den Weg hinab zur Brücke über den Klatschmohn musste. Wenn ich ging, blieb sie am Fenster, und wenn ich mich am Zaun nach ihr umdrehte, schaute sie auf mein Haar, auf meine Schultern, als müsse es mir weh tun, wenn sich Schnee daraufsetzte, als könne es mich schmerzen, wenn ich ihn mit meinen Handschuhen von den Ärmeln streifte und den Kopf schüttelte, damit er sich von meiner Mütze löste.

 

Évi glaubte, Aja habe eine Erinnerung an den Himmel, an die Kälte und den Schnee dieses einen Wintertags, der weit genug zurücklag, um längst verblasst zu sein, aber mit den Jahren nur deutlicher und greller zu werden schien, als sei die Zeit verdreht worden, als liefen alle Uhren falsch, als rückten die vergangenen Jahre nicht weiter weg, sondern sprängen heran, als springe besonders dieser eine Tag mit jedem neuen Winter näher an sie heran. Évi dachte, Aja sei an Schneetagen deshalb stiller, obwohl Aja jedes Mal sagte, nein, sie könne sich an nichts erinnern, nicht an diesen Ort, an diesen Tag, auch nicht an diesen Schnee, wenn Évi davon zu erzählen anfing, weil Aja sie lang genug gedrängt hatte. Es war in Ajas zweitem Winter gewesen, als sie noch nicht in Kirchblüt gewohnt hatten, Aja schon laufen konnte und Évi sie nur noch selten in ihrem Wagen spazieren fuhr. Évi hatte den Winter überstanden geglaubt, hatte hinausgeschaut aus ihrem Dachzimmer mit dem runden Fenster und der Nische für zwei Herdplatten, an das Zigi sie mit seinen winzigen Zeichnungen manchmal noch erinnern wollte. Obwohl sie schon Krokusse gesehen und den Frühling erwartet hatte, war noch einmal Schnee gefallen und nach Stunden in Regen übergegangen. Aja hatte in eine Decke gehüllt auf einem Kissen geschlafen, die Händchen zu Fäusten geballt, das Köpfchen zur Seite gedreht, unter dem blassen Licht einer Lampe, über die Évi ein blaues Tuch gehängt hatte, während das dichte Weiß vor dem Fenster langsam verschwunden war, weggewaschen vom Regen, der über Nacht zu Eis auf den Straßen und Gehsteigen wurde.

 

Am Morgen war Évi auf dem Zimmer geblieben, sie hatte wenig Lust, in das Wetter hinauszugehen, erst am Nachmittag zog sie Aja den roten Anzug über, in dem sie winzig aussah, mit weißem Fell an Kapuze und Ärmeln, die über ihre Hände reichten, nur Ajas Augen blieben über dem Schal frei. Als Évi den Kinderwagen über den Bürgersteig schob, konnte sie auf die Straße und die ferne Kreuzung sehen, die schon im Dämmerlicht lag, aufgebrochen von den Scheinwerfern weniger Autos, die langsam vorbeifuhren. Warum Évi das Haus verlassen hatte und hinausgegangen war in den Schnee, der wieder anfing zu fallen, wusste sie nicht mehr, ob es wirklich nur gewesen war, weil sie glaubte, ein Kind müsse jeden Tag an die Luft. Wenn Évi sonst nur über wenig nachdachte, dachte sie daran oft und fand doch keine Erklärung, warum sie nach diesem verrückten schnellen Wechsel von Schnee zu Regen und wieder Schnee nicht zu Hause geblieben war, warum sie nicht darauf verzichtet hatte, Ajas Wagen an diesem Tag zu den breiteren Straßen zu schieben, vorbei an Zäunen und Gärten, die unter einer Decke aus Eis lagen. Der Gedanke daran überfiel sie oft in den frühen Morgenstunden, wenn sie unter ihren Lampen wach lag und auf das erste Licht des Tages wartete, er nagte und zerrte an ihr, nur weil ihr Kopf gerade bereit war, einen Gedanken zu denken und ihm kein anderer einfallen wollte.

 

Évi war damals unsicher übers Eis gelaufen, weil man kein Salz auf die Gehsteige gestreut hatte, mit kleinen Schritten, mit denen sie kaum vorwärtskam, in ihren dicken Stiefeln mit den flachen Absätzen, den Blick auf Aja gerichtet, die an einem bunten Stück Stoff zog, das Évi an den Kinderwagen gebunden hatte. Hinter ihr fuhr ein Auto, nicht viel schneller, als sie mit ihren kleinen Schritten laufen konnte, und geriet doch ins Schleudern, der Fahrer versuchte, die Spur zu halten, aber das Auto drehte sich leise übers Eis, zeichnete einen großen Kreis in den Schnee und nahm mit, was in seinem Weg stand, einen Abfalleimer, ein Fahrrad, das an einem Pfosten lehnte, einen Blechkasten mit den Zeitungen des Tages und den Kinderwagen, den er Évis Händen entriss und an einer Gartenmauer entlangschleifte. Évi konnte nur zusehen, wie das Auto in den Pfahl einer Laterne stieß, wie sich das Glas aus seinem Seitenfenster löste und auf Aja zuschoss. Dann bewegte sich nichts mehr, nicht die Zweige, die über die Zäune ragten, nicht die Räder des Fahrrads, das über die Straße geschleift worden war, auch nicht der Müll, der aus dem Abfalleimer gefallen und übers Pflaster gerollt war. Es dauerte, bis Évi Ajas Schreie hörte, bis sie einen Krankenwagen riefen, bis Évi mit ihren schnellen, leichten Bewegungen über das Auto, über sein Dach geklettert und auf der anderen Seite hinabgesprungen war, Aja aus dem Wagen befreit hatte und mit ihr zum nächsten Haus gelaufen war, in das man sie nicht hineinlassen wollte, wegen des Bluts, das über den Kragen und die Ärmel ihres hellen Mantels rann, vielleicht auch wegen der Sprache, in der sie damals noch nicht viel sagen konnte. Évi wartete an der Treppe, ohne sich zu rühren, sie wagte keinen Schritt mehr, aus Angst, sie könne auf dem Eis ausrutschen, und Aja könne ihr aus den Armen fallen. Obwohl Aja nicht aufhörte zu schreien, obwohl sie sich mit aller Kraft wand und um sich schlug, gelang es Évi, sie zu halten, aber es gelang ihr nicht, auf Ajas Hand zu schauen, auf ihren roten Anzug mit dem von Blut getränkten Fell an den Ärmeln, auch nicht, als der Krankenwagen seine Türen öffnete, als sie jemand an den Schultern fasste und ihr half, über zwei breite Stufen einzusteigen.

 

Als Aja und Évi nach Kirchblüt zogen, kannte sie schnell jeder. Es reichte aus, sie einmal zu sehen, mit ihrem wirren Haar, ihren Hüten und Kopftüchern, wenn sie nebeneinander die Straße hinab-, wenn sie unter Platanen über den großen Platz liefen, um ein Bild von ihnen zu haben und es nicht mehr zu vergessen. Jeder in Kirchblüt wusste, sie wohnten hinter der Brücke über den Klatschmohn, wo der Wald und die Felder lagen, sie lebten ohne Straßennamen, ohne Hausnummer und ohne Türklingel in einem Gartenhäuschen ohne Bad, das jeden Herbst eine neue Farbe bekam, und sie wuschen sich an der Spüle in ihrer Küche, um die sie aus Brettern und Steinen vier Wände gebaut hatten, obwohl es nicht erlaubt war. Jeder wusste, Aja war das Mädchen, dem man weder Ringe noch Armreife schenken durfte, das sich die Handschuhe für den Winter selbst aussuchte in dem kleinen Geschäft hinter dem großen Platz, dessen Mutter draußen wartete und ihm alle Zeit ließ, die es brauchte, um passende Fäustlinge für seine Hand zu finden, an der es nur drei Finger hatte. Jeder wusste, Évi war die Frau, die es nicht mochte, wenn ihr jemand die Hand entgegenstreckte, damit sie einen Ring an einem Finger ansehen konnte, die ihren Freunden die Fingerspiele mit ihrer Tochter verboten hatte und an den Händen etwas mit ihr abzuzählen. Wenn jemand vergessen hatte, dass man Aja weder Ringe noch Armreife schenken durfte, und etwas mitbrachte, warf Évi es in den Abfall, und als ob das nicht reichte, brachte sie ihn zu einer Tonne an einer der breiten Straßen, die aus Kirchblüt hinausführten, wo man ihn bald in einem großen Müllwagen mitnehmen würde.

 

Seit diesem Wintertag war Évi vorsichtig mit Aja, nicht nur, wenn der Himmel mit seinem dunklen Weiß Schnee ankündigte. Wenn im Schuhgeschäft jemand einen Ballon verschenkte, hatte Évi Angst, er könne zu dicht an Ajas Ohr platzen, und wenn sie am Markt eine Kirsche kosten durfte, glaubte Évi, Aja würde sich an ihrem Kern verschlucken. Wenn Aja auf die Schläfe gefallen war, fürchtete Évi tagelang, ihr Blick könne sich eintrüben, sie könne plötzlich schwanken und im Türrahmen hängen bleiben, auch wenn Aja sofort aufgestanden und weitergelaufen war, und wenn Aja am Nachmittag schläfrig wurde und wegdämmerte, rüttelte Évi an ihrer Schulter und kniff in ihre Seite, bis Aja aufschreckte und die Augen öffnete. An Schneetagen ging Évi seither mit kleineren Schritten, und sie ließ die Hände frei, damit sie sich stützen und festhalten konnte. Sie versuchte, ihre Angst kleinzuhalten, und die eine Frage, wenn sie am Morgen zu ihr zurückkehrte, aus dem Haus zu scheuchen: Warum war sie an jenem Tag nicht mit Aja zu Hause geblieben? Wenn Schnee fiel, öffnete sie trotz der Kälte alle Fenster, damit ein Luftstoß ihre Angst hinaustragen und mit den Flocken verjagen würde.

 

Évi hielt es für eine Strafe Gottes, für den sie neben dem Fliegengitter einen kleinen Altar hatte, auf den Aja und ich Blumen stellen und Blütenblätter in eine Schale legen durften, die wir unter dem Kirschbaum aufgelesen hatten. Aber warum Gott sie bestrafen musste, konnte Évi uns nicht sagen, und wenn ich sonntags in der Kirche am großen Platz neben Aja saß, wo das Licht durch die blauen Fenster auf den Staub fiel, der über unseren Köpfen flirrte, fragte ich mich jedes Mal, warum Gott sich ausgerechnet Évi ausgesucht, warum er ihr nicht einfach vergeben hatte.

Zigis Sommer

Es war selten, dass Aja ihren Willen nicht durchsetzen durfte, und doch gab es Tage, an denen sie ihre Wut hinausbrüllte, so dass jeder auf dem großen Platz stehen blieb und erst weiterging, wenn Évi den Kopf schüttelte und Aja mit roten Flecken im Gesicht und geballten Fäusten zurückblieb, die sie nur langsam öffnete. Ein anderes Mal ließ sie sich vor dem Fliegengitter auf die Stufen fallen, obwohl sie schon hätte loslaufen müssen, warf die Schultasche ins hohe Gras, sträubte sich und machte sich schwer, wenn Évi sie an einem Arm über den kurzen Pfad aus Platten zog, ohne ein Wort bis zur Pforte. Ich konnte es spüren, wenn Aja sich in der Klasse neben mich setzte, ich wusste dann, ihre Mutter hatte sie wie eine Puppe durch den Garten gezogen, an einer Hand, hatte sie am Zaun liegen gelassen, um ohne Zeichen, ohne Geste zurückzugehen und Aja mit diesem Beben in den Tag zu schicken, das ich nicht nur spüren, sondern auch sehen konnte, an Ajas Blick, an ihren Lippen, ihren Schultern, und das Aja nie ganz verlor, auch später, viel später, nie mehr ganz verlor.

 

Einmal kam Zigi schon im Sommer, und Aja schmiss sich eine ganze Weile nicht aufs Pflaster des großen Platzes und auf die Stufen vor dem Fliegengitter. Wir nannten diesen Sommer Zigis Sommer, auch Jahre später, wenn wir uns erinnerten, nannten wir ihn so, diesen einen Sommer, der sich aus lauter hellen Tagen zusammenfügte. Selbst heute, wenn wir daran denken, sagen wir Zigis Sommer, obwohl sich vieles davorgeschoben hat, das unser Bild hätte verändern und unseren Blick darauf trüben können. Zigi kam in diesem Jahr ohne Brief, der ihn sonst Monate vorher angekündigt hatte, ohne Postkarte, auf der ein spitzes rotes Zirkusdach zu sehen war und die wochenlang zwischen den Rosentapeten im schiefen Küchenfenster steckte, vor dem sich Sonne und Regen, Tag und Nacht abwechselten, um Aja und Évi zu sagen, Zigi wird kommen, bald wird er mit seinem dunklen Koffer am schiefhängenden Tor stehen und beim Öffnen die Steinchen durch den Staub schieben. Zigi hatte genügend Geld zusammen, um den Sommer ausfallen zu lassen, wie er es nannte, um ihn hier zu verbringen, mit Aja, die aus diesem einen Sommer schöpfte für die nächsten Jahre, vielleicht für ihr ganzes Leben, und der wie eine Festung stand, zu der sie in Gedanken zurückkehren konnte, wann immer ihr danach war, aufzubrechen und sich auf den Weg dorthin zu begeben.

 

Évi erzählte, sie habe vom Küchentisch aufgeschaut, weil sie ein Geräusch gehört habe, und da habe Zigi an der Pforte gestanden, aber sie habe weggesehen, weil sie geglaubt habe, es sei nur eine Laune des Abendlichts, das sich zwischen den Bäumen aufs Gras gelegt und in dem sie Zigi schon häufig gesehen habe, auch wenn er in Wirklichkeit weit entfernt, hinter einem Ozean gewesen sei. Deshalb habe sie sich bald nicht mehr gewundert, wenn er in den Abendstunden auf dem schmalen Weg aufgetaucht sei, der neben den Maisfeldern zu ihrem Häuschen führte, wenn er am Zaun gewartet habe und dann verschwunden sei, sobald sie geblinzelt und sich die Augen gerieben hatte. Aber diesmal war Zigi stehen geblieben und hatte sich nicht aufgelöst, als Évi ein zweites, ein drittes Mal nach ihm geschaut hatte, auch nicht, als sie den Küchentisch verlassen, im schmalen Flur die Mäntel gestreift, die Tür geöffnet und das Fliegengitter gelöst hatte, als sie über die Steinplatten zum Tor gelaufen war und ihre Arme ausgestreckt, ihre Hände an Zigis Wangen gelegt hatte, um zu fühlen, ob er es wirklich war – war es wirklich Zigi, mit seinen schiefen Zähnen, seinem wirren Haar, seinen Schultern, auf die er Aja und mich setzen und auf denen er uns tragen konnte, ohne müde zu werden.

 

Zigi hatte unter den linken Arm seinen schwarzen Koffer, unter den rechten ein dunkelrotes Fahrrad geklemmt, wie Aja es sich in den Sommern zuvor gewünscht, wie sie es sich erträumt hatte, auch wenn Zigi nicht viel davon hielt und selbst nur auf einem Einrad fuhr, das weit oben auf einer Stange einen kleinen Sattel hatte, den er aber kaum nutzte, wenn er unter Bäumen durchs Gras rollte und mit seinem Haar die Zweige streifte, über die wackelnden losen Platten zum Tor, wo er sich mit einem Ruck zu uns drehte und die Arme ausbreitete, als warte er auf Beifall. Aber Aja sollte eins haben, Aja sollte ein Fahrrad haben wie andere Kinder, ein rotes Fahrrad mit zwei Rädern, die sich einfach hintereinander vorwärtsdrehten, und einem Lenker, an dem sie sich würde festhalten können.